"Guten Tag, hier spricht Ihre Kapitänin" - Cordula Pflaum - E-Book

"Guten Tag, hier spricht Ihre Kapitänin" E-Book

Cordula Pflaum

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Beschreibung

Jedes Jahr nutzen Milliarden von Menschen Flugzeuge. Doch was wissen wir wirklich vom Flugbetrieb? Cordula Pflaum gewährt einen spannenden Blick hinter die Kulissen eines Universums, von dem die meisten nur die Oberfläche kennen. Immer noch vermuten die wenigsten, dass eine Frau auch ein Passagierflugzeug fliegen kann. Mitunter hört Cordula Pflaum sogar ein erschrockenes Raunen aus der Kabine, wenn sie sich bei einer Durchsage als die Kapitänin des Fluges vorstellt. Nach ihrer Ausbildung war sie die 20. Pilotin bei Lufthansa und die erste Ausbildungspilotin für Langstrecke. Pflaum geht mit Bedenken und Vorurteilen offen um, entlarvt Klischees, die nicht mehr zeitgemäß sind, und rückt den Mensch hinter dem Steuer in den Mittelpunkt.

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Seitenzahl: 236

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Buch

Jedes Jahr nutzen Milliarden von Menschen Flugzeuge. Doch was wissen wir wirklich vom Flugbetrieb? Cordula Pflaum gewährt einen spannenden Blick hinter die Kulissen eines Universums, von dem die meisten nur die Oberfläche kennen. Immer noch vermuten die wenigsten, dass eine Frau auch ein Passagierflugzeug fliegen kann. Mitunter hört Cordula Pflaum sogar ein erschrockenes Raunen aus der Kabine, wenn sie sich bei einer Durchsage als die Kapitänin des Fluges vorstellt. Nach ihrer Ausbildung war sie die 20. Pilotin bei Lufthansa und die erste Ausbildungspilotin für Langstrecke. Pflaum geht mit Bedenken und Vorurteilen offen um, entlarvt Klischees, die nicht mehr zeitgemäß sind, und rückt den Mensch hinter dem Steuer in den Mittelpunkt.

Autorinnen

Cordula Pflaum, geboren 1969, ist Ausbildungskapitänin für den Airbus A330/A340/A350. Seit über 30 Jahren arbeitet sie als passionierte Pilotin, seit 13 Jahren als Prüferin und Ausbilderin auf Langstrecke bei Lufthansa. Als langjährige Führungskräfte-Trainerin unterrichtet sie mit großem Einsatz Crews verschiedener Fluggesellschaften weltweit. Daneben ist sie eine gefragte Rednerin in der Wirtschaft und bei Ärztekongressen zum Thema Crew Resource Management. Sie studierte an der Open University of Milton Keynes »Natural Science with Physics« und begann den Master »Communicating Science«. Zudem ist sie »Human Factors«-Expertin bei Lufthansa. Die Pilotin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Bamberg.

Heidi Friedrich ist Journalistin und Autorin zahlreicher Bücher, darunter Aus den Augen, doch im Herzen sowie der Spiegel-Bestseller Klangwunder mit dem Star-Oboisten Albrecht Mayer. Ihre Artikel erscheinen unter anderem in Welt am Sonntag, Spiegel Online, ZEITONLINE und Berliner Zeitung. Sie hat in London, Aix-en-Provence, Dublin und Zürich gelebt. In New York war sie als Korrespondentin für den Vorwärts tätig.

Cordula Pflaum

mit Heidi Friedrich

»Guten Tag, hier spricht Ihre Kapitänin«

Von Höhenflügen, Vorurteilen und meinem Leben als Pilotin

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe März 2024

Copyright © 2024: Wilhelm Goldmann Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Doreen Fröhlich

Illustrationen: Adobe Stock/Foxy Fox

Cover: Uno Werbeagentur, München

Coverfoto (U1): JungAdler GmbH

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

KW ∙ CB

ISBN 978-3-641-31119-3V002

www.goldmann-verlag.de

Meinen lieben Eltern und meiner tapferen Schwester Carolin

Inhalt

1. Einfach losfliegen

2. Bis zu den Sternen

3. Himmelwärts

4. Durchstarten

5. Auf dem linken Sitz

6. (K)ein zerplatzter Traum

7. Exoten vor!

8. »Und wie machst du das mit den Kindern?«

9. Ständig unter Strom

10. Die Tür bleibt zu

11. Der Mensch im Mittelpunkt

12. Nachtflug

13. Am Boden

14. Einmal Falkland und zurück

15. Fliegen ist wie Operieren

16. Von heute für morgen

Dank

1

Einfach losfliegen

Nur wenige Minuten trennten mich noch von dem schönsten Ort der Welt. Schon die ganze Woche über hatte ich mich sehnsüchtig darauf gefreut. Endlich wieder Donnerstag! Ich konnte es kaum erwarten. Doch so gern ich auch die Klänge meiner Finger auf den Tasten hörte, der Klavierunterricht war für mich nur deshalb so schön, weil meine Lehrerin noch näher am Flugplatz Ganderkesee wohnte als wir. Jede Woche die gleiche Bitte an meine Mutter, die mich mit dem Auto dorthin brachte: »Können wir auf dem Heimweg kurz anhalten? Ich möchte so gerne den Flugzeugen zuschauen!« Ich drückte mir auf dem Rücksitz unseres alten bordeauxfarbenen BMW die Nase an der Fensterscheibe platt, um ja nichts zu verpassen. Einem eingespielten Ritual folgend, fuhr meine Mutter jedes Mal, nachdem sie mich abgeholt hatte, in eine kleine Abfahrt in Sichtweite des Rollfelds und ließ mich gewähren. Wir stiegen aus, und meine Mutter legte ihren Arm um mich, während meine Augen konzentriert den Flugzeugen folgten, wie sie starteten und landeten. Wie konnten diese schweren Maschinen nur abheben? Und wie war es möglich, dass sie sich überhaupt in der Luft hielten, warum fielen sie nicht einfach vom Himmel wieder herunter? Wie musste das da oben zwischen den Wolken aussehen? Es war nicht das Fernweh, das mich gebannt das Geschehen am Himmel verfolgen ließ, wenngleich mich auch die scheinbare Grenzenlosigkeit des Fliegens staunen ließ. Ich fragte mich auch nicht, wohin die Piloten wohl flogen. Von Anfang an fesselte mich stattdessen die Faszination davon, wozu Menschen fähig sind, welche technischen Möglichkeiten sie schaffen können.

Meist wurde meine Mutter nach viel zu kurzer Zeit ungeduldig und zog mich sanft wieder Richtung Auto: »Komm, Cordula, wir müssen heim.« Ich wollte aber noch nicht gehen und blieb jedes Mal aufs Neue entschieden, fast trotzig stehen. Ich wollte weiter dem ansteigenden Brummen der Motoren zuhören, wenn die Amplituden der Propeller immer stärker wurden. Erst das ganz leise Surren beim Starten, der Ton, der immer höher wurde und höher und dann wieder leiser, während die kleinen Flugzeuge abhoben und ihrer Wege flogen. Am Boden meinte ich die Vibrationen, die sie in der Luft ankurbelten, regelrecht spüren zu können. »Nur noch ein paar Minuten! Bitte!« Ich hätte noch den ganzen Tag dort stehen bleiben und mich in den Himmel träumen können. Nichts wäre schöner gewesen. Als Zehnjährige hatte ich damals keine konkreten Vorstellungen von dem Beruf einer Pilotin. Aber ich hatte es mir in diesen ganz besonderen Nachmittagen bereits in den Kopf gesetzt: Mein größter Wunsch war es, eines Tages selbst zu fliegen.

Meine frühe Kindheit in Ganderkesee in der Nähe von Bremen zu verbringen erwies sich als schicksalshaft. Auf der einen Seite der Flugplatz fast vor der Haustür und in der Hansestadt Bremen die Verkehrsfliegerschule der Lufthansa zum Greifen nah. Keine andere Verortung hätte besser zu mir passen können. Und zu meinem Vater, der selbst Pilot hatte werden wollen, dem seine Sehkraft allerdings einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Kurzsichtigkeit war für die Pilotenausbildung ein Knock-out-Kriterium. So musste er sich nach seinem VWL-Studium mit einem Verwaltungsjob bei der Lufthansa begnügen. Immerhin war er maßgeblich an der Vergabe der Organisationsabkürzungen für die Flughäfen in Deutschland beteiligt: FRA für Frankfurt, HAM für Hamburg, BRE für Bremen … Diese Kürzel stammen aus seiner Hand. Mein Vater war sehr stolz darauf, auf diese Weise etwas zum Flugverkehr beitragen zu können. Denn es war ihm sehr schwergefallen, auf seinen großen Traum vom Fliegen zu verzichten.

Wie oft hatte er meinen drei älteren Schwestern und mir von seiner Liebe zur Fliegerei erzählt, was ich immer superspannend fand. Er kannte all die alten Flugzeuge noch, die heute im Museum stehen. So war er als Passagier in der Super Constellation mitgeflogen, einem viermotorigen Langstreckenverkehrsflugzeug, mit dem die Lufthansa Mitte der Fünfzigerjahre den Transatlantikverkehr im großen Stil eröffnete. Wie verklärt driftete er in seinen Erinnerungen in eine Welt weit weg vom niedersächsischen Ganderkesee ab, wenn er die Ansagen der Kapitäne bei Turbulenzen nachahmte und wir vier Mädchen das Gefühl hatten, direkt hinter ihm auf seinem wohl spektakulärsten Flug von Hamburg nach Rio de Janeiro zu sitzen. Mein Vater hatte eine große Verehrung für Flugkapitäne, sie stellten eine unangefochtene Autorität für ihn dar. Und ich war von seinen Töchtern diejenige, die am meisten Interesse an seinen Geschichten zeigte und regelrecht an seinen Lippen hing, wenn er wieder einmal mit uns abhob. Was er uns vorträumte, wollte ich bestätigt sehen, und so blätterte ich alle möglichen Informationen, die ich aufschnappte, in der Schulbibliothek nach.

Eines Tages kam mein Vater von der Arbeit heim und sagte den schönsten Satz, den ich mir damals vorstellen konnte: »Wir werden am Samstag zusammen fliegen!« Ich sah ihn sprachlos an, zögerte einen Moment lang – ich musste die Nachricht erst begreifen – und sprang ihm dann voller Aufregung in die Arme. Ich ließ ihn die Details kaum ausführen, so aufgeregt war ich. Der Vater einer meiner Schulkameradinnen hatte uns eingeladen, in seiner Cessna, einem kleinen Propellerflugzeug, einen Rundflug mit ihm zu machen. Die wenigen Tage bis zum Wochenende schienen mir ewig zu dauern. Ich konnte es nicht erwarten. Endlich war der große Tag gekommen. Früh am Vormittag fuhr mein Vater mit mir zum Flugplatz. Als ich in das kleine Flugzeug stieg und zum ersten Mal in meinem Leben Richtung Himmel startete, war mein Berufswunsch endgültig besiegelt. Was für ein wunderbares Gefühl, von der Wucht des ansteigenden Drucks zurück in den Sitz gedrückt zu werden! Was für eine Aussicht! Endlich von oben nach unten zu blicken, die Welt zu unseren Füßen zu sehen, über allem zu schweben. Wie lange hatte ich mir diese Perspektive schon gewünscht! Als wir nach dem kurzen Flug wieder landeten, flog ich eigentlich immer noch weiter. Ich spürte den Boden unter meinen Füßen kaum. Wie gut, dass mich die Hand meines Vaters erdete. Ich glaube, auch er war an diesem Tag sehr glücklich. Noch lange zehrten wir beide von dieser wunderschönen Erfahrung.

Ab diesem Moment brannte ich immer mehr für die Fliegerei. Und erst recht, als ich, gerade mal neun Jahre alt, auf Einladung meiner Patentante ganz allein zu ihr von Bremen nach Stuttgart fliegen durfte. Meine Eltern waren bis dahin nur mit meinen älteren Schwestern geflogen, mit mir noch nie. Wenn wir verreisten, dann mit dem Auto. Als sogenanntes UM – ein unbegleitetes minderjähriges Kind – wurde ich von einer Angestellten des Bodenpersonals kurz vor Abflug zum Flugzeug geführt und wäre schon da fast über der Erde geschwebt, so aufregend war es. Das erste Mal in einem richtigen Flugzeug, mit echten Passagieren! Ich hatte einen Platz am Fenster – und nach der Ankunft eine platte Nase. Meine Begeisterung kannte keine Grenzen.

Meine Eltern ließen mir immer solche Freiheiten, im größten Vertrauen in meine Selbstständigkeit. Auch in schwierigen Situationen trauten sie mir zu, selbst eine Lösung zu finden. Wenn andere Mütter bei einer Streiterei unter Freundinnen gleich eingreifen wollten und schlichten, verwies meine Mutter mich darauf, dass ich das bestimmt auch selbst regeln könne. Sie hatte natürlich recht. Meine große Selbstsicherheit rührt sicher von diesem Grundvertrauen, das ich vermittelt bekam. Ich hatte zeitlebens ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern, vielleicht das engste von uns Geschwistern. Meinen Vater konnte ich immer ganz leicht um den Finger wickeln, wenn ich etwas erreichen wollte. Meine Mutter war eher tough und nicht so leicht zu knacken. Aber als übermäßig streng könnte man unsere Erziehung nicht bezeichnen, weder vonseiten meines Vaters noch meiner Mutter. Es lief ja auch so alles gut. Wir Schwestern entwickelten uns jede auf ihre Weise prächtig, machten viel Sport und Musik. Ich hatte Unterricht in Klavier, Cello und Querflöte. Als großer Bach-Fan unterstützte mein Vater uns musikalisch in alle Richtungen. Es verging kein Tag, an dem nicht irgendeine Kantate aus seinem Arbeitszimmer zu hören war, wohin er sich zum Ausruhen gerne zurückzog. Er konnte auch nicht genug von Wind und Wetter bekommen – am liebsten im Sturm an der Nordsee. Die Liebe zum Wasser teilte ich als Einzige in der Familie mit meinem Vater. Auch zu segeln verschaffte mir Glücksgefühle.

Meine Eltern vermittelten uns stets das Gefühl, dass sie uns in Freiheit das machen ließen, was uns Spaß machte, wofür wir Interesse zeigten. »Es ist okay, geht los und entdeckt die Welt!«, das war ihr Erziehungscredo. Meine Kindheit und Jugend war dank meiner Eltern vielfältig, bunt und voller Möglichkeiten.

Mein Vater jedenfalls hätte alles dafür gegeben, selbst als Pilot arbeiten zu können. Doch sein Weg war eben ein anderer gewesen: Er stammte aus einer Pastorenfamilie in der Nähe von Tübingen, war der Älteste von vier Kindern. Als sein Vater, mein Großvater, im Krieg fiel, spürte er schon früh die Verantwortung, die auf ihm lastete. Es war wohl unausgesprochen, aber man erwartete von ihm, dass er so schnell wie möglich für seine Familie da sein musste, sich kümmern sollte. Meine Großmutter zog später mit einer Freundin zusammen, die ab da immer dabei war, ohne Wenn und Aber zur Familie gehörte. Ich fühlte mich bei den beiden immer sehr wohl.

Meine Mutter lernte meinen Vater an der Universität in Köln kennen, wo beide studierten. Mein Vater war nicht gerade ein Aufreißer. Würde er sich trauen, diese gut aussehende grande dame, die gerne selbstbewusst mit hochhackigen Schuhen durch die Unigebäude stolzierte, anzusprechen? Er traute sich. Und es funkte zwischen ihnen.

Meine Mutter stammte aus Dortmund, ihre Eltern hatten dort einen Lotto-Tante-Emma-Laden, der sozial und finanziell nicht gerade die Voraussetzung für ein Studium war zu jener Zeit. Und dann noch als Frau! Auch ihr Vater, der 20 Jahre älter war als ihre Mutter, war schon früh gestorben. Aber meine Mutter wusste, was sie wollte: Anwältin werden. Und das wurde sie auch. Doch zuerst gründeten meine Eltern eine Familie. Gemeinsam entschieden sie, in den Norden zu ziehen, als mein Vater dort eine neue Anstellung bei Nordmende, dem Elektronikhersteller, annahm.

Als meine drei Schwestern schon im Gymnasium waren und ich in die Grundschule kam, fing meine Mutter an, in Bremen in einer Kanzlei zu praktizieren. Ich erinnere mich an die gemütlichen frühen Nachmittage, wenn sie nach Hause kam und unsere Haushälterin ablöste, die für mich gekocht hatte. Meine Mutter ließ sich dann für gewöhnlich in ihren mit olivgrünem Cord bezogenen Lieblingssessel fallen, und ich schmiegt mich sofort wie ein Kätzchen an ihre Beine. Sie kraulte mich ein wenig im Nacken und strich mir liebevoll über den Kopf. So verweilten wir einige Zeit. Dann nahm sie für gewöhnlich ihre Akten auf den Schoß, sah abwechselnd zu mir hinunter, wenn ich ihr von der Schule erzählte und von dem, was mir durch den Kopf ging, und las dann wieder für ein paar Minuten in ihren Papieren. Während ich auf dem Boden spielte und die Mittagssonne durch das Fenster auf uns beide fiel, konnte das Leben nicht schöner sein. Das war so herrlich friedlich. Alles war im Lot. Doch diese Phase dauert leider nicht lange an.

Vieles änderte sich für unsere Familie, als mein Vater eine neue Position im Vorstand des Automobilzulieferers ZF in Friedrichshafen annahm und wir nach Ravensburg umzogen. Das war nicht lange nach dem aufregenden Flugerlebnis mit ihm, ich war gerade elf Jahre alt. Leider musste ich mich also von meinem geliebten Flughafen und seinen vertrauten Geräuschen verabschieden. Und nicht nur davon: Ich war auch traurig, meine Freundinnen verlassen zu müssen.

Meinem Vater schien seine neue Aufgabe im Personalwesen, der neue Wind um die Nase, zu gefallen. Er ging regelrecht darin auf. Er hatte eine ziemlich soziale Ader, die ein zweites Herz, wie er es immer nannte, in ihm zum Schlagen brachte. Er arbeitete sehr viel, kam aber meist gut gelaunt am Abend nach Hause. Meine Mutter hingegen musste sich in eine Rolle fügen, die ihr gar nicht lag, die zu erfüllen aber von ihr erwartetet wurde. »Als Vorstandsgattin werden Sie ja wohl kaum den jungen Leuten die Arbeit wegnehmen!«, bekam sie von den neuen Bekannten immer wieder zu hören. Sicherlich fühlte sie sich einerseits in ihrer gesellschaftlichen Stellung, die sie nun innehatte, wohl. Aber sie musste auch einen hohen Preis dafür zahlen, indem sie das nicht tat, was sich für sie nicht zu schicken schien. »Ich musste damals eine Wahl treffen«, sagte sie später einmal zu mir. Auch mein Vater hatte sie wohl nicht wirklich dabei unterstützt, weiterhin berufstätig zu sein. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie darüber klagte, aber ich spürte, dass ihr etwas fehlte, dass sie zunehmend vereinsamte – vor allem, als wir Kinder eine nach der anderen aus dem Haus waren und die Kontakte nach außen sich auf den Rotary-Club und den Alpenverein beschränkten. Sie hatte auch eher ein zurückhaltendes Wesen. Sie erwähnte mir gegenüber damals öfter ein »leeres Gefühl«. Ihr fehlte die berufliche Erfüllung, der Ausgleich, das Leben jenseits von Haus und Kind. Sie war so gerne Anwältin gewesen. Ich merkte, wie sich meine Mutter veränderte. Ihr Enthusiasmus und ihre Lebensfreude waren nicht mehr wie früher, vor unserem Umzug. Sicher: Meine Mutter hatte an der Seite meines Vaters ein angenehmes Leben, aber gleichzeitig fehlte es ihr an Substanz in ihrem Alltag und an Selbstständigkeit. Das zu beobachten machte mich traurig. Ich hatte ja hautnah erlebt, wie sehr meine Mutter in ihrem Beruf aufgegangen, wie ausgeglichen und glücklich sie gewesen war, als sie regelmäßig in die Kanzlei nach Bremen fuhr. Zwar verstand ich damals nicht genau, was sie eigentlich als Anwältin tat, aber ich war so oder so stolz auf sie. Ab und zu hatte ich sie auch in ihrer Kanzlei besuchen dürfen. Allein mit dem Zug nach Bremen zu fahren war immer wie ein großes Abenteuer für mich gewesen. Doch nun waren diese aufregenden Zeiten vorbei – für uns beide. Und ich nahm mir schon als Kind fest vor: »So wie meiner Mutter wird es mir nicht ergehen!« Ich wollte auf jeden Fall – mit oder ohne Kinder – einen Beruf, der ganz meinen eigenen Wünschen entsprach, der mich ausfüllte und meinem Leben einen tieferen Sinn verlieh.

Ich glaube, dass meine drei älteren Schwestern die Gefühle meiner Mutter gar nicht so mitbekommen haben wie ich, weil sie früher aus dem Haus waren, ihre eigenen Wege gingen. Wir waren auch immer recht verschieden. Während zwei meiner Schwestern es über alles liebten zu reiten, und Pferde ihnen die Welt bedeuteten, interessierte ich mich immer mehr für Ballsportarten und Technik. Sie waren ja auch um einiges älter als ich und wussten ihren Platz in der Familienhierarchie zu behaupten. Das Fliegen ließ alle drei ziemlich kalt.

In unserer Familie diskutierte man immer gern und viel. Zwar bekam ich meinen Vater nur wenig zu Gesicht, weil er viel arbeitete, aber unsere gemeinsamen Abendessen zu Hause und die Restaurantbesuche am Wochenende hatten einen rituellen Charakter. Jetzt konnte alles gesagt und erzählt und gefragt und kreuz und quer philosophiert werden. Es ging immer sehr lebendig zu. Und jeder durfte abwechselnd das Wort führen. Alle waren gleichberechtigt. Dabei kamen nicht nur persönliche Themen auf den Tisch, die uns als Familie betrafen. Wir sprachen auch über soziale Gerechtigkeit, Geschichte und Politik. Das fand ich immer am interessantesten.

In späteren Jahren wurde mein Vater nie müde, bei solchen Gelegenheiten immer wieder uns Kinder zu loben und seine Dankbarkeit und seinen Stolz auszudrücken, dass wir alle unser Leben so gut meisterten, dass wir gesund und lebenstüchtig seien. Auch ich war immer dankbar, solche Eltern gehabt zu haben. Sie stellten uns Kinder stets in den Mittelpunkt und begleiteten mit großem Interesse, wie wir unseren Weg gingen. Es ist ja nicht selten, dass man die Erziehung, die man genossen hat oder ertragen musste, als Erwachsener hinterfragt und es mit seinen eigenen Kindern vielleicht genau anders machen möchte und macht. Ich allerdings habe die Werte meiner Eltern größtenteils übernommen, weil sie mir zusagten: Immer das Selbstbewusstsein bekräftigen, Interesse und Offenheit für alles und alle, Respekt vor jedem Menschen, die Fähigkeit entwickeln, sich einzufügen, Netzwerke zu pflegen, anderen den Freiraum zu lassen zur individuellen Entwicklung …

Mit dieser Stärkung im Rücken konnte ich auch den Wechsel in eine neue Schule in einer komplett ungewohnten Umgebung meistern. Auch wenn es ein harter Bruch war, der sich anfangs grausam anfühlte, so versuchte ich das Beste daraus zu machen. »Hallo, ich bin Cordula, und ich komme aus Bremen.« Mit diesen Worten stand ich aufrecht vor meiner neuen Klasse am Gymnasium in Ravensburg. Mein selbstbewusster Neustart brachte meine Mitschüler zum Lachen. Wahrscheinlich auch, weil ich Hochdeutsch sprach. Die meisten anderen Kinder kannten ja nur Schwäbisch. Ich war also von Anfang an ein bunter Hund, die Cordula aus Bremen eben, über die man sich gerne lustig machte, indem man ihre Ausdrucksweise nachäffte. Aber das ließ mich nicht verzweifeln. Ich suchte proaktiv sofort nach Wegen, um mich zu integrieren – auch ohne Dialekt. Den brauchte ich eigentlich auch gar nicht. Ich war nämlich nie kompliziert im Umgang. Und so fand ich mit meiner aufgeschlossenen und zugewandten Art beim Handball und im Tennisverein schnell neue Freundinnen. Nach kürzester Zeit hatte ich meinen Stand in meiner peer group gefunden. In meiner Klasse hingegen mussten wir uns vor allem mit Jungs abgeben: Wir waren nämlich insgesamt nur drei Mädchen! Ganz schön heftig in dem Alter, aber für mich auch das kein Problem. Ich war immer eher etwas burschikos und kameradschaftlich orientiert und lernte meist mit Minimalaufwand auf den letzten Drücker. Auch der »Hans-Dampf-in-allen-Gassen« in mir kam bei den Jungs – aber auch den Mädchen – gut an.

Auch wenn der Umzug von Norden Richtung Bodensee nicht ganz ohne Tränen vonstattengegangen war, so merkte ich schnell, dass der Süden auch so einige Vorteile zu bieten hatte. Von Bremen aus zum Skifahren zu gehen bedeutete eine kleine Weltreise. Von Ravensburg ins Allgäu – ein Katzensprung. Es dauerte etwa ein Jahr, bis ich den Umzug sogar als Bereicherung empfinden konnte. Und heute weiß ich, dass er mich ein Stück weit resilienter und flexibler gemacht hat, denn ich musste lernen, mit einer neuen, zuerst schwierigen Situation umzugehen. Ich musste lernen, mich auf Neues einzulassen.

Und so ging es auch immer weiter. Neugierig zu sein und Neues auszuprobieren gehörte für mich zum Programm. Als ich in die zehnte Klasse kam, durfte ich – vermittelt über den Rotary-Club meines Vaters – zu einem Auslandsjahr in die USA gehen, nach Syracuse. Schon meine älteste Schwester hatte das Programm mitgemacht, und ich wollte es ihr unbedingt gleichtun. Mit einer Armada an Plüschtieren im Arm, die mir meine Freundinnen zum Abschied und zur Begleitung geschenkt hatten, erlebte ich meinen ersten Interkontinentalflug Richtung New York. Endlich wieder fliegen! Und dann auch noch so lange und über eine solche Strecke! Allerdings wurde es mir dann aber doch etwas mulmig: So ganz allein in Zeiten ohne FaceTime, Whatsapp, E-Mail oder Handy … Doch die Vorfreude überwog. Es war superaufregend, diesen Weg das erste Mal allein zu beschreiten. Ich flog ja ohne Begleitung und achtete genau auf die ganzen Abläufe, was wann passierte. Die Zeit in den USA prägte mich sehr: Die Menschen erschienen mir so viel positiver als zu Hause in Deutschland. Die Möglichkeiten wurden immer mehr hervorgehoben als die Schwierigkeiten oder Hindernisse. Auch der joviale, unkomplizierte Umgangston kam mir sehr entgegen. Ich fühlte mich rundum wohl und nutzte jede Gelegenheit, die amerikanische Lebensart kennenzulernen, wann immer ich konnte Pancakes mit Ahornsirup zu essen, Thanksgiving mitzufeiern, ins Autokino mitzufahren und natürlich Volleyball, Handball, Baseball, Basketball, einfach alle Sportarten, mitzumachen und mich auszutoben. Am Ende meines Austauschjahres machten alle 300 Austauschschüler eine fünfwöchige Rundreise durch die USA. Und als mein Gastvater hörte, ich wolle Pilotin werden, packte er mich ein, um mir den – für ihn größten – Flughafen vor Ort zu zeigen: DFW, den Dallas/Fort Worth International Airport. Dann schenkte er mir noch das Buch How to become a pilot. Das alles blieb mir immer in Erinnerung.

Während dieses Austauschjahrs musste ich jedoch leider auch miterleben, wie die Challenger-Mission 1986 tragisch scheiterte, als 73 Sekunden nach dem Start die Raumfähre zerbrach. Dabei kamen alle sieben Astronauten ums Leben, auch die beliebte Lehrerin Christa McAuliffe, die aus über 11 000 Bewerbern des »Lehrer-im-Weltraum-Programms« ausgewählt wurde, um als erste zivile Person mit ins All zu fliegen. Weil eine Lehrerin mit an Bord gewesen war, legte man gerade in den Schulen große Aufmerksamkeit auf das Ereignis. Auch unser Physiklehrer hatte mit uns im Vorfeld Experimente durchgeführt, um uns mit dem Thema Raumfahrt mehr vertraut zu machen, zum Beispiel untersuchten wir die Frage: »Wie groß ist der Einfluss der Schwerkraft auf das Wachstum von Pflanzen?« Es gab einen landesweiten Wettbewerb der Schulen, an dem auch unsere teilnahm. Die Mission war ein nationales Event. Alle fieberten darauf hin.

Wir beobachteten an jenem 28. Januar, wie jeden Tag, wie die amerikanische Flagge auf dem Schulhof gehisst wurde. Doch es lag spürbar eine ganz besondere Aufregung in der Luft. Endlich war es so weit: »Heute startet die Challenger!« Wir waren alle ganz zappelig. Und ausnahmslos alle Schulklassen saßen vor einem Fernseher, um dabei zu sein, als es losging. Wir zählten den Countdown mit. Und wie Millionen anderer Zuschauer auf der ganzen Welt trauten wir unseren Augen nicht, als … Die Stille im Raum kurz nach dem Unfall war kaum erträglich, die Betroffenheit fühlte sich an wie Blei. Nach einer spontan ausgerufenen Trauerminute fingen manche meiner Mitschüler an zu weinen. »But Christa! She was one of us!«, schluchzten sie. »Poor Christa!« Viele umarmten sich. »Die armen Familien der Astronauten! Wie muss es denen jetzt gehen?«, schoss es mir als Erstes durch den Kopf. Und dann: »Wie konnte es nur dazu kommen?« Neben dem menschlichen Aspekt interessierte mich sofort auch der technische und naturwissenschaftliche Hintergrund.

Nach dem Challenger-Unglück gab es noch mehr Berichterstattung über die Raumfahrt. Auch die Aufmerksamkeit für die Europäische Weltraumorganisation ESA nahm zu. Das Thema wurde immer präsenter. So furchtbar es war, dieses traurige Ereignis live mitzuerleben, es brachte mich nicht von meinem Berufswunsch ab. Ich wusste zwar: Es gibt immer ein statistisches Risiko, dass sich ein Unfall ereignen kann, sowohl in einer Raumfähre als auch in einem Flugzeug. Auch später kam mir nie in den Sinn: »Oje, morgen erwischt es mich.« Ich schloss nicht daraus, dass es auch mir passieren könnte. Und außerdem ist die Wahrscheinlichkeit eines Flugzeugcrashs geringer als die, in einen Autounfall verwickelt zu werden. Meine Schlussfolgerung nach dem Challenger-Absturz war sofort: Man muss aus den Fehlern, die dazu geführt haben, aus den Schwachstellen lernen und sich noch besser vorbereiten. Auch die Vorstellung, als Astronautin in einer winzig kleinen Koje schlafen zu müssen, über einen längeren Zeitraum in einem engen Raum mit mehreren anderen eingesperrt zu sein, schreckte mich keineswegs ab. Immer, wenn ich wieder einmal von meinem Lieblingsthema anfing, bekam ich zu hören: »Ja, aber du weißt doch gar nicht, ob du überhaupt jemals mit auf einen Flug ins Weltall darfst! Und dann war all der Aufwand umsonst!« – »Nein«, widersprach ich dann vehement. Das wäre überhaupt nicht umsonst. Das Ziel im Auge, wollte ich aber erst einmal Schritt für Schritt machen. Allein die Vielseitigkeit der Vorbereitung und Ausbildung reizte mich, im Sinne von »der Weg ist das Ziel«. Es war also schon früh eher das Rundumpaket, das mich interessierte, nicht nur der Flug ins All an sich.

Und nun, nach einem aufregenden Highschool-Jahr in Amerika, freute ich mich vor allem auf eins: den Rückflug nach Hause, um meinem geliebten Himmel wieder ganz nah sein zu können.

2

Bis zu den Sternen

Ziemlich schnell nach meinen ersten beiden Langstreckenflügen in die Vereinigten Staaten und wieder zurück sollte es bei 15 000 Metern Flughöhe nicht bleiben. Ich peilte nach meiner Rückkehr noch höhere Sphären an. Je ferner das Ziel, desto besser. Nicht der Himmel war mehr das Limit, nein, die Sterne sollten es sein. Der Himmel bei Tag mit seinen Wolkengebilden und das Firmament bei Nacht – all die Geheimnisse, die es noch zu entdecken gab … Ich fand das so spannend und wollte gerne daran mitforschen. Wann immer ich in meiner Jugend gefragt wurde, was ich einmal werden wollte, kam nun die Antwort wie aus der Pistole geschossen: »Ich möchte Pilotin oder, besser noch, Astronautin werden!« In der Schule belegte ich die Astronomie-AG und tauchte mit größter Begeisterung in die Materie ein. Ich ließ mir nur noch Bücher zu diesem Thema schenken. Reichte die Lektüre nicht aus, lieh ich mir in der Bibliothek zusätzlich aus, was auch immer ich zum Thema Raumfahrt finden konnte. In der Abteilung für die klassischen Mädchenbücher oder bei Science-Fiction blieb ich dabei nur selten hängen. Daheim angekommen, lief ich so schnell wie möglich in mein Zimmer, warf mich auf mein Bett, blätterte stundenlang in den Büchern herum und vergaß darüber die Zeit.

Ich wollte nichts Geringeres verstehen, als wie das Universum tickt. Ich musste einfach alles über die Himmelskörper wissen, über die Sternzeichen, über den neuesten Stand der Forschung. Ich war auch begierig zu erfahren, wie Raketen funktionieren, wie sich Astronauten im All aufhalten können, welche Dimensionen die Milchstraßen haben. Ich wollte einfach alles in mich aufsaugen und durchdringen. Obwohl ich mich auch für die wissenschaftliche Seite der Raumfahrt und Kosmosforschung begeistern konnte, reizte mich noch mehr die Anwendung der Maschinen und der Flug ins Weltall an sich.

Gemeinsam mit einem Freund – heute würde man ihn wohl als einen nerd bezeichnen – aus der Astronomie-AG