Glück ist, wenn man trotzdem liebt - Petra Hülsmann - E-Book + Hörbuch

Glück ist, wenn man trotzdem liebt Hörbuch

Petra Hülsmann

4,9

Beschreibung

Es gibt Dinge, die Isabelle absolut heilig sind: Ihre Arbeit in einem schönen Blumenladen. Ihre Daily Soap. Und ihr tägliches Mittagessen in der alten Klitsche gegenüber. Doch die wird eines Tages von dem ambitionierten Koch Jens übernommen, der nicht nur mit seiner aufmüpfigen Teenieschwester für reichlich Wirbel sorgt - und plötzlich bricht das Chaos über Isabelles wohlgeordnete kleine Welt herein. Während sie noch versucht, alles wieder in ruhige Bahnen zu lenken, scheint ihr Herz allerdings schon ganz andere Pläne zu haben ...

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Zeit:4 Std. 57 min

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Das Suppen-Fiasko

Liebe 3

Upcycling

Nachbarschaftshilfe

Die Stalkerin

Chaos im Anmarsch

Ein Tag voller Malheure

Die Kiezkönigin

Crash, Boom, BÄMM

Programmänderung

Wieder im Rennen

Eine richtig gute und eine schlechte Abfuhr

Ziemlich viel Schweinestall und noch mehr Death Metal

Life’s a Beach

Sommerflaute

Wie im Märchen

Upps! Die Pannenshow oder Mein Leben

Es knallt

Glücksmomente

Über den Wolken

Schokoladenmalheur

Danksagungen

Petra Hülsmann

Glück ist,wenn mantrotzdemliebt

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische AgenturThomas Schlück GmbH, 30827 GarbsenCopyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Stefanie Kruschandl, HamburgTitelillustration: © Shutterstock/alicedanielUmschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-2288-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Jamie Oliver, Tim Mälzer, Léa Linster, Ali Güngörmüs und Sarah Wiener, die all das kochen und in ihren Büchern so wunderbar beschreiben, was ich während der Entstehung dieses Romans gerne gegessen hätte.

Für Ekrem Yildirim und sein Team, die besten »Lahmacunistas« Hamburgs, die das gekocht haben, was ich während der Entstehung dieses Romans tatsächlich gegessen habe.

Das Suppen-Fiasko

»Da soll mir noch mal einer sagen, dass Veränderungen gut sind«, seufzte ich, während ich lustlos in meiner Yum-Yum-Tütensuppe rührte. »Das hier kann man ja wohl kaum positiv nennen.«

Ich wandte meinen Blick von der bräunlich-trüben Suppe ab und schaute durch das große Schaufenster auf die gegenüberliegende Straßenseite. Vor ein paar Tagen hatte dort anstelle meines Stammvietnamesen Mr Lee ein neues Restaurant aufgemacht, was ich als totale Frechheit empfand. Denn statt Mr Lees Nudelsuppe zu genießen, war ich nun gezwungen, meine Mittagspausen in der kleinen Kaffeeküche des Blumenladens zu verbringen, in dem ich arbeitete. Meine Begeisterung für Instantsuppen schwand von Tag zu Tag, und ich konnte kaum glauben, wie schwer ich es hatte.

»Veränderungen sind aber auch nicht zwangsläufig schlecht, Isabelle«, sagte meine Chefin Brigitte, während sie ohne hinzusehen einen kunstvollen Strauß aus Callas band. »Geh doch mal rüber in dieses Thiels, da findest du bestimmt einen passenden Ersatz für deine geliebte Nudelsuppe.«

»Ich will das Thiels aber nicht, ich will Mr Lee wiederhaben! Außerdem sieht der Laden schon von außen total hip und überteuert aus.«

Brigitte stöhnte auf. »Mit deinen siebenundzwanzig Jahren bist du viel zu jung, um so ein Gewohnheitstier zu sein. Sei doch mal spontan.«

Das hatte ich schon oft von ihr gehört. Brigitte war einer dieser Menschen, die Gewohnheiten als etwas Negatives empfanden. Doch mir gaben sie Sicherheit und in dieser unübersichtlichen, chaotischen Welt das gute Gefühl, zu wissen, was kommen würde. Ich ging die Dinge nun mal gerne geplant und gezielt an, statt mich einfach so treiben zu lassen, und meiner Meinung nach hatten Routine und ein geordnetes Leben nichts mit dem Alter zu tun. Außerdem konnte ich durchaus auch spontan sein. Ich hatte schon einige verrückte Dinge getan, wie zum Beispiel …

Jedenfalls, worum es eigentlich ging: Ich schätzte die Gewohnheiten in meinem Leben und wollte gar nicht, dass sich irgendetwas änderte. Meine Arbeit in Brigittes Blumenladen zum Beispiel. Ich liebte Blumen, ich liebte Brigitte, und ich liebte den Laden. Deswegen würde ich ihn auch übernehmen, wenn Brigitte sich zur Ruhe setzte. Darauf sparte ich heute schon, und ich freute mich darauf, dass Blumen Schumacher eines Tages Blumen Wagner heißen würde. Wichtig waren mir auch all die kleinen Gewohnheiten, wie der erste Kaffee des Tages, den ich immer am Küchenfenster meiner Wohnung trank, während ich dabei zusah, wie Emre, der Besitzer des Kiosks gegenüber, seine Lieferungen entgegennahm. Oder meine Daily Soap Liebe! Liebe! Liebe!, die ich mit Feuereifer verfolgte. Und natürlich meine Mittagspause beim guten alten Mr Lee. Elf Jahre lang hatte ich dort jeden Mittag die »Suppe des Tages« gegessen, die jeden Tag Nudelsuppe gewesen war. Doch leider war ich so ziemlich der einzige Gast gewesen, weswegen Mr Lee seinen Laden vermutlich auch schließen musste.

Mit Todesverachtung nahm ich einen Löffel von meiner faden, pappigen Yum-Yum-Suppe. Igitt, was für ein widerlicher Fraß! Schlimmer konnte es im Thiels doch eigentlich auch nicht sein. Ich entsorgte den Rest im Müll, ging wieder ans Schaufenster und schaute rüber zu dem Restaurant. Die Tische im Außenbereich waren immer vollbesetzt, also war der Laden möglicherweise doch gar nicht so schlecht. Vielleicht gab es dort ja sogar eine Suppe des Tages. Außerdem … Ob die schon einen Blumenlieferanten hatten? Seit vor ein paar Monaten der neue Blumenladen um die Ecke aufgemacht hatte, sah es bei Brigitte und mir ziemlich mau aus. Einen neuen Stammkunden konnten wir gut gebrauchen.

Bevor ich es mir wieder anders überlegen konnte, verkündete ich: »Na gut, ich mach’s. Ich geh ins Thiels.«

Brigitte ließ den Strauß sinken. »Ernsthaft?«

»Klar. Ganz spontan. Wenn der Laden nichts taugt, kann ich wenigstens guten Gewissens lästern. Und außerdem will ich fragen, ob die zufällig noch einen Blumenlieferanten suchen«, sagte ich, wobei ich mit dem Daumen auf mich zeigte.

»Hey, super Idee! Dann viel Erfolg. Und guten Appetit.«

Ich holte meine Handtasche aus der Kaffeeküche und überquerte die Straße. Langsam ging ich am Außenbereich des Thiels vorbei, um den Gästen auf die Teller zu schielen. Viel Grünzeug entdeckte ich dort, Nudeln, hier und da mal ein ziemlich blutiges Stück Fleisch. Ich zog die Nase kraus und sah meine Zweifel an diesem Laden bestätigt. Vor dem Eingang waren auf einer Tafel die Mittagsgerichte aufgeführt. Keine Suppe. Da konnte ich mir das Reingehen eigentlich auch sparen. Doch dann fiel mir ein, dass ich soeben noch vor Brigitte mit meiner Spontanität geprahlt hatte und möglicherweise einen neuen Kunden an Land ziehen konnte. Also gab ich mir einen Ruck und betrat das Restaurant. Weit kam ich jedoch nicht, denn vor lauter Schock blieb ich wie angewurzelt stehen. Hier sah es komplett anders aus als zu Mr Lees Zeiten! Die Wände waren cremefarben gestrichen, nur eine Wand leuchtete in einem dunklen, satten Rotton. Überall hingen gerahmte Fotos, die Motive aus Hamburg zeigten, wie zum Beispiel den Anker am Bug der Rickmer Rickmers, die Tür eines Hafenspeichers oder das Straßenschild der »Großen Freiheit«. Es gab um die fünfzehn Tische, die mitsamt ihren Stühlen nicht gerade neu aussahen und alle nicht zueinander passten, aber trotzdem insgesamt ein harmonisches Bild abgaben. Was mich am meisten faszinierte, war ein aus Weinflaschen selbst gebauter Kronleuchter, der als Blickfang mitten im Raum hing. Das Restaurant kam überhaupt nicht neumodisch-kalt oder bemüht hip rüber, sondern wirkte auf seltsame Art chaotisch, gemütlich und schick zugleich, und – ob ich wollte oder nicht – das hier war ein Laden, in dem ich mich wohl fühlen konnte. Lediglich über die Tischdeko musste man noch mal nachdenken, denn die fiel mit einem Salz- und Pfefferstreuer doch recht spärlich aus. Anscheinend gab es tatsächlich noch keinen Blumenlieferanten.

»Hi!« Eine hübsche Kellnerin kam auf mich zu und lächelte mich freundlich an. »Ich bin Anne. Herzlich willkommen im Thiels. Setz dich doch. Hier drinnen hast du die freie Auswahl, draußen ist leider alles belegt.«

»Also, eigentlich wollte ich erst mal nur fragen, ob es hier …«

»Siehst du, hier vorne«, unterbrach sie mich eifrig und deutete auf einen kleinen Zweiertisch. »Oder wie wäre es am Fenster?« Sie ging mir voraus zu besagtem Fenstertisch und schob mir den Stuhl zurecht. »Ich glaube, der ist netter. Wenn du schon nicht draußen sitzen kannst, kannst du immerhin rausgucken. Das Wetter ist wunderschön, oder? Ich liebe den Sommer, du nicht auch?«

Völlig überrumpelt folgte ich ihr und nahm Platz. »Doch, ja. Danke. Aber im Grunde wollte ich mich erst mal nur erkundigen, ob es hier eine Suppe des Tages gibt.«

Anne plauderte munter weiter. »Nein, leider nicht. Da vorne an der Tafel siehst du unsere Mittagsgerichte. Diese Woche ist keine Suppe dabei, aber die Tagesgerichte schmecken alle großartig! Kann ich dir schon mal was zu trinken bringen?«

Mist. Keine Suppe des Tages. Aber so leicht würde ich nicht aufgeben. Vielleicht konnte man suppentechnisch ja doch etwas machen. Das Restaurant war neu, die waren sicher noch sehr um das Wohlwollen ihrer Gäste bemüht. »Ja, ich hätte gerne eine Rhabarberschorle.«

Anne notierte meinen Wunsch auf ihrem Block und wollte sich schon davonmachen.

»Warte mal. Ähm, wäre es eventuell möglich, eine Suppe von der Abendkarte zu bekommen?«

Sorgenvolle Falten erschienen auf ihrer Stirn. »Na ja … Also, ich kann dir den Spargel wirklich wärmstens empfehlen, der ist unglaublich lecker. Die Pasta mit Mangold-Pesto ist auch der Hammer, ich schwöre dir, Jens macht das beste Mangold-Pesto, das du je gegessen hast! Oder du probierst den Salat mit gegrillten Filetstreifen vom Freilandrind? Bei dem Wetter ist das vielleicht eh netter als was Warmes.«

Sie war so eifrig und bemüht, dass ich mir richtig schäbig vorkam, doch es war nun mal so: Ich hatte nicht das geringste Bedürfnis, Mangold zu probieren, Spargel konnte ich nicht ausstehen, und diese fiesen bluttriefenden Rindfleischstreifen, die ich draußen auf den Tellern gesehen hatte, würde ich ganz sicher nicht essen! Verdammt, verdammt, verdammt, ich hatte es doch gewusst! Keine Suppe in diesem Laden, keine annehmbare Suppe im ganzen verdammten Hamburg, wahrscheinlich würde ich nie wieder mittags vietnamesische Nudelsuppe essen können! Welchen Sinn hatte die Mittagspause dann überhaupt noch?! Oh, Mr Lee, warum nur haben Sie mich im Stich gelassen?

»Das klingt alles nicht schlecht, aber … Hier war vorher ein vietnamesisches Restaurant, und da gab es immer eine Suppe des Tages. Ich habe hier elf Jahre lang jeden Mittag Suppe gegessen, verstehst du? Jeden Mittag! Elf Jahre lang! Ich meine …« Ich unterbrach mich, weil mir bewusst wurde, wie verzweifelt ich klingen musste. »So ein Süppchen ist bestimmt schnell gemacht. Vielleicht wäre es ja doch möglich?«

Anne sah mich eine Weile nachdenklich an, dann sagte sie ganz sanft, wie zu einem hypernervösen Pferd, das kurz vorm Durchgehen war: »Ich frag mal in der Küche nach und sehe, was ich für dich tun kann, okay? Und dann bring ich dir erst mal eine schöne Rhabarberschorle. In Ordnung?«

Sie hielt mich für geisteskrank. Ganz eindeutig. Ich nickte. »Ja, vielen Dank.«

Anne zog ab, und ich befürchtete schon, dass sie gleich eine Lautsprecherdurchsage machen würde: »Service an Küche, Service an Küche, wir haben hier eine drei-fünf-neun an Tisch sieben. Ich wiederhole, eine drei-fünf-neun an Tisch sieben!« Doch nichts passierte; sie verschwand lediglich durch die Schwingtür, hinter der sich vermutlich die Küche befand.

Schon bald kehrte Anne zurück, ein freudiges Lächeln auf den Lippen. »Weißt du was? Lukas macht dir ein schönes Mangoldsüppchen mit Parmesanchips«, verkündete sie fröhlich. »Oder die Fischsuppe von der Abendkarte. Was dir lieber ist.«

Oh Mann, diese Situation wurde echt immer unerträglicher! »Das ist nett, aber ich esse leider keinen Mangold. Fisch auch nicht. Am besten lassen wir das einfach, und ich …«

»Nein, warte!«, rief Anne, die wahrscheinlich fürchtete, ich würde den Laden überall im Internet als völlig unflexibel bewerten. »Pass auf, ich hole kurz Lukas, dann kannst du direkt mit ihm besprechen, was möglich ist, okay?« Und schon war sie wieder verschwunden, um kurz darauf mit einem jungen Mann in schwarzer Kochjacke zurückzukehren.

Er war um die zwanzig und ganz hübsch mit seinen blonden Haaren und leuchtend grünen Augen. Allerdings verriet sein Gesichtsausdruck eindeutig, dass er ziemlich genervt war. »Hi. Also, wenn du keinen Mangold und keinen Fisch isst, könnte ich dir ein Spargelcremesüppchen machen. Wäre das okay?«

Meine Stimmung kippte immer mehr, und dieser Laden fing ganz allmählich an, mir auf die Nerven zu gehen. »Spargel esse ich leider auch nicht. Tut mir leid.«

»Also, ehrlich gesagt …«

»Eine Nudelsuppe wäre super«, schlug ich vor. »Sie müsste ja auch gar nicht unbedingt vietnamesisch sein.«

Er hob eine Augenbraue, ganz leicht nur, aber doch erkennbar. »Äh … ich hol mal den Chef«, sagte er und verschwand durch die Schwingtür.

Gute Idee! Dann konnte ich mich nicht nur beim Boss höchstpersönlich darüber beschweren, dass er Mr Lee vertrieben hatte und dass es heutzutage nirgends mehr eine vernünftige Suppe gab, sondern ihn bei der Gelegenheit auch gleich fragen, ob er noch einen Blumenlieferanten brauchte. Er war bestimmt so ein Lackaffe mit weit aufgeknöpftem lila Hemd und Goldkettchen, der dieses Restaurant als Geldwäschebetrieb nutzte.

»Also du bist der Suppenkasper?«

Ich war so vertieft in meine Gedanken, dass ich gar nicht mitgekriegt hatte, wie Lukas’ Chef aus der Küche gekommen war. Ich sah zu ihm hoch und stutzte. Vor mir stand ein dunkelhaariger Mann, schätzungsweise um die dreißig. Und er war kein Lila-Hemd-und-Goldkettchen-Typ, sondern Koch, wie seine schwarze Kochjacke und die schwarze Jeans verrieten. Er hielt mir seine Hand hin. »Hi, ich bin Jens Thiel.«

Verdattert schüttelte ich seine Hand. »Isabelle Wagner.«

»Hallo Isabelle, nett, dich kennenzulernen«, sagte er und ließ sich dann mit einem Ächzen auf den Stuhl mir gegenüber fallen. »Eigentlich habe ich überhaupt keine Zeit für dieses Gespräch, aber es ist ja nicht deine Schuld, dass weder meine Serviceleiterin noch mein Souschef mit dir … also, mit diesem Problem fertigwerden. Wenn ich es richtig verstanden habe, hättest du gerne Suppe.«

Ich nickte. »Richtig.«

In diesem Moment stellte Anne ein großes Glas Rhabarberschorle vor mir ab. »Bitte schön.«

»Danke.« Ich wartete darauf, dass sie abzog, doch stattdessen blieb sie stehen und musterte uns interessiert.

Jens runzelte kurz die Stirn, sagte jedoch nichts, sondern wandte sich wieder an mich. »Okay, also hat Lukas dir freundlicherweise drei Suppen angeboten, aber keine ist dir recht. Stattdessen hättest du lieber vietnamesische Nudelsuppe. Auch richtig?«

Aus seinem Mund klang das irgendwie nach einem ziemlich dreisten Wunsch, und so war es ja auch gar nicht gewesen. »Nein, ich habe lediglich Nudelsuppe vorgeschlagen, dabei aber extra betont, es müsse keine vietnamesische sein. Obwohl hier vorher ein ausgezeichnetes vietnamesisches Restaurant drin war, und da gab es sehr, sehr gute Nudelsuppe.«

Jens Thiel lachte auf. »Mr Lee. Ja, der war wirklich ganz ausgezeichnet. Hast du bei dem mal einen Blick in die Küche geworfen?«

»Nee, wieso?«

Er winkte ab. »Ach, nur so.«

Ich überlegte kurz, ob ich nachhaken sollte, entschied dann aber, dass ich lieber gar nicht wissen wollte, wie es in Mr Lees Küche ausgesehen hatte. »Jedenfalls, ich arbeite im Blumenladen gegenüber, und ich habe immer bei Mr Lee die Suppe des Tages gegessen. Also Nudelsuppe, denn die Suppe des Tages war immer Nudelsuppe.«

»Elf Jahre lang«, fügte Anne hinzu.

»Ja. Das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber mittags esse ich nun mal immer Suppe.«

»Nein, ich verstehe schon«, sagte Jens mit ernstem Gesichtsausdruck, doch das Funkeln in seinen dunklen Augen verriet, dass er sich über mich lustig machte. »Suppe spielt in deinem Leben eine zentrale Rolle.«

»Genau«, sagte ich trotzig. Sollten sie doch von mir denken, was sie wollten. »Und ich sehe nicht, wo das große Problem sein soll, mir eine zu machen. Ich meine, man muss doch flexibel sein.«

Jens schnaubte und sagte: »Ach ja?«, doch ich fuhr unbeirrt fort. »Ich persönlich bin zum Beispiel nicht soder Rosen-Fan. Aber wenn du in den Laden kommst und einen Rosenstrauß bestellst, dann mach ich dir einen. Weil der Kunde nun mal König ist, verstehst du?«

»Nee, das versteht er nicht«, antwortete Anne an seiner Stelle. »Jens hat in seinem ganzen Leben noch keiner Frau Blumen, geschweige denn Rosen geschenkt. Nicht mal seiner Ehefrau.«

Was, der war verheiratet? Die arme Frau konnte einem ja echt leidtun, wenn sie nicht mal ein paar Blumen von ihm bekam!

Jens ging nicht auf Annes Kommentar ein. Stattdessen sagte er zu mir: »Da hast du natürlich vollkommen recht. Der Kunde ist König, und ich muss flexibel sein. Am besten, ich schaff die Speisekarte ganz ab, und jeder bestellt einfach, worauf er gerade Lust hat, egal ob es ein glutenfreier, veganer Bio-Burger, eine laktosefreie Bio-Crème-brîulée oder eine Nudelsuppe sein soll. Okay, Königin Isabelle, ich mach dir deine Nudelsuppe.«

Für zwei Sekunden war ich baff, doch dann sagte ich würdevoll: »Vielen Dank, das ist wirklich nett.«

Jens nickte. »Gut, da du ja ebenfalls flexibel bist, kannst du mir sicher schnell einen Ersatzkoch ranschaffen, der sich um die anderen Gäste kümmert, während ich im Asialaden die Zutaten kaufe und die Suppe koche. Du wirst dich allerdings ein Weilchen gedulden müssen, bis du sie essen kannst, und zwar etwa sechs Stunden, so lange dauert es nämlich, bis eine wirklich gute vietnamesische Nudelsuppe fertig ist.«

Dieser Typ war ja wohl an Dreistigkeit kaum zu überbieten! »Ich habe doch extra gesagt, dass es keine vietnamesische Nudelsuppe sein muss!«

»Aber Spargelcreme-, Mangold- oder Fischsuppe sind dir auch nicht recht.«

»Nein, das esse ich alles nicht.«

»Und wieso nicht?«

»Weil es mir nicht schmeckt.«

»Wie wäre es dann mit einem Teller Wasser?«

»Gerne. Schmeiß noch einen Brühwürfel und ein paar Nudeln rein, und wir sind im Geschäft.«

Jens machte einen Gesichtsausdruck, als hätte ich soeben verkündet, dass ich Osama bin Laden für einen prima Typ hielt. »Einen Brühwürfel?! Wenn Brühwürfel und Mr Lees Nudelsuppe deinen kulinarischen Horizont darstellen, dann wundert es mich wirklich nicht, dass du …«

»Siehst du, da haben wir es!«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich kann dir ein sehr gutes Seminar zum Thema Service- und Kundenorientierung empfehlen, sieht so aus, als hättest du das dringend nötig. Der Kunde hat immer recht. Ich kritisiere meine Kunden ja auch nicht dafür, dass sie Rosen mögen.« ›Jedenfalls nicht immer, und wenn, dann sehr subtil‹, fügte ich im Stillen hinzu.

»Was hast du nur immer mit Rosen? Rosen und Suppe, Rosen und Suppe!«, motzte Jens. »Das ist doch nicht normal!«

In diesem Moment räusperte Anne sich vernehmlich. »Bitte, seid doch so nett und kommt zu einem friedlichen Ende, okay? Außerdem, Jens, ich bin mir sicher, Lukas ist da drin alleine inzwischen schon am Rotieren.« Dabei deutete sie in Richtung Küche.

Ich spürte, wie ich rot anlief, und auch Jens schaute betreten drein. Er atmete laut aus und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe. Es ist gerade alles ziemlich stressig, da kannst du aber überhaupt nichts für, und es ist scheiße, das an dir auszulassen.«

»Schon gut. Mir tut es leid, dass ich das Seminar vorgeschlagen habe«, sagte ich kleinlaut.

»Geht doch«, sagte Anne zufrieden und ließ uns alleine, um sich wieder an ihre Arbeit zu machen.

»Dir sollte eher das mit dem Brühwürfel leidtun«, sagte Jens. Er schlug leicht mit den Händen auf die Tischplatte und stand auf. »Also, folgender Plan: Du machst heute Mittag mal was ganz Verrücktes und isst keine Suppe, sondern Pasta mit Mangold-Pesto. Es wird dir schmecken. Vertrau mir.«

Misstrauisch sah ich ihn an. »Wieso sollte ich? Ich kenn dich doch gar nicht.«

»Dann riskier es. Ich mag ja in puncto Service- und Kundenorientierung nicht so bewandert sein wie du, aber ich bin ein verdammt guter Koch. Vertrau mir einfach«, wiederholte er.

Ich wollte schon antworten, dass ich mittags immer Suppe aß und dass er sich seinen Mangold sonst wohin stecken konnte, doch dann hörte ich irgendwo tief in mir eine Stimme rufen: ›Wenn das mit den Blumen noch was werden soll, versau es dir mit diesem Typen nicht!‹

»Na schön«, sagte ich schließlich. »Ich komme mir zwar ein bisschen vor, als wäre ich ein wildes Tier, das angefüttert und gezähmt werden soll, aber egal.«

»Großartig«, erwiderte Jens mit einem Lächeln. »Für Extrawürste habe ich jetzt nämlich keine Zeit mehr.« Dann ließ er mich alleine zurück.

Keine zehn Minuten später kam mein Essen. Zu meiner Überraschung brachte nicht Anne, sondern Jens höchstpersönlich den überdimensional großen Pastateller an den Tisch. Er stellte ihn mit den Worten »So, bitte sehr, die Dame« vor mir ab und sah mich erwartungsvoll an.

Ach herrje, ich hatte gehofft, ich könnte mein Essen in einer Serviette verschwinden lassen und heucheln, dass es köstlich gewesen sei. Notgedrungen wandte ich mich meinem Teller zu. Hm. Auf den ersten Blick sah das gar nicht mal so schlecht aus. Der Mangold war als solcher kaum noch erkennbar, nur ein paar kleine Blätter konnte ich entdecken, die frisch und knackig wirkten. Kirschtomaten und geröstete Pinienkerne vervollständigten das Pesto.

»Wenn du das Essen noch länger anstarrst, wird es kalt«, meinte Jens.

Ich griff nach meiner Gabel und piekte ein paar Nudeln auf. »Das sieht wirklich gut aus. Und es riecht auch lecker.« Letzteres war gelogen. In meine Nase strömten so viele verschiedene Duftstoffe und Aromen, dass sie völlig überfordert war. Knoblauch, Parmesan, Olivenöl, und alles wurde getoppt von einem ungewohnten, intensiven Geruch, der vom Mangold kommen musste. »Du hast ein sehr hübsches Restaurant«, sagte ich, statt mir die Gabel in den Mund zu schieben.

Jens sah mich irritiert an. »Äh … Danke.«

»Bitte. Die Bilder gefallen mir. Und der Flaschenkronleuchter ist echt der Hammer. Hast du den selbst gemacht?«

»Nein, ein Kumpel von mir.«

»Ach so. Sehr cool.«

Mit einer ungeduldigen Handbewegung in Richtung meines Tellers sagte er: »Jetzt probier doch.«

Einen Teufel würde ich tun! »Mir ist nur aufgefallen, dass hier noch was am Ambiente gemacht werden könnte.« Mit der beladenen Gabel deutete ich auf die Tischmitte. »Ein bisschen Deko. Kerzen oder Windlichter. Ein paar Blümchen.«

»Blümchen?«, fragte Jens ungläubig. »Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du ziemlich schräg rüberkommst?«

»Nein, noch nie«, log ich.

»Es fällt mir schwer, das zu glauben. Und gehe ich recht in der Annahme, dass natürlich du mit deinem Blumenladen dich künftig um das Ambiente hier kümmern möchtest?«

»Es ist zwar streng genommen nicht mein Blumenladen, also, noch nicht, aber ja. Genau.« Ich legte meine Gabel auf den Teller. »Du musst wissen, dass ich wirklich gut darin bin. Ich mach schon seit Jahren die Deko für Hochzeiten und Beerdigungen, und meine Kunden sind immer sehr …«

»Das mag ja sein, aber hier soll es weder nach Hochzeit noch nach Beerdigung aussehen«, unterbrach Jens mich. »Ich will hier kein kitschiges, spießiges Gestrüpp auf den Tischen haben, das die Leute vollstinkt und vom Essen ablenkt.«

»Meine Deko ist überhaupt nicht kitschig, und spießig schon gar nicht! Du könntest es dir ja wenigstens höflichkeitshalber mal anschauen.«

»Und du könntest wenigstens höflichkeitshalber mal mein Essen probieren«, entgegnete er kühl.

»Ich hab dir doch gleich gesagt, dass ich Mangold nicht mag!«

»Und ich hasse Blumen!«

In meinem Kopf erklang die berühmte Melodie aus Beethovens Fünfter: Dadadadaaaa Dadadadaaaa. Er hasste Blumen?! Das ging zu weit! Ich kramte einen Zehn-Euro-Schein aus meinem Portemonnaie und knallte ihn auf den Tisch. »Es ist zwecklos, mit einem Menschen zu reden, der Blumen hasst.« Damit erhob ich mich und stand nun unmittelbar vor Jens, wobei mir auffiel, dass er ein ganzes Stück größer war als ich. »Echt jetzt, wie kann man Blumen hassen?«

»Wie kann man keinen Mangold essen?«

»Der war garantiert nicht bio«, sagte ich schnippisch, weil ich die starke Vermutung hatte, dass ihn das ärgern würde. Tatsächlich verengten seine Augen sich zu schmalen Schlitzen, doch bevor er etwas darauf entgegnen konnte, drehte ich mich um und verließ dieses suppen-, menschen- und blumenverachtende Restaurant. Sollte der Typ doch mit seinem tristen Laden und seinem affigen Mangold-Pesto glücklich werden. Mich würde er jedenfalls nie wiedersehen!

»Du warst ja lange weg«, begrüßte Brigitte mich. »War es schön?«

»Sehe ich etwa so aus?« Ich knallte meine Tasche unter den Bindetisch und fing an, mit groben Bewegungen Rosen zu entdornen.

»Es gab dort keine Suppe, nehme ich an?«

»Nein, gab es nicht. Stattdessen hat dieser dreiste Jens-Thiel-Koch mir Pasta mit Mangold-Pesto aufgezwungen. Und mein Angebot, die Blumendeko für seinen Laden zu machen, hat er abgelehnt, weil er, halt dich fest, Blumen hasst! Ich hab’s echt versucht, aber dieser Typ ist so stur!«

»Schade. Ein neuer Stammkunde wäre nicht schlecht gewesen.«

Ich warf die fertig entdornte Rose achtlos auf den Tisch und griff nach der nächsten. »So schlimm, dass wir auf einen wie ihn angewiesen sind, kann es gar nicht sein.«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Brigitte schnell.

»Der kann sich jedenfalls schon mal drauf gefasst machen, dass ich überall sein Restaurant schlecht bewerten werde. Im ganzen Internet, überall!« Mir war selbst klar, dass ich das nicht tun würde, aber die Vorstellung, einen fiesen Verriss nach dem anderen zu schreiben, verschaffte mir eine gewisse Genugtuung.

Im Laufe des Nachmittags lenkte mich die Arbeit dann aber so sehr ab, dass ich die unselige Begegnung mit Jens Thiel gegen Feierabend schon wieder vergessen hatte.

Um neunzehn Uhr legte Brigitte den Kassenbon, auf dem die Tageseinnahmen aufgeführt waren, mit einem lauten Seufzer in die Schublade. »So, Feierabend.« Gemeinsam verließen wir den Laden, und während ich mein Fahrrad aufschloss, fragte sie: »Wie sieht’s aus, hast du Lust, noch mit zu uns zu kommen?«

»Tut mir leid, aber ich kann heute nicht«, sagte ich bedauernd, denn gegen ein paar Tomatenbrote bei Brigitte und ihrem Mann Dieter hätte ich nichts einzuwenden gehabt. Ihre beiden Töchter waren erwachsen und schon lange aus dem Haus, und ich wusste, dass Brigitte sie furchtbar vermisste. »Mama hat vorhin angerufen. Irgendwas stimmt mit Papas Rhododendron nicht. Da sollte ich mal besser nachsehen.«

»Na, dann grüß mir den Rhododendron.«

Ich winkte Brigitte zum Abschied zu, schwang mich auf mein Fahrrad und machte mich auf den Weg. Es war ein sonniger Juniabend, und wie immer, wenn das Wetter in Hamburg schön war, zog es die Menschen ins Freie. Brigittes Laden, genau wie auch meine Wohnung, lag in Winterhude, einem lebhaften und bunten Stadtteil, der in den letzten Jahren immer angesagter geworden war. Szenige Designerläden, Cafés und Restaurants hatten nach und nach die alteingesessenen Einzelhändler von ihren Plätzen vertrieben, und die Mieten waren sprunghaft angestiegen. Meine beste Freundin Kathi hatte schon ein paarmal vorsichtig angemerkt, dass Blumen Schumacher inzwischen vielleicht ein bisschen zu piefig rüberkam und dass der neue Blumenladen um die Ecke eindeutig hipper war. Den Winterhudern schien er jedenfalls zu gefallen. Doch Brigitte stand voll und ganz hinter ihrem Konzept. Sie wollte kein Chichi, sondern Bodenständigkeit und faire Preise. Ich konnte sie verstehen, und außerdem mochte ich unseren Laden ja auch genau so, wie er war. Aber manchmal hatte ich Angst, dass Kathi recht haben könnte und es sich irgendwann böse rächen würde, wenn wir uns den veränderten Gegebenheiten nicht anpassten.

›Schluss mit dieser Schwarzmalerei, Isa‹, dachte ich. ›Dafür ist das Wetter viel zu schön.‹ Der Fahrtwind wehte mir ins Gesicht und durchs Haar und bauschte den Rock meines Kleids auf, die Sonne wärmte meine Haut. Ich liebte diese Jahreszeit mit dem frischen, satten Grün der Bäume und den üppig blühenden Rhododendron- und Hortensiensträuchern. An so einem wunderschönen Tag wie heute war einfach kein Platz für negative Gedanken, beschloss ich, als ich auf den Hauptweg des Ohlsdorfer Friedhofs einbog. Ich stieg vom Fahrrad ab und schob es durch die Gräberreihen, bis ich an dem hintersten, sonnigsten Platz in diesem Bereich angekommen war.

»Wie heißt es noch mal: Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende. Stimmt’s, Papa?«, sagte ich zu seinem Grabstein und stellte mein Fahrrad ab. »Oh, sorry, das war jetzt irgendwie taktlos.«

Eigentlich war diese Entschuldigung unnötig, denn mein Vater war ein toller Mensch gewesen und würde mir meine Bemerkung bestimmt nicht krummnehmen. Ich hatte ihn zwar nie wirklich kennengelernt, aber meine Mutter hatte mir alles über ihn erzählt. Als ich meine Ausbildung zur Floristin begonnen hatte, hatte sie mir die Grabpflege übertragen, und so kam ich seit Jahren jeden Donnerstagabend hierher.

»Ich hab gehört, du hast ein Problem mit deinem Rhododendron?«, murmelte ich, während ich ein Friedhofs-Gartengerät hinter dem Grabstein hervorzog. »Dann lass mal sehen.« Ich begutachtete den Strauch, den ich schon vor sechs Jahren gepflanzt hatte. »Ach du Schande!«, rief ich erschrocken, als ich die braunen Flecken auf den Blättern und die vertrockneten Äste und Knospen bemerkte. Pilzbefall, ganz eindeutig. Aber was für einer? Oh mein Gott, hoffentlich nicht dieser Horror-Pilz, der für das Eichensterben in den USA verantwortlich war! Angeblich sollte er auch Rhododendren befallen. Erst neulich hatte ich in einer Zeitschrift gelesen, dass der inzwischen auch in Norddeutschland …

»Hi Isabelle«, hörte ich hinter mir eine Stimme, die mich aus meinem Schreckensszenario riss. Ich drehte mich um und entdeckte Tom, den jungen Friedhofsgärtner, der für die Gräber in diesem Bereich verantwortlich war. Er hatte mir schon den ein oder anderen fachmännischen Rat gegeben, und in diesem Moment kam es mir so vor, als hätte der Himmel ihn geschickt. »Alles gut?«, wollte er wissen.

»Nein! Kannst du dir das hier mal bitte ansehen?«

Tom ließ die Schubkarre mit Gartenabfällen auf dem Weg stehen und kam zu mir rüber.

Ich deutete auf den Rhododendron. »Was ist das für ein scheiß Pilz? Doch wohl nicht dieser Phytophtora ramorum?«

»Ach Quatsch.« Tom beugte sich herab, um die Pflanze genauer in Augenschein zu nehmen. »Das ist ein ganz schnöder Feld-, Wald- und Wiesenpilz.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein? Muss man nicht erst mal eine Probe nehmen und ins Labor schicken und, keine Ahnung, den Seuchenschutz informieren, und …«

»Weil der Phytophtora ramorum hier nicht vorkommt, ganz einfach«, unterbrach Tom mich. »Glaub mir, wenn sich dieser Pilz auf meinem Friedhof breitgemacht hätte, wüsste ich das.« Er zog eine Zigarette hervor, die hinter seinem Ohr gesteckt hatte, und zündete sie an – ganz wie in einem alten Western, wenn der Sheriff verkündete, dass es in seiner Stadt kein Verbrechen gab. »Schneid einfach alle befallenen Stellen ab, und sprüh ein Fungizid drauf, dann wird er schon wieder.«

Erleichterung machte sich in mir breit, denn es hätte mir das Herz gebrochen, diesen Strauch rausreißen zu müssen. Er war noch so klein gewesen, als ich ihn damals gepflanzt hatte, und außerdem hatte mein Vater speziell diese Rhododendron-Sorte geliebt, wie ich von meiner Mutter wusste. »Gott sei Dank!«, rief ich und strahlte Tom an.

Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und musterte mich nachdenklich. »Wenn du willst, mach ich das morgen für dich.«

»Echt jetzt?«

»Klar. Nette Frisur übrigens.«

»Oh.« Geschmeichelt strich ich mir eine Haarsträhne aus der Stirn. »Die ist eigentlich gar nicht neu, aber trotzdem danke schön.«

»Mhm. Sag mal …« Er machte eine kleine Pause. »Hättest du Lust, mal was mit mir essen zu gehen?«

Huch! War es nicht ziemlich schräg, eine Frau auf dem Friedhof um ein Date zu bitten? Andererseits – wo hätte er es sonst tun sollen, immerhin kriegten wir uns nur hier zu Gesicht. Und Tom war doch eigentlich sehr nett und hilfsbereit. Er hatte Ahnung von Pflanzen. Und er sah ziemlich gut aus. So stark irgendwie. Also warum eigentlich nicht? »Klar«, sagte ich schließlich. »Gerne.«

»Cool.« Er drückte seine Zigarette auf dem Boden aus und warf sie anschließend in die Schubkarre. »Okay, dann ruf ich dich mal an. Und morgen mach ich mich gleich an den Rhododendron.«

»Vielen Dank, Tom, das ist supernett.«

Wir tauschten unsere Nummern aus, dann ging er mitsamt seiner Schubkarre davon.

Ich zupfte noch ein bisschen Unkraut und goss die Pflanzen, sowohl auf Papas Grab als auch auf dem seines Nachbarn Walter Fritzschner. »Geliebt und unvergessen«, stand als Zusatz unter dem Namen auf seinem Grabstein, doch das Grab wirkte immer so furchtbar verlassen und verwahrlost, dass ich arge Zweifel daran hatte und gar nicht anders konnte, als mich darum zu kümmern.

Eine Stunde später schloss ich mein Fahrrad vor meinem Wohnhaus an und erklomm die fünf Etagen bis ins Dachgeschoss. Ich kickte meine Ballerinas von den Füßen, riss die Fenster auf und machte mir in der winzigen Küche einen Eistee. In dieser Wohnung war alles klein, und sie bestand fast ausschließlich aus Dachschrägen. Aber ich liebte sie, sie war meine Burg, mein Zuhause und außerdem wunderschön. Die alten Holzdielen knarrten unter meinen Schritten, jeden Raum hatte ich in einer anderen Farbe gestrichen, und durch das Küchenfenster und vom Balkon aus konnte ich wunderbar das Treiben auf der Straße beobachten.

Im Wohnzimmer machte ich es mir auf der Couch bequem. Ich nahm meinen Laptop, loggte mich ins Internet ein und suchte in der Mediathek die heutige Folge von meiner Daily Soap Liebe! Liebe! Liebe!, die ich wegen des Friedhofsbesuchs verpasst hatte. Schon bald war ich völlig vertieft in die Geschichte von Lara und Pascal, die sich so sehr liebten und doch nicht zueinander fanden. Seit 578 Folgen scharwenzelten sie umeinander herum, ohne endlich mal Klartext zu reden. Ich fragte mich häufig, wie man so abgrundtief dämlich sein konnte. Wenn man seiner großen, einzig wahren Liebe begegnete, dann wusste man das doch sofort. So war es auch bei meinen Eltern gewesen. Sie hatten sich in den Achtzigerjahren in einer Hamburger Disco kennengelernt. Meine Mutter hatte zu Nur geträumt von Nena getanzt und dabei einen Mann angerempelt, der am Rand der Tanzfläche stand. Er fing sie auf, die beiden schauten sich in die Augen und … BÄMM! Die große Liebe! Vom ersten Moment an war zwischen ihnen alles klar gewesen. Und genau so sollte es sein.

Ich selbst wartete leider schon seit siebenundzwanzig Jahren, drei gescheiterten Beziehungen und gefühlt tausend Dates auf ebenjenen Moment: den BÄMM. Auch bei Tom vorhin auf dem Friedhof war der ausgeblieben. Andererseits: Bei aller Romantik sollte man sich doch einen Restfunken von Pragmatismus bewahren. Tom war nett und hatte eine Chance verdient.

Mein Blick fiel auf mein Glücksmomente-Glas, das im Regal neben einem Foto meines Vaters stand. Kathi hatte mir zu meinem Geburtstag ein hübsches Bonbonglas und einen Stapel bunter Notizzettel überreicht und gesagt: »Von jetzt an notierst du jeden glücklichen Moment und wirfst ihn ins Glas. In einem Jahr liest du dir all die schönen Dinge durch, und dann wirst du sehen, dass das Leben gar nicht mal so scheiße ist.«

Zu der Zeit hatte ich mich gerade von meinem damaligen Freund getrennt und überhaupt eine ziemlich deprimierte Phase durchgemacht. Seitdem führte ich mein Glücksmomente-Glas, und ich freute mich schon jetzt darauf, es an meinem achtundzwanzigsten Geburtstag im Oktober zu öffnen. Für heute fielen mir sogar zwei Glücksmomente ein. Auf einen gelben Zettel schrieb ich: ›Papas Rhododendron ist von einem Pilz befallen, aber es ist nicht der Phytophtora ramorum. Glück im Unglück.‹ Dann nahm ich mir einen blauen Zettel. ›Tom hat mich um ein Date gebeten. Auf dem Friedhof! Schräger Moment, aber ich freu mich, dass er’s gemacht hat.‹ Ich warf die Zettel ins Glas, schraubte den Deckel zu und stellte es zurück ins Regal.

Liebe 3

Am Dienstagnachmittag war ich im Laden damit beschäftigt, einen riesigen Blumenstrauß zu binden, den unser Stammkunde Herr Dr. Hunkemöller seiner Praxisleiterin Frau Nickel zum dreißigjährigen Jubiläum schenken wollte. Er war Augenarzt und außerdem ein Charmeur und Kavalier der alten Schule immer tadellos gekleidet (manchmal trug er sogar einen Dreiteiler mit Einstecktuch) und die vollen weißen Haare adrett zur Seite gekämmt, weswegen ich ihn heimlich »das Adonisröschen« nannte. Er überschüttete Brigitte und mich immer mit so vielen Komplimenten, dass wir uns jedes Mal freuten, wenn er vorbeikam. Eigentlich hatte ich dienstags frei, aber Brigitte und ich hatten unsere Tage in dieser Woche getauscht, und Dr. Hunkemöller hatte richtig enttäuscht ausgesehen, als ich ihm gesagt hatte, dass sie nicht im Laden war.

»Bitte schön«, sagte ich und präsentierte Herrn Dr. Hunkemöller den fertigen Strauß.

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