Firstborn - Filip Alexanderson - E-Book

Firstborn E-Book

Filip Alexanderson

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Beschreibung

Jonas hat es nicht leicht: Er muss sich um seine kranke Mutter kümmern und nebenbei sein Jurastudium durch harte Arbeit auf Stockholms Baustellen verdienen. Dabei leidet er immer wieder unter heftigen Migräneanfällen. Während einer solchen Attacke hat er eines Tages einen schrecklichen Unfall, den er wie durch ein Wunder überlebt. Bei der schnell eingeleiteten Operation entfernen die Ärzte eine merkwürdige Kapsel in Jonas’ Kopf – und von dem Moment an ist seine Welt nicht mehr die, die sie war. Es gehen seltsame Dinge vor sich, und während Jonas verzweifelt nach Antworten sucht, wird er plötzlich selbst zum Gejagten ...

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Buch

Der Jurastudent Jonas arbeitet neben seinem Studium in Stockholm als Schwarzarbeiter auf einer Baustelle, um den Lebensunterhalt für sich und seine depressive Mutter zu verdienen. Eines Tages verunglückt er während eines Migräneanfalls schwer und gilt zunächst als tot. Aber wie durch ein Wunder überlebt Jonas und kann operiert werden. Nachdem ihm dabei eine merkwürdige Kapsel aus dem Kopf entfernt wird, entdeckt er übermenschliche Fähigkeiten an sich. Während Jonas verzweifelt versucht herauszufinden, wer er wirklich ist und wo er herkommt, setzt die Sozialarbeiterin Eldh alles daran, eine Mordserie an Obdachlosen aufzudecken, die mit elektrischer Spannung getötet werden. Als sich Eldhs und Jonas’ Wege schließlich kreuzen, wird ihnen klar, dass alles zusammenhängt– und dass manche Dinge es wert sind, für sie zu sterben.

Autor

Filip Alexanderson, 1975 in Schweden geboren, ist Schauspieler am Königlichen Dramatischen Theater in Stockholm. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Schwedens Hauptstadt. »Firstborn« ist sein erster Thriller.

FILIP ALEXANDERSON

FIRSTBORN

– Der Gejagte –

Thriller

Aus dem Schwedischen

von Nike Karen Müller

Die schwedische Originalausgabe erschien 2015

unter dem Titel »Förstfödd« bei Norstedts, Stockholm.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Gedichte von Gustaf Fröding: In der Jugend / Der Poet Wennerbom / Ein Ghasel. Aus: »Schilf, Schilf rausche«. Ausgewählte Gedichte von Gustaf Fröding. Übertragen von Klaus-Rüdiger Utschik. Anacreon Verlag, 2.Aufl. 2007. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2016

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Filip Alexanderson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Published by agreement with Ahlander Agency

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: plainpicture/Mohamad Itani

Redaktion: Friederike Arnold

AG · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-17336-4V001

www.goldmann-verlag.de

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Prolog

Sie stolperte vorwärts in der Dunkelheit, das Kind im Arm. Das verwaschene Flügelhemd vom Krankenhaus reichte ihr bis zu den Waden. Mit bloßen Fußsohlen tastete sie sich auf dem kalten Beton voran. Eigentlich sollte sie frieren in der kalten Zugluft in den unterirdischen Gängen, aber alles, was sie spürte, war der ausgekühlte Körper des Kindes. Die Abwesenheit von Leben. Sie presste den zarten Körper krampfhaft an ihre Brust. Das unbarmherzige Licht der Leuchtstoffröhren flackerte. Kleine Inseln erhellter Wirklichkeit, die den dunklen Korridor entlangführten, wie ein enger Gang hinab in die Unterwelt. Mund und Augen wollten schreien, aber es kam kein Laut. Ein Mann in Weiß tauchte aus dem Dunkel auf. Er blieb stehen, hielt sie fest und versuchte, ihr das Kind zu entreißen. Andere in Weiß kamen hinzu. Nun löste sich der Schrei, der in ihr festgesessen hatte, ein abrupter, gellender Schrei. Die verzweifelte Klage einer Mutter, die ihr Neugeborenes verloren hatte. Dann wurde es still.

1

Jonas stand vor dem Zaun und betrachtete die Baustelle. Kalter Regen peitschte von der Seite und suchte sich einen Weg seinen Nacken hinunter. Das langärmlige Unterhemd war nass am Hals und auf der Brust. Seit dem frühen Morgen war er draußen, das hier war schon die vierte Baustelle. Bagger hoben Erdmassen aus und füllten die Baugrube mit Steingrus auf. Bauarbeiter schufteten im Schlamm. Weiter hinten wurde die Bodenplatte vorbereitet. Jonas schlug die Kapuze hoch und steuerte die Baracken an. Der anhaltende Regen trübte die Sicht wie ein nasser Vorhang und verwandelte den Baulärm in dumpfes Dröhnen. Beinahe wäre er gegen einen Eisenträger gelaufen, als er an einem Stapel großer Abflussrohre vorbeikam.

»Watch out!«, schimpfte ein südländisch aussehender Mann mit Mütze.

»Sorry, przepraszam«, entgegnete Jonas und trat rasch zur Seite.

Er ging an übereinandergestapelten Moniereisen vorbei, an schmutzigen Blöcken aus Polystyrol, Zementrohren und Spanplatten, bis er einen kleinen blauen Bauwagen erreicht hatte. Im Innern war es warm und feucht. Das Fenster war beschlagen, und es roch nach nassem Hund. Der Boden war fast völlig mit Matsch bedeckt. An einem provisorischen Tisch aus Stützböcken und ein paar Gipsplatten stand ein Mann und telefonierte. Er trug eine blaue Regenjacke und einen Helm. Der Tisch war übersät mit Zeichnungen, leeren PET-Flaschen, Werkzeugen und Ladegeräten. Der Mann sprach abwechselnd Englisch und Schwedisch. Er klang gehetzt und warf Jonas einen verärgerten Blick zu, er ließ sich nicht gerne vor anderen kritisieren. Als das Gespräch beendet war, kritzelte er nachlässig die Skizze einer tragenden Konstruktion auf die Gipsplatte und strich eine andere durch.

»Bist du der Elektriker?«, fragte der Mann mit englischem Akzent, ohne den Blick von der Skizze zu heben.

»Nein.«

»Too bad.« Er fügte ein paar Ziffern hinzu. »So, was willst du?«

»Kannst du noch wen gebrauchen?«

»No, I need the fucking Elektriker!« Der Mann schleuderte den Stift auf den überladenen Tisch. Ein Pappbecher fiel um, und der Kaffeerest spritzte über die Zeichnungen. »Fuck!«

Jonas drehte sich um und ging. Seit zwei Wochen nichts. Er ließ den Blick über das zerfurchte schlammige Gelände schweifen. Der mühsame Kampf der Baumaschinen gegen den nassen Lehm schien unmöglich. Er brauchte bald was. Er hatte keine Ahnung, wie er sonst die Miete zusammenkratzen sollte.

»Was kannst du, Junge?« Ein älterer Typ im Blaumann stand unter einem Vordach und rauchte. Es dauerte eine Weile, ehe Jonas antwortete, er hielt nicht viel von Smalltalk und war nicht sicher, dass dieser Mann ihm geben konnte, was er brauchte.

»Wenn ich was ausschachten soll, musst du mir einfach zeigen, wo.«

Der Mann lachte auf.

»Das ist aber eine seltene Einstellung für Jungs in deinem Alter, ihr wollt euch doch nie schmutzig machen.« Der Mann taxierte ihn nonchalant, die feuchte Zigarette im Mundwinkel.

Jonas war groß, hatte breite Schultern. Die Nase war gerade, die Stirn breit, und die blauen Augen lagen tief in den Höhlen. Das halblange Haar war blond, wie die eher spärlichen Bartstoppeln. Er sah ernst aus. Ein Blick, der nicht auswich.

»Wo hast du vorher gearbeitet?«

»Hier und da.«

»Wir können Leute brauchen auf dem Bau, ein paar Tage diese Woche und bei Bedarf auch nächste. Interessiert?«

»Klar.«

»Ich rede mit Trevor.« Der Mann nahm einen letzten gierigen Zug und schnippte den Zigarettenstummel in eine Pfütze.

»Komm am Montag vorbei, für den Papierkram.«

»Wenn wir den Papierkram vergessen«, antwortete Jonas ohne Zögern, »kann ich auch gleich anpacken.« Schlussendlich gab es mehr Geld, wenn er schwarzarbeitete, so funktionierte das eben. Außerdem konnte es mehrere Monate dauern, bis er das Geld bekam, wenn er legal arbeitete, und die Zeit hatte Jonas nicht. »Das ist billiger für euch.«

Der Mann schwieg eine Weile.

»Bist du Schwede?«

»Eh klar. Heja, Zlatan.«

Der Mann grinste.

»Okay, Junge. Rede mit Miroslaw unten an der Baugrube.« Er zeigte Richtung Planierraupen.

»Danke.«

Endlich, dachte Jonas. Er wischte sich über die vom Regen feuchten Augen, zog sich ein Paar Arbeitshandschuhe an und begab sich in den Schlamm zu den anderen Bauarbeitern.

2

Es lag etwas in der Luft, eine Vorahnung. Eldh ging vor einem Betonfundament in die Hocke. Die Dunkelheit machte es schier unmöglich, die kleine Gestalt inmitten von Müll, Decken und Zeitungen auszumachen. Der Abendwind von der Saltsjö-Bucht erfasste eine Plastiktüte, wirbelte sie durch die Luft und unter das Betongewölbe, ehe sie von einem Ziehharmonikabus Richtung Slussen mitgerissen wurde. Eldh schlug vorsichtig den Zipfel von einem speckigen roten Schlafsack zur Seite. Ein kleines runzliges Gesicht mit zerzaustem Bart und abstehenden grauen Haarbüscheln kam darunter zum Vorschein. Die Augen waren geschlossen, der Mann schien tief zu schlafen.

»Gunnar, wie geht es dir?«

Er machte keine Anstalten aufzuwachen. Schmutz, angetrocknetes Blut und Schwellungen verrieten ein hartes Leben auf der Straße. Eldh hatte seit langem schon ein Auge auf ihn, er gehörte zu den Älteren, aber wie alt er tatsächlich war, konnte sie nicht sagen. Seit vielen Jahren war er auf Södermalm zu Hause, lange bevor Eldh mit ihren Rundgängen im Dienste der Gemeinschaft angefangen hatte.

»Hörst du mich, Gunnar?« Sie rüttelte ihn behutsam.

Noch immer keine Antwort. Der Atem des Mannes war sichtbar in der kühlen Luft, er roch nicht mehr nach Alkohol als sonst.

Aber da war noch etwas.

Ein schwacher elektrischer Geruch.

Ihr wurde eiskalt. Dieser Geruch war Eldh sehr vertraut.

Vorsichtig schob sie Gunnars Augenlider hoch und bekam die Bestätigung. Weiße Augäpfel.

»Mist!«

Das war jetzt das siebte Mal. Alles Penner in der Innenstadt. Die ersten Fälle im vergangenen Jahr hatte sie als Überdosis abgetan. Das kam gelegentlich vor, aber die Unruhe, die Eldh in letzter Zeit beschlichen hatte, war berechtigt. Denn hier ging es nicht um Sucht. Wenn sie eines über Gunnar sicher wusste, dann, dass er nie mit Hochspannung gespielt hatte.

Eldh lehnte sich mit der Stirn an den kalten Beton und fluchte innerlich. Der Geruch war noch da, das bedeutete, dass noch nicht viel Zeit vergangen war. Der, der Gunnar auf dem Gewissen hatte, musste sich noch in der Nähe aufhalten. Sie schloss die Augen und horchte. Die Geräusche von Slussen hallten von den Betonsockeln wider. Menschen, Autos, Schritte, Busse und Handygespräche. Die Schienen der Saltsjö-Bahn sirrten leise, die Bahn war stadtauswärts auf dem Weg nach Danvikstull. Die Windböen vom Riddarfjärd trugen das Klatschen der Wellen an ihr Ohr. Sie nahm die Kapuze ab und ließ ein Geräusch nach dem anderen verklingen. Sie kannte Slussen in- und auswendig, Södermalms Nabel, der Ausgleich für die Klassengesellschaft, wo sie alle sich trafen, reich wie arm. Eine U-Bahn hielt kreischend am Bahnsteig zwei Stockwerke über ihr. Die Weichen wurden gestellt. Ein leichter Regen ging lautlos auf den Asphalt nieder. Sie sortierte die identifizierten Geräusche der Reihe nach aus. Es wurde immer stiller. Das »Die Türen schließen« des U-Bahnfahrers. Weg damit. Im Süßigkeitenautomaten auf dem Bahnsteig fiel scheppernd etwas ins Ausgabefach. Weg. Uninteressante Unterhaltungen. Weg. Das schwache Surren der Hochspannung.

Da war etwas.

Eine kaum merkliche Störung. Eine Abweichung vom elektrischen Rhythmus. Jemand hatte sich am Stromnetz eine Überdosis geholt.

Ein Bus aus Nacka hielt und gab eine Traube lärmender Halbwüchsiger frei, unterwegs in das lockende Nachtleben der Stadt. Eine leere Bierdose traf die Wand ein Stück von Eldh entfernt, das blecherne Geräusch hallte von den Betonpfeilern wider und störte ihre Konzentration. Es würde viel zu lange dauern, das Geräusch wieder zu lokalisieren, aber sie hatte genug gehört, Eldh wusste, wie die Hochspannungsleitungen verliefen. Die vier Gleise hatten je eine, es gab zwei Leitungen im Autotunnel und eine auf der Eisenbahnbrücke. Es war ein Leichtes, an das U-Bahnnetz zu kommen, die unvorhergesehenen Ausfälle zogen keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich. Sie küsste sanft die faltige Stirn und zog den Schlafsack über dem alten Mann zu. Auch wenn andere sagen würden, dass er noch lebte, kannte sie die Wahrheit. Jetzt war er nur noch eine leere Hülle. Er hatte diese Welt für immer verlassen.

Sie richtete sich auf, schüttelte die Steifheit aus ihren Gliedern und sammelte sich. Im Tunnel lag eine Transformatorstation zwischen Slussen und Medborgarplatsen. Die hätte sie selbst gewählt.

3

Jonas war nass bis auf die Haut und fror wie ein Schneider. Er saß in der U-Bahn und versuchte, die Heizung aufzudrehen. Die Kleider waren vollkommen verdreckt, und im Schritt klaffte ein neues Loch. Er hatte lange gearbeitet, die halbe Abendschicht, um möglichst viele Stunden zusammenzubekommen. Von Vorschuss war keine Rede, aber vielleicht wurde ihm das Geld für die Miete rechtzeitig ausbezahlt.

Er hatte gerade die automatischen Türen der U-Bahn-Station Karlaplan passiert, als er einen stechenden Schmerz spürte. Ein weißer Blitz durchschnitt seinen Kopf. Verdammt. Nicht jetzt. Ihm brach der kalte Schweiß aus, und eine plötzliche Übelkeit stieg in ihm auf. Der Blitz geisterte in seinem Hirn herum und blendete ihn von innen, während sich sein Mund mit dem bitteren Geschmack von Metall füllte. Er hatte sich nie an diese grässliche Migräne gewöhnen können, obwohl sie ihn schon sein ganzes Leben begleitete. Sie hatte seine Kindheit zerhackt. Sein Leben zerrissen. In der Pubertät war es noch schlimmer geworden. Manchmal mehrere Male in der Woche. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihm die Beine nicht mehr gehorchten. Jonas fuhr auf der Rolltreppe nach oben, verlor das Gleichgewicht und torkelte gegen ein Bushäuschen. Er bemühte sich, in dem kleinen Teil seines Blickfelds, in dem nicht der gleißend weiße Schmerz flimmerte, die richtige Richtung zu finden. Die Passanten machten ihm Platz, gingen ihm aus dem Weg, hielten sich fern. Er konnte kaum etwas sehen, wankte weiter, stützte sich an einem besprühten Stromkasten ab, tastete sich an der Wand entlang zu seinem Hauseingang. Mit knapper Not gelang es Jonas, den Türcode einzugeben, ehe er im Lift zusammenbrach.

Ihm wurde vage bewusst, dass er auf seinem Bett lag. Er war irgendwie reingekommen, aber bei jedem Versuch, das Flimmern zu fassen zu bekommen, verschlimmerte sich sein Zustand nur. Die Balkontür knarrte und wurde geschlossen. Jemand zog ihm die nassen Kleider aus und deckte ihn zu. Jonas ließ all das geschehen, es war sinnlos, sich dagegen zu sperren; der Schmerz schob die Gedanken beiseite, und er verschwand in der Dunkelheit.

Als er aufwachte, war es Nacht. Er lag ganz still, aus Furcht, die Kopfschmerzen könnten bei der kleinsten Bewegung zurückkommen. Er wagte nicht einmal, die Augen aufzumachen. Jonas hatte keine Ahnung, wie spät es war. Manche Attacken konnten ihn einen ganzen Tag außer Gefecht setzen, andere ein paar Stunden. Draußen regnete es unverdrossen weiter. Ein kalter Luftzug strich über sein Gesicht. Das Fenster war angelehnt, und das ferne Rauschen vereinzelter Autos unten auf der Straße war zu hören. Gedämpfte Stimmen aus dem Fernseher im Wohnzimmer. Langsam öffnete er die Augen ein wenig. Das ging ganz gut. Die Migräne schien vorüber zu sein. Diesmal war er glimpflich davongekommen. Er sah sich um, noch immer ohne den Kopf zu bewegen. Es fiel ihm schwer, sich in der schwarzen Herbstnacht zu orientieren, aber es war vielleicht etwa drei. Nach ein paar Minuten setzte er sich vorsichtig auf, in seinem Schädel hämmerte es schwach, als hätte er einen inneren Bluterguss, aber das Schlimmste war überstanden. Er stand auf, machte ein paar vorsichtige Schritte. Der Körper tat weh nach der harten Arbeit auf dem Bau. Rücken und Schultern schmerzten. Er hatte von der Schufterei mit dem leicht ätzenden Zement Ausschlag auf den Armen bekommen, eine seltsam glatte Schicht auf der Haut und Blasen an den Händen, die sich in ein paar Tagen in Verhärtungen und Schwielen verwandeln würden. Bis dahin galt es, die Zähne zusammenzubeißen. Und der Regen. Er sehnte sich beinahe nach dem Winter. Lieber Kälte als Regen, dachte er und musterte seine bleichen, aufgequollenen Füße. Der nasskalte Herbst war am schlimmsten.

Er ging ins Bad, spritzte sich Wasser ins Gesicht, pinkelte und zog sich eine Unterhose an.

»Hungrig?«

Jonas gab keine Antwort. Er hatte keinen Appetit, aber er musste etwas essen. Der Kühlschrank war leer, bis auf ein Tetrapak Milch, eine Dose eingelegte Rote Beete und eine halbe Tube Mayonnaise. Er trank den Rest Milch und machte sich nicht einmal die Mühe, ihn auszuspucken, als er merkte, dass sie sauer war.

»Du hättest wenigstens Milch kaufen können, Mama«, nuschelte er gereizt, wusste aber zu gut, wie abwegig das war in Anbetracht ihres Alltags.

»Im Gefrierschrank ist noch Pyttipanna«, sagte sie geistesabwesend vom Wohnzimmer aus.

»Ich weiß«, gab er leise zurück. »Das hab ich ja auch besorgt.«

Die Mikrowelle machte Pling. Jonas setzte sich mit seinem Teller aufs Sofa. Das Kartoffelgericht war außen heiß und innen noch gefroren, aber das musste reichen. Die Programmübersicht für morgen lief auf SVT bestimmt schon seit einer Stunde. Er nahm seiner Mutter die Fernbedienung aus der Hand und wechselte den Sender. Nachdem er das gesamte Abendprogramm durchgezappt hatte, blieb er bei einer Doku über ein Rudel Hyänen hängen. Er massierte sich die Schläfen und den verspannten Kiefer.

»War’s schlimm?«, fragte sie.

»Wie immer«, erwiderte er.

Damit war die Unterhaltung beendet.

Er ließ sich eine halbe Stunde vom Fernseher berieseln und nahm sich dann widerwillig die Seminarliteratur vor, die auf dem Sofatisch gelegen und ihn ans Lernen erinnert hatte. Er schaffte nur ein paar Kapitel. Jonas war mental ausgelaugt, und nachdem er sich eine Weile mit der wunderbaren Welt des Handelsrechts beschäftigt hatte, gab er sich geschlagen. Er hatte keinen Schimmer, was er gelesen hatte. Bevor er sich wieder hinlegte, breitete er seiner Mutter eine Decke über die Schultern. Er wusste nicht, ob sie schlief oder nicht, sie rührte sich nicht und gab keine Antwort auf sein »Gute Nacht«. Dann fiel er ins Bett.

4

Da kannst du nicht runtergehen!«

Eldh nahm eine Karte aus ihrer Brieftasche und wedelte damit.

»Keine Panik, Junge, ich arbeite hier.«

Eldh steckte ihre Coop-Kundenkarte in die Tasche, stieg die Stahltreppe am Bahnsteigende hinunter und folgte den Schienen. Weitere Einwände blieben aus, und sie war ehrlich erstaunt darüber, dass überhaupt jemand reagierte, das war eher untypisch für Stockholm. Einige andere Fahrgäste folgten ihr mit dem Blick, jedoch ohne sie wahrzunehmen, im öffentlichen Nahverkehr schalteten die Menschen auf Autopilot. Der Tunnel war dunkel, hier und da waren Lampen angebracht, die mit ihrem grellweißen Licht die rauen Wände beleuchteten. Weiter vorn hörte sie einen Zug am Medborgarplatsen losfahren und zwängte sich in einen schmalen Spalt, damit der Zugführer sie nicht sah. Sie zog sich die Kapuze ins Gesicht, und das Licht aus den Wagen zuckte an ihr vorbei. Vor ihr öffnete sich ein enger Durchgang zwischen den Gleisen, die nach Norden und Süden führten. Sie folgte den Stromleitungen, die wie breitspurige Straßen an den Wänden entlangliefen, und schlüpfte in den Durchgang zwischen den beiden Tunneln. Die Leitungen verschwanden in einer verputzten Wand. Eine Tür, übersät mit Verbotsaufklebern und Graffiti, das lädierte Schild oben in der Ecke– Hochspannung TBS031–, dort wollte Eldh hin. Sie lehnte die Stirn an die kalte Stahltür und schloss die Augen, horchte auf die hallenden Geräusche in den Tunneln. Diesmal ging es viel schneller. Trotz des schrillen Kreischens der bremsenden Züge, der klappernden Wagen und des Knackens der Weichen hörte sie es wieder; die Störung in der Hochspannung. Dort drinnen hinter der Tür surrte der Transformator mit derselben rhythmischen Verschiebung, die sich jede sechste Sekunde wiederholte.

Eldh holte einen Schlagring aus der Jackentasche und schob ihn auf ihre linke Hand. Sie wartete, bis ein Zug aus südlicher Richtung in einem Streifenmuster aus Licht und Schatten vorbeigefahren war, ehe sie vorsichtig die Klinke prüfte. Die Tür war offen. Ein unmerklich angespannter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als sie die Klinke drückte. Die Stahltür glitt auf, und überraschend geschmeidig schlüpfte sie lautlos durch den schmalen Spalt. Eldh war groß. Nicht dick, aber groß, kräftig und breit wie ein Scheunentor. In ihrer Jugend war sie eine richtige Walküre gewesen, die Männer hatten ihre blonde Erscheinung umschwärmt wie Nachtfalter eine Terrassenleuchte, aber die Jahre hatten ihr Recht eingefordert. Obwohl sie aussah wie um die fünfzig, hatte das Leben immer wieder seine Fallstricke für sie gespannt. Die starren Glieder, die Narben und die gebrochene Nase verrieten den Abgrund hinter den dunkelblauen Augen.

Sie ließ die Tür angelehnt, verharrte reglos und versuchte, den dunklen Raum zu überblicken. Das Surren des Stroms irritierte die Haut, und die Härchen stellten sich unvermittelt auf. Eine Glühlampe leuchtete ein Stück weiter hinten. Mit Kabeln verbundene Metallscheiben waren an Halterungen aufgehängt, die in langen Reihen den Raum vom Boden bis zur Decke bedeckten. Das Stellwerk war eingezäunt, überall hingen gelbe Warnschilder mit dem Blitzsymbol und dem Wort Hochspannung. Es roch nach Zigarette oder eher Zigarre. Abgesehen von dem singenden Strompuls war es still. Der Schotter unter Eldhs Schuhsohlen knirschte, als sie zwischen die Transformatorreihen spähte. Sie entdeckte zwei Krokodilklemmen in der hinteren Reihe, ein schwarzes und ein rotes Kabel verliefen um die Ecke. Eldh erahnte eine Gestalt, die in der Hocke am Zaun lehnte. Ein brauner glühender Zigarillostummel lag auf der Erde. Neben der Gestalt standen ein rotkarierter Einkaufswagen und eine zerschlissene Reisetasche, übersät mit alten abgewetzten Stickern verschiedener Sehenswürdigkeiten wie dem Eiffelturm und dem Zuckerhut. Die Tasche war vorn offen, und Eldh konnte darin die Konturen eines eigenartigen Gebildes ausmachen. Es ähnelte dem Innenleben eines Radios mit Transistoren, Metallteilen und Kabeln in verschiedenen Farben. So etwas hatte Eldh noch nie gesehen. Ein dickes schwarzes Kabel führte von der Tasche bis unter die Kleider der Gestalt in halbsitzender Stellung. Ein leises Summen war zu hören, wie eine zufällige Melodie von jemandem, der in seine Arbeit vertieft war– ein Handwerker oder ein Künstler vielleicht. Eldh machte einen zögerlichen Schritt auf die Gestalt zu.

Vor dem Durchgang rollte ein Zug vorbei, ein anderer kam ihm entgegen. Der Luftzug erfasste die Tür und riss sie unvermittelt auf. Instinktiv drehte Eldh sich um, als die Tür gegen die Wand schlug. Dann prallte sie zurück und fiel mit einem ohrenbetäubenden Knall ins Schloss. Als sie sich wieder umwandte, war die Gestalt mitsamt Tasche verschwunden. Sie hörte leichtfüßige Schritte und wie etwas zwischen die Transformatorscheiben gesteckt wurde. Eine Funkenfontäne erhellte mit ihrem lebensgefährlichen Feuerwerk den Raum, ehe es zum Kurzschluss kam und alles erlosch. Es wurde pechschwarz. Der Geruch von verbranntem Metall und der typische, stechende Geruch von ionisierten Partikeln verteilten sich in der Luft.

Eldh duckte sich an die Wand. Es knisterte, und Funken flogen, als der Reststrom in die Anlage floss, aber sie konnte nichts erkennen. Sie hörte Schritte direkt vor sich, holte zu einem Schlag ins Leere aus und erhielt als Antwort einen präzisen Hieb in die Seite. Der nächste Schlag traf ihre Unterarme, die Eldh gehoben hatte, um ihren Kopf zu schützen. Es war ein punktueller, schneidender Schmerz, der vermutlich mit einer Waffe ausgeführt worden war, einem Eisenrohr oder einem Nageleisen. Das Adrenalin blockierte das Schlimmste, als sie der nächste Schlag traf. Nun wusste sie, wo ihr Gegner sich befand. Sie hechtete mit ihrem ganzen Gewicht nach vorn, bekam einen Körper zu fassen und stürzte in den Zaun, der das Stellwerk umgab. Metall traf auf Beton, als die Waffe zu Boden fiel. Eldh konnte sich nicht gut orientieren, im Dunkeln zu kämpfen war nicht ihr Ding. Der Gegner war kleiner und schlanker und befreite sich aus ihrem Griff. Sie ging erneut auf den anderen los, und im selben Moment wurde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Eldh kam zu Fall und schlug mit dem Kopf auf dem Betonboden auf. Sie sah Sterne. Sie hörte schnelle Schritte, und dass die Tür geöffnet wurde. Draußen war es stockfinster. Der komplette Strom im gesamten U-Bahnnetz musste zusammengebrochen sein. Sie tastete sich voran, bis sie die Krokodilklemmen fand, spuckte in die Handflächen und hielt beide Leitungen fest. Der Reststrom jagte durch das System und in ihren Körper hinein. Nicht zu viel, aber ausreichend. Eldh schloss die Augen und konzentrierte sich. Das konnte man auf verschiedene Arten tun, aber für sie war es am einfachsten, an die reflektierenden Augen einer Katze zu denken, den Rest erledigte ihr Körper von allein, wenn ihre Nachtsichtigkeit einsetzte.

Langsam passten die Augen sich der Dunkelheit an. Der Raum war leer. Ein großer Rollgabelschlüssel lag neben ihr. Sie kam mühsam auf die Füße. Es schien nichts gebrochen. Sie lief in den Tunnel zurück, bog links und wieder links ab auf das südwärts führende Gleis Richtung Medborgarplatsen. Sie musste sich entscheiden. Sie hatten die Tendenz, sich für links zu entscheiden, wenn sie flohen, das hatte sie im Lauf der Jahre festgestellt.

Die kleinen blauen Lampen an den Tunnelwänden leuchteten schwach, ein Reservegenerator musste irgendwo angesprungen sein, und der matte Schein genügte ihren lichtempfindlichen Augen, um den Tunnel so zu sehen, als sei er voll beleuchtet. Weiter hinten flackerte Licht in einem stillstehenden U-Bahnwagen, und Eldh sah, wie ihn jemand umrundete. Sie setzte ihm nach. Einige verblüffte Gesichter nahmen sie in dem unsteten Licht vom Reservegenerator des Zuges wahr. Eldh hastete zum Bahnsteig, auf dem sich die Fahrgäste drängten.

Die Notbeleuchtung schien so grell, dass sie sich die Hand vor ihre lichtempfindlichen Augen halten musste. Es war keine Panik ausgebrochen; die Stockholmer hatten ein dickes Fell, Abweichungen von den Fahrplänen gehörten zum Alltag. Hunderte von Hammarby-Fans brüllten und grölten, vor kurzem musste ein Spiel zu Ende gegangen sein. Sie störten sich am meisten an dem Stromausfall. Die Fangesänge hallten von den gewölbten Wänden wider. Eldh kletterte auf den Bahnsteig. Es roch nach regennassen Jacken und Mänteln. Sie war einen Kopf größer als die meisten, aber sie wusste nicht, nach wem sie suchte. Eine Lautsprecherstimme verkündete etwas Unverständliches, sie konnte nur Signalstörung heraushören. Um sie herum stimmte eine Gruppe Jugendlicher neue Schlachtrufe an. Andere antworteten und setzten mit einem donnernden Chor ein. Eine alte Dame mit Einkaufswagen versuchte, sie zum Schweigen zu bringen. Ein Hund bellte. Am mittleren Aufgang entdeckte sie einen Mann, der sich eilig durch die Menge schob. Er trug etwas Schweres. Es war in dem Gewimmel unmöglich zu erkennen, ob es die alte Reisetasche war. Sie musste es darauf ankommen lassen. Eldh drängte sich durch die Menschenmassen, war aber nicht schnell genug. Sie setzte die Kapuze auf und sprang auf die Schienen, um den Weg abzukürzen. Protestrufe folgten ihr, bis sie sich wieder hochstemmte und die Treppe hinaufrannte. Keuchend stand sie vor dem U-Bahneingang und spähte über den Medborgarplatsen. Der Regen hatte zugenommen. Nun sah sie ebenso gut in der Abenddämmerung wie bei Tageslicht. Trotz der schwachen Spannung würde das noch eine Weile anhalten. Björns Trädgård lag verlassen, ebenso wie die Treppen vor der Moschee. Niemand, der davonrannte. Aber dann sah sie ihn.

Er stand an einem Taxi vor dem Hotel Scandic ein Stück weiter die Götgatan runter. Der Fahrer warf eine Tasche in den Kofferraum und schloss die Klappe. Eldh konnte sich gerade noch vor das Taxi werfen, das ausscherte und dicht vor ihr zum Stehen kam. Der Taxifahrer stieg aus und fluchte auf gebrochenem Schwedisch gemischt mit Schimpfwörtern auf Farsi. Sein Blick fiel auf den Schlagring, den Eldh vergessen hatte abzustreifen, und er verstummte. Sie umrundete das Auto, riss die Beifahrertür auf. Ein gepflegter Mann in den Vierzigern starrte sie fragend an. Sie zerrte ihn aus dem Wagen und drückte ihn auf die Motorhaube. Der, auf den sie beim Stellwerk getroffen war, war kleiner gewesen, aber auch dafür gab es eine Erklärung.

»Reiß dich zusammen, Kumpel, ich bin von der Polizei.«

Eldh riss sein Jackett auf, dann sein Hemd. Sie tastete seinen Oberkörper ab, aber da war nichts. Nur ein blasser Brustkorb, übersichtlich behaart. Eldh ließ den verstörten Mann los.

»Verdammt«, murmelte sie. Sie hatte es vergeigt. Der Täter musste noch unten auf dem Bahnsteig sein.

5

Der Handywecker ging um 5.20 Uhr an. Nach dem Migräneanfall plagten ihn immer noch Kopfschmerzen, als hätte er einen üblen Kater. Jonas musste all seine Kraft aufbieten, um sich aus dem Bett zu stemmen nach den wenigen Stunden Schlaf. Aber er musste. Sie hatten ihm gesagt, dass sie ihn heute auf der Baustelle bräuchten. Die Miete konnte er vielleicht noch ein paar Tage rausschieben, aber Fortum hatte zum zweiten Mal in diesem Jahr gedroht, den Strom abzustellen, und das war schlimmer.

Er schlüpfte in die schmutzige Arbeitskleidung. Seine verdreckten Stiefel lagen vor dem Fußende des Bettes, und eine Spur aus getrocknetem Schlamm führte in den Flur. Er schlang ein paar Cornflakes hinunter und legte die Seminarbücher in eine Plastiktüte, mit etwas Glück konnte er am Nachmittag die Prüfung schreiben. Auch wenn Handelsrecht ihn nicht sonderlich interessierte, kam er normalerweise durch. Die Schule war Jonas immer leichtgefallen. Was er lernte, blieb hängen. Er schnürte seine Stiefel und verließ leise die Wohnung, um seine Mutter nicht zu wecken.

Am Karlaplan duckte er sich hinter einen Mann im Anzug mit Aktenkoffer, schlüpfte durch die Sperren und nahm die U-Bahn in südlicher Richtung zur Baustelle in Blåsut. Die Wagen waren fast leer. Er überflog die Abschnitte über Urheberrecht und Teile der europäischen Patentgesetzgebung, bis er am Ziel war.

Den ganzen Vormittag ging ein kalter, langweiliger Regen nieder. Die Wolken wechselten ihre Grautöne, und heftige Schauer fegten wie zerrissene Vorhänge über die Lehmlandschaft. Jonas mischte Zement, als es klingelte.

»Hej, ich bin’s, Rebecka. Alles gut?«

»Ganz okay.« Er schob das Mobiltelefon unter die Kapuze, wo es einigermaßen trocken war, und klemmte es mit der Schulter fest, damit er weiterarbeiten konnte. »Und bei dir?«

»Ist gerade ein bisschen viel, ich habe nur eine Woche und muss Immunabwehr und Zellbiologie lernen. Ich verstehe einfach nicht, wie die dieses verdammte Studium konzipiert haben. Aber ich gönne mir dann eine lange Sexreise nach Gambia, wenn ich Oberärztin bin und mein erstes Kreiskrankenhaus verkauft habe.«

»Du zahlst, ich begleite dich.«

Sie lachte. Dieses leicht raue Lachen, das immer noch Gefühle in ihm weckte. Er schnitt einen Zementsack auf und leerte den Inhalt in den Mischer.

»Das klingt ja schrecklich, bist du nicht in der Uni?«, sagte sie.

»Nein.«

»Hast du heute nicht Prüfung?«

»Ich glaube nicht, dass ich das schaffe. Ich mache sie dann eben das nächste Mal.«

»Dann hast du nächstes Mal aber eine ganze Menge zu tun.«

Es entstand eine Pause.

»Ich habe neulich versucht, dich zu Hause anzurufen, aber das Telefon war tot«, fuhr sie fort.

»Die tauschen da was aus und mussten sämtliche Leitungen im Haus kappen.« Telia hatte vor einem halben Jahr das Telefon abgestellt, weil er die Rechnung nicht bezahlt hatte, aber mittlerweile riefen ohnehin nur noch Telefonverkäufer an, und seine Mutter hatte sowieso aufgehört, mit der Umwelt zu kommunizieren. Er begriff nicht, warum er das nicht schon eher gemacht hatte.

»Auf dem Handy habe ich dich auch nicht erreicht. Wurde da auch der Anschluss ausgetauscht?«

Jonas schwieg. Er leerte einen weiteren Sack in den Betonmischer.

»Im Medizinerhaus ist am Samstag Fete, ich kann dich auf die Liste setzen, wenn du willst?«

»Weiß nicht, ob ich das packe.«

»Ich glaube, deine Mutter würde sich freuen, wenn du mal eine Medizinstudentin mit nach Hause bringst, sie hat einen guten Geschmack, weißt du.«

»Nur weil du vor hundert Jahren durch die Kontrolle gekommen bist, heißt das nicht, dass du das wieder schaffen würdest.«

Kurze Pause.

»Ich habe nicht mich gemeint. Es gibt auch andere Mädchen hier, echt zum Anbeißen. Da sagt keine nein zu einem Kerl mit ein bisschen Dreck unter den Fingernägeln. Hör nie auf damit, auf dem Bau zu jobben. Ein Jurist, der gewillt ist, sich schmutzig zu machen. Lecker.«

»Wie läuft’s mit Adam?«, konterte er.

Pause.

Jonas wischte sich über die Stirn. Der nasse Handschuh hinterließ einen Streifen Zementschlamm über seiner Augenbraue.

»Hattest du Migräne?«

»Nein.«

»Nee, klar.« Sie kannte ihn zu gut. »Immer noch so schlimm?«

Er hatte keine Kraft, ihr zu antworten. Er hatte mit den Jahren seinen bescheidenen Teil an Mitleid bekommen, was bei ihm nichts als Ekel hinterlassen hatte.

»Ich muss jetzt weitermachen. Ist noch was?«

Sie schwieg einen Augenblick.

»Wenn du Geldprobleme hast, kannst du dir immer was leihen, das weißt du.«

Jonas füllte die Zementmasse in einen Eimer und ging zur Baugrube.

»Nein, ist nicht nötig, aber trotzdem danke. Wir hören uns.«

»Klar, grüß deine Mutter.«

Die Arbeit in der Baugrube war hart, und der permanente Regen machte alles nur schlimmer. Jonas trug zwei mit Zement gefüllte Eimer und sank mit jedem Schritt tiefer in den Matsch, der sich überall einen Weg bahnte. Die Handschuhe waren durch und durch nass, und in die Stiefel war auch wieder Wasser gesuppt. Miroslaw kürzte Moniereisen, die glühenden Eisenspäne tanzten wie ein Silvesterfeuerwerk um ihn herum. Jonas gab den Zement in eine Gussform und kratzte den Rest mit einem Holzstumpf aus. Der Pole klappte sein Visier hoch und musterte Jonas.

»Es gibt Kaffee.« Er nickte zum Bauwagen hinüber.

»Ein andermal.«

»Du arbeitest hier für drei Schweden. Der Zement ist nie alle.«

»Danke trotzdem.« Jonas nahm wieder die Eimer.

»No problem, Junge. Mach, was du willst, ich zieh’s dir auch nicht vom Lohn ab. Es ist genug Kaffee da, auch für dich.« Miroslaw nahm das Visier ab, verstaute den Trennschleifer in einem schwarzen Müllsack, damit er nicht nass wurde, und ging zum Bauwagen.

Jonas sah ihm nach. Der Regen hatte im Laufe des Nachmittags zugenommen. Er tropfte von seinen Augenbrauen, die ganze Baustelle war in einen grauen Nebel gehüllt. Jonas stellte die Eimer ab und folgte Miroslaw.

Im Bauwagen war es eng. Um die zehn Arbeiter hatten dort Zuflucht gesucht. Es war feucht, warm und roch säuerlich. Der Ton war schroff, aber herzlich. Polnische und russische Schimpfwörter lieferten sich einen Schlagabtausch. Jonas hatte mit den Jahren genug aufgeschnappt, um zu wissen, was sie von dem schwedischen Wetter hielten.

Miroslaw bahnte sich einen Weg zur Kaffeemaschine und goss sich einen Becher ein. Er stellte Jonas seinem Schwager Stanislaw und seinem Neffen vor, der gerade aus Sosnowiec eingetroffen war und Formulare der Steuerbehörde ausfüllte. Der Regen prasselte aufs Dach. Jonas zog die Handschuhe aus. Seine Finger waren bleich und aufgequollen, wie nach einem langen Bad. Der Kaffee war bitter, aber er wärmte. Niemand nahm Notiz von ihm, Arbeitskräfte kamen und gingen, wenn man Aufmerksamkeit wollte, musste man sie einfordern, aber Jonas interessierte das nicht, er war schon immer ein einsamer Wolf gewesen.

Die Arbeit auf dem Bau hatte etwas Substanzielles, das gefiel ihm. Sich abschleppen und abplagen. Er würde das nicht ewig machen, aber bis jetzt war es ganz in Ordnung, und wenn er mit dem Studium fertig war, würde er etwas anderes finden. Als er jünger war, hatte er nicht die nötigen Kontakte, um sich einen gutbezahlten Bürojob neben der Schule zu organisieren. Er konnte keine Unterlagen kopieren in Papas Firma, so wie seine Klassenkameraden. Zu seinem ersten Job auf dem Bau war er zufällig gekommen, als er fünfzehn war. Seither hatte er einfach weitergemacht. Im letzten Semester war ihm ein Nebenjob in einer Kanzlei auf Kungsholmen angeboten worden. Ein Mentor von ihm hatte ihn empfohlen. Nichts Besonderes, aber ein Schritt in die richtige Richtung. Er hatte alles getan, um sich anzupassen. Opas altes Jackett war viel zu klein, sodass sich Jonas von seinem Ersparten ein weißes Hemd und einen schwarzen Anzug von Dressman gekauft hatte. Man hatte zwar Bemerkungen über seine Nullachtfünfzehn-Garderobe gemacht, aber er hatte sich nichts anmerken lassen. Das ging drei Wochen lang gut. Dann hatte die erste Migräne zugeschlagen. Er hatte unzusammenhängend gestottert und war in Panik davongerannt. Am folgenden Tag hatte sich die Personalchefin per Telefon nach ihm erkundigt. Jonas hatte alles erklärt, und sie hatte versichert, er sei immer noch willkommen, wenn er zurückkommen wolle. Aber er hatte es ihr angemerkt. Das wohlwollende Mitleid. Das Tätscheln auf dem Kopf. Die Tyrannei der Gebildeten und Gutherzigen. Das Gehätschele. Er hasste es. Jonas hatte zugemacht, um durchzuhalten, aber seine dicken Mauern dienten nicht nur als Schutz, sie wurden zu einem Panzer, undurchdringlich in beide Richtungen. Aber dieses Mal war er über seinen Schatten gesprungen und zurückgekommen. Die mitleidigen Blicke hatten sich verselbstständigt im Büro, das hatte er sofort gemerkt. Er war das Bürschchen, das es nicht leicht hatte. Der Junge ohne Geld. Der arme Kränkliche. Er hatte es in ihren Augen gesehen. Das kollektive Mitleid aller Lehrer, Eltern und Schüler. Alles, was er mit rasender Wut auszublenden versucht hatte, seit es seiner Mutter so schlecht ging, war wieder da. Einen Tag später hatte er aufgehört. Er hatte seinen Lohn bekommen plus zwei Wochen extra. Hätte er nicht so dringend Geld gebraucht, hätte er den verfluchten Wohltätigkeitsbeitrag umgehend zurückgeschickt, aber nachdem er die Scheine in der Hand gehalten hatte, konnte er nicht. Es ging einfach nicht. Er durfte seine Mutter nicht vergessen. Auf dem Bau war das einfacher. Keiner legte Wert darauf, wie man gekleidet war, wo man herkam oder ob man manchmal nicht da war. Freiheit, Gleichheit und grottenschlecht bezahlt.

»Du, Junge«, rief Miroslaw ihm quer durch den Raum zu. »Was ist nochmal ein Gemeldeter? Pole?«

»Nein, die wollen wissen, wo du wohnst.«

»Danke. Napisz Stockholma w tym oknie«, erklärte Miroslaw seinem jungen Neffen, der sich mit der schwedischen Bürokratie herumschlug.

»Czekac«, sagte Jonas und ging zu ihnen. Er überflog die Seiten. »Hier musst du Stockholm reinschreiben.« Er zeigte auf das Formular. »Und Sosnowiec in das Feld hier. Wenn du da gewohnt hast, ehe du hergekommen bist. Dieses Feld musst du auch ausfüllen, sonst kriegst du alles wieder zurück. Czy rozumiesz?«

Es war nicht das erste Mal, dass er Neuankömmlingen half, sich durch den schwedischen Formulardschungel zu schlagen. Ein normal belichteter Einheimischer hätte keine Chance. Jonas studierte Jura, und trotzdem musste man sich auskennen, um diese Formulare zu verstehen. Er half dem jungen Polen, den Rest auszufüllen, und sah die Unterlagen von zwei anderen durch, bis es ihm zu eng wurde in dem Bauwagen.

»Danke«, sagte Miroslaw. »Du bist ein guter Typ.«

»Kein Problem, zrobic.« Jonas warf den Pappbecher in einen Müllsack und ging wieder in den Regen hinaus.

6

Eldh erwachte widerwillig, weil die Sonne ihre Augen blendete. Ein schmaler Strahl suchte sich seinen Weg durch das einzige Fenster des Zimmers. Sie setzte sich mit einem tiefen Seufzer auf und kramte nach einer Sonnenbrille auf dem Tisch unter Pizzaschachteln, Zeitungen und Getränkedosen. Ihre Augen waren noch immer empfindlich, besonders bei Tageslicht, aber die Sonnenbrille bot ein wenig Linderung. Draußen auf der Straße machte ein Briefträger mit seinem gelben Wagen seine Vormittagsrunde. Sie zog den Vorhang zu und stellte im Radio Kuschelhits ein. Ihre Flanke schmerzte, vermutlich war eine Rippe gebrochen, aber es hätte schlimmer sein können. Die Unterarme taten weh und waren geschwollen, aber es war kein Loch im Stoff. Sie hatte Glück gehabt.

Eldh zog den Pullover aus, tauschte ihren BH und bandagierte ihre Arme. Sie stöberte im Küchenschrank nach einer Kaffeetasse. Aber sie fand nur eine Packung Würfelzucker und einen Blumenteller. Dem Berg in der Spüle wollte sie sich wirklich nicht zuwenden. Ein alter Coca-Cola-Becher musste genügen. Der Kaffee schmeckte wie Rattengift, die Maschine war über Nacht an gewesen, aber man konnte ihn trinken. Sie spülte zwei Aspirin hinunter. Im Gefrierfach entdeckte sie einen Beutel Pommes frites, den sie sich an die Rippen hielt, damit die Schwellung zurückging. Wann sie ihn gekauft hatte, wusste sie nicht.

An den Wänden klebten Zettel, Zeitungsartikel und Stadtpläne von Stockholm, die sie eingehend studierte. Sie waren mit Notizen und Ausschnitten übersät. Sie pinnte eine rote Stecknadel neben Slussen, schrieb das Datum des Vortags und die Uhrzeit 22.15 in ein Notizbuch. Dann nahm sie eine schwarze Nadel von einem anderen Plan und strich einen der vierzig Namen durch: Gunnar in Unnsjömyren. Eldh erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit ihm. Das musste irgendwann in den Achtzigern gewesen sein, als sie mit ihrer Vorgängerin in der Gemeinschaft draußen gewesen war. Mit seinem zerzausten Bart hatte Gunnar am Kai gesessen. Er hatte an einem lecken Holzkahn gelehnt, der mindestens genauso alt und lädiert war wie er, und sich gesonnt. Die Gegend unterhalb der Münchenbryggeriet war sein Revier. Gunnar war in seiner Jugend Hafenarbeiter gewesen und erzählte manchmal von alten Zeiten. Es hatte viele Jahre gedauert, sein Vertrauen zu gewinnen, aber dann ließ er sie nach und nach an seinen Erinnerungen teilhaben. In kleinen, wohlüberlegten Portionen. Wie der Hafen zum Leben erwacht war, wenn die ersten Boote das letzte Eis durchbrachen. Wie die Brigg Schwalbe Orangen vom Mittelmeer gebracht hatte. Wie die Großstadt entstanden war mit ihren Fabriken und Autos. Sonst war Gunnar zurückhaltend und auf der Hut gewesen. Aber das hatte offenbar nicht gereicht.

Sie steckte weitere Nadeln um, strich Daten an und kritzelte ein paar Namen und Zeilen auf ein anderes Blatt. Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete das Ganze. Das hier war ihr Job. Jedenfalls beanspruchte dies den Großteil ihrer Zeit. Ein Auge auf sie zu haben. Dafür zu sorgen, dass die Gemeinschaft den Allerschwächsten mit dem Allernötigsten helfen konnte. Aber gelegentlich war sie gezwungen, mit Unklarheiten aufzuräumen, zwischen den Zeilen zu lesen. Und vielleicht hatte sie trotz allem eine neue Spur. Ihr gefiel das nicht.

Eldh kreiste die Fälle ein, bei denen sie eine Überdosis ausschließen zu können glaubte. Sie alle waren aus der Innenstadt, aus Gamla stan oder Slussen, aber es gab kein System, weder was den Ort noch den Zeitpunkt betraf. Sie durchforstete alte Aufzeichnungen auf der Suche nach etwas, das sie weiterbrachte.

Im Zimmer über ihr betätigte jemand die Spülung. Sie stellte fest, dass sie Hunger hatte. Der Kühlschrank unter der Kochplatte war leer, aber sie machte ihn trotzdem aus alter Gewohnheit auf. Dann eben was im Jerusalem.

Nachdem sie einen großen Kebabteller gegessen hatte, kaufte Eldh im 7-Eleven in der Götgatan sämtliche Tages- und Abendzeitungen. Beide Schlagzeilen thematisierten den Tod eines Säuglings in einem Krankenhaus. Aus einem Papierkorb vor dem Göta Lejon fischte sie die Gratiszeitung Metro und ging wieder ins Büro. Oder nach Hause. Je nachdem. Eldh schlief im Büro auf dem Sofa, seit die Wohnung in der Tavastgatan vor fast zwei Jahren in eine Eigentumswohnung umgewandelt worden war. Die Gemeinschaft hatte ihr keine Summe in dieser Höhe zahlen wollen, sie musste sich damit zufriedengeben, dass sie für das Büro blechten. Das Problem hatten alle, die durchs Raster fielen. Ohne Personennummer wurde das Leben immer schwieriger, und sie hatte weder die Mittel noch die Kraft, sich eine neue zu besorgen.

Sie begann ihre tägliche Routine damit, die Zeitungen durchzublättern. Ihre Augen brannten, als sie zu lesen versuchte, Überschriften und Untertitel gingen, aber das Kleingedruckte floss ineinander und verschwamm. Die Augen hatten ordentlich was abbekommen am Vortag. Sie war jedes Mal lichtempfindlich, aber es war das erste Mal, dass sich die Sehkraft so drastisch verschlechterte. Sie setzte die Sonnenbrille ab. Ich werde langsam alt, dachte sie. Ich brauche eine Lesebrille.

Ein kaum hörbares Surren aus der Küche riss sie aus ihren Gedanken. Sie holte ein abgegriffenes Mobiltelefon hinter der Abzugshaube in der Küche hervor. Die Kontaktliste war leer und die Sperrfunktion ausgeschaltet. Sie nahm das Gespräch an.

»Können wir uns sehen?«

7

In der Baugrube ging es zu wie in einem Bienenstock. Leitungen, Rohre und Abflüsse mussten gelegt werden, bevor das Fundament gegossen werden konnte. Die Betonlaster waren im Anmarsch, alle arbeiteten auf Hochtouren.

»Czesc.«

»Czesc, Junge. Hallo, hallo«, gab Miroslaw zurück. »Hab nicht gedacht, dass du kommst.«

»Przykro mi.«

»No problem.«

Ein kleines »Entschuldigung« auf Polnisch glättete meistens die Wogen. Jonas mochte Miroslaw, von seiner schroffen und zugleich freundlichen Art bekam er gute Laune. Er musste hart arbeiten, aber es war auch befriedigend, nicht denken zu müssen und dem Körper freie Hand zu lassen. Miroslaw machte eine Handbewegung, und Jonas grub, schleppte, mischte Beton, schnitt Holz zu und verdrillte Bewehrungsmatten mit Rödeldraht, bis seine Finger taub waren. Seit knapp einer Woche schuftete er im Matsch.

»Hast du noch eine Baustelle für mich?«

»No problem, Junge«, erwiderte Miroslaw. »Lieber spät als nie!«

Jonas trank einen halben Liter Cola in der Frühstückspause und schob ein paar Snickers hinterher. Es war kurz vor zehn. Wenn er die letzte Armierung der Bodenplatte in seinem Abschnitt fertig hatte, konnte er gehen. Er hatte eine Pflichtvorlesung um drei, die er nicht verpassen wollte.

Jonas arbeitete so hart, dass er nichts von den Anzeichen bemerkte, die manchmal den nächsten Anfall ankündigten. Ein schwacher Druck hinter dem linken Auge, Übelkeit oder einen Metallgeschmack. Anzeichen, bei denen er sonst alles stehen und liegen ließ, sich in ein dunkles Zimmer einschloss und hoffte, dass er wegtreten würde, ehe der Anfall richtig schlimm wurde. Aber diesmal war es zu spät. Er stand in der Baugrube mit ein paar Moniereisen, als die Migräne zuschlug, hart und erbarmungslos. Er taumelte ein paar Schritte und sackte im Matsch zusammen.

»Was ist los, Junge?«

Der weiße Blitz irrte umher, hielt inne und dehnte sich aus. Wollte Jonas’ Kopf von innen her weiten. Ein flimmernder Schmerz. Er übergab sich, kam auf die Füße und brach wieder zusammen. Das war die schlimmste Attacke seit langem.

»Ich muss nur…«

Er schob Miroslaw von sich weg, der ihm zu helfen versuchte, und ging schwankend weiter. Völlig benebelt suchte er einen Weg, um von der Baustelle wegzukommen. Nach Hause. Weg von sich selbst. Raus aus seinem Kopf.

»Ganz ruhig, Junge!«

Das halbfertige Skelett des Gebäudes schwankte über ihm, er stolperte auf eine Planierraupe zu. Es war unerträglich, er spuckte wieder, presste die Hände, so fest er konnte, an seinen Kopf, damit der Blitz nicht größer wurde. Er wollte sich den Kopf abreißen, wollte, dass es aufhörte, um jeden Preis. Jonas strauchelte über einen Kieshaufen, hörte jemanden rufen, laute Stimmen. Er bemerkte den Eisenträger nicht, der durch die Luft flog. Ein dumpfes, komisches Knacken, der Kopf machte einen Ruck. Dann war es vorbei.

8

Willst du Rockstar werden?«

Eldh schwieg. Sie schlürfte ihren Kaffee und wartete ab.

Der Mann ihr gegenüber grinste in sich hinein.

»Ich frage mich nur, ob du eine andere Laufbahn einschlagen willst, und ich finde, ich sollte das als Erster wissen, denn immerhin bin ich trotz allem dein Auftraggeber.«

Sie ignorierte ihn und sah auf die Västerlånggatan. Touristen in Grüppchen schlenderten in Gamla stan durch die Straßen, obwohl die Sommersaison schon lange vorbei war. Sie machten Fotos und kauften schwedische Andenken made in China.

Der Mann bekam sein Pizzastück und ein Leichtbier. Er war in den Fünfzigern, hatte einen passablen Haarschnitt und ein großes Gesicht. Die kleinen Augen blickten aufmerksam, die Nase war wohlgeformt, das Kinn füllig. Er hat sicher richtig gut ausgesehen, als er jung war, dachte sie, aber so lange kannte sie ihn noch nicht.

»Das hier ist doch die letzte Kaschemme in Stockholm«, sagte er fröhlich. Er hatte heute gute Laune. »Aber wenn man Gäste hat, die sowieso nie wiederkommen, muss man sich auch nicht anstrengen.«

»Wir kommen doch wieder.«

»Eben, genau deswegen. Hier können wir keinen zwei Mal treffen. Nicht mal das Personal ist dasselbe. Hier kommen keine Stockholmer hin.«

Er beugte sich zum Nachbartisch.

»Oder?«, fragte er eine dicke Frau mit weißem Schal.

»Sorry, I don’t speak Swedish«, entgegnete sie mit unverkennbar deutschem Akzent.

»Good food, yes? Hier wird gutes Essen serviert, nicht wahr?«, sagte er auf Deutsch.

»Ja, wirklich«, gab sie verwundert zurück. Die Frau hatte nicht mit seiner perfekten Aussprache gerechnet.

»Sind Si zum erschte mol im schönä Stockholm z’bsuech?«, fuhr er mit aufgesetztem Interesse fort.

»Ja, aber bestimmt nicht zum letzten Mal!« Sie zwinkerte übertrieben. Fröhlich und betreten zugleich.

»Das hoffe ich!«

Sie lachten vertraulich.

Er kann immer noch charmant sein zu alten Damen, dachte Eldh.

»Stammen Sie aus der Schweiz?«, erkundigte sich die Frau. Sie musste etwas von seinem Dialekt aufgeschnappt haben.

»Nein, mini dame, ich bin so schwedisch, wie man es nur werden kann. Willkommen.« Er schenkte ihr sein herzlichstes Lächeln, ehe er sich wieder Eldh zuwandte. »Eine Stammkneipe, die eines Rockstars würdig ist, keiner weiß, wer du bist, keine Groupies, hier kannst du ganz du selbst sein. Glückwunsch!« Er zeigte auf seine schlappe Pizza aus der Mikrowelle. »Hungrig? Nimm einen Bissen. Rockstaressen.«

»Ach, hör auf.«

»Aber setz die Sonnenbrille ab. Du siehst einfach lächerlich aus.«

»Nein.«

»Was nein? Absetzen oder lächerlich aussehen?«

Eldh seufzte tief, erhob sich und ging auf die Toilette. Als sie zurückkam, las er seine E-Mails auf dem Handy. Sie wartete, bis er damit fertig war.

»Und, was ist passiert seit neulich?«, sagte er, nachdem er das Telefon beiseitegelegt hatte.

ENDE DER LESEPROBE