Faye - Herz aus Licht und Lava - Katharina Herzog - E-Book

Faye - Herz aus Licht und Lava E-Book

Katharina Herzog

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Beschreibung

Seit der Ankunft auf Island geschehen merkwürdige Dinge. Gleich am ersten Abend führt ein Schwarm Glühwürmchen Faye zu einer Lichtung, auf der ein uralter Baum steht. Der Sage nach soll hier der Eingang zur Elfenwelt sein. Aber vor Jahren wurde das Herz des Baumes gestohlen. Und jetzt stirbt er. Faye beschließt, den Baum zu retten. Keine leichte Aufgabe. Vor allem seitdem ihr der impulsive und jähzornige Aron über den Weg gelaufen ist. Wenn Faye wüsste, auf was für ein Abenteuer sie sich da einlässt … Eine zauberhaft-romantische Geschichte aus dem einzigen Land der Erde, in dem eine Elfenbeauftragte dafür sorgt, dass der Mensch die Magie nicht vergisst. Katharina Herzog gelingt es in Faye - Herz aus Licht und Lava die ganz besondere Schönheit Islands perfekt einzufangen und ihre Leser auf dieser stimmungsvollen Reise zu verzaubern. Für die Recherche reiste sie selbst nach Island, ließ den schwarzen Sand am Diamantstrand durch ihre Finger gleiten und beobachtete die Seehunde in der Eislagune. Katharina Herzogs sehr erfolgreiche Bücher für Erwachsene erscheinen bei Rowohlt Polaris.

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INHALT

Prolog

Kapitel 1 – Liams blauer VW-Bus …

Kapitel 2 – Der Polizist zog …

Kapitel 3 – Faye! Jetzt geh …

Kapitel 4 – Schlafmohn?«, entfuhr es …

Kapitel 5 – Herzlich willkommen in …

Kapitel 6 – Kaum waren wir …

Kapitel 7 – Aron fuhr uns …

Kapitel 8 – María Sigurdardóttir nahm …

Kapitel 9 – María betrachtete mich …

Kapitel 10 – Lilja hatte erwähnt, …

Kapitel 11 – Es war ein …

Kapitel 12 – Wie gelähmt saß …

Kapitel 13 – Als ich am …

Kapitel 14 – Im Mondlicht hatte …

Kapitel 15 – Chef!« Ein gedrungener …

Kapitel 16 – Ich finde auch, …

Kapitel 17 – Verärgert ging ich …

Kapitel 18 – Mum sprach mich …

Kapitel 19 – Was hast du …

Kapitel 20 – Mum setzte sich …

Kapitel 21 – Die Isländer schienen …

Kapitel 22 – Gunther führte mich …

Kapitel 23 – Als ich zurückkam, …

Kapitel 24 – Die Bibliothek befand …

Kapitel 25 – Netterweise erwähnte Lilja …

Kapitel 26 – Mum war schon …

Kapitel 27 – Ah! Unsere Architektin. …

Kapitel 28 – Ja, da war …

Kapitel 29 – Als wir das …

Kapitel 30 – Du Arme«, begrüßte …

Kapitel 31 – Nach der stickigen …

Kapitel 32 – Hallihallo!«, begrüßte mich …

Kapitel 33 – Arons Helm hing …

Kapitel 34 – Aron küsste mich …

Kapitel 35 – Der Schein des …

Kapitel 36 – Nachdem Mum ein …

Kapitel 37 – María fuhr gerade …

Kapitel 38 – Das Haus, in …

Kapitel 39 – Immer wieder wurde …

Kapitel 40 – Die Fahrt zum …

Kapitel 41 – Auch wenn ich …

Kapitel 42 – Aron steuerte einen …

Kapitel 43 – Ein breiter Rücken …

Kapitel 44 – Der Widerstand gegen …

Kapitel 45 – Das Schmuckstück in …

Kapitel 46 – María brachte mich …

Kapitel 47 – Ich drehte mich …

Kapitel 48 – Mum war noch …

Kapitel 49 – Verschlafen blinzelte ich …

Kapitel 50 – Nachdem Aron mich …

Kapitel 51 – Laurin beugte sich …

Kapitel 52 – Was hatte er …

Kapitel 53 – Steig ein!« Aron …

Kapitel 54 – Du hast mich …

Kapitel 55 – Karlssons diabolisches Lachen …

Kapitel 56 – Ragnar kam herein. …

Kapitel 57 – Wo ist meine …

Kapitel 58 – Ich vergrub mein …

Kapitel 59 – Als ich die …

Epilog

Liebe Leserinnen und Leser

Über die Autorin

Weitere Infos

Impressum

Für Lilly,

die sich eine Welt wünscht,

PROLOG

Komm, wir laufen zum Wasserfall.«

Das Mädchen gab dem Jungen einen Stups und fing an zu rennen. Zu Hause, in Deutschland, konnte sie kaum hundert Meter am Stück joggen, ohne völlig aus der Puste zu geraten. Hier auf Island dagegen fiel es ihr viel leichter. Und sie war schnell. Ihre Füße flogen fast über den weichen Grasboden. Frau Winter, ihre Sportlehrerin, wäre begeistert, wenn sie sie jetzt hätte sehen können.

Sie kicherte übermütig, und als sie seinen Atem dicht hinter sich hörte, wurde sie noch ein bisschen schneller. Auch ihre Sinne waren hier schärfer. Den Duft der Mohnblumen und der kleinen gelben Blüten, deren Namen sie nicht kannte, den tiefblauen Himmel und die sattgrüne Wiese, dazu das fast schon ohrenbetäubende Zwitschern der Vögel um sie herum – hier nahm sie all das viel deutlicher wahr. Oder schien ihr einfach alles viel leuchtender, strahlender und berauschender, seit sie ihn kannte?

Kaum hatten sie den Wasserfall erreicht, dessen Tropfen im hellen Sonnenlicht wie kostbare Schmucksteine funkelten, holte er sie ein. »Du entkommst mir nicht.« Er umschlang sie mit beiden Armen.

Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und strich mit den Daumen zart über seine hohen Wangenknochen. Er war so schön: das weiche Haar, das ihm über seine unglaublich blauen Augen fiel, die Sommersprossen auf der Nase, seine Lippen … Immer noch bekam sie weiche Knie bei jedem seiner Küsse.

»Woran denkst du?«, fragte er. »Immer wenn du deine Stirn in so tiefe Falten legst, grübelst du über etwas nach.«

»An Mohnblumen«, wich sie ihm aus. Sie bückte sich und pflückte einen der blassgrünen haarigen Stängel. »Hast du auch immer die Knospen aufgemacht, als du klein warst? Um zu sehen, welche Farbe sich darin versteckt? – Rot war nichts Besonderes, das sind ja fast alle. Aber bei Weiß und Rosa hatte ich immer das Gefühl, einen Schatz gefunden zu haben.« Sie öffnete eine Knospe. »Rot! Wie schade!« Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die Blütenblätter.

Er zuckte mit den Schultern und zog sie fester an sich. »Ich brauche keinen Schatz«, raunte er ihr ins Ohr, »ich habe meinen schon gefunden.«

Er zog sie auf den weichen Grasboden, und sie legte ihren Kopf auf seine Brust. Während er ihr zärtlich über ihr langes dunkles Haar strich, lauschte sie dem ruhigen Klopfen seines Herzschlags. Sie fragte sich, ob es möglich war, vor Glück zu zerspringen. Die Sonne schien warm auf ihr Gesicht, prächtige tiefblaue Schmetterlinge tanzten um sie herum …

Sie hätte noch stundenlang in seinen Armen liegen bleiben und seinen immer langsamer und tiefer werdenden Atemzügen lauschen können, doch bald würden sich die anderen aus dem Abschlussjahrgang fragen, wo sie nur blieb. Besser, sie machte sich auf den Rückweg. Sie hatte sich nur zu einem kurzen Spaziergang verabschiedet, und wenn sie nicht zum Abendessen auftauchte, würden Frau Winter und die anderen Lehrer anfangen, sich Sorgen zu machen.

Der Gedanke, dass sie ihn in drei Tagen verlassen musste und erst nach ihrem Abitur wiedersehen würde, ließ ihr Herz jetzt schon schwer werden. Obwohl sie sich erst ein paar Tage kannten, konnte sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Sie stützte ihr Kinn in ihre Handfläche und schaute sehnsüchtig auf ihn hinunter. Seine Augen waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Ein Grashalm bewegte sich gleichmäßig im Rhythmus seines Atems. Sie strich eine wirre Haarsträhne aus seiner Stirn.

»Was ist?« Verschlafen blinzelte er zu ihr hoch.

»Ich muss zurück«, sagte sie. »Ich bin schon viel zu lange bei dir. Wenn ich zum Abendessen nicht da bin, gibt es Ärger.«

»Bis dahin ist noch viel Zeit. Ich habe dir doch erzählt, dass sie bei uns viel langsamer vergeht.«

Diesen Eindruck hatte sie gar nicht. Im Gegenteil. Wenn sie bei ihm war, verging die Zeit viel schneller. Zu schnell.

»Ich muss jetzt wirklich los.« Mit einem Seufzer drückte sie sich nach oben und winzige Blütenpollen stoben auf. Sofort spürte sie einen Niesreiz in ihrer Nase. Von ihrer Gräserallergie blieb sie leider auch hier nicht verschont. Sie griff in ihre Jackentasche, um ein Papiertaschentuch herauszuholen, und ihre Finger stießen an seidigen Stoff. Sie zog ihn hervor und erschrak, als sie sah, was sie da in der Hand hielt. Minutenlang starrte sie auf das grüne Halstuch, das sie sich vor ihrer Abreise nach Island gekauft hatte. Alle hatten gesagt, dass es dort immer so kalt sei. Kalt war ihr bisher nie gewesen. Nun aber war plötzlich alle Wärme, die sie gerade noch durchflutet hatte, verschwunden. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen.

Ohne einen letzten Blick auf ihn zu werfen, drehte sie sich um und rannte über die Wiese zurück zum Baum. Jetzt war sie sogar noch schneller als vorhin. Angst trieb ihre Füße voran. Die Angst, für immer in diesem Paradies gefangen zu sein.

Endlich erreichte sie den mächtigen Holunderbaum, dessen Äste so weit reichten, dass sie fast die ganze Lichtung überspannten. Sie schlug gegen den Stamm, und die blauen Falter, die sich auf ihm niedergelassen hatten, flatterten erschrocken. Doch kein Spalt tat sich vor ihr auf, durch den sie schlüpfen konnte. Sie versuchte, die Rinde mit Gewalt auseinanderzubrechen, bis ihre Fingernägel brachen und ihre Fingerkuppen anfingen zu bluten. Verzweifelt trommelte sie mit den Fäusten gegen den harten Stamm. Schließlich konnte sie nicht mehr und ließ sich auf den Boden sinken. Ihre Eltern, ihre beste Freundin Sonja und Kater Justus, sie würde sie alle nie wiedersehen! Selbst nach den Lehrern sehnte sie sich auf einmal zurück.

Ihre Kehle schnürte sich so fest zusammen, dass sie nur noch mit einem pfeifenden Geräusch Luft holen konnte. Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.

»Liebste …« Er war ihr gefolgt und stand nun schwer atmend wieder vor ihr.

Sie nahm die Hände vom Gesicht und sprang auf. »Warum hast du das getan?«, fragte sie.

Er ergriff ihren Arm. Sie aber riss sich los, als hätte sie sich an ihm verbrannt. »Fass mich nicht an. Und wage es nicht, mich anzulügen! Warum hast du mir das Halstuch in die Tasche gesteckt? Du warst es doch, der mir gesagt hat, dass ich etwas von mir in der Nähe des Holunderbaums zurücklassen muss, wenn ich wieder nach Hause will.«

Er hob beschwörend die Hände. »Ich hatte Angst. Angst, dass du mich verlässt.«

»Das hätte ich nie getan.« Sie schluchzte auf.

»Aber du liebst deine Welt so sehr.«

»Und deshalb willst du mich in deiner Welt einsperren?« Eine Träne lief über ihre Wange.

»Es tut mir leid.« Er streckte die Hand aus und wollte sie fortwischen, aber sie stieß ihn weg.

»Du hast alles kaputt gemacht! Hau ab!«, schrie sie.

Er ließ die Hand sinken.

»Ich hasse dich, und ich will dich nie mehr wiedersehen!«

Mit hängenden Schultern stand er da. Dann drehte er sich um und ging davon.

KAPITEL 1

Liams blauer VW-Bus parkte am Englischen Garten und wurde fast vollkommen von der Finsternis verschluckt.

»Bist du dir wirklich sicher, dass du das tun willst?« Doro sah mich mit ihren Kulleraugen flehend an. »Stell dir vor, ihr werdet erwischt. Das wird riesigen Ärger geben.«

Nervös schaute ich in die düstere Gasse. Angst, erwischt zu werden, hatte ich nicht. Wer hielt sich um diese Uhrzeit und bei diesem Sauwetter schon freiwillig draußen auf? Mir machte viel mehr die Dunkelheit Angst. Ich mochte die Nacht nicht. Aber das konnte ich vor Liam nicht zugeben. Deshalb musste ich die Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen.

»Ich bin mir sicher, und es wird nichts schiefgehen. Wenn alles vorbei ist, ruf ich dich an.« Ich drückte Doro an mich und lief, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, durch den prasselnden Regen.

Liam saß im Bus und rauchte. Als er mich sah, ließ er das Fenster hinunter und warf die Zigarette auf das nass glänzende Pflaster. »Hey, Faye! Hast du die Babys dabei?«

»Was denkst du denn!« Ich öffnete meinen Rucksack und zeigte ihm die fünf Stecklinge, die ich heimlich gezogen hatte.

»Die sind ja riesig geworden. Dabei habe ich dir die Samen erst vor ein paar Tagen gegeben.« Er lächelte mich anerkennend an.

Ich war froh, dass es draußen so dunkel war. Mein Gesicht fühlte sich heiß an, bestimmt war ich ganz rot geworden.

Liam war so cool. Er wohnte in seinem Bus, und den ganzen Sommer über hatte er draußen in der freien Natur übernachtet. Meistens in den Isarauen. Einmal hatte ich ihn dort besucht. Wir hatten die ganze Nacht auf dem Dach des Busses gelegen und gequatscht. Seine Wohnung hatte Liam gekündigt, weil er sich in geschlossenen Räumen auf Dauer eingesperrt fühlte, und er studierte Politikwissenschaften an der LMU. Er roch nach Wald, und wie ich liebte er Pflanzen. Deshalb hatte Liam auch die Green Devils gegründet, eine Gruppe, die es sich zum Ziel gemacht hatte, unsere Stadt grüner zu machen. Nach wie vor konnte ich es nicht glauben, dass er Doro und mich vor ein paar Monaten gefragt hatte, ob wir bei ihnen mitmachen wollten.

Meiner Mum war es ein totaler Dorn im Auge. Dabei war das, was wir machten – abgesehen von der Aktion heute Nacht –, nur ein winziges bisschen illegal. Wem tat es schließlich weh, wenn wir Stiefmütterchen auf Verkehrsinseln pflanzten oder Samenbomben auf verwaisten Grünflächen auswarfen? Wir taten etwas Gutes. Etwas fürs Gemeinwohl. Auch wenn manche Spießer in der Hinsicht etwas anderer Ansicht waren. Und die Polizei. Letztens hatten zwei aus der Gruppe Bußgeld zahlen müssen, weil sie nachts vor dem Landtagsgebäude Kohlrabi angepflanzt hatten. Gab es etwas Harmloseres als Kohlrabi? Wohl kaum! Und deshalb hatte Liam gemeint, es sei Zeit für einen Gegenangriff. Er wollte in dem leeren Blumenkübel vor der Eingangstür des Polizeireviers Hanfpflanzen einsetzen, und ich hatte mich bereit erklärt, ihm dabei zu helfen. Weil es gegen meinen Gerechtigkeitssinn ging, wegen ein bisschen Gemüse mehrere Hundert Euro Strafe zu zahlen – und weil ich Liam echt süß fand.

Liam stellte den Bus in einer Seitengasse ab. Das Polizeirevier war einer dieser hässlichen Bauten, die ganz aus Glas und Beton bestehen. Nur ein Fenster war erleuchtet; glücklicherweise lag es ein Stück von der Eingangstür und dem Blumenkübel entfernt.

Wir stiegen aus dem Auto und liefen hinüber. Inzwischen nieselte es zwar nur noch, aber überall auf der Straße hatten sich Pfützen gebildet. Nässe kroch durch meine Chucks.

Unter einer Straßenlaterne blieb Liam stehen. Sie gab nur äußerst funzeliges Licht ab. »Du setzt die Pflanzen ein. Ich passe auf, dass niemand kommt.«

»Ich hatte gedacht, dass wir es genau andersherum machen.« Schließlich war es seine Idee gewesen.

»Nein. Du bist viel geübter als ich.« Er zündete sich eine Zigarette an.

Wieso bitte musste man denn Übung darin haben, Stecklinge in die Erde zu drücken? Dieser Satz lag mir auf der Zunge.

»Du machst das schon.« Er drückte mich in Richtung des Polizeireviers.

»Hast du eine Taschenlampe dabei?« Die Ecke, in der der Blumenkübel stand, wirkte ziemlich dunkel.

»Wieso das denn? Willst du unbedingt erwischt werden?«

»Nein. Aber … ich könnte die Polizisten damit blenden, wenn sie mich entdecken.«

Trotz seiner Kapuze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte, konnte ich sehen, wie Liam die Augenbrauen hob. »Klar könntest du das. Oder du haust sie ihnen gleich auf den Kopf.«

»Okay. Es geht auch ohne.« Ich atmete tief durch. Meinen Blick nach vorn gerichtet schlich ich vorwärts und versuchte, alle zuckenden Schatten, die vor mir lauerten, auszublenden. Stattdessen konzentrierte ich mich auf das schmatzende Geräusch, das meine Turnschuhe auf dem nassen Pflaster erzeugten.

Der Blumenkübel lag nicht nur ziemlich, sondern komplett im Dunklen, stellte ich beim Näherkommen fest. Doch als ich ihn erreichte, verschwand die Wolke, die den Mond gerade noch verdeckt hatte, und er wurde von schummerigem Licht beschienen.

Erleichtert öffnete ich meinen Rucksack und zerrte eine kleine Harke heraus. Mit ihr entfernte ich das traurige, trockene Gestrüpp, das sich darin befand, und lockerte die Erde ein wenig auf.

»Was machst du denn da?«, hörte ich Liam unterdrückt rufen. »Du sollst hier keine Schönheitspflege betreiben, sondern einfach nur die verdammten Pflanzen einsetzen.«

»Aber die Erde ist so hart …«

»Ja, und? Mach einfach!« Ich konnte den Qualm von seiner Kippe bis zu mir riechen.

Während er die Straße auf und ab tigerte, drückte ich vorsichtig den ersten Steckling in die Erde. Dann die nächsten drei. Beim letzten spürte ich, dass mein Handy in meiner Hosentasche vibrierte. Ich verfluchte Doro gerade dafür, dass sie mich um diese Zeit anrief – ich hatte doch gesagt, dass ich mich bei ihr melden würde! –, als ich sah, dass Liam mir mit der Zigarette in der Hand hektisch zuwinkte.

Mist! Das war eine Warnung! Sofort ging ich in die Knie.

Die Eingangstür des Polizeireviers öffnete sich und ich hörte Schritte. Sie näherten sich dem Kübel, hinter dem ich kauerte. Jemand hustete. Mit angehaltenem Atem linste ich über den Rand des Blumenkübels. Nur wenige Meter von mir entfernt stand ein Polizist mittleren Alters, mit Bierbauch und einer ziemlich großen Nase. Er telefonierte. Erschrocken tauchte ich wieder ab.

»Noch eine Stunde, dann bin ich bei dir, Erdbeerbienchen«, säuselte er in das Gerät.

Erdbeerbienchen!!! Hatte er seine Freundin oder Frau wirklich Erdbeerbienchen genannt? Obwohl ich hinter meinem Blumenkübel gerade tausend Tode starb, war ich schockiert.

Das Erdbeerbienchen sagte etwas, worauf der Polizist dröhnend auflachte. »Hoho, du trägst Rot. Meine Lieblingsfarbe. Da freue ich mich doch gleich ein bisschen mehr auf dich.« Er senkte seine Stimme. »Möchtest du wissen, was ich anhabe?«

Was war denn das für eine bescheuerte Frage? Der alte Knacker trug eine Uniform. Schließlich war er im Dienst und das wusste das Erdbeerbienchen doch auch.

»Ich gebe dir einen Tipp.« Das heisere Timbre in der Stimme des Polizisten ließ die schreckliche Vorahnung in mir aufsteigen, dass ich etwas zu naiv an die Sache herangegangen war. »Es ist klein, schwarz und …«

Oh nein! Kein Wunder, dass er zum Telefonieren das Revier verlassen hatte. Spätestens jetzt sollte ich mir die Ohren zuhalten, bevor ich für immer ein Trauma davontrug.

»… aus Lack. Ich weiß doch, was dir gefällt.«

Uah! Zu spät! Das Trauma war da. Und es war irreparabel.

Jetzt, wo geklärt war, was der Polizist und sein Erdbeerbienchen für Unterwäsche trugen, hatten die beiden zum Glück fast alles gesagt und nach vielen Küssen und »Ich liebe dich«, »Ich liebe dich mehr«, »Nein, ich liebe dich mehr« war das Gespräch beendet.

Ich wollte schon aufatmen, als ich das Geräusch eines Reißverschlusses hörte – und gleich darauf ein äußerst verdächtiges Plätschern. Oh nein! Ich rutschte ein Stück nach vorne. Dabei berührte ich blöderweise die Harke, die neben mir auf dem Asphalt lag, und es schepperte.

»Ist da jemand?«, fragte der Polizist. Das heisere Säuseln in seiner Stimme war verschwunden.

KAPITEL 2

Der Polizist zog den Reißverschluss seiner Hose hoch und kam näher. Ich konnte es an dem Geräusch seiner Schritte hören und an seinem Atem. Zwei schwarze Schnürschuhe drängten sich in mein Blickfeld, ein kegelförmiger Schein erhellte den nassen Asphalt. Ich hielt die Luft an. Er leuchtete mit der Taschenlampen-Funktion seines Handys die Straße ab. Gleich würde ihr Lichtschein mich erfassen. Wenn der Typ die Harke sah, würde er doch bestimmt gleich vermuten, dass ich zu den Green Devils gehörte. Wenn er sich außerdem noch ein kleines bisschen in der Botanik auskannte, wusste er auch, was ich gerade in den Kübel gepflanzt hatte. Oh Mann! In was für eine blöde Situation hatte ich mich nur hineinmanövriert. Ich war geliefert! Mein Herz fing an zu rasen. Wieso hatte ich mich nur auf diesen Blödsinn eingelassen? Und was um Himmels willen sollte ich denn jetzt tun? Wenn ich nur so einen Ring wie Frodo hätte oder einen Tarnumhang wie Harry! Etwas, mit dem ich mich unsichtbar machen könnte. Jeden Moment würde der Polizist mich entdecken. Er musste mich entdecken! Seine Bundfaltenhose und seine Halbschuhe waren kaum noch einen Meter entfernt. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals solche Angst gehabt zu haben.

Bitte geh weg!, flehte ich stumm, doch ich wusste, dass es vergeblich war. Der Schein huschte auf mich, streifte schon meine Knie und Turnschuhe. Schicksalsergeben senkte ich die Wimpern. Ich hörte ein Knistern, und vor meinen Lidern wurde es schwarz.

»Scheiße!«, fluchte der Polizist.

Verdutzt öffnete ich die Augen wieder. Nicht nur, dass sich die Wolke wieder vor den Mond geschoben hatte, auch der Lichtkegel des Handys war erloschen. Mit verbissenem Gesicht drückte er darauf herum. Als das Gerät trotzdem nicht mehr anging, steckte er es mit einem erneuten Fluch in die Gesäßtasche seiner Uniformhose und marschierte schimpfend in Richtung Polizeirevier.

Ich wartete noch eine Weile. Dann stopfte ich den letzten Steckling in den Rucksack und schlich mit wackligen Knien zu Liam zurück.

»Gut gemacht.« Liam hob die Hand. Er saß schon wieder im Auto.

Nur sehr zittrig klatschte ich ab. Gerade hatte ich mehr Glück als Verstand gehabt. Was für ein Zufall, dass das Handy des Polizisten in dem Moment kaputtgegangen war, in dem er mich fast entdeckt hätte!

»Hat der Bulle echt in den Blumenkübel gepinkelt?«

Ich nickte. »Keine Ahnung, ob die Hanfpflanzen jetzt noch leben.«

»Bestimmt. Die sind zäh.« Liam feixte. »Das wird ein Spaß, wenn die Öffentlichkeit herausfindet, was hier vor dem Polizeirevier wächst.«

Er startete den Motor und fuhr mich nach Hause.

»Bist du morgen Abend wieder dabei?«, fragte er, nachdem er sein Auto vor dem Mehrparteienhaus abgestellt hatte, in dem ich zusammen mit meiner Mutter wohnte. »Ein paar Wände im Bahnhofsviertel könnten ein Moosgraffito vertragen.«

»Klar«, antwortete ich, obwohl ich viel lieber Nein geantwortet hätte. Die Aktion mit den Cannabissetzlingen steckte mir noch in den Knochen. Mum wäre total ausgeflippt, wenn der Polizist mich erwischt hätte.

»Cool. Ich hole dich um neun ab. Wir können vorher noch was trinken gehen.« Er beugte sich zu mir und streichelte nur mit seinem Daumen über meine Wange. Oh Gott! Er würde mich gleich küssen. Ich konnte seinen Atem auf meiner Haut spüren und seine Lippen streiften fast schon meine Wange, sodass mein Herzschlag ganz schön ins Stolpern geriet. »Sag mal«, fuhr er beiläufig und ohne seine zarten Berührungen zu stoppen fort. »Wie geht es eigentlich dem Hibiskus, den ich dir vor ein paar Wochen geschenkt habe?«

Wie es dem Hibiskus ging? War das sein Ernst? Unsere Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, und ich dachte im Moment definitiv nicht an Blumen. Aber vermutlich zeigte es nur, wie sehr Liam sich für alles, was grünte und blühte, verantwortlich fühlte. Er hatte die halb vertrocknete Staude an einer viel befahrenen Straße gesehen und sie ausgebuddelt, weil sie ihm leidtat, und sie mir zum Aufpäppeln gegeben.

Ich räusperte mich. »Das war kein Hibiskus. Aber davon abgesehen geht es der Pflanze super. Sie ist schon fast hüfthoch und blüht ununterbrochen.«

»Im Ernst? Sie blüht sogar schon? Wenn ich dich morgen abholen komme, musst du sie mir unbedingt zeigen. Du hast echt ein Händchen für Pflanzen.« Liams Gesicht näherte sich meinem noch ein weiteres Stück und ich wollte schon abwartend die Augen schließen, als ein schwarzer Schatten auf die Windschutzscheibe zuschoss.

Liam und ich fuhren auseineinander.

Ein Vogel war gegen das Glas geprallt. Ich sprang aus dem Wagen. Es war ein Rabe. Benommen saß er auf dem Asphalt und schüttelte den Kopf.

»Hey! Hau ab! Schsch!«, machte Liam, der ebenfalls ausgestiegen war.

Der Vogel bewegte seine Flügel, blieb aber sitzen. Liam ging zur Fahrertür zurück und hupte.

»Spinnst du!«, fuhr ich ihn an. »Du weckst ja alle auf. Außerdem ist der Rabe vielleicht verletzt.«

»Ja, und? Willst du deswegen einen Notarzt holen? Das Scheißvieh hätte mir fast meine Windschutzscheibe demoliert.«

»Ich schaue nach, ob ich ihm helfen kann.«

»Quatsch! Dem fehlt doch nichts.« Er machte einen Schritt auf ihn zu. Mit einem entsetzten Kreischen erhob sich der Rabe in den Nachthimmel und stob davon.

Ich verdrehte die Augen. »Das wäre auch etwas sanfter gegangen. Ich muss jetzt los!« Falls Mum von dem Gehupe wach geworden war, wollte ich nicht, dass sie mich bei Liam im Auto sah. Sie fand, dass er für mich viel zu alt war … Dabei war er erst zweiundzwanzig.

»Schade.« Liam lächelte auf mich herunter. »Ich hätte gerne noch ein bisschen mit dir im Bus gesessen und geredet. Das war eine tolle Aktion heute Abend, Süße!«

Süße! Hach! Okay, wenn es um seinen geliebten Bus ging, verstand Liam keinen Spaß, aber dafür hatte er eindeutig andere Vorzüge. Gerade beugte er sich zu mir rüber. Jetzt war es aber wirklich so weit! Ich öffnete schon die Lippen, nur ganz leicht, schließlich wollte ich mich ihm nicht an den Hals werfen. Doch sein Mund zog an meinem vorbei und traf meine Wange.

»Bis morgen!«, sagte er und da saß er auch schon wieder im Bus und startete den Motor.

KAPITEL 3

Faye! Jetzt geh endlich an die Tür. Es hat geklingelt.«

»Kannst du nicht selbst aufmachen?« Ich erwartete keinen Besuch. Bis Liam kam, würde es noch zwei Stunden dauern. Ich strich Nala, meiner zahmen Bartagame, über den schuppigen Rücken.

»Nein. Ich stehe unter der Dusche. Hopp, hopp!«

Hopp, hopp?! War ich ein Pferd? Ich setzte die Echse zurück in ihr Terrarium. Drei Kreuze würde ich machen, wenn Mum morgen im Flieger nach Island saß. Eine Woche ohne ihren Kommandoton würden mir echt guttun. Wenn sie da war, musste ich ständig aufräumen, irgendwelche Aufgaben für sie erledigen – und Mathe lernen.

Mum verstand einfach nicht, dass ich mich lieber mit etwas Lebendigem umgab als mit irgendwelchen blöden toten Zahlen. Aber bis zum Abitur in ein paar Monaten würde ich mich noch damit herumärgern müssen. Das Abi wollte ich nämlich bestehen. Unbedingt. Um danach Biologie zu studieren.

Es klingelte noch einmal. Dieses Mal ziemlich nachdrücklich.

»Faye!!!«

Mit einem genervten Stöhnen richtete ich mich auf. »Ich gehe ja schon.«

»Grüß Gott, wohnst du hier?«

Erschrocken wich ich einen Schritt zurück. Vor der Tür standen zwei Polizisten.

»Ja. Wieso?« Mein Herz klopfte heftig. So ein Mist! Die Sache mit der Cannabispflanze im Polizeiblumenkübel war aufgeflogen. Hatte der Lacktanga-Polizist nur so getan, als ob er ins Polizeirevier zurückgegangen wäre – und Liam und mich stattdessen unauffällig verfolgt? So musste es gewesen sein. Woher sonst konnten die Polizisten wissen, wo ich wohnte?

»Mein Name ist Kraus«, stellte sich der eine Polizist vor. Er war etwa so alt wie Mum und hatte hellbraune Haare und ein kantiges, glatt rasiertes Kinn. »Und das ist mein Kollege Schlemmer.« Die beiden hielten mir ihre Ausweise vor die Nase. »Bist du allein zu Hause?«

»Nein, meine Mutter ist da.«

»Können wir mit ihr sprechen?«, fragte der rothaarige Polizist.

Hatte Mum vielleicht etwas angestellt? So spießig, wie sie war, konnte ich mir das nicht vorstellen. »Sie duscht gerade. Was wollen Sie von ihr?«

»Uns wurde gemeldet, dass es in diesem Haus Pflanzen gibt, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen«, sagte Kraus.

Unter seinem bohrenden Blick schrumpfte ich zusammen. Oh nein! Der letzte Hanfsteckling. Er steckte immer noch in meinem Rucksack. Wieso nur hatte ich ihn nicht weggeschmissen?

»Meinen Sie etwa Rauschgift? Das kann nicht sein«, log ich.

»Wer ist denn da?«, rief Mum. Im Hintergrund konnte ich die Dusche plätschern hören.

»Die Polizei«, krächzte ich. »Kannst du mal rauskommen?«

Stille. »Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«

»Doch.« Das leider verkniff ich mir, denn der dunkelhaarige Polizist sah ziemlich bedrohlich aus. Seine ganze Haltung war so angespannt, als befürchtete er, dass ich ihn gleich zur Seite stoßen und fliehen würde. Mit meinem zentnerschweren Sack Drogen auf dem Rücken.

Die Dusche wurde ausgestellt und nur wenige Augenblicke später trat Mum aus dem Bad. Sie trug einen Bademantel und ihre langen dunklen Haare fielen nass über ihre Schultern.

»Ist etwas passiert?« Nervös spielte sie mit einem losen Faden an ihrem Gürtel, während ich meinem Rucksack einen Tritt gab, um ihn so unauffällig wie möglich noch ein wenig tiefer in der Garderobennische verschwinden zu lassen.

Es folgte das gleiche Prozedere wie bei mir vorhin. Kraus und Schlemmer, hier die Ausweise, illegale Pflanzen in der Wohnung … Die Augen von Mum wurden zwar immer größer, aber genau wie ich war sie der Ansicht: Das kann unmöglich sein! Bei ihr klang es jedoch leider nicht ganz so überzeugt wie bei mir.

»Dürfen wir uns umschauen?«, fragte Kraus, aber es hörte sich viel mehr wie ein Befehl an als wie eine Frage.

»Natürlich. Kommen Sie mit! – Wissen Sie, meine Tochter liebt Pflanzen. Schon seit sie ganz klein ist«, plapperte Mum auf dem Weg zum Wintergarten. »Ständig buddelt sie in der Erde, pflanzt etwas ein, topft um … Sie spricht sogar mit den Pflanzen. Und wie Sie sehen, wachsen sie bei ihr wie verrückt. Ist das nicht unglaublich? Das kann sie nicht von mir haben. Ich habe es als Teenager sogar einmal geschafft, einen Zierkaktus vertrocknen zu lassen.« Sie lachte gekünstelt. »Schauen Sie nur!«

»Hier sieht es ja toll aus«, meinte der rothaarige Polizist verblüfft. Er hörte sich beeindruckt an, und wenn ich nicht so furchtbar aufgeregt gewesen wäre, hätte ich mich geschmeichelt gefühlt. Denn mein Wintergarten war mein ganzer Stolz. Zitronen- und Orangenbäumchen wuchsen darin, ein Duftjasmin, zwei Petticoatpalmen, Kanarenblumen, Löwenohr … Die Passionsblumen und die Zylinderputzer blühten gerade besonders schön … Als Highlight lag Nala im Terrarium unter ihrem Höhenlicht und sonnte sich.

Durch die Blätter der Petticoatpalmen sah ich draußen einen dritten Polizisten. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen stand er genau vor unserem Wintergarten. Hatten Schlemmer-Kraus ihn dort postiert, damit ich nicht auf die Idee kam, die Scheibe einzuschlagen und hinauszuspringen?

Ich sah auch Herrn Jung, unseren Nachbarn. Er brachte gerade seinen Biomüll raus, und wie immer trug er dabei Plastikhandschuhe. Verstohlen schaute er zu uns hinauf, während er gleichzeitig versuchte, mit seiner freien Hand einen Raben zu verscheuchen, der es sich auf seiner Tonne bequem gemacht hatte. Ob das der Vogel von gestern Abend war? Unbeeindruckt von Jungs Gehampel blieb er sitzen. Hack dem blöden Kerl in die Hand!, murmelte ich lautlos.

Die Papiertüte mit dem Biomüll fiel auf den Boden. Bananenschalen, abgenagte Apfelbutzen und ein halber Kopfsalat machten sich auf dem Asphalt breit und unser Nachbar hüpfte wie Rumpelstilzchen drum herum. Dabei keifte er – ich konnte es an seinem wutverzerrten Gesicht sehen – und hielt sich die Hand. Ich riss die Augen auf. Konnte der Vogel meine Gedanken lesen, oder war es Zufall gewesen?

Was auch immer, der Jung hatte es verdient. Bestimmt hatte er die Polizei gerufen.

Im Gegensatz zu mir hatte Polizist Kraus überhaupt kein Interesse daran, was sich gerade vor dem Fenster abspielte. Und auch nicht an den exotischen Schönheiten in meinem Wintergarten oder meiner Zwergbartagamendame. Er fixierte die Staude, die Liam mir geschenkt hatte.

»Weißt du, was das ist?«

»Klar.« Wusste er es nicht? »Das ist Klatschmohn, Papaver rhoeas, aus der Familie der Papaveraceae. – Normalerweise blüht er um diese Jahreszeit nicht mehr, aber hier im Wintergarten ist es auch Ende Oktober noch schön warm«, referierte ich nervös weiter, weil Kraus mich mit bewegungsloser Miene und vor der Brust verschränkten Armen anstarrte. »Die Pflanzen blühen hier immer etwas länger als in der freien Natur und …«

»Verkauf uns nicht für dumm«, fuhr er mich an. Seine Augenbrauen waren so fest zusammengezogen, dass sich zwei senkrechte Falten zwischen ihnen gebildet hatten.

Ich presste die Lippen zusammen. »Das ist Mohn. Ganz bestimmt.«

»Und was machst du damit?«, fragte Schlemmer, sein Kollege, sanft. Er war eindeutig der Nettere der beiden, aber seine Frage brachte mich innerlich zum Kopfschütteln. Was sollte ich denn schon damit machen? Ich schaute ihn mir an. Er war hübsch. Sonst konnte man nicht allzu viel mit ihm anfangen. Das wusste doch jeder. Die Volksheilkunde schrieb ihm zwar eine beruhigende Wirkung zu, aber medizinisch erwiesen war das nicht.

Um mich kooperativ zu zeigen, erwähnte ich aber, dass ich die getrockneten Blütenblätter manchmal unter meine selbst gemachten Kräutertees mischte. »Auch in Seifen oder Badezusätzen sehen sie hübsch aus. Bei meinen Freundinnen sind sie sehr beliebt.«

Nun schnellten Kraus’ Augenbrauen in die Höhe. »Du gibst sie also weiter?«

Wenn er das so ausdrücken wollte, ja. Ich nickte.

»Auch die Kapseln?« Sein Gesichtsausdruck bekam etwas Lauerndes, und langsam fragte ich mich, ob er nicht vielleicht selbst Drogen eingeworfen hatte. Was interessierte ihn denn nur so an diesem Mohn?

»Ja, die auch. Meistens schneide ich nämlich nur die Blüte ab, und meine Freundinnen trocknen die Blätter selbst. Da ich nächstes Jahr Abitur mache, muss ich die ganze Zeit lernen und habe leider überhaupt keine Zeit für irgendetwas anderes.« Ich warf Mum einen trotzigen Blick zu.

»Gut. Das genügt.« Kraus wirkte auf einmal sehr zufrieden. Er wandte sich an Mum. »Ich muss Sie und Ihre Tochter bitten, mit aufs Revier zu kommen.«

»Weil sie getrocknete Mohnblüten unter ihren Tee mischt?« Sie sah genauso fassungslos aus, wie ich mich fühlte.

»Nein. Weil sie einen illegalen Handel mit Schlafmohn betreibt.«

KAPITEL 4

Schlafmohn?«, entfuhr es Mum.

»Ja, Papaver somniferum«, erklärte der rothaarige Polizist. »Aus seinen Kapseln kann man Opium gewinnen.«

Ich hörte, wie sie keuchte, und auch mein Herz setzte für einen Schlag aus.

»Das kann nicht sein«, stotterte ich. »Wir haben die Staude auf einer Verkehrsinsel in Neuperlach ausgegraben, und Papaver somniferum wächst nur im östlichen Mittelmeerraum und in Indien …«

»Wir?«, schnitt Kraus mir das Wort ab. »Arbeitest du mit jemandem zusammen?«

Oh Mann! Liam, dieser Arsch. Er hatte mir eine verbotene Pflanze untergejubelt. Von wegen Hibiskus!

»Nein, ich … äh … ich war allein. Es war niemand dabei.« War ich denn noch ganz dicht? Warum deckte ich diesen Blödmann denn noch?

Mum warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Du sagst jetzt gar nichts mehr«, herrschte sie mich an und schaffte es auf bewundernswerte Weise, trotz ihres Bademantels und der nackten Beine autoritär zu wirken. »Ich rufe einen Anwalt an.«

Einen Anwalt! Aber ich war doch kein Schwerverbrecher!!

Der Ansicht waren die beiden Polizeibeamten nicht. Zwar legten sie mir keine Handschellen an, aber Mum und ich mussten mit auf das Präsidium fahren, damit sie meine Aussage aufnehmen konnten. Im Streifenwagen! Wie peinlich!

Trotz des Anwalts hielt man uns fünf Stunden auf der Polizeiwache fest.

Ich musste den Beamten eine Liste mit Namen und Adressen der Freundinnen geben, die von mir Mohnkapseln bekommen hatten. Erst nachdem alle den Polizisten versichert hatten, keine Ahnung gehabt zu haben, dass es sich dabei um Schlafmohn handelte – Doro konnte ihnen zum Glück einen Badezusatz und eine Teemischung zeigen –, war Kraus endlich bereit zu glauben, dass ich wirklich nicht gewusst hatte, was da in unserem Wintergarten wuchs.

Liam hatte ich herausgehalten. Dabei verdiente er es überhaupt nicht. Die Enttäuschung und die Demütigung trieben mir die Tränen in die Augen. Ich hatte mich so über die Pflanze gefreut, und ich hatte gedacht, dass er mich mochte. Aber er hatte mich nur benutzt. Um Drogen für ihn anzubauen. Ich blöde Kuh war so verliebt in ihn gewesen, dass es mir noch nicht einmal aufgefallen war, was er mir da untergeschoben hatte. Als angehende Biologin. Dabei waren die Kapseln des Schlafmohns doch viel runder als die von Klatschmohn.

Endlich konnten wir gehen, und Kraus brachte uns zur Tür.

»Behalten Sie Ihre Tochter besser im Auge. Dieses Mal belassen wir es bei einer Verwarnung. Beim nächsten Vorfall kommt sie nicht so glimpflich davon«, sagte er und schaute erst sie, dann mich noch einmal finster an. »Richten Sie das auch Ihrem Mann aus!«

Mum nickte brav.

Klar würde sie es ihm sagen! Wenn es einen gäbe.

Lange Zeit hatte ich gedacht, es sei normal, dass es nur Mum in meinem Leben gab. Irgendwann im Laufe meiner Kindergartenzeit war mir jedoch klar geworden, dass unsere Familienkonstellation nicht die gängigste war. Mein Erzeuger war nämlich nicht einfach ausgezogen wie die Väter so vieler anderer Kinder. Ich hatte ihn nie kennengelernt, und Mum weigerte sich, mit mir über ihn zu sprechen.

In der vierten Klasse der Grundschule mussten wir einen Familienstammbaum anfertigen. Die linke Seite meines Baumes blieb vollkommen leer, und ich wurde deswegen von ein paar Mitschülern geärgert. Mum war schockiert gewesen. Aber nicht so schockiert, dass sie mir verraten hätte, wer mein Vater war. Ich nahm es ihr immer noch übel.

Als wir nach Hause kamen, saß der Rabe wieder auf der Biomülltonne vom blöden Jung. Ich näherte mich ihm, und er blieb sitzen.

»Was bist du nur für ein furchtloser Kerl!« Langsam streckte ich meine Hand aus und strich dem Vogel über das glänzende Gefieder. Es überraschte mich, dass ich ihn anfassen durfte.

»Faye!« Mums Stimme war scharf wie eine Rasierklinge. Sogar der Vogel erschrak und flog heiser krächzend auf den Dachfirst. War ja klar, dass mir eine Standpauke nicht erspart bleiben würde. »Komm jetzt rein! Sofort!«

Mit zusammengebissenen Zähnen folgte ich Mum hinauf zur Wohnung. Im Wohnzimmer warf ich mich auf das Sofa und legte die Füße auf den Tisch, weil ich wusste, dass sie das überhaupt nicht ausstehen konnte.

Heute ließ sie sich davon nicht provozieren. Mit kerzengeradem Rücken setzte sie sich mir gegenüber in einen Sessel.

»Der Polizist hat recht«, kam sie ohne Umschweife zum Thema.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Damit, dass du meinem Vater erzählen sollst, was passiert ist?«, fragte ich höhnisch. »Da bin ich mit der Polizei ausnahmsweise einer Meinung.«

Natürlich ignorierte Mum diesen Einwurf. »Ich kümmere mich einfach zu wenig um dich.«

»Das finde ich überhaupt nicht«, protestierte ich. Meiner Meinung nach kümmerte sie sich viel zu viel um mich. »Und nachdem das geklärt ist und du kein schlechtes Gewissen mehr wegen mir haben musst, möchte ich gern in mein Zimmer gehen und mit Doro telefonieren. Sie hat mir schon sieben WhatsApps geschickt, weil sie denkt, dass ich im Knast sitze.«

»Du bleibst hier. Wir sind noch nicht fertig!«

Ich verdrehte die Augen. »Was gibt es denn noch?«

»So kann es nicht weitergehen. Ich arbeite zu viel. Und du bist zu oft allein zu Hause.«

»Und was willst du dagegen machen? Willst du deinen Job aufgeben oder von jetzt an nur noch im Homeoffice arbeiten?« Es fehlte nur noch, dass sie mir vorschlug, direkt nach der Schule zu ihr ins Büro zu kommen. Um meine Hausaufgaben dort zu machen. Womöglich noch unter ihrer Aufsicht …

»Nein. Aber ich werde dich nächste Woche definitiv nicht alleine hier in München lassen. Du wirst mit mir nach Island fliegen.«

Ich schnappte nach Luft. »Nie im Leben! Es sind Ferien! Ich habe Pläne!«

»Ja, mit deinen Guerilla-Freunden herumzuhängen. Aber das kannst du vergessen. Sie sind …«

»… kein guter Umgang für mich, ich weiß. Aber im Gegensatz zu dir habe ich wenigstens Freunde«, fauchte ich Mum an.

Zwar hatte ich nach dieser Blamage nicht vor, mich noch einmal bei den Green Devils blicken zu lassen, schon gar nicht, solange Er, dessen Namen von nun an nicht mehr genannt werden durfte, ihr Anführer war, und am liebsten würde ich mich für ein paar Tage verkriechen, irgendwo ganz weit weg, aber doch nicht zusammen mit Mum! Sie sollte verdammt noch mal endlich damit aufhören, sich in meine Angelegenheiten zu mischen.

»Sprich nicht in diesem Ton mit mir, Fräulein, ich warne dich!«

»Dann hör du endlich auf, mich wie ein kleines Kind zu behandeln.« Ich sprang vom Sofa auf, denn ich hatte keine Lust, mit Mum auch nur ein weiteres Wort zu wechseln.

»Das mache ich. Wenn du aufhörst, dich wie eins zu verhalten, und du endlich lernst, Verantwortung zu übernehmen.«

»Ich verhalte mich nicht wie ein Kind. Und ich übernehme Verantwortung.«

Mum hob nur eine Augenbraue an. »Wer hat in unserem Wintergarten Rauschgift angepflanzt?«

Ich stieß ein verächtliches Geräusch aus. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich nicht wusste, dass es Schlafmohn war? Und die Polizisten haben mir letztendlich doch auch geglaubt.«

»Du wirst trotzdem keine ganze Woche lang allein hierbleiben.«

»Ich bin siebzehn.« Am liebsten hätte ich mit dem Fuß aufgestampft. Aber das wäre echt kindisch gewesen.

»Auch mit siebzehn nicht.«

»… sagt die Frau, die mit achtzehn schwanger geworden ist.«

Mum ignorierte diesen Satz. »Du kommst mit. Punkt!«

»Vergiss es.«

KAPITEL 5

Herzlich willkommen in Island. Wir hoffen, dass Sie einen angenehmen Flug hatten und dass wir Sie bald wieder an Bord von Iceland Air begrüßen dürfen. In Reykjavík erwarten Sie zwölf Grad und leichter Regen …«

Leichter Regen? Monsun hätte ich als Beschreibung passender gefunden. Dicke Tropfen trommelten gegen die Scheibe. Während die Stewardess mit festgefrorenem Lächeln ihren Monolog fortführte, schaute ich missmutig aus dem Fenster. Doch viel zu sehen gab es nicht. Alles, was ich erkennen konnte, war flach und schwarz. Nur hin und wieder durchbrach etwas Weißes diese Ödnis. Es sah aus wie ein überdimensionaler Klecks Vogelschiss.

Die Anschnallzeichen erloschen, und der große Mann, der neben meiner Mutter gesessen hatte, stand erleichtert auf und reckte sich. Ich selbst hatte mit meinen 1,78Metern Körperlänge schon ziemlich eingezwängt in der engen Sitzreihe gekauert, der Ärmste hatte sich wie ein Klappmesser zusammenfalten müssen, um seine Beine irgendwie unterzubringen.

Ich stieß Mum an, die trotz der holprigen Landung immer noch schlief wie ein Baby. Sicherlich wäre sie noch nicht einmal bei einem Absturz aufgewacht.

»Sind wir schon da?« Sie schob sich die Schlafmaske von den Augen.

»Nein. Wir bereiten uns gerade auf eine Notlandung auf dem Wasser vor. Kannst du bitte aufstehen, damit ich meine Jacke und meinen Rucksack aus dem Gepäckfach holen kann, bevor ich die Schwimmweste anziehe und ins Rettungsboot steige?«

»Was?« Sie blinzelte verwirrt.

»Das war ein Witz. Wir sind da. Leider.«

Mum gähnte. »Wenigstens hast du deinen Humor wiedergefunden.«

»Nein, der ist immer noch zu Hause. Kann ich im Flugzeug sitzen bleiben und wieder zu ihm zurückfliegen?« Ich setzte meinen schönsten Hundeblick auf.

»Ach Faye!« Mum seufzte. »Sieh diese eine Woche doch einfach als Urlaub an.«

Urlaub?! Diese Reise war kein Urlaub. Mum würde die ganze Zeit arbeiten. Und ich war völlig gegen meinen Willen in dieses Land gebracht worden, das es nur durch seine Fußballmannschaft zu einer bescheidenen Bekanntheit gebracht hatte und in dem es – ich hatte es recherchiert! – außer dicken Ponys und ganz viel Natur überhaupt nichts gab. Und nicht einmal von der Natur würde ich besonders viel mitbekommen, weil meine Mutter nämlich darauf bestand, dass ich die ganze Zeit lernte. Für die Matheklausur, die direkt nach den Herbstferien anstand.

Ich schulterte meinen Rucksack, reihte mich zwischen dem Geschäftsmann und einer gestresst aussehenden Mutter mit ihrem zweijährigen Kind ein und verließ das Flugzeug.

Unser Gepäck war bereits da.

»Ist der schwer!« Ächzend wuchtete Mum meinen Koffer vom Gepäckband. Ich hätte ihn vorbeizuckeln lassen, da ich gerade an Doro schrieb, dass ich am Ende der Welt gelandet war. Ehrlich gesagt hatte ich statt Ende ein anderes Wort benutzt, aber Mum legte viel Wert auf eine ordentliche Ausdrucksweise. Schimpfwörter aller Art waren bei ihr schon immer tabu gewesen. »Was ist denn da drin?«

»Nur ein paar Schulbücher!«, log ich. Mum musste nicht unbedingt wissen, dass ich mein völlig zerfleddertes Exemplar von Der Herr der Ringe mitgenommen hatte. Und die ersten vier Game-of-Thrones-Bände. Ich würde mich einfach die ganze Woche in meinem Zimmer einigeln und Das Lied von Eis und Feuer durchschmökern. Immerhin sah es hier auf Island ja fast so aus wie in Westeros, ich brauchte also gar nicht erst vor die Tür zu gehen.

»Das ist eher eine ganze Bibliothek.« Mum hob den Koffer probeweise noch einmal an. An ihren geröteten Wangen erkannte ich, dass sie sich dafür ganz schön anstrengen musste. »Ich hoffe, du hast auch das Mathebuch eingepackt.«

Ich verzog das Gesicht. »Ja, keine Sorge, ich werde die nächsten Tage ganz brav sein und Integralrechnung lernen. Aber sei nicht zu enttäuscht, wenn das nichts nutzt. Wie du weißt, leide ich nämlich unter einer besonders schweren Form von Dyskalkulie.«

»Du leidest an akuter Faulheit. An sonst gar nichts«, sagte sie unbeeindruckt. »Und wenn du dich nur halb so oft mit der Schule beschäftigen würdest wie mit deinen Freunden, der Echse und deinen Pflanzen, würdest du in Mathematik bestimmt nicht nur Fünfer schreiben.«

Nun kam das schon wieder … »Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich mich den ganzen Tag hinsetze und nichts anderes tue als lernen. Ich möchte neben der Schule schließlich auch noch ein Leben haben …«

»Lehrjahre sind keine Herrenjahre!«

Ernsthaft jetzt? So sprach doch heute kein Mensch mehr. »Selbst wenn ich in Mathe nur fünf Punkte bekomme, kann ich die durch Biologie, Chemie, Deutsch und Spanisch locker ausgleichen.«

»Ach, das hast du dir ausgerechnet! Ganz so hochgradig kann deine Dyskalkulie also doch nicht sein.«

Der Flughafen in Island war überraschend modern. Mum konnte sich überhaupt nicht mehr einkriegen darüber, wie raffiniert die Kombination aus rustikalem Holz mit schwarzem Stein und orangefarbenem Glas war. Durch futuristische Bullaugen konnte ich sehen, dass es draußen immer noch goss wie aus Kübeln. Deprimiert schob ich den Rollwagen mit unseren Koffern vor mir her. »Velkomin heim« stand auf dem Griff, was selbst ich, die ich kein Wort Isländisch sprach, mühelos mit »Willkommen daheim« übersetzen konnte. Wie freundlich! Aber hätte uns diese Heimat nicht mit etwas besserem Wetter empfangen können? In der winzigen Ankunftshalle warteten nur ein paar Leute. Da Mum gesagt hatte, dass wir von ihrem Auftraggeber abgeholt werden würden, sah ich mich um. War es der rotgesichtige blonde Naturbursche mit dem Karohemd oder der Managertyp im dunklen Anzug und mit Aktentasche in der Hand? Der Mann mit der großen Holzkiste schien mir eher nicht infrage zu kommen. Durch Ritzen zwischen den Brettern konnte ich nämlich eine rosa Ferkelschnauze sehen. Genauso wenig wie der Junge mit der Beaniemütze, der von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war und mich ein bisschen an Liam erinnerte. Er hatte genau die gleiche coole, unantastbar wirkende Ausstrahlung. Oh Mann! Sogar hier auf Island musste ich ständig an diesen Vollpfosten denken.

»Wo bleibt denn nur unser Chauffeur?«, fragte ich genervt.

Meine Mutter blickte sich einen Moment suchend um, dann erhellte sich ihr Gesicht. »Da steht er! Hallo! Hier sind wir!«

Ich rechnete damit, dass sich der Managertyp umdrehte, doch es war der Junge. Verflixt! Er kam auf uns zu.

»Das ist Aron, der Neffe, von dem Elric Karlsson mir erzählt hat«, wisperte Mum. »Süß, oder?« Die letzten beiden Wörter sagte sie ziemlich laut.

Wie peinlich! Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Hoffentlich hatte er das nicht gehört!

»Guten Tag! Mein Onkel hat mich geschickt. Ich soll Sie abholen. Er wartet im Wagen«, begrüßte Aron uns auf Englisch und hörte sich ziemlich gelangweilt dabei an.

»Das ist sehr nett von dir.« Mum reichte ihm die Hand. »Ich bin Juliane Peters. Und das ist meine Tochter Faye.«

»Hey!«, piepste ich viel zu hoch.

Aron musterte mich irritiert. Sein Blick pendelte ein paarmal zwischen Mum und mir hin und her. Bestimmt fragte er sich, wie es sein konnte, dass wir Mutter und Tochter waren. Wir sehen uns nämlich überhaupt nicht ähnlich. Mums Haare sind brünett, sie hat grüne Augen und ist klein und zierlich wie ein Püppchen. Ich dagegen habe hellblonde Haare, blaue Augen und meine Arme sind so lang, dass ich mich mit den Fingern in den Kniekehlen kratzen kann. Okay, jetzt übertreibe ich, aber meine Arme sind wirklich ziemlich lang. Genau wie meine Beine. Meine Nase. Meine Ohren … Diesen unvorteilhaften Hang zur Länge musste ich von meinem unbekannten Erzeuger haben.

Mit bestimmt hochrotem Kopf fasste ich nach meinem Koffer. Auch Aron griff danach, und unsere Hände berührten sich. Ich hörte ein Knistern, und ein schmerzhaftes Ziehen ging durch meinen Arm, das sich von den Fingern bis zu meiner Schulter ausbreitete. Ich zuckte zurück. Im gleichen Moment zischte es, und das Deckenlicht in der Ankunftshalle flackerte ein paarmal. Schließlich ging es aus. Auch die Anzeigetafeln erloschen. Sofort reckten alle die Köpfe und aufgeregtes Gerede setzte ein.

Ich starrte Aron an. Seine Augen waren dunkel. Sehr dunkel. Man konnte die Pupillen kaum von seiner Iris abgrenzen. Trotz meines Schrecks begann es in meinem Magen zu flattern.

»Ein Stromausfall.« Mums Stimme drang von ganz weit weg zu mir durch. »Gut, dass es draußen noch hell ist.«

Es knisterte erneut. Das Licht an der Decke flammte auf, und auch die Anzeigetafeln gingen wieder an.

»Schon vorbei.« Aron riss meinen Koffer hoch – ihm schien meine Büchersammlung nichts auszumachen. Er nahm auch noch den von Mum und ging wortlos in Richtung Ausgang.

KAPITEL 6

Kaum waren wir durch die Schiebetüren nach draußen getreten, riss der Himmel auf und die Sonne schob sich zwischen den Wolken hindurch. Während ich mir meinen immer noch schmerzenden Arm rieb, hielt ich dankbar mein Gesicht in die warmen Strahlen.

Aron führte uns zu einem schwarzen Jeep mit abgedunkelten Scheiben, der auf einem Seitenstreifen parkte, und ein Mann stieg aus, der einen eleganten Wollmantel über einem perfekt sitzenden Anzug trug. Abgesehen von dieser formellen Kleidung und seiner Brille sah er Aron unglaublich ähnlich. Auch er war groß, schlank und muskulös und hatte dunkle Augen. Allerdings hoffte ich stark, dass Arons schwarze Haare anders als bei ihm von keiner breiten weißen Strähne durchzogen wurden, die von der Stirn bis zu seinem Hinterkopf verlief. Ich fragte mich, wieso Karlsson, der ganz offensichtlich großen Wert auf sein Aussehen legte, sie nicht färbte. Sie ließ ihn nämlich ein wenig wie ein Stinktier aussehen.

»Elric Karlsson. Wie schön, dass ich Sie endlich persönlich kennenlerne, liebe Juliane.« Karlsson lächelte charmant, und der dezente Geruch eines Aftershaves wehte zu mir herüber. Wie Aron sprach auch er fließend Englisch. »Ihre Entwürfe für das Hotel haben mich von Anfang an begeistert, und es freut mich sehr, dass Sie bei dem Spatenstich dabei sein werden. Wir haben einen großen Festakt geplant.« Er strich sich die lackschwarzen Haare zurück.

»Ich freue mich auch.« Mums Wangen hatten sich rosa verfärbt.

Ich hob eine Augenbraue. Ganz offensichtlich war auch ihr sein gutes Aussehen nicht entgangen.

Wir stiegen in den Jeep, und Aron fuhr los. Während Karlsson und Mum angeregt über das Hotelprojekt plauderten, schaute ich aus dem Fenster.

Die Landschaft als kahl zu beschreiben, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Waren wir vielleicht aus Versehen auf dem Mond gelandet? Flach wie ein Teller war die Gegend um den Flughafen, und es gab keinen einzigen Grashalm oder Baum weit und breit. Nur graubraune, mit Moos und Flechten bewachsene Felsbrocken. Die einzigen Farbkleckse in dieser tristen Steinwüste waren die schwefelgelben, rostroten und kupferfarbenen Berge, die dahinter emporragten.

Obwohl es ansonsten nicht viel zu sehen gab, musste ich zugeben, dass ich fasziniert war. Ungefähr so hatte ich mir Teile von Mittelerde vorgestellt. Es hätte mich nicht gewundert, wenn in diesem Moment ein keulenschwingender Ork auf unser Auto zugerast wäre. Oder wenn auf einem der Steine ein spitzohriger Elf gesessen hätte. Und dieser seltsam geformte Felsbrocken … Sah er nicht aus wie ein versteinerter Drache?

Nach Reykjavík wurde die Landschaft bunter. Die Felsbrocken wichen Wiesen, auf denen Schafe mit dickem verfilztem Fell und Ponys in allen Farben grasten. Immer wieder tauchten kleine Waldstücke auf. Das dunkle Grün der Nadelbäume sah hübsch aus in Kombination mit den Gelbtönen der Laubbäume.

Durch den Autospiegel erhaschte ich einen Blick auf Aron. Ich hatte immer gedacht, alle Isländer seien blond. Oder verwechselte ich sie mit Skandinaviern? Nicht zu glauben, was für eine dunkle Haut sein Onkel und er hatten! Als kämen sie aus dem Urlaub oder hätten eine Sonnenbank zu Hause. Anders war es nicht zu erklären, wie man in diesem Land so braun werden konnte. Arons Augen erinnerten mich in ihrer Farbe an Zartbitterschokolade, und mit den langen Wimpern hätten sie richtig schön sein können, wenn sie nicht so abweisend dreingeblickt hätten. Mit düsterer Miene starrte er auf die vor uns liegende Straße. Im Radio lief gerade A Sky full of Stars von Coldplay, und Aron trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Allerdings nicht im Rhythmus der Musik, sondern monoton. Klopf, klopf, klopf! Bestimmt wollte er sich dadurch innerlich zur Geduld mahnen. Oder das Auto, das sowieso schon ziemlich schnell fuhr, zu noch höherem Tempo antreiben. Voll überschwänglicher Freude war er garantiert nicht mit seinem Onkel zum Flughafen gefahren.

Unsere Blicke begegneten sich im Rückspiegel. Bevor ich rot anlaufen konnte, grinste ich ihn selbstbewusst an. Ich kann dich verstehen, sollte dieses Grinsen signalisieren. Ich bin auch nicht freiwillig hier. Oh nein! Etwas Grünes hing zwischen meinen Vorderzähnen. Es musste von dem Sandwich stammen, das ich im Flugzeug gegessen hatte. Kein Wunder, dass Aron mich am Flughafen so seltsam gemustert hatte. Schnell schloss ich meinen Mund wieder. Aber da hatte Aron sowieso schon, ohne irgendeine Gefühlsregung zu zeigen, weggeschaut.

Herzlichen Glückwunsch! Ich seufzte. Der erste Gleichaltrige, der mir in diesem Land begegnete, war ein muffeliger Typ, der mich nicht nur unangenehm an Liam erinnerte, sondern mir auch deutlich zu verstehen gab, dass ich für ihn quasi nicht existierte. Das würde ein wundervoller Urlaub werden!

Als Kirkjuvík in der Ferne auftauchte, hörte Mum endlich auf, ihrem Bauherrn von ihrem letzten Projekt vorzuschwärmen – der Entkernung und dem Wiederaufbau einer alten Stadtvilla –, und schaute mit großen Augen auf die Kulisse vor uns. Das Dörfchen schien sie ja richtig umzuhauen. Was ich überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Denn es bestand zwar aus vielen roten, gelben, blauen und grünen Häuschen und lag postkartenmäßig auf einer kleinen Halbinsel, aber es war auch nicht gerade Venedig oder Angkor Wat. Diese kambodschanische Tempelstadt wollte ich unbedingt einmal besuchen, weil sie mitten im Dschungel liegt.

»Gibt es in Kirkjuvík eigentlich eine Jugendherberge?« Mums Stimme zitterte leicht bei dieser Frage.

Ich runzelte die Stirn. Wieso wollte sie das denn wissen?

»Nein«, antwortete Karlsson, »aber im nächstgrößeren Dorf, in Vík. Möchten Sie, dass ich Sie dort absetze?« Seinem verwunderten Tonfall konnte man anhören, dass er noch nie in einer Jugendherberge übernachtet hatte. Dieser reiche Sack stieg bestimmt nur in Fünf-Sterne-Plus-Hotels ab.

»Nein, nein. Wir haben natürlich längst gebucht. Ich habe ein kleines Cottage gemietet, das ganz in der Nähe des Bauplatzes liegt.« Mum zog einen Notizzettel aus ihrer Handtasche und warf einen Blick darauf. »Wir wohnen hier im Dorf, im Klettsvegur 2.«

»Sie wohnen bei María Sigurdardóttir?«

Was fand Karlsson denn daran so ungewöhnlich? Hatte diese Frau etwa ein Atommüllauffanglager im Garten? Aber auch Aron hatte aufgehorcht, wie ich an seinem plötzlich angespannten Rücken erkannte.

»Ja, so heißt die Frau, bei der ich den Schlüssel abholen soll. Was ist mit ihr?«

Karlsson war sichtlich gereizt. »Die alte Dame ist Teil einer Protestbewegung, die sich gegen den Bau des Hotels richtet. Ihr habe ich es vor allem zu verdanken, dass es so lange gedauert hat, bis die Baugenehmigung da war.«

»Sie haben im Vorfeld gar nicht erwähnt, dass es in der Bevölkerung Vorbehalte gegen den Hotelbau gibt.«

Karlsson winkte ab. »Die üblichen Querelen vor einem Baubeginn dieser Größenordnung. Nichts, was Sie belasten muss.«