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Sandra Langereis

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Beschreibung

Wissenschaftliche Fakten galten ihm mehr als religiöse Dogmen, unvoreingenommene Forschung mehr als die reine Lehre.  Erasmus von Rotterdam war für die Eliten der frühen Neuzeit eine Reizfigur. Aber er war auch die Lichtgestalt des frühen liberalen Denkens und ist uns als solche bis heute ein Vorbild. Erasmus von Rotterdams Werdegang im Europa des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts ist der spannende Lebensweg eines Menschen, der in der Umbruchsphase der Renaissance, des Humanismus und der Reformation gegen viele Widerstände um seine intellektuelle Unabhängigkeit und eine vernunftbetonte, tolerante Kultur rang. In ihrer preisgekrönten Biografie stellt Sandra Langereis die komplexen historischen Zusammenhänge zu Erasmus' Lebenszeit dar: Zwischen Klöstern und Universitäten, aber auch im Lichte der einsetzenden Bildungsreform, der Bedrohung durch die Pest und der damaligen politisch-religiösen Verwerfungen erscheint Erasmus als bahnbrechender Vordenker und Wegbereiter der modernen europäischen Kultur und der neuzeitlichen Geisteswissenschaft.

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Erasmus

Sandra Langereis wurde 2001 an der Universität Amsterdam in Geschichte promoviert. Bis 2013 war sie Dozentin für Geschichte in Amsterdam und Leiden sowie viele Jahre Chefredakteurin der Historisch Tijdschrift Holland und die Buchreiche Hollandse Studien. Ihre Biografie über Erasmus wurde 2021 mit dem Libris-Geschichtspreis ausgezeichnet.

Erasmus von Rotterdams Werdegang im Europa des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts ist der spannende Lebensweg eines Menschen, der in der Umbruchsphase der Renaissance, des Humanismus und der Reformation gegen viele Widerstände um seine intellektuelle Unabhängigkeit und eine vernunftbetonte, tolerante Kultur rang. In ihrer preisgekrönten Biografie stellt Sandra Langereis sehr lebendig die komplexen historischen Zusammenhänge zu Erasmus’ Lebenszeit dar. Zwischen Klöstern und Universitäten, aber auch im Lichte des aufkommenden Druckwesens, der einsetzenden Bildungsreform, der Bedrohung durch die Pest und der damaligen politisch-religiösen Verwerfungen erscheint Erasmus als bahnbrechender Vordenker und Wegbereiter der modernen europäischen Kultur und der neuzeitlichen Geisteswissenschaft.

Sandra Langereis

Erasmus

Biografie eines Freigeists

Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die niederländische Originalausgabe des Buches erschien 2021 unter dem Titel Erasmus: dwarsdenker. Een biografie bei De Bezige Bij, Amsterdam.

Die Übersetzung dieses Buches wurde von der Niederländischen Stiftung für Literatur gefördert.  

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Propyläen ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN 978-3-8437-3047-1

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023 © 2021 Sandra LangereisLektorat: Palma Müller-Scherf, BerlinUmschlaggestaltung: Grafik-Design Büro Morian & Bayer-Eynck, nach einer Vorlage von studiojandeboer.nlUmschlagabbildung: Ein Gemälde von © Neel Korteweg, Amsterdam 2012, Erasmus im Mohnblumenhemd. Acryl auf Leinen 100/85 cmhttp://www.neelkorteweg.nl/© VG Bild-Kunst, Bonn 2023Autorinnenfoto: © Geert SnoeijerE-Book powered by pepyrus

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Prolog

Prolog Wahre Geschichten

Wahre Geschichten

Rund um die Welt

Das Evangelium von Rotterdam

Die Heimsuchung

Shogun

Der Heilige von Tokio

Erasmus von Amsterdam

I   Bevor alles begann

1   Autobiografien

Bevor alles begann

Eine Ilias an Katastrophen

2   Vater

Geburt

Vater

Herasmus

3   Kleine Schule

Niederländisch lesen

Gotisch schreiben

Grammatik für Anfänger

4   Große Schule

Deventer

Latein an der Ijssel

Hörbücher

Vom Gregorianischen zum Griechischen

Die Pest

5   Konvikt

Unter Vormundschaft

Devote Brüder

Das Haus der reichen Schüler

Lesehunger

6   Geburtsjahre

Der falsche Satz im Compendium

7   Erasmus’ Geheimnis

Bruder Pieter

Vater Gerard

Papst Leo

Unsichtbare Tinte

II   Das Spiel und das Brot

8   Kloster

Drei Gelübde

Professbrüder

Klostertrost

Stundengebete in Stein

Gestohlene Stunden

Gegen die Barbaren

Gute Dichtkunst

9   Hof

Das Entfliehen

Kardinales Scheitern

Neue Perspektiven

10   Universität

Schimmel und faule Eier

Vermaledeite Freiheit

Aristotelissimus Thomas

Pariser Theologaster

Folge den Henkern

Christus in Oxford

11   »Ich werde hier zum Griechen, doch nur ich allein«

Katastrophe bei Dover

Achthundert Adagia

Zeit für ein Meisterwerk

Ein Tor mit Hieronymus

Der Nirgendsmann

12   »Papier ist alles, was ich besitze«

Brüsseler Spitzen

Herasmus macht sich einen Namen

Ein krachender Furz

Renitent und Subversiv in England

Eine Pfründe, aus der nichts wurde

13   »Ihre Lettern werden mein Werk unsterblich machen!«

Zu Pferde über die Alpen

Ein venezianisches Wissenslaboratorium

Dreitausend Adagia

14   »Sprach ich zu dreist? Es war die Torheit, die sprach«

Zu Hause bei Thomas More

Lob der Torheit

Ein goldenes Büchlein

15    »Ich scheine von einer göttlichen Kraft inspiriert zu sein«

Dozent in Cambridge

Pfarrer von Aldington

Arbeit an einer Weltneuheit

Verschwinde für eine Weile

16    »Das ist mein Spiel, und so muss es von mir gespielt werden«

Der Gott von Rotterdam

Asterisken und Obelisken

Basler Bibelberge

Hieronymus lesen und schreiben

Die bessere Bibel

Druck unter Druck

Mumpsimus und Sumpsimus

Kanoniker von Kortrijk

IIIAusgespielt

17   »Ich kann die Welt in ihren Grundfesten erschüttern«

Der letzte Akt

Der tragbare Erasmus

Komödianten in Löwen

Böse Briefe

Das Drama bis zum Ende spielen

Luthers würdelose Aufführung

18    »In Rom nennt man mich Errasmus«

Der Kniefall

Die Bücherverbote

Vom freien Willen

19   »Zum Märtyrertum habe ich kein Talent«

Ein Haus mit einem Garten

Testament

Tod

Anhang

Bildteil

Dankeswort

Hinweise zur Übersetzung und Zitierweise

Abbildungsnachweise

Hinweise zur weiteren Lektüre

Literatur

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Widmung

Für David &für Bunna

Motto

Was für ein Leben ich habe! Die Allerhöchsten der Welt fürchten sich vor mir; die Allergeringsten der Welt spucken nach mir, scheißen auf mich und pissen mich an.Erasmus, Brief an Thomas More, 30. März 1527

Motto

Der Anfang ist wichtig. Die Vorstellung kann beginnen, wo du die Vorstellung beginnen lässt, und die Vorstellung kann beginnen, wo die Vorstellung begann, in deinem Kopf.Willem de Wolf, The Marx Sisters, Antwerpen, Bebuquin 2014, S. 10; geschaffen und gespielt 2014–2015 von Natali Broods, Sara De Roo, Willem de Wolf von den Theaterkollektiven de KOE und STAN

    

Prolog Wahre Geschichten

Und nun möchte ich, gleich zu Beginn dieses Berichts, das gängige Missverständnis aus der Welt schaffen, ein Standbild sei ausschließlich die Abbildung desjenigen, den es darstellt. Das ist nicht der Fall.Wir selbst sind auch etwas – keine Menschen natürlich, – aber dennoch etwas, das nichts mit den Personen zu tun hat, die wir darstellen: Wir sind eben diese Standbilder, die wir sind. – Am ehesten sind wir vielleicht mit Schauspielern zu vergleichen.Harry Mulisch, Das Standbild und die Uhr, in: Ders., Der Vorfall. Fünf Erzählungen, übers. v. Martina den Hertog-Vogt. Reinbek b. Hamburg, Rowohlt 1996, S. 101. (Ursprünglicher Titel: Het beeld en de klok, Amsterdam, De Bezige Bij 1989, S. 8 f.)

Wahre Geschichten

Rund um die Welt

Am 27. Juni 1598 verließ Erasmus den Rotterdamer Hafen. Er wusste, er war ein berühmter Mann. Der erfolgreichste Schriftsteller der Welt. Aller Zeiten. Noch ein Vierteljahrhundert Geduld, dann würde Rotterdam endlich ein angemessenes Standbild von ihm gießen lassen, dann könnte er seine ikonischen Qualitäten larger than life über den Markt erstrahlen lassen. In Bronze, unerschütterlich, bis in alle Ewigkeit. Unterdessen aber stand er zum Glück doch schon wieder vierzig Jahre in Stein gemeißelt in seinem Geburtsort, freute er sich heimlich, während sein Schiff behutsam ablegte.

Wer konnte sich dessen schon rühmen, eines öffentlichen Standbilds? Sie hatten es im Herzen der Stadt, auf dem viel besuchten Großen Markt, nicht weit von seinem Geburtshaus, aufgestellt. Auf der Fassade dieses Hauses hatten sie auch noch eine Inschrift angebracht: »In diesem Haus ist der berühmte Erasmus geboren. Der uns Gottes Wort auserwählt gut erklärt hat.«1 Das gefiel ihm, dass sie auf diese Weise auch sein Geburtshaus zum Denkmal erkoren hatten. Ihm selbst war es eigentlich ein wenig in Vergessenheit geraten nach all den Jahren im Ausland, sonst hätte er ihnen wohl einen Wink gegeben – umso angenehmer, dass er selbst dafür gar nichts hatte tun müssen. Nicht mehr lange, und sein Geburtshaus fände ganz gewiss Eingang in die Reiseführer, dann wäre das Haus bis zum Ende aller Tage ein Wallfahrtsort für Bewunderer aus nah und fern. Das holländische Hafenstädtchen durfte sein Häuschen gern als Gottesgeschenk betrachten. Diese Glückspilze!

Im Geiste drehte er den spanischen Soldaten König Philips II. eine lange Nase, die ihn damals auf dem Marktplatz mit Dreck beschmiert, beschossen und in die Maas geschmissen hatten, weil er – Gott bewahre – ein Lutheraner gewesen sei: Das fehlte noch! Sie hatten ihm einfach ein neues Standbild gesetzt. Da nicht gleich Geld für einen Ersatz aus Stein aufgetrieben werden konnte, hatten sie flugs ein Standbild aus Holz aufgestellt. Blau angemalt, um es steinern erscheinen zu lassen. Doch mittlerweile stand hier tatsächlich wieder eine Skulptur aus Stein. Mannshoch. Wer stand jetzt, in naher Zukunft und für alle Zeiten auf dem Markt? Erasmus. Und wo war der spanische König, dieser ach so katholische Betbruder? Getrollt hatte er sich in seinen spanischen Klosterpalast. Lebendig begraben in seinem leeren Escorial.

Inzwischen ging es stromaufwärts, zur Insel von Dordrecht. Dort, zwischen den stattlichen Kirchtürmen, erinnerte er sich an einen seltenen Verwandtschaftsbesuch und ein tierisches Gelage, von dem selbst er – als geübter Trinker, der er war – noch tagelang einen Brummschädel zurückbehalten hatte. Von seinen rumorenden Eingeweiden ganz zu schweigen. »Fisch muss schwimmen!«, hatten sie damals gelallt. Verglichen mit den vollgefressenen Schwelgern dort verblasste der Oberschwelger Epikur zu einem stoischen Sauertopf. Diese holländischen Saufgelage konnten ihm jedenfalls gestohlen bleiben. Auf geht’s! Eine huldvolle Verbeugung vor seinem betrübten Publikum. Gehabt euch wohl! Klatscht noch und noch! Lebt ohne Joch! Sauft wie ein Loch! Einen allerletzten Blick noch auf die Stadt seiner Onkel im abgesoffenen Land der Schmarotzer. Bei Nordostwind war die Dordtsche Kil schnell passiert; nun fuhr er langsam den Fluss hinauf. Er wusste, dass hinter den breiten Schlammbänken in der Hollandse Diep Zevenbergen lag, wo seine Mutter herkam. Dann kam die Mündung, endlich. Ein Stückchen von der Küste entfernt erfasste sofort eine steife Brise das Schiff. Die Segel blähten sich. Vom Heck aus sah er, wie die Mündung von Goeree immer kleiner wurde und schließlich verschwand.

Sein Schiff fuhr westwärts, es hatte den denkbar längsten Seeweg in den Fernen Osten vor dem Bug. Er hatte viel Reiseerfahrung, auch auf See. Wie oft hatte er nicht schon die Überfahrt nach England gewagt? Doch diese Unternehmung stellte alles in den Schatten. Es war Wahnsinn. Zwei Sommer zuvor hatte eine der vielen Expeditionen unter der Leitung der unerschrockenen Entdeckungsreisenden Van Heemskerck und Barentsz den kurzen nördlichen Seeweg nach Osten erkundet und war bei Nowaja Semlja im Eis festgefroren. Dann eben den weiten Umweg! Die Welt war rund! Eine Umfahrung Afrikas in südöstlicher Richtung, am Kap der Guten Hoffnung vorbei, wäre ein Kinderspiel gewesen, doch die Portugiesen bekämpften diese Route nach Osten schon seit hundert Jahren auf Leben und Tod. Daher suchten die Holländer nach einem alternativen Seeweg, vorzugsweise im Norden, und wenn das nicht möglich war, eben im Süden. Aber nun in die andere Richtung.

Magellan war es unter spanischer Flagge schon vor einem Dreivierteljahrhundert gelungen, den Erdball auf dieser westlichen Route zu umrunden. Es war die erste Reise um die Welt, die je vollbracht worden war. Fünfzig war Erasmus damals sogar schon gewesen. Zur Zeit der Expedition wohnte er gerade wieder eine Weile in den Niederlanden. Glücklicherweise nicht für eine lange Zeit, denn als Magellan nach einer absurd langen Reise von anderthalb Jahren endlich den Osten erreicht hatte, residierte er bereits wieder fürstlich in Basel. Das Erdenrund erwies sich doch als wesentlich größer, als alle vermutet hatten. Von dessen fünf spanischen Schiffen war anderthalb Jahre später nur noch ein einziges nach Sevilla zurückgekehrt. Mit achtzehn zerlumpten Männern und einer Ladung molukkischer Gewürznelken an Bord. Die Männer konnten Kaiser Karl berichten, dass ihr Kapitän in der Nähe von Feuerland eine schmale Meeresstraße vom Atlantik zum zuvor noch nie befahrenen Stillen Ozean gefunden und diesen unabsehbaren Stillen Ozean überquert hatte. Sie hätten während der Überfahrt von gelb eingetrübtem Trinkwasser und pulverisiertem, nach Rattenpisse stinkenden und von Würmern durchsetztem Schiffszwieback gelebt. Sie hätten elende Brocken Rattenfleisch und steinharte Lederstreifen hinuntergeschlungen, die sie erst tagelang in Meerwasser eingeweicht und danach gebraten hatten. Keine schönen Aussichten! Der hinkende Magellan war mit seiner ausgedünnten Mannschaft auf einer Insel im Chinesischen Meer gelandet, hatte dort einen Kampf gegen die einheimische Bevölkerung führen müssen und war dann jählings von einem giftigen Bambusspeer getötet worden. Die Männer waren ohne ihren Kapitän schnell zu den Molukken, ihrem ursprünglichen Ziel am Äquator, weitergesegelt. Nach einer langen Rückreise über das Kap der Guten Hoffnung voller neuerlicher Entbehrungen und Todesfälle waren sie schließlich nach Hause zurückgekehrt. Und das alles für eine Schiffsladung Gewürznelken! Mit drei Jahren musste er daher wohl rechnen, bevor er Rotterdam wiedersehen könnte. Wenn er die ganze Reise überhaupt überstehen würde. Zunächst die Atlantiküberquerung. Solange wie möglich an der europäischen und afrikanischen Küste entlang und dann geradewegs über den Ozean bis zur Küste Patagoniens. Diese Küste entlang bis zum südlichsten Punkt der beiden Amerikas hinunter, bis nach Feuerland, zum Treibeis des Südpoolgebiets. Dort durch die schmale Magellanstraße. Danach über den gigantischen Stillen Ozean. Zunächst ein gutes Stück aufwärts nach Norden, entlang der chilenischen Küste. Und dann westwärts, aufs offene Meer hinaus, und immerzu aufwärts, Richtung Äquator: Von der chilenischen Küste aus würden sie über ein Drittel der Erdoberfläche segeln, um zur Ostseite Asiens zu gelangen. Und dann käme noch die Heimfahrt.

Das Evangelium von Rotterdam

In der Nachfolge Magellans zählte auch die Rotterdamer Expedition, bei der Erasmus mitfuhr, fünf Schiffe. Die Flotte bestand aus gebrauchten Frachtschiffen unterschiedlicher Bauart und Größe, die man für diese Weltreise aus den Beständen der regulären Handelsschifffahrt übernommen hatte. Es handelte sich also nicht um die gewaltigen Spiegelschiffe mit einer Ladekapazität von mehr als tausend Tonnen, die speziell für die später gegründete Vereinigte Ostindische Kompanie (VOC) gebaut worden waren. Die fünf Rotterdamer Frachtschiffe waren alt und klein. Für ihre gefährliche Weltreise wurden sie nun von einer lokalen Handelsgesellschaft ausgerüstet, die von zwei steinreichen Einwanderern aus Antwerpen und Mechelen gegründet worden war. Diese waren aus den von den Spaniern beherrschten südlichen Niederlanden in den freien Norden geflohen, wo der Handel mehr Zukunft hatte. In Rotterdam waren sie als Kaufleute und Bankiers tätig. Mit ihrem eigenen Geld und den Einlagen zahlreicher großer und kleiner privater Investoren brachten diese Reeder fünfhunderttausend Gulden auf. Einen Teil dieses schwindelerregenden Kapitals investierten sie in eine Versicherung, den Rest in die Anschaffung und Ausrüstung der Schiffe. Sie bemannten die Flotte mit etwa fünfhundert Seeleuten. Die Heuer der Besatzung hielten sie so gering wie möglich. Auch der eingelagerte Proviant – Wasser und Wein, Schiffszwieback und Grütze, Bohnen und Erbsen, Pökelfleisch und Räucherfisch – war nicht üppig, und die auf der Reise ausgeteilten Rationen waren spartanisch. Die Reeder zählten darauf, dass die Männer ihre karge Wegzehrung unterwegs durch Kauf oder Tausch, Fang oder Raub eigenständig aufbessern würden. An ausreichend Werkzeugen und Ersatzteilen mangelte es indessen nicht. Jedes Schiff hatte drei Sätze zusätzlicher Segel und Takelage in den Laderäumen liegen, kilometerlange Taue, einen zusätzlichen Anker und eine beachtliche Menge an großen und kleinen Hölzern. Hinzu kam eine immense Ladung an Tausch- und Handelswaren: Perlen, farbiges Glas, Spiegel, Brillen, Scheren, Küchenmesser, Kindertrompeten, Rosenkränze, Riese Papier, Ballen feinen Leinens, Packen schwerer Tuche und eine kolossale Ladung an Truhen mit Silbermünzen. Daneben gab es noch den eher unheilvollen Kram: Kriegsgerätschaften. Leere Stellen in den Laderäumen waren mit Kettenhemden und Harnischen vollgestopft worden. Jedes Schiff hatte Hunderte von Musketen an Bord, die von der Besatzung bei Konfrontationen mit den lokalen Völkern eingesetzt werden konnten oder in Kämpfen mit den Portugiesen und Spaniern. Diese beherrschten die Weltmeere und die Gebiete in Übersee und befanden sich im Krieg mit den Holländern. Daher waren die Schiffe mit Reihen von Bronzekanonen, Fässern voller Schießpulver und einem großen Vorrat bleierner Kanonenkugeln ausgerüstet.

Die Reeder spekulierten auf eine lukrative Kaperfahrt auf die spanische Silberflotte, die die Erträge aus den reichen peruanischen Silberminen nach Panama und Acapulco verschiffte und anschließend aus diesen Häfen über den Stillen Ozean auf die Philippinen brachte. Silberraub war jedoch nicht das einzige Ziel der Rotterdamer Expedition. Es ging auch darum, eine von Holländern noch nie zuvor gewagte Reise um die Welt zu unternehmen, möglichst viele Gewürze zu kaufen, die in der Heimat garantiert gutes Geld einbringen würden, und beständige Handelskontakte im Fernen Osten zu knüpfen. In den urbanen Niederlanden gab es Geld und Lebensmittel im Überfluss. Doch die Speisen des wohlhabenden Bürgertums schmeckten fade, und die Nachfrage nach exotischen Gewürzen wie Pfeffer, Nelken und Muskatnuss war groß. Daher wagten sich die kapitalkräftigen Reeder nur allzu gern an ihre heikle, aber potenziell spektakulär gewinnträchtige Unternehmung. Sie investierten mit überraschend leichter Hand in mehrere Expeditionen nach Westen und Osten gleichzeitig, die manchmal etwas einbrachten, manchmal aber auch nicht. Doch wenn es gut lief, war es ein Schuss ins Schwarze. Der aus Antwerpen stammende Rotterdamer verspekulierte sich zu oft und ging bankrott. Sein Partner aus Mechelen hatte mehr Glück. Am Ende seines Lebens war Johan van der Veken, dieser Rotterdamer Einwanderer – den man den »holländischen Fugger« nannte –, Vorsteher der VOC, Finanzier der Generalstaaten und einer der reichsten Menschen in den steinreichen Niederlanden. Sein Motto lautete: Das Glück bleibt dem treu, der es verdient – der Wahlspruch eines von sich selbst eingenommenen Geschäftsmannes, der dennoch klug genug war, nicht die Gunst Gottes, sondern der Fortune einzufordern. Und der bequemerweise gerne vergaß, wer für sein Glück gelitten hatte. Denn den Preis für diesen Auftakt zu Hollands Goldenem Zeitalter zahlten die indigenen Völker im Westen und Osten und, nicht zu vergessen, die Schiffsbesatzungen. Die Route der Rotterdamer Expedition, bei der Erasmus mitfuhr, wurde bei der Abreise vor der Besatzung geheim gehalten, weil man befürchtete, dass sonst kein Aas anheuern würde. Erst unterwegs erfuhren die Männer von der Schiffsleitung, dass sie die Welt umrunden mussten, dass sie die molukkischen Gewürzinseln auf umgekehrtem Wege, Richtung Westen, über die Atlantikroute und die Meerenge bei Feuerland ansteuern würden. Und als ob diese Hiobsbotschaft nicht schon genug wäre, erfuhren sie auch, dass sogar noch ein zweiter Plan bestand: Im gleichen Zuge sollten sie den Zugang zum Silber des Inselreiches Japan, hoch oben in der nördlichen Hemisphäre, ganz auf der anderen Seite des unermesslichen und unerforschten Gewässers der Welt, des Stillen Ozeans, suchen. Und dann erst würden sie wieder heimwärts segeln.

Oberster Befehlshaber der Flotte war Admiral Jacques Mahu – ein Antwerpener Einwanderer und Kaufmann, wie die Reeder, und einer der Großaktionäre der Rotterdamer Kompanie. Auf jedem Schiff führte ein Kapitän das Kommando. Der Kapitän zog dabei seinen Steuermann zurate, aber auch die mitfahrenden Handelskommissare und Buchhalter, die auf die Kasse achtzugeben hatten. Der Steuermann war für die Navigation zuständig und befehligte die tägliche Arbeit der Matrosen. Diese waren in Tag- und Nachtschichten mit den Leinen und Segeln, den Schöpfeimern und Pumpen, den Tauen und Ankern zugange. Sie kletterten in die Masten, um das Segel zu reffen, und sprangen ins Meer, um die Schaluppe zu bergen. Sie schöpften das Spritzwasser ab, und bei Sturm mussten sie pumpen. Die Matrosen wurden von Handwerkern mit speziellen Fachkenntnissen unterstützt. Ein tüchtiger Trupp Zimmerleute hatte alle Hände voll zu tun, um auf den Schiffen aus zweiter Hand all die täglich anfallenden Holzarbeiten auszuführen. Unterwegs brachen bei Unwetter ganze Bugspriete und Masten ab, die sie auf hoher See reparieren mussten. Tamboure und Trompeter gaben das Signal für Pausen, Wachablösungen, für das An-Bord-Gehen vor der Abfahrt, das Ankern und andere Befehle; über sie lief die Kommunikation mit den anderen Schiffen. Und sie begleiteten Zeremonien wie das Über-Bord-Werfen der Toten. Auch eine Reihe von Soldaten war an Bord, obgleich von allen Besatzungsmitgliedern erwartet wurde, dass sie mit Feuerwaffen umgehen konnten.

Jedes Schiff hatte einen eigenen Chirurgen. Und es gab einen Pfarrer bei der Flotte. Er ließ die Besatzung vom Trompeter zum Gottesdienst rufen. Die Katholiken mussten ohne einen Priester auskommen. Doch sich zu bekreuzigen und vor dem Essen ein Tischgebet zu sprechen, war ihnen gestattet. Auch das Paternoster, das Ave-Maria und das Glaubensbekenntnis wurde ihnen zugestanden. Und jeden Tag durften sie zum Gebet zusammenkommen. Dazu schlugen sie ein paarmal gegen den Mast. Dieser armselige Gebetsruf war verglichen mit den Fanfarenklängen des Trompeters, der den Gottesdienst der Evangelisch-Reformierten ankündigte, beschämend. Dennoch war das religiöse Leben an Bord freier als an Land, wo es Katholiken strengstens untersagt war, Andersgläubige mit ihrem Glauben zu behelligen. Hin und wieder sorgte das für Reibereien unter der Besatzung. Auch einer der Schiffschirurgen war katholisch. Dieser Amsterdamer nannte sich selbst einen Erasmianer. »Een Erasmiaen ben ick in mijn hart. De sonde von Godes kercke beklage ick met smart« – Ein Erasmianer bin ich in meinem Herzen. Die Sünde von Gottes Kirche beklage ich mit Schmerzen – so würde der gebildete Arzt nach seiner Rückkehr in die Heimat dichten, nachdem er mit der in seiner Stadt etablierten reformierten Ordnung in Konflikt geraten war.2 Nach eigenem Bekunden verteidigte der Arzt seinen Glauben gern gegen die unverhohlene Geringschätzung der reformatorischen Racker, wollte sich aber in Streitgesprächen, in denen es um die Missstände in seiner eigenen Kirche ging, auch nicht dumm stellen. Dieser Schiffschirurg verfasste einen Bericht über die Begebenheiten während der Reise. Darin hielt er auch seine Beobachtungen über die Schiffsmannschaft fest. Es gab Besatzungsmitglieder, die sich um das Ziel der Expedition nicht sonderlich scherten. Die noch nie eine Weltkarte gesehen hatten. Sie hatten angeheuert, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie standen auf, erledigten ihre Arbeit, aßen ihre Mahlzeit und fielen in ihre Hängematte, um am nächsten Tag wieder das Gleiche zu tun. So hatten sie schon allerhand Seereisen überstanden. Diese Kerle waren mit den Wassern vieler Meere gewaschen. Doch der Schiffschirurg schrieb auch, dass einige Mitglieder der Besatzung, als sie unterwegs vom Kapitän erfuhren, wohin die Reise in Wirklichkeit ging, sehr wohl begriffen, dass sie »zur Schlachtbank geführt wurden«.3 Sie protestierten. Aber eine Alternative hatten die Männer nicht.

Die fünf Schiffe bekamen für ihre Reise rund um den Erdball allesamt einen neuen Namen, sodass die Flotte stilvoll den Weltmeeren entgegensegelte. Die Namensgebung der Expedition strotzte mit ihren Verweisen auf die Evangelien und Apostelbriefe vor protestantischer Unternehmungslust. Das große Flaggschiff mit einer Fracht von fünfhundert Tonnen, das hundertdreißig Mann und den Admiral an Bord hatte, taufte man auf den Namen Hoop (Hoffnung). Die anderen vier Schiffe hießen Geloof (Glaube), Liefde (Liebe), Trouw (Treue) und Blijde Boodschap (Frohe Botschaft). Erasmus befand sich auf der Liefde, dem Schiff des Vizeadmirals, einer schnellen Fleute mit einem bauchigen Laderaum unter einem schmalen Oberdeck. Vorne niedrig und plump, hinten hoch und schmal, war die Liefde etwa dreißig Meter lang, mit einer Ladung von dreihundert Tonnen und hundertzehn Mann an Bord. Erasmus’ Schiff kam im Verlauf der Reise unter das Kommando von Jacob Janszoon alias Kapitän Quackernaeck und wurde von dem charismatischen Steuermann Will Adams navigiert. Adams war in den englischen Royal Dockyards von Chatham geboren und aufgewachsen. Was Schiffsbau und Schifffahrtskunde anging, machte ihm niemand etwas vor, da er schon mit zwölf Jahren als Lehrling in einer dieser riesigen Werften zu arbeiten begonnen hatte. Dort hatte er die abenteuerlichen Geschichten von der Weltumsegelung des Freibeuterkapitäns Francis Drake gehört, der Magellans Route zum Stillen Ozean noch einmal nachgesegelt und nach drei Jahren mit sechs Tonnen Gewürzen von den Molukken und zudem mit der Silberflotte der Spanier zurückgekehrt war. Zehn Jahre später hatte Adams selbst noch gegen die spanische Armada gekämpft. Danach war er für die englische Handelsschifffahrt nach Afrika gesegelt. Da er nun aber gerne die längere westliche Route nach Osten erkunden wollte, hatte er sich bei den Holländern beworben.

Die Heimsuchung

Der evangelische Optimismus der Reeder wurde auf eine harte Probe gestellt, denn die Rotterdamer Expedition erwies sich als unglückselige biblische Heimsuchung. Schon das erste Auslaufen ging schief, weil eines der gebrauchten Schiffe undicht war. Die Flotte musste umkehren, damit der lecke Kahn in der Werft repariert werden konnte. Am 27. Juni 1598 stach die Rotterdamer Flotte dann tatsächlich in See. Nach Ansicht des Steuermanns Will Adams, der die Reiseberichte der englischen Freibeuter auswendig kannte, war das zu spät. Unterwegs regte er sich überdies darüber auf, dass die Flotte auch noch unnötig lange vor den Kapverdischen Inseln herumtrödelte.

1 - Die Hoop und die Liefde vor den Kapverdischen Inseln. Druck in Wijdtlopigh verhael (1600) des Schiffschirurgen

Dort sollte die Besatzung die Stellungen des portugiesischen Feindes plündern, doch niemandem gelang es, Frischproviant zu erbeuten. Als sich die fünf Steuermänner unter der Führung von Adams darüber beschwerten, nahmen der Admiral, ein vornehmer Kaufmann ohne Seebeine, und die Kapitäne, die fast alle aus dem gleichen Holz geschnitzt waren, das schlecht auf. Auf den Rat der Steuermänner legte man fortan keinen Wert mehr. Der Ton für die restliche Reise war gesetzt. Aber Adams sollte recht behalten. Die Schiffe nahmen nun mit ungenügend Frischproviant Kurs auf die von den Portugiesen kontrollierten afrikanischen Tropen. Und sie erreichten das feindliche Küstengebiet unmittelbar oberhalb des Äquators mitten in der heftigsten Monsunzeit, die ihnen dampfenden tropischen Regen und beständige auflandige Winde bescherte. Ende des Jahres lag die Rotterdamer Flotte noch immer in brütender Hitze vor der afrikanischen Küste im Golf von Guinea. Alles, was der Schiffskoch aus dem Frachtraum holen ließ, schien auf dem Feuer gestanden zu haben. Das Trinkwasser brodelte, der Branntwein gärte, der Schiffszwieback knirschte vor Würmern. An Land weigerte man sich, die Schiffe mit Frischproviant zu beliefern. Nach langem Zaudern erbeuteten sie auf der Insel Annobón mit brachialer Gewalt Trinkwasser und frische Verpflegung von den Portugiesen. Doch die Bananen, Orangen und Kokosnüsse kamen für den Admiral und einen Teil der Besatzung zu spät: Fünfzig Männer und der Oberbefehlshaber Mahu waren bereits vom Skorbut und vom Tropenfieber dahingerafft worden. Der stellvertretende Admiral, ebenfalls ein auf See unerfahrener Kaufmann und Großaktionär der Kompanie, verschob, in der Hoffnung auf ablandige Winde und eine Erholung der geschwächten Mannschaft, die Fahrt über den Atlantik ein weiteres Mal. Vergeblich: In diesem schwülen, feuchten Klima erkrankten mit der Zeit nur noch mehr Besatzungsmitglieder an Fieber.

Am 3. Januar 1599 entschloss sich die Flotte schließlich, das Wagnis der Atlantiküberquerung anzugehen. Fern der Küste stand der Wind nach einer Weile günstig, so günstig, dass der beim Auslaufen aus Rotterdam schon morsche Großmast der Geloof beim Aufziehen des Großsegels förmlich zerbarst, er zersplitterte in drei Teile und flog über Bord. Die Liefde nahm das Schiff tagelang ins Schlepptau, während die Zimmerleute von beiden Schiffen mit vereinten Kräften einen neuen Mast errichteten, der allerdings etwas zu kurz geriet. Nach zehn Wochen auf hoher See kam die beeindruckende Mündung des Rio de la Plata in Sicht. Von da an segelte die Flotte immer weiter nach Süden, dicht an der stürmischen Küste Patagoniens entlang. Drei Wochen währte die raue Fahrt zum äußersten Rand der Seekarte. Die lang gestreckte Küste wurde von spanischen Stellungen verteidigt, sodass die Rotterdamer Schiffe nirgendwo ankern konnten, um ihren Proviant aufzufüllen. Monatelang war die Besatzung nun schon ununterbrochen auf See, bei streng rationiertem Wasser, ein paar Brocken Schiffszwieback und einer Schale Erbsen oder Bohnen am Tag. Der Hunger war so groß, dass sich die Männer über das Leder der Takelage hermachten. Ein Seemann, den man auf der Liefde beim Diebstahl von Brot aus der Truhe des Kochs erwischt hatte, wurde am Bugspriet aufgeknüpft. Als warnendes Beispiel ließ der Kapitän seine Leiche dort einen ganzen Tag lang hängen.

Am 6. April erreichten die Schiffe endlich die Magellanstraße. Steuermann Adams zufolge vergeudete der Admiral damals eine ganze Woche bei gutem Wetter und äußerst günstigem Ostwind, weil er darauf bestand, vor der Einfahrt in die Straße zunächst tagelang Proviant und Brennholz zu laden. Adams fand das absurd, denn er wusste, dass in der Straße zahlreiche Ankerplätze und eine reiche Flora und Fauna zu finden waren. Außerdem war dem Steuermann klar, dass zu dieser Jahreszeit Eile geboten war. Als die Schiffe endlich den Anker lichteten, drehte der Wind. Auf der südlichen Hemisphäre setzte der Polarwinter ein. Magellan hatte die sechshundert Kilometer lange Straße im Oktober und November unter sommerlichen Bedingungen in achtunddreißig Tagen durchquert. Adams Held aus Kindertagen, der Freibeuterkapitän Drake, hatte es zu Beginn des Sommers als kühner Draufgänger, bei günstigen Winden und mit wenig Skrupeln, was das Schicksal seiner Schiffe anging, in sechzehn Tagen geschafft. Die Rotterdamer Flotte brauchte nun fünf lange, bitterkalte polare Wintermonate, um die gewundene, enge und manchmal tückisch untiefe Straße mit ihrem extremen Gezeitenhub zu passieren. Immer wieder drohten die Schiffe bei plötzlich einsetzender Ebbe auf Grund zu laufen. Heftige Stoßwinde, die mit Schnee, Hagel und Eisregen aus dem Südpoolgebiet herangerast kamen, trieben die Schiffe fast auf die Klippen. Wochenlang blieb die eisbedeckte Flotte liegen, weil die Schiffe vor dem tobenden Polarsturm in frostigen Buchten zwischen den verschneiten Ausläufern der Anden Schutz suchen mussten. Selbst die Zeit schien hier zu erstarren. Während der dunklen Monate des Überwinterns wärmte sich die Schiffsleitung in bequem eingerichteten Kabinen am Feuer. In der Kajüte deckte der Schiffskoch für die Herren täglich einen reich gefüllten Tisch, mit Tischtüchern und Servietten. Die Besatzung aß und schlief ohne Feuerung unter Deck, zwischen den Kisten und Kanonen in zugigen feuchten Räumen. Die Männer froren, denn sie hatten keine Winterkleidung mitgenommen, da man sie im Vorhinein nicht über die Route der Expedition in Kenntnis gesetzt hatte. Und sie hatten Hunger. In der schneidenden Kälte verschlangen sie schnell ihre kärglichen Rationen. »Für ein Pfund Brot hätten wir tausend Gulden gegeben«, erklärte der Trompeter der Blijde Boodschap später.4 Der jämmerliche Schiffszwieback trieb die Männer zur Nahrungssuche von Bord. Dabei stießen sie auf Kanus mit splitternackten, durch eine Schicht Tierfett vor Kälte und Feuchtigkeit gut geschützten einheimischen Jägern, die sich eingedenk früherer Konfrontationen mit Spaniern und Engländern mit Zähnen und Klauen gegen die Eindringliche zur Wehr setzten. Der Schiffschirurg schnitt bei den überlebenden Besatzungsmitgliedern die Pfeilspitzen aus dem Körper. Im dicht gepackten Schnee an den vereisten Ufern jagten die Männer Robben und Pinguine. Ihre nassen Kleider und Schuhe wollten nicht trocknen. Sie tauchten im Eiswasser und suchten Muscheln. Viele Männer wurden todkrank. Der Schiffschirurg amputierte erfrorene Füße. Einhundertfünfzig Männer überlebten die Durchfahrt nicht.

Im September kamen die Hoop, die Liefde und die Blijde Boodschap dann endlich wieder aus der Meeresstraße zum Vorschein. Doch die Geloof und die Trouw wurden am Ende der Passage von einem gewaltigen stürmischen Westwind wieder tief in die Straße zurückgedrängt. Auf der Geloof mit ihren morschen Masten und verrotteten Tauen – so verrottet, dass sie rissen und das Schiff in der Straße fast alle Anker verloren hatte – fingen die Männer an zu meutern. Sie weigerten sich, ihr marodes Schiff noch einmal durch die gefährliche Meeresstraße zu lotsen, mit einer noch riskanteren Überquerung des Stillen Ozeans als einziger Aussicht. Der Kapitän lenkte ein. Das Schiff kehrte um, nahm tausend totgeknüppelte Pinguine als Proviant an Bord und setzte Segel in Richtung Rotterdam. Neun Monate später erreichte die Geloof die Heimat, mit sechsunddreißig Überlebenden, einem aus der Magellanstraße mitgenommenem vierjährigen Mädchen, das kurz nach der Ankunft starb – seine Mutter war schon während der Reise gestorben –, und ohne einen Pfennig Gewinn. Das Reisetagebuch des Schiffschirurgen und die vom Steuermann gezeichnete Küstenkarte der Straße sowie das vierjährige Mädchen waren die einzigen greifbaren Beweise für die tollkühne Reise der Geloof. Der Trouw gelang es schließlich noch, die Straße zu durchfahren. Doch das Schiff hatte den Anschluss an die Flotte verloren und strandete vor einer Insel im Stillen Ozean. Die Besatzung überfiel dort eine spanische Siedlung und segelte mit frischem Proviant weiter zu den Molukken, wo fast alle unmittelbar nach der Ankunft von den Portugiesen massakriert wurden. Drei Männer überlebten das Massaker und wurden gefangen genommen. Dank eines Kriegsgefangenenaustauschs konnten sie Jahre später in ihre Heimat zurückkehren. Währenddessen hatte die Blijde Boodschap in stürmischen Gewässern entlang der chilenischen Küste die Hoop und die Liefde aus den Augen verloren. Das Schiff kam vom Kurs ab und fuhr zu weit, direkt auf die spanische Festung Valparaiso zu, wo es in die Hände der Spanier fiel. Die Besatzung wurde inhaftiert, verhört und zu Zwangsarbeit auf den spanischen Galeeren verurteilt. Zehn Mann sahen Rotterdam, dank desselben Kriegsgefangenaustauschs, nach Jahren wieder.

Nur die Hoop und die Liefde segelten noch weiter. Kurs Richtung Norden steuernd, fiel die Liefde hinter die Hoop zurück, als ein Stoßwind ihr Vorsegel zerfetzte und davonwehte. Das Warnsignal des Trompeters verhallte im Tosen des Sturms. Hiernach verloren sich die beiden Schiffe für eine ganze Weile aus dem Blick. Mit unzuverlässigen handgezeichneten Seekarten war die Suche nach dem zuvor vereinbarten Treffpunkt, eine der vielen Inseln vor der unzugänglichen, von spanischen Stellungen bewachten chilenischen Küste, ausgesprochen zeitraubend. Im Oktober und November ankerten die Hoop und die Liefde fern der feindlichen Küste vor unterschiedlichen Inseln, wo sie auf die Möglichkeit hofften, sich mit frischer Verpflegung einzudecken. Auf Befehl des Admirals entsandte die Hoop eine Schaluppe mit ihm selbst, dem Kapitän und dreißig Mann an Bord. Niemand von ihnen kehrte zurück. Alle kamen in einem wüsten Kampf mit den Einheimischen ums Leben. Die Liefde hatte Glück. Die Inselbewohner waren bereit, das Schiff mit Wasser, Hammelfleisch, Obst und Kartoffeln zu versorgen und dafür Perlen und Küchenmesser einzutauschen. Doch bei einem zweiten Besuch auf der Insel bewaffnete der starrköpfige Kapitän seine Mannschaft dennoch mit Musketen. Woraufhin einheimische Bogenschützen in kürzester Zeit Dutzende von Männern niederstreckten. Auch den Kapitän. »Wir hatten nur noch so wenige Männer, dass wir kaum den Anker lichten konnten«, schrieb Steuermann Adams über diese Katastrophe in Briefen in die Heimat.5 Am vereinbarten Treffpunkt der Insel Santa Maria fanden sich die Hoop und die Liefde dank der Hartnäckigkeit ihrer Steuermänner trotz allem wieder. Man zählte die Toten. Jedes Schiff hatte kaum noch dreißig Mann an Bord. Formalitäten, wie das Trompeten des »Trauersignals«, das nach dem Tod des ersten Admirals noch ordnungsgemäß beibehalten worden war, gaben die Überlebenden nun auf. Anhand des Instruktionsbriefs des Reeders wurden neue Kapitäne und ein neuer Admiral ernannt: der neunzehnjährige Sohn des Gefallenen.

Die Steuermänner schlugen vor, nach dem Vorbild des Freibeuterkapitäns Drake alle Männer, Güter, Vorräte und den Frischproviant auf das bessere Schiff zu verfrachten und das schlechtere zu verbrennen. Der neue Admiral und die Kapitäne lehnten das ab. Eine Kaperfahrt zu unternehmen, um die spanische Silberflotte auszuplündern, war inzwischen ausgeschlossen. Die stark unterbesetzte Mannschaft musste sich für den zweiten Teil der Weltreise wappnen. Am 27. November 1599 segelten die Hoop und die Liefde gemeinsam von der chilenischen Küste aus in eine neue Hemisphäre, ein neues Meer und ein neues Jahrhundert. Sie nahmen die allererste Überquerung des nördlichen Teils des Stillen Ozeans in Angriff. Mit der Meeresströmung und dem Südostpassat segelnd, überquerten sie Anfang des 16. Jahrhunderts den Äquator. Im noch unkartierten Teil der nördlichen Hemisphäre erwies sich das Wasser überall als bedrohlich unruhig. Wirbelstürme fegten über den Ozean. Nach drei Monaten auf hoher See gerieten die Schiffe auf Höhe der Hawaii-Inseln in einen Taifun. Die Hoop wurde in dem gewaltigen Strudel emporgeschleudert und ging im Auge des Orkans mit Mann und Maus unter. Das letzte verbliebene Schiff, die Liefde, segelte mit dem zuverlässigen Steuermann Adams an der Ruderpinne noch weitere zwei Monate durch völlig unbekannte Gewässer, sein Blick auf das Kompasshaus gerichtet, mit Kurs Westnordwest. Am 19. April 1600 bekam der Ausguck auf etwa 30 Grad nördlicher Breite Land in Sicht. Die Liefde war das erste Schiff, das von Osten her Kurs auf das japanische Inselreich nahm; wie durch Zauberhand tauchte es aus den unermesslichen Weiten des Ozeans auf. Bis dahin hatten nur portugiesische Seefahrer den Weg nach Japan gefunden, von Westen her, von den nahe gelegenen Häfen des asiatischen Kontinents über das chinesische Binnenmeer segelnd. Auf diesem Seeweg waren die Japaner mit Händlern und Missionaren aus Portugal und Spanien vertraut. Andere Europäer hatten sie noch nie gesehen. Mit der Rotterdamer Expedition wollten die Holländer das endgültig ändern. Die Besatzung würde jedenfalls versuchen, die holländische Schiffsladung gegen Silber aus den legendären japanischen Silberminen einzutauschen. Anschließend sollten die Männer laut der Instruktionen der Reeder zu den Molukken segeln und dort das neu erworbene japanische Silber und die Kisten voller europäischer Silbermünzen einsetzen, um mit einer kostbaren Ladung Gewürze Kurs auf die Heimat zu nehmen, zurück zu ihren Reedern in Rotterdam, die auf eine zukünftige beständige Handelsbeziehung mit dem silberreichen Japan und den molukkischen Gewürzinseln hofften. Die Liefte ging in der Bucht von Ōita vor der Küste der südlichsten japanischen Insel Kyūshū vor Anker. Nur vierundzwanzig Männer hatten überlebt, alle unterernährt und von Skorbut befallen, einige waren dem Tode nahe und hatten keinen Zahn mehr im Mund. Auch der Kapitän lag schon seit Wochen von Krankheiten niedergestreckt in seiner Kabine. Nur der Steuermann und eine Handvoll Männer konnten sich noch auf den Beinen halten. Dschunken setzten von der japanischen Küste zum Schiff über. Die Japaner ließen sich von den portugiesischen Missionaren, die sie als Dolmetscher mitgenommen hatten, weismachen, dass es sich bei den Holländern um Piraten handelte. Sie beschlagnahmten die Liefde, ohne bei der ausgemergelten Besatzung auf Widerstand zu stoßen. Drei Männer starben noch am selben Tag an Bord. Die übrigen wurden gefangen genommen und an Land gebracht. Dort erlagen bald schon drei weitere ihren Leiden.

Shogun

Nach einer Woche im Kerker der Burg Ōsaka auf der japanischen Hauptinsel Honshū wurde Steuermann Adams von Tokugawa Ieyasu aufgefordert, zu einer Audienz zu erscheinen. Ieyasu war ein nichts und niemand verschonender Kriegsherr, der Gefürchtetste unter den japanischen Warlords, die das Inselreich seit Menschengedenken in einem permanenten Zustand des Bürgerkriegs hielten. Sie waren Herren und Meister über die Samurai-Klans, martialische Schwertkämpfer, die ihrem Kriegsherrn bedingungslos wie treu ergebene Vasallen dienten. Im Jahr 1600 schickte sich Tokugawa Ieyasu gerade an, die militärische und administrative Vorherrschaft über das feudale Japan an sich zu reißen. Was ihm im Herbst desselben Jahres dank der Schlacht von Sekigahara tatsächlich gelingen sollte. Und kurz darauf erhob der seit Jahrhunderten wehrlose japanische Kaiser diesen ebenso gerissenen wie grausamen Warlord in seinem verfallenen Palast in Kyoto in den Rang eines Shoguns. Woraufhin Shogun Ieyasu seinen bedeutendsten Rivalen mitsamt seiner Familie in der Burg Ōsaka eliminierte. Dessen Vasallen ließ er demonstrativ allesamt von seinen eigenen Samurai enthaupten. Er ließ sich auf Honshū in seiner eigenen Burg Edo nieder und zwang alle überlebenden Kriegsherren, ihre Frauen und Kinder in sein Machtzentrum zu bringen, wo sie fortan als Geiseln lebten. In der Folgezeit regierte das Tokugawa-Shogunat Japan von der Burg Edo aus 250 Jahre lang unangefochten.

Vom plötzlichen Auftauchen der Liefde aus dem Stillen Ozean am 19. April 1600 war Tokugawa Ieyasu sofort fasziniert. Da war zuallererst das holländische Waffenarsenal: fünfhundert hervorragende Langgewehre mit Bleimunition, neunzehn massive Bronzekanonen, mindestens zweitausend gusseiserne Kanonenkugeln und Tonnen von Schießpulver. Ieyasu ließ alle Fracht vom Schiff löschen. Er stattete seine persönlichen Leibwächter mit den überlegenen holländischen Musketen aus und überrumpelte seine Rivalen in der Schlacht im Herbst desselben Jahres mit den Kanonen aus Holland. Diese auf dem Inselreich bis dahin unbekannte mechanische Gewalt verstieß gegen alle ehrenhaften Regeln der japanischen Schwertkunst – eines feudalen kriegerischen Ideals, das seit der Einführung der portugiesischen und spanischen Musketen eigentlich schon längst der Vergangenheit angehörte. Doch Kanonen hatte das Inselreich noch nie zuvor gesehen. Eine schockierende Skrupellosigkeit zur rechten Zeit. Sie versetzte Tokugawa Ieyasu im Herbst 1600 in die Lage, das Machtvakuum, in dem sich Japan befand, aufzulösen, indem er sich entschied, das unerwartete Erscheinen der Liefde mit ihren neunzehn Kanonen schamlos auszunutzen.

2 - Japanische Samurai mit holländischen Musketen. Der Hatamoto trägt ein langes und ein kurzes Samurai-Schwert.

Doch Ieyasus Neugier auf die Liefde bezog sich nicht nur auf das Waffenarsenal. Auch die unverkennbare Animosität zwischen den portugiesischen Missionaren und den hochgewachsenen, rothaarigen Fremden mit ihren schlichten Namen – Yayansu und Yayosu, mehr Varianten schien es nicht zu geben – reizte den gewieften Strategen. Tokugawa Ieyasu befragte Steuermann Adams in der Burg Ōsaka mindestens dreimal höchstpersönlich. Das erste Verhör zog sich bis Mitternacht hin. Der charismatische Steuermann schlug sich glänzend. Adams erwies sich über alles, wozu er befragt wurde, als bestens informiert. Er nutzte die Gelegenheit dazu, Ieyasu über die politischen und religiösen Spannungen in Europa aufzuklären und die internationale Kriegsführung auf den Weltmeeren aus Sicht der Holländer und Engländer zu erläutern. Ungeachtet der Sabotage der portugiesischen Missionare, die bei dem Verhör dolmetschten, gelang es dem Steuermann, Tokugawa Ieyasu mit Händen und Füßen von den friedlichen Reiseabsichten der Liefde zu überzeugen. Die »Jan Janssens« und »Jan Joostens« seien aus Holland gekommen, um Handel zu treiben. Sie seien nicht darauf aus, Japan zu erobern: Die Waffen an Bord ihres Schiffes hätten sie mitgebracht, um die Portugiesen und Spanier zu bekämpfen. Und sie seien auch nicht darauf aus, zu missionieren, fügte Adams diplomatisch hinzu. Diese Ausführungen gefielen dem angehenden Shogun. Ieyasu störte sich am Erfolg der portugiesischen und spanischen katholischen Mission in seinem Inselreich. Die Missionare hatten einen Großteil der japanischen Bevölkerung bekehren können, weil sie im Tausch gegen Handelskontakte und Lieferungen portugiesischer und spanischer Musketen unter dem Schutz rivalisierender feudaler Kriegsherren standen. Adams Bericht war daher Wasser auf seine Mühlen.

Ieyasu wollte nun alles über das kleine Schiff der rothaarigen Seeleute und ihr wundersames Auftauchen aus den Gewässern östlich des Inselreiches erfahren. Steuermann Adams beeindruckte Ieyasu mit seiner Weltkarte und seiner Weltumsegelung. Japan kannte bis dahin nur Seekarten und Karten der asiatischen Seite der Welt. Ieyasu kannte nur den Kurs der Portugiesen, die mit ihren schwerfälligen Galeonen an den afrikanischen Küsten entlang, um das Kap der Guten Hoffnung herum, und dann mit Zwischenhalten in asiatischen Häfen über das Chinesische Meer nach Japan kamen. Der Steuermann zeigte Ieyasu auf seinen pergamentenen Seekarten, auf welch großartiger Route es ihm als erstem Menschen gelungen war, Japan über den Atlantischen und Stillen Ozean zu erreichen – »er war sehr überrascht über die Magellanstraße, er glaubte, ich würde ihn anlügen«, schrieb Adams in einem Brief an seine Frau in Kent.6 Der Steuermann nahm sich alle Zeit, um die heldenhaft durchgestandenen Heimsuchungen während der zweiundzwanzigmonatigen Seereise zu schildern. Dabei stellte er zwischendurch immer wieder seine in der Praxis erprobten Kenntnisse im Schiffsbau, in Schifffahrtskunde, Geografie, Astronomie und Geometrie unter Beweis. Adams gelang es, einen zuverlässigen und sachkundigen Eindruck auf Tokugawa Ieyasu zu machen. Die portugiesischen Missionare hatten das Nachsehen. »Ich gefiel ihm so gut, dass er auf nichts, was ich sagte, Widerspruch duldete«, prahlte der Steuermann in einem Brief an Freunde in England.7

Die Besatzung der Liefde wurde nach Ieyasus Verhör freigelassen. Keines der achtzehn ehemaligen Besatzungsmitglieder hat Holland je wiedergesehen. Sie fanden in Japan im Schiffsbau und im Handel ihr Auskommen. Einige Jahre später wagte der frühere Kapitän Quackernaeck doch noch die Heimreise, indem er den Kriegsschiffen der neu gegründeten VOC auf einer Dschunke entgegensegelte. Er kam unterwegs an Bord eines holländischen Schiffes, das in ein Seegefecht mit den Portugiesen geraten war, ums Leben.

Adams blieb in Japan. Tokugawa Ieyasu lotste ihn mit an seinen Hof in der imposanten Burg Edo. Dort ernannte er den exzellenten Steuermann zu seinem nationalen Schiffsbaumeister. Die Liefde fand als japanisches Frachtschiff Verwendung, ging jedoch im Sommer 1600 in einem Sturm unter. Unter Mithilfe des Rotterdamer Schiffszimmermanns der Liefde entwarf Adams zwei neue Frachtschiffe für den japanischen Seehandel. Außerdem begann Tokugawa Ieyasu Adams als diplomatischen Berater miteinzubeziehen. Diese Rolle spielte der Steuermann mit Begeisterung. Ieyasu liebäugelte sogar mit dem Gedanken, zukünftig alle portugiesischen und spanischen Missionare auszuweisen. Nun, da Japan für seine internationalen Handelsbeziehungen nicht mehr auf Portugal oder Spanien angewiesen war, gab er den Holländern und Engländern den Vorzug. Die Holländer erhielten das Exklusivrecht, nach Japan zu segeln und zu ankern, wo immer sie wollten. Außerdem erhielten Holländer und Engländer das Privileg, bei Hirado eine Handelsfaktorei zu eröffnen.

Adams brachte sich selbst Japanisch bei. Er trug einen Kimono. Anjin-san (»Herr Seelotse«) Adams erhielt unbegrenzten Zugang zu den Gemächern des Shoguns in Edo. Schon bald wurde er zum Übersetzer der diplomatischen Korrespondenz, die Tokugawa Ieyasu mit den Machthabern in Holland und dem englischen König James zu führen begann. Und er trat bei den Verhandlungen mit holländischen und englischen Kaufleuten, die ihre Waren in Japan versilbern wollten, im Namen des Shoguns als Handelsvertreter auf. Adams erkannte bald, dass sich dieses Volk von Schwertkämpfern und Silberschmieden mit seinen kostbarsten asiatischen Luxusgütern als ein Volk profilieren wollte, das sich durch kriegerische Machtdemonstration, großen Reichtum und einen kultivierten Geschmack auszeichnete. Hier kleidete man sich in reiner Seide aus China und trank Tee aus Mingporzellan. Die Holländer begriffen sehr gut, dass sie die kulturell überaus versierten Tipps des Steuermanns ernst nehmen sollten, um Geschäftserfolge verbuchen zu können. Auf Adams Einflüsterungen hin brachten sie enorme Ladungen chinesischer Seide und Porzellan nach Japan, im Tausch gegen einen Schatz japanischen Silbers, mit dem sie auf den Molukken und Philippinen Gewürze erstehen konnten. Auf Adams Anraten hin hofierten die Holländer Tokugawa Ieyasu mit exklusiven Geschenken in Form extravaganter Seidengewänder und prunkvoller Kunstgegenstände. Und sie waren so klug, ihre Faktorei in Hirado mit einnehmenden Repräsentanten wie Claes Coeckebacker zu besetzen, der sich am Hof in Edo durch die Darbietung übertriebener Servilitäten hervortat – und der nicht davor zurückschreckte, Kanonen der VOC gegen die lokale Bevölkerung einzusetzen, als der Shogun nach seinem Entschluss, die japanischen Katholiken zu verfolgen, die Holländer in Hirado um Unterstützung ersuchte.

Mit den Engländern tat sich Adams hingegen auffallend schwer. Sie rümpften die Nase über Adams’ Affinität zu Japan. Im Gegenzug hielt Adams seinen Landsleuten vor, dass sie den Japanern mit ihren minderwertigen Waren offenbar willentlich Geringschätzung entgegenbrachten. Auch mit den eifrigen Missionaren hatte Adams wenig Geduld. Ein Disput mit einem spanischen Franziskaner über göttlichen Beistand spitzte sich derart zu, dass der Mönch voller Inbrunst anbot, ein Wunder zu vollbringen. Adams stellte ihm zur Aufgabe, über Wasser zu wandeln. Am nächsten Tag schritt der Spanier mit einem großen Holzkreuz in seinen Händen Gott ergeben in die Wellen. Das Wunder manifestierte sich allerdings nicht sofort. Dennoch schritt der Mönch weiter ins tiefere Wasser. Ein früheres Besatzungsmitglied der Liefde, das mit seinem Kahn vor der Küste lag, fischte ihn schließlich heraus, während die Holländer in der Menge am Strand dem Mönch zujohlten, dass sein Holzkreuz wirklich groß genug gewesen sei, um sich darauf treiben zu lassen.

Der Shogun belohnte Adams großzügig. Er bedachte ihn mit einem Landgut, das von achtzig Leibeigenen bewirtschaftet wurde, und schenkte ihm zwei Samurai-Schwerter, ein langes und ein kurzes. Steuermann Adams wurde offiziell für tot erklärt. Der Shogun verkündete die Geburt des Samurai Adams. Der Preis, den Adams für die Erhebung zum Hatamoto – zum höchsten Samurai – zahlen musste, war ein lebenslanges Verbot, zu Frau und Kindern zurückzukehren. Über niederländische und englische Händler schickte Adams regelmäßig Geld zu seiner Strohwitwe in Kent. In Edo jedoch vermählte er sich ein weiteres Mal mit einer Japanerin. Im Jahr 1620 starb Adams in Hirado im Alter von sechsundfünfzig Jahren. In seinem Testament hatte er verfügt, dass sein Vermögen zu gleichen Teilen zwischen seiner englischen und seiner japanischen Familie aufgeteilt werden sollte. Seine Samurai-Schwerter und der dazugehörige Samurai-Titel gingen an seinen Sohn in Japan über.

Dank James Clavells Bestseller Shogun aus dem Jahr 1975 und der darauf basierenden gleichnamigen amerikanischen NBC-Fernsehserie ist Adams als der erste Samurai aus dem Westen berühmt geworden. So berühmt sogar, dass es fast unvorstellbar ist, dass Adams Jahrhunderte zuvor eine tatsächlich lebende historische Person war. In Clavells Geschichte landet der Schauspieler, der ihn als einen unverkennbar nach dem Vorbild von Will Adams gestalteten englischen Steuermann spielt, unter einem fiktiven Namen in Japan. Sein holländisches Schiff hat es in einem gewaltigen Sturm geschafft, das Land der Samurai zu erreichen. Das Schiff mit dem Namen Erasmus.

Der Heilige von Tokio

Nun zurück zur wirklichen Geschichte! Soweit dies denn möglich ist. Hier läuft so vieles durcheinander. Was wird das nun: Geschichtsschreibung oder etwas anderes? Ein Krug sollte es doch werden, Töpfer; wieso dreht deine Scheibe dann eine Kanne? Wie viele Schichten willst du einer Geschichte denn geben, Langereis! Bleib einfach mal bei den Fakten, meinen Fakten. End fiction. Try fact! Oder lass mich andernfalls lieber selbst zu Wort kommen. Schließlich ist es meine Geschichte – oder etwa nicht? Wir schreiben den 19. April 1600: Adams ankert vor der Küste Japans. Die Liefde wird von den japanischen Behörden beschlagnahmt. Auf Befehl des zukünftigen Shoguns wird sie völlig entladen. Sie kommen mich holen! Zwei Jahre lang bin ich ununterbrochen auf den Weltmeeren umhergeschippert, festgenagelt auf einen schwimmenden Sarg, oben auf diesem turmhohen schmalen Achtersteven. Die ganze Zeit den Blick auf das beängstigend knarrende Ruder direkt unter meinen Füßen gerichtet. Wasser, Wasser, Wasser, Wasser. Wind und Regen. Sonne, stechende Sonne, und wieder Regen, peitschender Regen. Schneidender Wind. Nebelbänke, tropische Schauer, Hagelstürme. Die kochende Hölle in einem Orkan. Beißende Meeresluft, Meeresgischt, Meersalz. Das tiefe Schwarz meiner Kappe und meines Mantels ist ausgeblichen, das Rostbraun meines Pelzkragens weggefegt. Mein Schuhwerk von Wind und Wetter zerschlissen. Die Banderole in meiner gewaltigen rechten Hand kaum noch lesbar. Meine linke Hand habe ich verloren. Aber die Bibel, die ich damit umklammert hatte, ist erhalten, fest an meine Brust gedrückt. Ich bin wettergegerbt, abgehärtet, ausgezehrt. Es wird Zeit, dass ich endlich mal von dieser Brigg runterkomme. Obwohl ich es natürlich lieber gesehen hätte, wenn das wieder zu Hause in Rotterdam geschehen wäre. (Siehe Farbabbildung 1.)

Bedenken Sie, dass ich schon das eine oder andere mitgemacht hatte, bevor ich zu dieser Weltreise aufbrach. Ich stamme aus dem Jahr 1572. Ein Laufbursche des Herzogs von Alba, der damals im Namen des katholischen spanischen Königs Phillip II. gnadenlos über die aufständischen protestantischen Niederländer herrschte, erteilte in jenem Jahr den Rotterdamer Schiffsbauern den Auftrag, achtzehn Handelsschiffe für die Schlacht auszurüsten und mich in Holz schnitzen zu lassen. So konnte ich mit meinem katholischen Namen und meinem Ruhm der katholischen Kriegsflotte Glanz verleihen. Das war im Mai, kurz nach der Einnahme des Küstenstädtchens Den Briel durch die protestantischen holländischen Rebellen. »Am XXIII. Tag im Mai wurde Bildschneider Jan Claeszoon ausbezahlt«, heißt es in den Rotterdamer Stadtbüchern von 1572, »weil er eine Skulptur von St. Jakob zu Pferde geschnitzt hat« – dem Schutzpatron des katholischen Spaniens – »und die Effigie von Erasmus Roterdamus«.8 Da war ich! Gegen die reformierten Rebellen fuhr ich in jenem Sommer von Rotterdam aus, der Stadt, die damals noch dem Herzog von Alba und dem König von Spanien treu war. Das Schiff war damals noch nicht nach der Liebe benannt, sondern nach mir! »Taratantara! Taratantara! Die Erasmus zieht in den Kampf!« Schiffsfiguren wurden damals noch aus dummer alter Gewohnheit auf dem Achtersteven angebracht. Sonst hätte ich doch sicher als Galionsfigur gedient. Überhaupt keinen Sinn für PR in diesen Gefilden. Aufgepasst, protestantische Rebellen! Hier komme ich, Erasmus! Euer weltberühmter Rotterdamer! Schutzpatron aller von protestantischen Rebellen belagerten katholischen Holländern! Eine geborene Galionsfigur bin ich – und dann von diesen Dummköpfen als Nachhut in den Kampf geführt. Welch tumbe Einfalt. Unnötig zu erwähnen, dass mein Schiff von den protestantischen Rebellen gekapert wurde. Seither gehört die Erasmus mit meiner Holzskulptur auf dem Achtersteven zur Flotte der Reformierten. Die meinem Schiff 1598 einen neuen Namen gaben: Liefde.

Und wie wankelmütig sich das Schicksal des berühmten Helden dann erweist. In einem Moment zählen dich die Spanier und die Katholiken im Krieg gegen die reformierten Rebellen noch voll und ganz zu den ihrigen. Im nächsten Moment schelten dich die Spanier einen Lutheraner und schmeißen dich in Rotterdam in die Maas. Dort stellen die Rotterdamer, als sie sich auf die protestantische Seite schlagen, dein Standbild jedoch schnell wieder auf. Sie wissen diesen ketzerischen Ruch, der verflixt noch mal an dir klebt, durchaus zu schätzen. Sind mit einem Mal stolz auf dich als Wegbereiter ihrer Reformation. Gießen dich später dort sogar in Bronze, weil sie während eines Waffenstillstands mit den Spaniern gerade mit dir als Held der Friedfertigkeit und der Toleranz prunken wollen. Doch dann schreien die Verbohrten plötzlich herum, du seist ein gefährlicher Libertin, ein Spötter wider alle Religion. Und nach Ansicht des protestantischen Pfarrers bist du plötzlich wieder zu katholisch. Gehört dein bronzenes Standbild auf einmal zum römischen Heiligengedöns. Bist du ein Abgott! Und dann kommen papistische Salbader auch noch, um dich mit ihrem Gereime über »den Rotterdamer Heiligen« für sich zu vereinnahmen. Während ich doch wirklich als Mann von Welt dastehe, vertieft in mein bronzenes Buch. Wird mich denn in Rotterdam jemand anbeten? Wohl kaum. Unterdessen höre ich, wie mich reformierte Verseschmiede schon wieder als »den Pfaffen, der dort steht« abtun. Sie projizieren alles Mögliche auf mich, ganz wie es ihnen zupasskommt.

In meinem wirklichen Leben habe ich das natürlich schon ein wenig mir selbst zuzuschreiben. Mit teuflischem Vergnügen spielte ich immer wieder eine andere Rolle. Nur bei Tisch, unter Freunden, wenn alles, was man herausposaunt, nur in Wein notiert werden sollte, bin ich wohl mal aus meiner Rolle gefallen. Zum Teufel mit den Zechkumpanen mit gutem Gedächtnis! Aber auf der Weltbühne: der große Ungreifbare. Alle habe ich überlistet, mühelos, spielend. Die Donnerschläge meiner Kritiker beantwortete ich mit einem krachenden Furz. Ich spielte den Narren, sang mein eigenes Loblied und spottete über die kirchlichen Idiotien: das Drama meiner Zeit. Was haben die hohen Herren über mich gelacht. Bis mein Latein übersetzt wurde und die humorlosen Herren Theologen verstanden, was da stand. Dann gab es ein Problem. Aber nicht mein Witz war das Problem. Das Problem waren sie selbst. Wenn ein Witz die Kirche beleidigt, dann ist das nicht das Problem des Witzes, sondern der Kirche. »Kommt ein Papst an die Himmelspforte.« Ich konnte wenigstens noch über euch lachen. Mein Gegenspieler Luther konnte das nicht. Mir fehle es an Geist, lehrte er. Mein Wort zähle nicht. Denn ich unterschrieb das seine nicht. Wie sicher dieser Mann sich seiner Sache war. Er und nur er allein atmete den Geist Gottes. Nein, Zweifel können wir diesem evangelischen Herrn sicher nicht nachsagen, und Humor hatte er schon gar nicht. Was für ein Leben ich hatte! Die Allerhöchsten der Welt fürchteten sich vor mir; die Allergeringsten der Welt spuckten nach mir, schissen auf mich und pissten mich an. Nehmt es mir nicht übel, ein Schönredner war ich nie. Freigeist, das klingt besser. Aber setz dir die Narrenkappe auf, und Unverständnis wird dir alle Zeit zuteil. Das wirst du bei diesen Bauernlümmeln nie wieder los.

Ich bin eine Salzsäule auf diesem Achtersteven. Völlig versalzen, bis tief in alle meine eichenhölzernen Fasern. Unverrückbar sitze ich hier fest. Mich hier loszukriegen, wird noch eine ganz schöne Plackerei. Was wird danach eigentlich mit mir passieren? Ich habe keinen blassen Schimmer. Diesen Empfang hatte ich mir sowieso ganz anders vorgestellt. Ich dachte, wir würden nach Japan segeln, mit mir als Visitenkärtchen, und uns dort bekannt machen. Mit wem haben wir die Ehre? Mit unserem Erasmus, meine Damen und Herren, Erasmus Roterodamus. Dem erfolgreichsten Schriftsteller der Welt. Europas größtem Bibelgelehrten. Dem sprachgewaltigsten Kritiker an allem, was hoch und heilig ist. Dem unermüdlichsten Verfechter der Toleranz. Einem der infamsten Spötter des gesamten irdischen Theaters. Nicht jeglicher vermag jedes! Und jetzt bin ich zum Beutegut degradiert worden. Kommt noch jemand, um ihnen zu erklären, wen sie hier vor sich haben?

3 - Erasmus auf dem Großen Markt in Rotterdam. Druck in La Hollande à vol d’oiseau (1881)

Nehmen Sie es mir nicht übel: Für einen Moment war ich schon erschrocken. Mittlerweile weiß ich natürlich, wie es abgelaufen ist. Shigesato Makino, ein Samurai von Tokugawa Ieyasu, hat mich erstanden. Er wohnte in Edo. Wo er Torwächter der Burg und Hauptmann der Leibwächter des Shoguns war. Zusammen mit den fünfzig Leibgardisten unter seinem Befehl wurde er von Steuermann Adams in der Handhabung der holländischen Musketen unterwiesen. Zweifellos hat Steuermann Adams ihm eines schönen Tages erzählt, wer ich bin. Zunächst stand ich noch in Shigesatos Haus. Doch nach seinem Tod landete ich zwei Tagesreisen nördlich von Edo im Tempel der Familie Makino, mitten in der Kantō-Ebene, umgeben von den Bergrücken auf Honshū, zu denen auch der heilige Berg Fuji zählt. Shigesatos ältester Sohn stellte mich dort auf und verehrte mich als, ja, als was? Nicht als Erasmus jedenfalls. Ich hatte den Eindruck, dass es ihm darum ging, durch mich das liebevolle Andenken an seinen verstorbenen Vater zu bewahren. Nach seinem Tod blieb ich drei Jahrhunderte lang vergessen in diesem Tempel stehen. Zwischen den Heiligenstatuen der Buddhisten. Ein Glück im Unglück, denn als die Missionare verbannt waren, begann der Shogun, alle westlichen Heiligenstatuen zu zerstören. Ich fiel nicht auf, in meinem Tempel auf Honshū. Irgendwann glaubten die Leute dort sogar, dass ich einer der vier legendären chinesischen Erfinder wäre. Dass ich höchstpersönlich den Schiffskompass erfunden hätte. Ich wurde zu einer Fantasiegestalt! Mir wäre es ja lieber gewesen, sie hätten mich für diesen Chinesen gehalten, der angeblich den Buchdruck erfunden hat.

Im Jahr 1919 wurde ich in besagtem Tempel von einem japanischen Archäologen entdeckt, der schnell begriff, was es mit mir auf sich hatte. So landete ich im modernen Edo, der Metropole Tokio. Ich bin immer noch Tempelinventar. Aber die Buddhisten haben mich 1930 als Dauerleihgabe dem Tokioter Nationalmuseum überlassen. Auch dort haben sie mich noch in der Abteilung »Buddhistische Skulpturen« ausgestellt! Ich war ja schon einiges gewöhnt, was Projektionen anging, doch darüber musste ich doch kurz heftig kichern. Heute gelte ich als »christliches Objekt«. Bin ich also doch noch eine Heiligenstatue geworden.

Die Holländer hofften, dass ich nach Hause kommen könnte. Aber die Japaner lassen mich nicht gerne ziehen. Für sie repräsentiere ich die kulturelle Begegnung zwischen West und Ost im feudalen Japan. Sie haben eine Kunststoffkopie von mir angefertigt und sie Holland geschenkt. Diese Kopie befindet sich im Besitz des Maritim Museums Rotterdam. Viermal bin ich höchstpersönlich in meine Geburtsstadt zurückgereist. 1936 und 1969, zur Feier meines Sterbe- und meines Geburtsjahres. Dazwischen noch einmal im Jahr 1954, als der japanische Kronprinz den Niederlanden einen Staatsbesuch abstattete. Und 1998, im Jubiläumsjahr meiner Reise mit der Liefde. Nach diesen Besuchen musste ich immer wieder zurück nach Tokio. Ich bin hier nämlich zu einem bedeutenden Kulturgut erklärt worden. Von Japan, wohlweislich.

4 - Erasmus zurück in Rotterdam. De Volkskrant, 23. Juni 1998

Erasmus von Amsterdam

Sie können gut ohne mich auskommen, dort in Holland. Während meines wirklichen Lebens habe ich wahrlich alles dafür getan, mein ewiges Andenken sicherzustellen. Mit meinem literarischen Œuvre natürlich, aber auch mit meinem Bildnis. Dazu verwendete man damals noch ein Gemälde, einen Stich oder eine Medaille. Später erstand ich auch in Holz, Stein und Bronze. Standbilder, das war eigentlich etwas für Könige. Diderot, eine wandelnde Enzyklopädie auf Rundreise in Holland, fragte sich damals, ob je ein anderer Gelehrter eine Statue erhalten habe.9 Vor allem mein bronzenes Standbild machte Eindruck. Ein Dank an den Magistrat, der dem Bildhauer Hendrick de Keyser den Auftrag gab, mich zu gießen. Diese Bronze erweckte mich so überzeugend zum Leben! Die Rotterdamer erzählten mir, sie könnten sehen, wie ich beim Schlagen der Uhr eine Seite in meinem Buch umblättere. Ich selbst war damals schon lange tot. All diese Standbilder sind dank meiner vielen Porträts entstanden. Dank Gemälden, die ich einflussreichen Freunden schenkte. Drucken, die ich unter meinen Fans verteilen lassen konnte. Medaillen so groß wie Schiffszwieback, mit meinem Profil in Blei für die Großen, in Bronze für die Größten der Welt. In meinem echten Leben habe ich die berühmtesten Künstler bemüht – notfalls selbst ansehnlich bezahlt –, um mein Porträt zu erschaffen. Mehrere Male. Massys. Holbein. Dürer. Das hat seine Früchte getragen! Mein Persönchen wurde gekonnt in eine charakteristische Marke, ein wiedererkennbares Logo umgesetzt. Mann mit Buch, in Mantel und Kappe. Und dabei vor allem diese Kappe. Ein weites Modell mit einem breiten Umschlag. Tiefschwarz. Diese Kappe habe ich mir wirklich sehr schlau zu eigen gemacht. Ein gefundenes Fressen für Generationen von Porträtmalern und Bildhauern. Von den Gemälden von Cranach bis zu den Euromünzen von Jimenez. Vom Standbild von Hendrick de Keyser bis zu den Skulpturen von Hildo Krop. Dank Hildo Krop stehe ich lebensgroß in der Nähe eines Gymnasiums in Amsterdam und in Den Haag, beim weltberühmten Friedenspalast. Dort in vollem Ornat, mit Buch, Mantel und Kappe.

5 - Porträt von Erasmus. Einblattdruck von Albrecht Dürer (1526)

6 - Erasmusstandbild. Druck in Koningrijk der Nederlanden (1858–1862)

Jede Skulptur aus Holz, Stein oder Bronze, jedes Porträt zeigt mich mit Kappe. Nach all diesen Jahrhunderten kann ich auf Buch und Mantel auch verzichten. Die Kappe bleibt. Denn meine Kappe ist ein einprägsames Markenzeichen. Und sie passt uns offenbar allen. Wenn ich ehrlich bin, bin ich manchmal erstaunt, wo meine Kappe heute nicht überall auftaucht. Vom Kapern meiner Kappe durch die sogenannte »Desiderius-Erasmus-Stiftung« und die AfD will ich hier gar nicht erst reden. Das wäre zu viel der Ehre für diese humorlosen Reaktionäre. Mit der witzigen Vereinnahmung durch die progressivste holländische Wochenzeitschrift De Groene Amsterdammer