Erinnerungen an das Warschauer Ghetto. Das Ghetto kämpft - Marek Edelman - E-Book

Erinnerungen an das Warschauer Ghetto. Das Ghetto kämpft E-Book

Marek Edelman

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Beschreibung

Marek Edelman war einer der bekanntesten Untergrundaktivisten im Warschauer Ghetto, sein Bericht "Das Ghetto kämpft" über den Aufstand im April 1943 ist ein Klassiker der Widerstandsliteratur. Edelmans ganz persönliche Erinnerungen an den Ghettoalltag wurden allerdings erst Jahre nach seinem Tod entdeckt. Nun liegen seine Memoiren erstmals in deutscher Übersetzung vor. Mit großer Klarheit und unerschütterlichem Humor erzählt Edelman von Elend und Unterdrückung, aber auch vom Kampfgeist und der Findigkeit all jener, die sich gegen die NS-Gewalt zur Wehr setzten. Neben den neu übersetzten "Erinnerungen" macht der Band auch den lange vergriffenen Bericht "Das Ghetto kämpft" wieder zugänglich.

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Seitenzahl: 319

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Marek Edelman

Erinnerungen an das Warschauer GhettoDas Ghetto kämpft

Aus dem Polnischen übersetzt von Ewa und Jerzy CzerwiakowskiMit einem Vorwort von Aleksander Edelman und einer Einführung von Constance Pâris de Bollardière (aus dem Französischen übersetzt von Jens Hagestedt)

Reclam

Covergestaltung: Favoritbuero

Coverabbildung: © Buyenlarge Archive / UIG / Bridgeman Images

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962221-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011466-7

www.reclam.de

Inhalt

Erinnerungen an das Warschauer Ghetto

Vorwort

EinleitungMarek Edelman. Die wiedergefundenen Notizbücher über das Warschauer Ghetto

Erstes Notizbuch

Zweites Notizbuch

Drittes Notizbuch

Das Ghetto kämpftEinige in der Originalausgabe Getto walczy, Warschau 1945, vorkommende falsche Zeitangaben wurden in Anlehnung an historische Quellen und mit Einverständnis des Autors geändert.

Zum Gedenken an Abrasza ...

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Zeittafel

Biographien

Kurzbezeichnungen und Namen von Organisationen

Literaturverzeichnis

Dank

[7]Erinnerungen an das Warschauer Ghetto

[9]Vorwort

2. Oktober 2009, 21 Uhr. Der Flughafen von Paris-Beauvais. Ich bereite mich auf den Flug mit der letzten Maschine nach Warschau vor. Geplante Ankunft: gegen 23 Uhr. Die Langeweile des Wartens auf den Flughäfen. Heute Morgen hat mich meine Schwester Ania angerufen, um mir zu sagen, dass sich der Zustand unseres Vaters verschlechtert habe. Ein Gedanke jagt den anderen: Wird die Maschine pünktlich sein? Was soll ich – es wird ja fast Mitternacht sein – nach der Ankunft tun? Soll ich zu meinem Vater fahren oder in der Einzimmerwohnung übernachten, in der meine Mutter gewohnt hat? Wo werde ich in Warschau schlafen? Wird es, wie seit einiger Zeit, wieder Spannungen mit den Freunden meines Vaters geben? Über den Lautsprecher wird der Check-in für den Flug nach Warschau angekündigt. Wir besteigen die Maschine. Ich nehme Platz. Im selben Moment klingelt mein Handy und Ania teilt mir mit, dass mein Vater gestorben ist.

Zwei Stunden später lande ich in Warschau. Ich nehme ein Taxi und lasse mich zu der Wohnung fahren, in der mein Vater vor drei Stunden verstorben ist. Im Esszimmer sitzen einige Leute um einen Tisch herum. Sie reden laut und lachen. Ich gehe gleich in das kleine Zimmer am Ende des Flurs. Dies sind seine letzten Tage hier. Er liegt in seinem Bett, sein Gesicht ist eingefallen, ruhig, fast nicht wiederzuerkennen.

Wie ist die Woche danach verlaufen? Ich habe keine Erinnerung daran. Am 9. Oktober, dem Tag der Beerdigung, waren wir [10]allein in der Menge während der offiziellen Reden am Denkmal für die Kämpfer des Warschauer Ghettos, später gingen wir, wieder allein, mit in dem Zug, der den mit der Fahne des Bund bedeckten Sarg – Zosia hatte das Stück Stoff eigens aus Paris mitgebracht – zu dem zwei Kilometer entfernten jüdischen Friedhof geleitete. An der Spitze des Zuges gingen Musiker und spielten Jazz. Um uns kümmerte sich niemand. Jeder in der Menge war ein »sehr enger Freund« von Marek gewesen, wir waren überflüssig.

Stunden später kommen wir in Łódź an, wo wir gewohnt hatten, bevor wir 1972 nach Paris gingen. Die Wohnung ist leer. An den Wänden hängen nur noch die Bilder von Z., die wir unserem Vater mitbrachten, seit wir ihn 1991 erstmals besuchen konnten. Die Bibliothek unserer Großeltern. Ich erinnere mich, dass sie vor Büchern überquoll. Während der Stalin-Zeit waren hinter Reihen von medizinischen Büchern Das Ghetto kämpft, Wierniks Bericht über die Morde in Treblinka und über seine Flucht sowie andere Schriften des Bund versteckt gewesen, nachdem sie im Januar 1949 von der kommunistischen Partei verboten worden waren. Jetzt ist von all den Büchern fast nichts mehr da. In der Mitte des Wohnzimmers stehen noch der Tisch, an dem wir gegessen haben, und der alte Sessel.

Die Freunde, die uns hierher begleitet haben, sehen unsere Ratlosigkeit. Eine Freundin ruft mich.

»Schau dir diese Notizbücher an. Kennst du die? Wir haben sie in den aussortierten Papieren deiner Mutter gefunden. Niemand hatte in diese Schublade geschaut. Ich habe es der Ordnung halber getan. Nur deshalb sind sie noch da.«

Ich gehe hin und erkenne die – fast unleserliche – Handschrift meines Vaters. Ulica Chłodna1, die Bilder kommen rasch zurück. Wir befinden uns im Jahr 1967. Oder ist es Anfang 68? Nein, es ist Herbst 67. Ich bin mir ganz sicher. Ich sehe meine [11]Eltern im Hauseingang, sie sprechen miteinander. Ich war gerade auf Tour mit den Kumpels und möchte meinen alten Herrschaften nicht in dem Moment begegnen, in dem ich von meinen Eskapaden heimkomme. Aber sie beachten mich nicht. Ich höre:

»Auch Rakowski hat abgelehnt.«

Ich habe gerade an etwas anderes gedacht, aber jetzt höre ich zu. Ich weiß, dass Rakowski der Chefredakteur der politisch-kulturellen Wochenzeitung Polityka ist. Meine Eltern betreten das Wohnzimmer und rufen mich.

»Hier, lies das.«

Sagt meine Mutter. Ich werfe einen Blick darauf: Ulica Chłodna.

Es ist das erste Mal, dass sie mir etwas zu lesen geben. Das Ghetto kämpft, den Bericht über den Aufstand im Warschauer Ghetto, den mein Vater nach dem Krieg für die Führungsgremien des Bund geschrieben hatte, habe ich selbst gefunden – das Büchlein war hinter der ersten Reihe der Handbücher für Medizin versteckt. Ich war damals zwölf. Ich nehme die Notizbücher, aber sie geben mir einige mit Schreibmaschine beschriebene Blatt Papier. Meine Mutter sagt zu mir:

»Lies es, es wurde von der Kultura und jetzt auch von der Polityka abgelehnt.«

Die Kultura ist eine den Machthabern nahestehende kulturelle Wochenzeitung. Deren Absage hatte meine Eltern nicht überrascht. Aber Polityka? Das hatten sie nicht erwartet. Genauso wenig hatten sie damit gerechnet, dass Władysław Machejek, der Chefredakteur von Życie Literackie, ablehnen und behaupten würde, diese Erinnerungen wären eine Gefahr für Polen. Nur die Folksshtime, deren Herausgeber Hersz Smolar war, wollte den Text veröffentlichen. Aber mein Vater wollte das nicht. Zu wenige Leser? Oder hatte er einen Groll gegen diese Zeitung, die [12]früher vom Bund herausgegeben worden war, jetzt aber nach der Pfeife der Kommunisten tanzte?

Meine Eltern waren 1946 in einem Sanatorium für Tuberkulosekranke gewesen – beide hatten sich während des Krieges mit der Krankheit angesteckt. Eines Tages war Hersz Smolar gekommen und hatte darum gebeten, Marek Edelman sprechen zu dürfen. Man hatte es ihm erlaubt, und so hatten sie – Marek, Ala und Hersz – in der Annahme, dort nicht abgehört zu werden, sich im Garten getroffen. Smolar hatte zu meinem Vater gesagt:

»Marek, du musst Polen verlassen, sie werden dich hier sonst töten …«

Mein Vater hatte daraufhin einen Moment lang geschwiegen, dann aber ruhig geantwortet:

»Nein. Weißt du, es gibt so viele Menschen, die mich töten wollten. Sie sollen es nur versuchen …«

1967. Damals hatte mein Vater seine Stelle im Krankenhaus der Medizinischen Akademie noch nicht verloren. Meine Eltern befanden sich in dem kleinen Raum, der an die Küche grenzte. Ich kam gerade von wer weiß woher und wollte mich leise in die Wohnung schleichen. Es kam selten vor, dass sie sich in diesem Vorraum aufhielten. Sie sprachen sehr laut und beachteten mich nicht. Mein Vater fragte meine Mutter: »Was meinst du? Soll ich es tun? Versucht hat das noch niemand. Der Herzchirurg hat Angst.« Meine Mutter antwortete: »Und was ist mit dem Patienten, welche Überlebenschancen hat er?« Er: »Keine, aber den Blutfluss im Herzen umzukehren ist noch nie versucht worden.« Sie: »Der Patient kann also ohne diese Operation nicht überleben?« Er: »Nein, er wird sterben. Vielleicht ist er schon tot.« Sie fragte nach, er antwortete, erklärte wieder und wieder, so als wollte er sich selbst überzeugen. »Das ist noch nie versucht worden … der Herzchirurg traut sich nicht. Wenn der Patient auf [13]dem Operationstisch stirbt, ist er als Arzt verantwortlich.« Ich betrat das Haus. Von weitem hörte ich meine Mutter ruhig sagen: »Du verschwendest Zeit, ihr müsst es tun. Geh, sag ihnen, sie sollen den Patienten für die Operation vorbereiten, und ruf [14]Professor Moll an. Ist er der Operateur?« Er ging. Ich war überrascht. Sie war sonst so unentschlossen, neigte zu Haarspaltereien … Die Operation war erfolgreich. Der Patient überlebte und lebte noch weitere zwanzig Jahre.

Die Erinnerungen wurden Ende 1967 verfasst – sicherlich während der Zeit, in der mein Vater arbeitslos war. Moczar, der damalige Innenminister, hatte sich schon seine ersten antisemitischen Ausrutscher erlaubt. Er war ein perfektes Beispiel dafür, wie Macht einen Menschen verändern kann. Derselbe Moczar hatte meinen Vater 1946 oder 1947 aufgesucht, um ihn vor Horden polnischer Antisemiten zu warnen, die Juden töten würden, und um ihm zu raten, nicht ohne Waffe auf die Straße zu gehen. 1967 machte Moczar von der Waffe des Antisemitismus Gebrauch, um an der Macht zu bleiben.

Erste Seite der Erinnerungen an das Warschauer Ghetto im ersten Notizbuch (Privatsammlung von Ania Edelman und Aleksander Edelman)

Sehr wahrscheinlich war es unsere Mutter, die unserem ohne Arbeit ziel- und antriebslosen Vater vorschlug, seine Erinnerungen an das Ghetto zu Papier zu bringen. Sie wollte ihn um jeden Preis davor bewahren, depressiv zu werden. Dasselbe hatte sie 1945 getan, indem sie ihn drängte, Das Ghetto kämpft zu schreiben. Damals hatte ihm das allerdings nicht sehr geholfen. Sie waren dann durch Europa gereist, und anschließend hatte sie ihn an der Universität eingeschrieben, damit er Medizin studierte. Dank dessen hatte er die Lethargie überwunden, die ihn nach Kriegsende befallen hatte. Der Held des Ghettos war ein Mensch wie jeder andere.

Auch diesmal war das Heilmittel nicht besonders wirksam, da die Aufzeichnungen meines Vaters von allen Verlagen abgelehnt wurden. Sie wurden zu einem bedrückenden Thema.

Es war eine schwierige Zeit, nicht nur für die beiden. Die aufkommende Welle des Antisemitismus veranlasste viele Juden, Polen zu verlassen. Das musste meinen Vater hart treffen. Einmal mehr zeigte sich, dass das Ideal des Bund, »in Frieden und [15]gegenseitigem Respekt mit den polnischen Bürgern zu leben«, nicht verwirklicht werden konnte. Die Menschen waren zerrissen, ihr Leben zerbrach, praktisch von heute auf morgen mussten sie sich entschließen, alles zu verlassen und ins Ungewisse zu gehen. Unser Haus war voller Menschen. Die Leute kamen zu meinem Vater, suchten Rat und hofften, er würde ihnen helfen, eine Entscheidung zu treffen. Oft weinten sie. Stundenlang saßen sie im Wohnzimmer. Die Tür war geschlossen, und sie redeten und redeten und redeten. Gehen oder bleiben. Gehen oder bleiben. Gehen oder bleiben. Wenn sie das Haus verließen, schienen sie innerlich zur Ruhe gekommen. Mein Vater war für sie wieder zum Kommandanten geworden, zu dem, der er für sie im Warschauer Ghetto gewesen war. Ich erinnere mich insbesondere an den Besuch eines Mannes, der Anatomopathologe an der Universitätsklinik war. Man nannte ihn Rudy A (der Rothaarige A.). Manchmal kam er zu uns nach Hause. Er war alleinstehend. Wenn er kam, brachte er uns Kindern Schokolade mit. Das Krankenhaus war sein Leben. Ich weiß nicht mehr, ob er entlassen worden war. Ich erinnere mich aber, dass er kam und weinte und dass sie viel Wodka tranken. Beim Abschied sagte er zu mir: »Ich gehe. Ich gehe nach Schweden.« Und er schien besänftigt zu sein. Dann wandte er sich an meine Mutter: »Ich weiß nicht, wie er das macht. Aber er schafft es, die Leute zu beruhigen.« Er lächelte und ging. Ich habe ihn nie wiedergesehen.

An einem anderen Tag kam ein Ehepaar. Sie war Kardiologin, sehr angesehen, er Redakteur bei Głos Robotniczy, einer lokalen Tageszeitung, und Mitglied der kommunistischen Partei. Sie kamen, um zu berichten, dass eine Parteiversammlung anberaumt worden war, um sie als Zionisten auszuschließen – das neue Wort ersetzte das Wort Jude. Bei der Zeitung überhäuften ihn alle, die zuvor seine Freunde gewesen waren, mit Beschimpfungen: »Verräter«, »Zionist«, »fünfte Kolonne«. Den letzteren [16]Ausdruck benutzten die kommunistischen Machthaber in Polen 1968 zur Bezeichnung von Juden, die angeblich für Israel spionierten. Das Paar, beide waren um die fünfzig, hatte eine fünfzehnjährige Tochter und sprach nur Polnisch. Auch sie kamen mehrmals zu uns. Gehen oder bleiben, gehen oder bleiben. Sie gingen nach Schweden.

Gehen oder bleiben, gehen oder bleiben, gehen oder bleiben, bis zum Erbrechen.

Die Besuche, die Tränen, der Wodka, die abscheulichen Artikel in der Presse, die Gespräche, die ich von einem anderen Zimmer aus mithörte. Ich ging damals oft mit Freunden aus, versuchte unbewusst, dieser Atmosphäre zu entfliehen. Aber die Politik verschonte auch unsere Treffen nicht. Und wieder hörte ich:

»Du musst bleiben.«

»Nein, es ist besser, wenn du gehst. Wenn du bleibst, nimmst du einem Polen den Platz weg.« [Dasselbe habe ich in Frankreich gehört: Als ich ein junger Forscher war, sagte jemand zu mir: Du nimmst einem Franzosen den Platz weg.]

»Nein, du musst bleiben.«

»Bleib, wir ändern das gemeinsam.«

Es klingt krass, wenn ich das heute schreibe, aber damals war es das nicht. Die Freunde, von denen ich spreche, sind mein Leben lang meine Freunde geblieben.

Der einzige Mensch, den mein Vater nicht beruhigen konnte, war seine Frau. Sie, deren Gelassenheit und Unerschrockenheit die Gruppe von Juden, zu der er gehörte, am Ende des Warschauer Aufstands vor dem sicheren Tod gerettet hatte; sie, der es nach dem Krieg gelungen war, ihn aus der Depression zu holen, und die es 1967/68 wieder versuchte – sie hatte genug von Polen. Doch sie wusste, dass er nicht gehen würde.

»Keine Regierung wird für mich entscheiden, wo ich leben [17]soll«, sagte er zu mir – obwohl es in den zwanzig Jahren nach dem Krieg meines Wissens mindestens zwei Versuche gegeben hatte, ihn zu beseitigen.

Damals hatte ich die wenigen Seiten des Manuskripts gelesen, das mir meine Mutter in die Hand gedrückt hatte. Dann hatte ich es wie alle anderen vergessen. Und plötzlich, nach der Beerdigung, war das Manuskript, vergilbt, wieder aufgetaucht – wie eine Mahnung, ein Zeichen, dass wir dafür sorgen müssen, dass die Erinnerung an die Vernichtung der Juden lebendig bleibt. Die getippten Bögen haben wir nicht wiedergefunden. Ob sie vielleicht irgendwo in den Archiven einer Wochenzeitung herumliegen?

Die Notizbücher nahmen wir mit nach Paris – und »vergaßen« sie für weitere zehn Jahre. Was ist geschehen? Warum sie jetzt veröffentlichen? Ich weiß es nicht. Vielleicht wegen der katastrophalen Lage der Welt? Wegen der neuen Völkermorde? Weil gefährliche Politiker – Trump, Bolsonaro – an die Macht gekommen sind? Weil es an Achtung fehlt vor jeder Form von Leben auf der Erde? Wegen des Coronavirus? Weil ich Constance Pâris de Bollardière begegnet bin, einer jungen Historikerin, die die Nachkriegsgeschichte des Bund erforscht und die ich auf ihrem Karriereweg begleiten möchte? Vielleicht, weil mir mit zunehmendem Alter bewusster geworden ist, wie wichtig es ist, Erinnerung weiterzugeben …

Aleksander Edelman, Paris, 28. Mai 2020, während der Pandemie

[19]EinleitungMarek Edelman. Die wiedergefundenen Notizbücher über das Warschauer Ghetto2

Ein bisher unveröffentlichter persönlicher Bericht

Am 2. Oktober 2009 starb Marek Edelman, der letzte Kommandant des Aufstands im Warschauer Ghetto und letzte Repräsentant des polnischen Bund – ein unermesslicher Verlust für alle, die den Unbeugsamen, den Arzt und Friedenstifter bewunderten, wie auch für jene, die sich der Geschichte des Judentums und des jüdischen Sozialismus in Osteuropa sowie der Erinnerung daran verpflichtet fühlten und mit Edelman einen der letzten Zeugen der dunkelsten Stunden, aber auch zahlreicher Kämpfe und Ideale der Juden in Polen dahingegangen sahen. Als dieser Wächter nicht mehr da war, blieb uns nichts anderes übrig, als uns in seinen einzigen uns bekannten Bericht von seiner Hand über das Ghetto, Das Ghetto kämpft3 [Getto walczy], sowie in die Interviews zu vertiefen, die Journalisten mit ihm geführt hatten und die nicht alle übersetzt worden sind.

Das Ghetto kämpft ist ein etwa 70-seitiger Bericht, der 1945 in polnischer Sprache für den Bund geschrieben wurde und lange Zeit das einzige Dokument aus Edelmans Feder über das Ghetto blieb. Dieser in »zurückhaltenden und schnörkellosen« Worten4 verfasste Bericht über das Leben, den Tod und den Kampf im Ghetto wurde im November 1945 vom [20]Zentralkomitee des polnischen Bund in Warschau veröffentlicht und erschien 1946 in New York unter dem Titel The Ghetto Fights im Verlag der amerikanischen Vertretung des Bund auf Englisch.5 Es dauerte bis 1983, bis die erste französische Ausgabe dieses Textes, Mémoires du ghetto de Varsovie, erhältlich war; sie wurde 1993 und 2002 neu aufgelegt. Nach dem Erscheinen von Das Ghetto kämpft wurden Erinnerungen Edelmans an den Krieg in schriftlicher Form nur noch von Autoren mitgeteilt, die Aussagen von ihm zitierten oder referierten. Den Anfang machte die Schriftstellerin und Journalistin Hanna Krall, die 1975 ein erstes Interview in der polnischen Zeitschrift Odra veröffentlichte. Auf diesen Artikel folgte 1977 ein Buch, das aus einem zweiten, ausführlicheren Gespräch entstanden war und 1983 unter dem Titel Prendre le bon Dieu de vitesse erstmals auf Französisch erschien.6 Die übrigen, alle von polnischen Journalisten transkribierten Interviews mit Edelman wurden in Buchform nach dem Fall der Mauer veröffentlicht, die meisten davon Ende der 2000er Jahre.7

Wir hatten geglaubt, nur durch diese Publikationen in Schriftform und durch einige Videoaufnahmen ein tieferes Verständnis dieses oft undurchschaubaren Widerstandskämpfers erlangen zu können. Marek Edelman hat jedoch ein Dokument hinterlassen, mit dem wir nicht gerechnet hatten: seine persönlichsten Aufzeichnungen über das Ghetto, die am Tag seiner Beerdigung von Freunden entdeckt und von seinen Kindern wiederentdeckt wurden. Diese hatten als Jugendliche miterlebt, wie die Eltern über ein einschlägiges Manuskript diskutierten, hatten dessen Existenz danach aber vergessen – bis Freunde in einem Schrank in der Wohnung der Familie in Łódź zwischen Stapeln von alten Papieren drei kleinkarierte Notizbücher fanden, deren Seiten mit der Handschrift des Vaters bedeckt waren. Sie erinnerten sich nun, dass er vor Jahren, wahrscheinlich 1967 oder [21]1968,8 seine Erinnerungen an das Ghetto in diesen Notizbüchern festgehalten hatte. Dass sie kurz nach dem Tod des Autors wieder aufgetaucht waren, verlieh ihnen mehr als vierzig Jahre nach ihrer Niederschrift testamentarischen Charakter.

Diese Entdeckung erweist sich als große Überraschung. Edelman hatte oft betont, all seine persönlichen Kriegserfahrungen schon in Das Ghetto kämpft, dem Bericht aus dem Jahr 1945, dargelegt zu haben, so dass man glaubte, er habe seither nie wieder darüber geschrieben.9 Die Notizbücher werfen unsere Annahmen über Edelmans Verhältnis zum Schreiben über sich selbst also über den Haufen. Sie offenbaren uns sogar bisher unbekannte Facetten der Persönlichkeit dieses jüdischen Widerstandskämpfers und erweitern unser historisches Wissen über das Warschauer Ghetto, insbesondere über die Aktivitäten, die Mitglieder der großen jüdischen sozialistischen Partei Der Bund dort entfalteten.10

Die Notizbücher enthalten Bruchstücke der persönlichen Erinnerungen Marek Edelmans an die ersten drei Jahre des Krieges. Während das erste Notizbuch Aspekte der Untergrundarbeit des Bund und des Alltagslebens vor und nach der Einrichtung des Ghettos darstellt, geht das zweite in kürzerer Form auf Momente ein, die Edelman mit seinen Parteigenossen erlebt hatte. Das dritte Notizbuch beginnt mit dem Satz: »Nun muss ich über die Aktionen berichten« (S. 85), wechselt dann aber das Register und behandelt ausschließlich die Anfänge der »Großen Aktion« im Sommer 1942. Diese zusammenhängenden rund dreißig Seiten sind in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswertes historisches Dokument.11

[22]Erinnerungen, die sich auf die Jahre 1939–1942 konzentrieren

Die wiedergefundenen Texte vervollständigen in erster Linie unser Wissen über das Ghetto, von seiner Einrichtung im November 1940 bis zur »Großen Aktion« vom 22. Juli bis 21. September 1942, bei der etwa 265 000 Warschauer Juden in Zügen vom »Umschlagplatz« ins Vernichtungslager Treblinka deportiert wurden.12 Edelman war nicht nur über den Alltag im Ghetto bestens informiert, sondern er kannte auch die Situation in den »arischen« Bezirken der Hauptstadt, in die er sich als Kurier des Bersohn-Bauman-Kinderkrankenhauses regelmäßig begab. Daher konnte er auch auf Widerstandshandlungen zu sprechen kommen, die er vor dem Sommer 1942 auf der anderen Seite der Mauer miterlebt hatte. Die Zeitangabe »vor dem Sommer 1942« mag überraschen. Das Ghetto kämpft und die später veröffentlichten Interviews befassen sich nämlich nur mit dem Zeitraum bis zu den Kämpfen während des Aufstands im Warschauer Ghetto (19. April bis 16. Mai 1943), des ersten städtischen Akts der Revolte im von den Nazis beherrschten Europa, der Gegenstand zahlreicher Erzählungen und ein zentrales Ereignis in der Erinnerung nicht nur an das Ghetto, sondern auch an die Shoah und den zweiten Weltkrieg ist.13 Liegt es nur an ihrem Fragmentcharakter, dass die Notizbücher keine Informationen über diese Kämpfe liefern? Am Ende seines Textes teilt Marek Edelman seiner Frau mit, dass er unterbrechen müsse, »verspricht« aber, seinen Bericht zu vollenden. Wir wissen nicht, warum er nicht weitergeschrieben hat. Ein Plan am Ende der Notizbücher kündigt zwar eine Fortsetzung an, doch geht aus ihm nicht hervor, ob Edelman den Aufstand nochmals aufgreifen wollte. Fehlte ihm die Zeit, um seinen Text zu vollenden? Oder war er dazu nicht mehr in der Stimmung? Hielt er diese Erinnerungen für [23]unwichtig? Hat er sich von der Zensur entmutigen lassen, der, wie wir noch sehen werden, zur gleichen Zeit einige seiner Texte zum Opfer fielen?

Marek Edelman in den späten 1940er Jahren (Privatsammlung von Ania Edelman und Aleksander Edelman)

Während Edelman im kollektiven Gedächtnis vor allem als einer der Ghettokämpfer verankert ist, verschieben die chronologischen Grenzen der Notizbücher unser Hauptaugenmerk fort von seiner Teilnahme an dem Aufstand und bringen dadurch unseren Blick auf ihn in Einklang damit, wie er sich selbst sah. Der für seine Bescheidenheit bekannte jüdische Veteran pflegte zu behaupten, dass der Tod der Deportierten nicht weniger würdig gewesen sei als der der Kämpfer im bewaffneten Widerstand. In seinen Interviews hob er hervor, wie viele sich im Ghetto [24]menschlich bewährt hatten, und erinnerte an das Schicksal der namenlosen Opfer. Edelman weigerte sich, die ihm zugedachte Rolle des Helden zu übernehmen, und schwieg oder ärgerte sich, wenn seine Gesprächspartner darauf beharrten, ihn nur aus dieser Perspektive zu befragen. Die wiedergefundenen Erinnerungen laden deshalb dazu ein, auch andere Aspekte von Edelmans Arbeit im Widerstand und seinem Alltag während der Besatzung zu berücksichtigen. Der in dem Text behandelte Zeitraum ist im Übrigen noch aus einem anderen Grund interessant: Indem dieses Dokument auf den Beginn des Krieges im Herbst 1939 zurückblickt, liefert es Informationen über das, was Edelman vor der Einrichtung des Ghettos tat; darüber war bisher wenig bekannt.

Ein Zeugnis ohne klare Intention

All diese Elemente sind in fragmentarischen Erinnerungen enthalten, die der Autor manchmal ohne inneren Zusammenhang aneinandergereiht hat, wodurch für den Leser der Eindruck entstehen kann, er habe notiert, was ihm spontan wieder eingefallen sei. Edelman hat jedoch am Ende der beschriebenen Seiten einzelne Stichworte notiert, von denen einige spätere Ausführungen ankündigen.14 Das deutet darauf hin, dass die Niederschrift nicht so improvisiert war, wie die Lektüre vermuten lassen mag. Da diese Erinnerungen meistens ohne Rücksicht auf die chronologische Reihenfolge präsentiert werden und von sehr unterschiedlicher Länge sind, erfordern sie mehr Mitdenken bei der Lektüre als Edelmans frühere Veröffentlichungen. Das Umgangssprachliche, die Aneinanderreihung von Fakten, die oftmals nicht kontextualisiert sind und miteinander nicht zusammenhängen, sowie die zahlreichen Verweise auf [25]Persönlichkeiten, die nur mit Vornamen genannt werden, werfen die Frage nach Edelmans Intention auf.

Edelman hat rückblickend erklärt, er habe sich mit Das Ghetto kämpft 1945 zum einen an die Überlebenden des Bund gewandt, um ihnen, die jahrelang für die Partei und deren Jugend gearbeitet hatten, zu zeigen, dass ihre Mühen nicht umsonst gewesen seien, zum anderen an die Führungskräfte der Bewegung, die von den Vereinigten Staaten aus den Widerstand der jüdischen Sozialisten politisch und finanziell unterstützt hatten. Außerdem habe er dieses »papierene Denkmal« als Hommage an die Juden geschaffen, die ihr Leben gelassen hatten, um ihren Werten treu zu bleiben, sowie zur Erinnerung an den Bund, dessen Geschichte und dessen Ideale seiner Meinung nach von den [26]zionistischen Bewegungen nicht angemessen gewahrt wurden.15 Als Edelman in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zur Feder griff, beschäftigte er sich, wenn auch nicht mehr im Auftrag des Bund, erneut ausführlich mit dem bundistischen Widerstand und mit seinen Genossen. Erzählte er diesmal in erster Linie für sich selbst, für seine Frau Alina Margolis-Edelman – der der Bericht gewidmet ist – oder für den Kreis seiner engsten Freunde, denen die Geschichte des Ghettos und der bundistischen Konstellation bereits bekannt war? Hatte er vor, seine Erinnerungen für eine Veröffentlichung zu ergänzen und zu überarbeiten?

Marek Edelman in den 1960er Jahren (Privatsammlung von Ania Edelman und Aleksander Edelman)

Wir können diese Fragen nicht beantworten, sondern nur feststellen, dass sich diese unvollendeten Notizen, die keine klare Intention erkennen lassen und von denen wir nicht sicher wissen, ob Edelman sie veröffentlichen wollte, von jenen Zeugnissen unterscheiden, in denen Opferzeugen, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, ihre Erlebnisse während der Shoah im Dienste der Dokumentation des Verbrechens für gerichtliche, erinnerungspolitische oder staatsbürgerliche Zwecke darlegen.16 Doch wie Ksenia Kovrigina im Hinblick auf den sowjetischen Kontext schreibt, wurden Tagebücher ohne die Aussicht auf eine Veröffentlichung verfasst und blieben, »nie vollendet, im Stadium des Entwurfs, weil der Zeuge immer auf der Hut sein musste vor einem Regime, das […] jede nicht konforme Rede verfolgte«.17 Handelt es sich bei Edelmans Notizbüchern um Texte, die nicht aus freien Stücken, sondern aufgrund von politischen Zwängen »für den Verfasser selbst« geschrieben wurden? Wenn dies der Fall gewesen sein sollte, warum machte Edelman dann nicht nach dem Ende des kommunistischen Regimes, als er in Polen zu einer angesehenen und in den Medien präsenten Persönlichkeit geworden war, den Versuch, diese Aufzeichnungen zu veröffentlichen? Was immer Edelman während der Niederschrift motiviert und in welchem Gemütszustand er sich [27]befunden haben mag, das Manuskript, das er uns hinterlassen hat, besitzt Zeugniswert und ist eine reiche Quelle sowohl für die Dokumentation des Warschauer Ghettos und des bundistischen Widerstands als auch für die Untersuchung der vielfältigen Erzählungen von der Erfahrung, die Juden während der Shoah gemacht haben, und der Geschichte dieser »Schreibakte«.18

Informationen über den Bund im Ghetto, zwischen Alltag und Untergrund

Welche historischen Informationen liefern uns die Notizbücher? Wir finden darin vor allem eine Fülle von Details über die Untergrundarbeit des Bund vor dem Aufstand. Der Bund (Algemeyner yidisher arbeter-bund in Lite, Poyln un Rusland) war 1897 in Wilna heimlich als jüdische sozialistische Partei gegründet worden. Sein nicht-zionistisches Programm rief die Juden dazu auf, in ihren Heimatländern gemeinsam mit Proletariern anderer Nationalitäten für den Sozialismus zu kämpfen. Die Partei betrachtete die Juden des Russischen Reiches als eine Nation, war gegen Assimilierung an die Mehrheitsbevölkerungen und für nationale kulturelle Autonomie. Die Entwicklung einer säkularen jiddischen Kultur – Jiddisch war die Volkssprache der osteuropäischen Juden – wurde in diesem Projekt schnell zu einem Ziel von zentraler Bedeutung. Während der Bund im zaristischen Russland nur im Untergrund tätig war und in der Sowjetunion 1922 verboten wurde, entwickelte er sich im Polen der Zwischenkriegszeit zu einer legalen politischen und soziokulturellen Bewegung, die vor allem die jüdische Welt stark beeinflusste.19

In dieser Blütezeit des Bund, in der die Partei von einem breiten Spektrum soziokultureller Einrichtungen profitierte und bei [28]Wahlen erfolgreich war – ihre besten Ergebnisse erzielte sie bei den Kommunalwahlen 1938 –, wuchs der 1919 in Gomel (im heutigen Belarus) geborene Marek Edelman als Halbwaise in Warschau auf. Seine Mutter war als Sozialistin in der Frauenbewegung des Bund aktiv.20 Obwohl er gemäß den Werten dieser Partei erzogen wurde, war die Muttersprache des jungen Marek Russisch, nicht Jiddisch, das er erst im Rahmen des vom Bund mitverwalteten progressiven säkularen jüdischen Bildungsprogramms erlernte. Dieser Bildungsgang habe ihm alles beigebracht, was er wisse, sollte er später sagen.21 Der deutsche Einmarsch in Polen im September 1939 hatte zur Folge, dass die Mehrheit der bundistischen Funktionäre Polen verließ. Die im Land gebliebenen jungen Mitglieder der Bewegung, wie Marek Edelman und seine zahlreichen Genossen, hatten dadurch viele ihrer Führer verloren und mussten rasch neue Aufgaben übernehmen.

Dank Edelmans veröffentlichten Erinnerungen und anderen Quellen war uns sein Engagement und das seiner Partei im Widerstand in den Grundzügen bekannt.22 Blicken wir kurz auf das zurück, was wir schon wussten. Marek Edelman wurde im November 1940 ebenso wie 400 000 andere Juden ins Warschauer Ghetto gesperrt. Der junge Bundist arbeitete als Kurier für das Kinderkrankenhaus Bersohn-Bauman (Szpital Dziecięcy Bersohnów i Baumanów) und war wie andere jüdische Sozialisten schon früh im Untergrund aktiv. Er verbrachte ganze Nächte damit, auf den Dachböden mehrerer Gebäude Zeitungen zu drucken, deren Artikel von Parteifreunden verfasst worden waren. Später, während der großen Deportationen vom Sommer 1942, diente diese Arbeit dem Ziel, Menschenleben zu retten: Informiert über die Massenvernichtung von Juden in Polen, insbesondere in Treblinka, druckten Edelman und seine bundistischen Freunde jetzt auch Plakate, mit denen sie (erfolglos) [29]versuchten, die Ghettobewohner vor dem zu warnen, was sie nach dem Verlassen der Züge erwartete. Edelman, der täglich am Eingang des Krankenhauses am »Umschlagplatz« stand, gelang es jedoch, Bekannte vor der Deportation zu retten, indem er sie als Kranke ausgab, die einen Krankenhausaufenthalt benötigten. Von seinem Posten aus sah er fast zwei Monate lang täglich Tausende von zum Tode verurteilten Menschen vor seinen Augen vorbeiziehen.

Die Überlegungen des Bund zum bewaffneten Kampf hatten vor den Deportationen im Zeitraum von Juli bis September 1942 begonnen, die viele Mitglieder der Partei das Leben kosteten und deren Führung vernichteten. In der Überzeugung, »dass die Befreiung der Juden nur durch einen unermüdlichen Kampf an der Seite der nichtjüdischen Volksmassen erreicht werden« könne,23 wie 1945 in einer von jungen Mitgliedern des Bund in Paris herausgegebenen Broschüre zu lesen war, bemühten sich die Bundisten im Ghetto, statt sich den bereits gegründeten zionistischen und kommunistischen Gruppen anzuschließen, zunächst um Verbindungen zum sozialistischen polnischen Widerstand, die sie für unerlässlich für jeden Kampf innerhalb des Ghettos hielten. Nachdem sich die jungen Bundisten im Oktober 1942 der Jüdischen Kampforganisation (Yidishe Kamf Organizatsye, YKO) angeschlossen hatten,24 trug Edelman als Leiter des Widerstands im Gebiet der Bürstenfabrik weit mehr Verantwortung als zuvor. Der bewaffnete Widerstand der YKO gegen die Deportationen begann mit der zweiten Serie der Razzien im Januar 1943 und verstärkte sich erheblich während des Ghettoaufstands (19. April bis 16. Mai 1943), der den letzten Angriff der Deutschen und ihrer Kollaborateure auf die verbliebene jüdische Bevölkerung Warschaus vergelten sollte. Der junge Bundist vertrat in der YKO seine politische Partei und spielte während des Aufstands, den er als einer von wenigen überlebte, eine [30]führende Rolle.25 Nachdem er das Ghetto am 10. Mai durch die Kanalisation verlassen hatte, flüchtete Edelman für kurze Zeit in den Wald von Łomianki, kehrte dann aber nach Warschau zurück, um sich dem polnischen Widerstand anzuschließen. Er beteiligte sich am Aufstand in der Hauptstadt (1. August bis 2. Oktober 1944).

Von den sozialen Aktivitäten des Bund im Ghetto, unter anderem von der Verbreitung von Untergrundzeitungen, hatten wir bereits Kenntnis; wir wussten auch eine Menge über seine Beteiligung am bewaffneten Kampf. Neue Informationen liefern die Notizbücher jedoch über die Orte, an denen die Publikationen gedruckt wurden, und über deren Herstellung.26 Darüber hinaus enthalten sie bisher unveröffentlichte Details über die geheimen Archive, die der Bund und die Juden in der Polnischen Sozialistischen Partei (Polska Partia Socjalistyczna, PPS) führten. Während das unter dem Tarnnamen Oneg Shabbat (›Freude am Sabbat‹) von dem Historiker Emanuel Ringelblum geleitete Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos heute sowohl in der Fachwelt als auch in der breiten Öffentlichkeit bekannt ist, gilt dies für die viel kleineren Archive des Bund und der PPS, die im Ghetto geführt wurden, weit weniger.27 Getreu ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit hatte sich die Jüdische Sozialistische Partei dem großen Ringelblum-Projekt nicht angeschlossen, sondern ihre eigenen Bestände behalten (sie konnten nach dem Krieg nur teilweise wiedergefunden werden).28 Da die Notizbücher diese bundistischen und sozialistischen Archive erwähnen, beleuchten sie einen ganzen Bereich der geheimen Dokumentation der Aktivitäten im Ghetto neu.

Im Unterschied zu jenen – von ihm selbst oder von anderen verfassten – Büchern, in denen Marek Edelmans Wirken im Mittelpunkt steht, gerät in den Notizbüchern fast nur sein bundistisches Umfeld in den Blick; sie erinnern uns daran, wie wichtig [31]seine politische »Familie« für ihn war. Edelmans Bericht ist in dieser Hinsicht insofern wertvoll, als der Aktivist, der mit seinen damals knapp über zwanzig Jahren natürlich vor allem seinen Kameraden in der Jugendorganisation des Bund, der Tsukunft, nahestand, auch enge Beziehungen zu den älteren Parteifunktionären unterhielt und dadurch Brücken zwischen diesen beiden Gruppen mit ihren ausgeprägten politischen und praktischen Differenzen schlug. Indem es uns einen Einblick in die Geisteshaltung der Aktivisten verschafft, ermöglicht uns das Dokument, die zentrale Bedeutung dieser politischen Bruderschaft für den individuellen und kollektiven Widerstand gegen die Verfolgung der Juden im Ghetto und gegen die Deportationen zu verstehen. Zwar waren die wichtigsten bundistischen Widerstandskämpfer den Fachleuten bereits durch andere Zeugnisse bekannt, doch Edelman lässt den Leser neue Facetten der prominentesten Persönlichkeiten seiner Partei entdecken und holt außerdem Namen aus der Vergessenheit, von denen außerhalb kleiner Kreise bislang niemand wusste.29 Soweit möglich, haben wir die Lebensläufe dieser Aktivistinnen und Aktivisten in kurzen biographischen Notizen am Ende des Buches zusammengefasst. Dort finden sich auch die Lebensläufe von Mitgliedern der PPS, auf deren Nähe zum Bund und enge Zusammenarbeit mit ihm Edelman hinweist. Durch diese Fokussierung auf das bundistische Netzwerk werden darüber hinaus das soziale Leben im Ghetto, dessen Widerstand und Not sowie das Blutbad vom 17. und 18. April 194230 und die Deportationen von Juli bis September 1942 dokumentiert.

[32]Ein neuer Blick auf Marek Edelman

Die Erinnerungen sind in einem viel persönlicheren Ton geschrieben als Das Ghetto kämpft, Edelmans chronologischer Bericht aus dem Jahr 1945, in dem er von den Ereignissen überwiegend in der dritten Person berichtet. Sie gewähren uns daher einen besseren Einblick in Edelmans Leben. Wir lernen dieses vor allem anhand von Edelmans Alltag als Widerstandskämpfer kennen, für den insbesondere seine bundistischen Freundschaften von grundlegender Bedeutung waren:

Für mich existierte während dieser drei Jahre nichts außer der Tätigkeit für die Organisation. Zwar arbeitete ich im Krankenhaus, konnte auch anders für meinen Unterhalt sorgen – in Wahrheit war das aber alles unwichtig. Dagegen verschaffte mir jede erledigte Kleinigkeit eine wahnsinnige Genugtuung. Über jedes Gespräch mit Abrasza, Berek, Bernard freute ich mich wie ein Kind. (S. 48 f.)

Widmung mit Marek Edelmans Unterschrift (Privatsammlung von Ania Edelman und Aleksander Edelman)

Mehrere Passagen, in denen er die Situationen schildert, die fast zu seiner Verhaftung geführt hätten, lassen uns zudem die Umstände besser verstehen, unter denen er überleben konnte:

Ich weiß, jetzt bin ich dran. Die Ukrainer rücken immer alle Schränke von den Wänden ab. Ich höre sie schon in der Wohnung. Sie plündern das erste Zimmer. Wenn sie nur das Telefon nicht kaputtmachen! Im nächsten Moment zerfällt krachend Emanuels Bücherschrank im Esszimmer. Jetzt kommen sie in die Küche. Ich höre auf zu atmen. Ich spüre schon, wie sie mich herauszerren. Zwei Schüsse und fertig. Doch nein, sie gehen wieder. Die Küche betreten sie nicht einmal. [33]Es gab einen Pfiff, und sie mussten antreten. Ich warte etwas ab und krieche heraus. (S. 100)

In Die Liebe im Ghetto hatte Edelman zwar von den Gefühlen der Ghettojuden angesichts der Vernichtung gesprochen, aber nichts [34]von seinen eigenen verraten. Die Notizbücher geben diese Zurückhaltung auf und gewähren uns Zugang zu Edelmans Erinnerungen an seine Gefühle im Angesicht des Todes. Nach einer kurzen, aber beredten Distanzierung von den Wochen, in denen sich »ein Wettkampf […], wobei der Einsatz das Leben war« (S. 85), entwickelte, gehen die letzten, den Deportationen vom Sommer 1942 gewidmeten Seiten zu einer genauen Darstellung des Beginns der »Großen Aktion« über, die hier und da auch Edelmans Gefühle erwähnt. So legt Edelman dort, wo er sich an den 23. Juli 1942 erinnert, den zweiten Tag der Deportationen und den Tag, an dem Adam Czerniaków, der Vorsitzende des Judenrates, Selbstmord beging, nicht mehr wie noch am Vortag die Haltung an den Tag: »Mir kam keine einzige Träne«, sondern er berichtet von der Verzweiflung, die ihn damals überwältigte:

Es ist, als würden dir Steine schwer auf dem Rücken lasten, sie drücken dich zu Boden, du wirst so klein und hilflos, etwas würgt dich in der Kehle. Ich weiß gar nicht, wie ich gelaufen und wie ich nach Hause gekommen bin. Ich war ausgelaugt. Dabei war es doch nichts Neues, ich habe mich schon an den Gedanken gewöhnt. – Doch immer wieder kamen neue Beweise, dass es nun ganz sicher unwiderruflich war und sich nichts mehr ändern würde. (S. 96)

Mit der Bescheidenheit und Selbstironie, die in vielen seiner Interviews spürbar werden, offenbart uns Edelman bisher unbekannte Facetten seines und des Privatlebens seiner bundistischen Genossinnen und Genossen in den dunkelsten Stunden des Ghettos:

Hela ging dann wieder, ich blieb alleine mit Sonia. Sie war aufgewühlt und zitterte. Ich kam auf sie zu, legte ihr die Hand [35]auf den Rücken und sagte: »Ruhig, ruhig, vielleicht wird es einmal wieder gut werden.« Ich stand so noch eine Weile, reichte ihr dann ihren Hut mit einem großen Trauerschleier und führte sie auf die Straße. Wir gingen zu einer anderen Wohnung. Unterwegs sagte sie: »Marek, glaubst du wirklich daran?« Ich sagte: »Ja.« Ich log.

* * *

Die Geschichte mit Sonia löste in mir etwas aus. Meine Einstellung zu den Menschen änderte sich, nicht meine Art (die sicherlich nicht), aber ich handelte anders und zeigte mehr Interesse an ihnen. (S. 88)

Seit Das Ghetto kämpft erschienen war, hatten mehrere in Büchern veröffentlichte Interviews weitere Einblicke in Edelmans Persönlichkeit, seine tiefe Menschlichkeit, aber auch seinen Freimut und seinen Nonkonformismus gewährt. Der widerborstige Ton, in dem sich Edelmans Offenheit zuweilen äußerte, findet sich in den Notizbüchern nicht – vielleicht weil sie kein für die Öffentlichkeit bestimmtes Gespräch wiedergeben, auf keinerlei gesellschaftliche Erwartungen reagieren. Einmal mehr kommt dagegen auf diesen Seiten Edelmans tiefempfundenes Mitgefühl für das Schicksal der Juden im Ghetto zum Ausdruck. In einfachen Worten und mit der ihm eigenen Bescheidenheit liefert Edelman wertvolle historische Informationen und äußert tiefsinnige Betrachtungen. Seine Rückschau in einer Zeit, in der die Erinnerung an die Shoah in der polnischen Gesellschaft und Politik manipuliert und marginalisiert wurde, ist eben deshalb weder durch die reichhaltige Zeugnisproduktion der vergangenen Jahrzehnte beeinflusst noch durch die Interviews, die er selbst in den 2000er Jahren gab. Es ist jedoch wahrscheinlich, [36]dass Edelman vor der Arbeit an den Notizbüchern einige der zahlreichen in der jüdischen Welt Polens Ende der 1940er Jahre veröffentlichten Werke zur Shoah und insbesondere zum Aufstand im Warschauer Ghetto gelesen hatte.31

Erinnerungen, die im Polen von 1967/68 geschrieben wurden

Dass die Texte der Notizbücher in polnischer Sprache verfasst wurden, unterscheidet sie von vier anderen Zeugnissen überlebender Bundisten aus dem Warschauer Ghetto, die zwischen 1947 und 1968 in New York beziehungsweise Tel Aviv in jiddischer Sprache erschienen.32 Diese Tatsache erinnert uns daran, dass das Leben Edelmans, des einzigen namhaften Bundisten, der nach der Shoah im kommunistischen Polen blieb, sich unterschied von dem seiner Genossen in der westlichen Welt, von denen viele fernab der Heimat eine jüdische Geselligkeit entwickelten, in der das Jiddische gepflegt wurde. Edelman hat in einem seiner Interviews erklärt, dass es seine Pflicht sei, über die Toten zu wachen, und dass er aus diesem Grund nach der Befreiung in Polen geblieben sei.33