Heartbeat - Valea Summer - E-Book

Heartbeat E-Book

Valea Summer

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Beschreibung

»Wer liebt, wird auch verletzt! Doch willst du deswegen die Chance verpassen, glücklich zu sein?« Callas Entscheidung, fernab ihres Heimatortes zu studieren, soll es ihr ermöglichen, komplett neu anzufangen. Die Schatten der Vergangenheit lasten jedoch schwer auf ihren Schultern. Schneller als gedacht wird sie von ihrem alten Leben eingeholt und ihre Gefühlswelt droht aus den Fugen zu geraten. Der einzige Lichtblick ist Liam. Seine Nähe fühlt sich gut an – zu gut. Calla spürt zudem, dass Liam etwas vor ihr verbirgt. Wird es ihr gelingen, der Finsternis zu entfliehen und hinter Liams Geheimnis zu kommen? Gefühlvoll, dramatisch, leidenschaftlich – Heartbeat ist der erste Band der New-Adult-Reihe von Valea Summer.

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Seitenzahl: 309

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Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Songtexte
Danksagung

Heartbeat

Melodie des Herzens

Ein Roman von
Valea Summer
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Heartbeat – Melodie des Herzens
Valea Summer
Erstausgabe
Oktober 2021
© 2021 DerFuchs-Verlag D-74889 [email protected] DerFuchs-Verlag.de
Covergestaltung: Dream Design - Cover and Art ([email protected])
Lektorat/Korrektorat: Sabrina Georgia
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk, einschließlich aller Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung, Verbreitung, Übersetzung und Verfilmung liegen beim Verlag. Eine Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ohne Genehmigung des Verlags ist strafbar.
ISBN 978-3-96713-026-3 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-96713-027-0 (ePub)

Für Liam. Ohne ihn gäbe es diese Geschichte nicht. Für Jazz. Ohne ihn hätte ich längst den Mut verloren.

Prolog

Ich lief. Mein Herz sprang mir gegen die Rippen. Die Lungen waren zum Bersten gespannt. Trotzdem blieb ich nicht stehen. Ich lief weiter. Immer weiter, bis die Beine unter mir nachgaben und ich zu Boden sank. Da war nichts. Nichts außer Dunkelheit. Ich saß fest in einem Raum, wo man weder ein Oben noch ein Unten ausmachen konnte. Überall war diese unerträgliche Schwärze.

Keine Ahnung, wie lange ich schon herumirrte und versuchte, einen Ausgang zu finden. Mein Zeitgefühl war mir abhandengekommen, genauso wie die Orientierung. Verzweifelt stützte ich mich mit den Händen auf den Boden auf. Tränen kullerten heiß über meine Wangen und tropften ins Endlose. Was sollte ich tun? Wie sollte ich hier rauskommen?

Ich konnte sie hören, die leisen Stimmen, die aus weiter Ferne kamen. Meine Familie war da. Sie hatten Angst und machten sich Sorgen. So gern würde ich ihnen sagen, dass alles in Ordnung war. Dass es mir gut ging. Aber das konnte ich nicht. Nicht, solange ich hier in der Dunkelheit gefangen war. Krampfhaft bemühte ich mich, meinen Eltern ein Zeichen zu geben. Doch so sehr ich mich auch bemühte, das Nichts schloss mich ein. Es drückte mich mit seinen Pranken nieder, bis ich nicht mehr atmen konnte. Ich gehörte ihr.

Schmerzhafte Schluchzer entrangen sich meiner Kehle und brachten meine Brust zum Beben. Sollte ich aufgeben? War es das, was die Dunkelheit wollte? Nein! Ich hatte im Leben bislang noch nie aufgegeben und ich würde jetzt nicht damit anfangen. Ich wollte kämpfen und einen Ausweg finden. Nur wo sollte ich anfangen? Es gab weder ein Ende noch einen Anfang.

Hoffnungslos schaute ich mich um. Salzige Flüssigkeit verschleierte mir die Sicht. Was dachte ich zu sehen? Eine Ewigkeit hatte ich nichts Anderes gesehen. Vor Angst, nie wieder hinauszufinden, schrie ich mir die Lunge aus dem Leib. Ich wollte nicht länger hier sein. Ich wollte zu meiner Familie. Sie sollten mich in die Arme nehmen und nicht mehr loslassen. Ich ertrug es nicht. Ich war nicht stark genug, um gegen die eiserne Schwärze anzukämpfen.

Im Augenblick höchster Verzweiflung drang eine wunderschöne Melodie zu mir hindurch. Ihr Klang war sanft und traurig. Die Töne hüllten meinen Körper ein wie ein Schleier aus unzähligen Noten. Tief schlich sie sich in mein Herz, das sich dadurch zu beruhigen schien. Ich schöpfte neue Hoffnung. Vielleicht würde mich die Melodie hinausführen. Ich musste nur daran glauben.

Neuen Mutes erhob ich mich und schloss meine Augen. Ich konzentrierte mich nur auf den Klang der Melodie. Er würde mich leiten. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit noch immer keinen Weg gefunden hatte, blieb ich stehen. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, als würde ich in den Himmel schauen.

»Wohin soll ich gehen?«

Tränen rannen mir erneut übers Gesicht und benetzten meine rauen Lippen.

»Bitte. Ich weiß nicht mehr weiter.« Flehend brachte ich die Worte hervor, ehe meine Stimme versagte.

Wie aus dem Nichts war sie da. Sie kam von überall. Diese weiche Stimme, die voller Traurigkeit war und mir das Herz zu zerbrechen drohte. Sie sang zur Melodie. Ich wollte nicht, dass der Sänger litt, stattdessen wollte ich ihn in meine Arme nehmen und trösten. Niemand durfte so leiden.

Innerhalb eines Herzschlages begann etwas vor meinen Augen zu schimmern. Das Schimmern wurde mit jedem Atemzug greller, sodass ich die Augen abschirmen musste, um etwas zu erkennen. Warmes Licht pulsierte in meinem Sichtfeld. Es war das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass ich Licht sah. Ohne zu zögern, ging ich darauf zu. Wärme legte sich auf meine Haut und erfüllte mich mit Glückseligkeit.

Eins

Es ist die richtige Entscheidung.«

Es war die einzige Möglichkeit, mein altes Leben hinter mir zu lassen. Es war richtig. Trotzdem wollte mein Körper nicht aufhören zu zittern. Ich hatte Angst. Angst davor, dass es am College genauso ablaufen würde wie an der High School. Deshalb hatte ich mich entschieden, an der Küste South Carolinas zu studieren. Ich wollte so viele Meilen wie möglich zwischen die Vergangenheit und mein neues Leben bringen. Davonzulaufen würde meine Probleme nicht lösen, das wusste ich. Aber was sollte ich tun? Ich war nicht stark genug. Jedenfalls nicht im Moment.

Mit geschlossenen Augen lehnte ich mich gegen die Motorhaube meines gelben VW Beetle und versuchte, mich zu beruhigen. Langsam atmete ich ein und aus, um meinen viel zu schnellen Puls unter Kontrolle zu bringen. Es gelang mir tatsächlich, ruhiger zu werden, auch wenn ich immer noch leicht zitterte. Langsam öffnete ich meine Augen und betrachtete das Wohnheim, das groß und schön vor mir lag. Mit den roten Ziegelsteinen, den gigantischen Säulen, die das Dach des Eingangs stützten, wirkte es auf den ersten Blick etwas befremdlich. Ebenso befremdlich wie das Gefühl, das sich seit dem Morgen in mir ausgebreitet hatte.

Ausgerechnet an meinem ersten Tag am College hatte ich von der Dunkelheit träumen müssen. Schweißgebadet war ich aufgewacht. Mein erster Gedanke war es, alles hinzuschmeißen. Mir ein weiteres Jahr Zeit zu nehmen, bis ich bereit war, diesen Weg zu gehen. Letztendlich war ich dennoch zur Küste aufgebrochen. Nun stand ich hier und würde morgen das Studium zur Meeresbiologin beginnen. Es war ein harter Kampf gewesen. Insbesondere meine Eltern davon zu überzeugen, mich gehen zu lassen. Sicher, ich konnte ihre Sorgen um meine Gesundheit nachvollziehen. Immerhin waren sie an der Küste nicht in der Lage, auf mich aufzupassen. Auf ihr kleines Mädchen, das hier niemanden kannte.

Drei Jahre waren seither vergangen. Mittlerweile war ich 21 und wollte mein Leben selbst in die Hand nehmen. Alles, was ich nach dem Unfall wollte, war ein Neuanfang. Im Leben wurde einem nichts geschenkt. Dass ausgerechnet ich eine zweite Chance erhalten hatte, war ein kleines Wunder gewesen. Ich war immer noch der Meinung, sie nicht verdient zu haben.

In den vergangenen Jahren passierte zu viel, das ich bereute. All die Jahre hatte ich mich hinter einer Maske versteckt und war nicht ich selbst gewesen. Mir wurde irgendwann bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte. Für mich stand fest: Ich wollte nicht in mein altes Leben zurück, angefangen bei der High School. Das war Vergangenheit.

Daran zu denken, machte es nicht ungeschehen. Warum sollte ich also darüber nachdenken? Die Zeit, die ich hier verbringen durfte, würde ich in vollen Zügen genießen. Vor allem wollte ich mich nicht mehr verstellen. Dafür war das Leben zu kurz. Ich hatte am eigenen Leib erfahren müssen, was es hieß, im Dunkeln zu tappen. Diese Zeit war schrecklich gewesen und endlich konnte ich sie hinter mir lassen. Nun war der Moment gekommen, zu leben. Auch wenn ich Angst hatte, wieder allein zu sein. Doch das war immer noch besser, als nicht ich sein zu können.

Fest entschlossen griff ich in die Tasche meiner weißen Jeansjacke, die schon bessere Tage erlebt hatte, und zog die ID-Karte fürs Wohnheim heraus. Westflügel, Zimmer 101. Während ich auf die Karte starrte, fragte ich mich erneut, wie meine Mitbewohnerin wohl sein würde. Mir wurde ein wenig flau im Magen, wenn ich daran dachte, dass es jemand sein könnte, der oberflächlich war. Natürlich hätte ich der Ungewissheit entgehen können, indem ich mir eine Wohnung in der Nähe des Campus‘ genommen hätte. Der Gedanke, in ein Wohnheim zu ziehen, erschien mir jedoch angebrachter, um meine Tage nicht in Einsamkeit zu fristen.

Mit einem Kopfschütteln vertrieb ich die negativen Gedanken aus meinem Kopf und holte die Koffer aus dem Wagen. Mein Blick fiel auf die gestapelten Kartons und entlockte mir ein leichtes Lächeln. Es erinnerte mich daran, wie ich gestern Abend versucht hatte, Tetris zu spielen, damit alles in den kleinen Wagen passte?

»Brauchst du Hilfe?«

Erschrocken fuhr ich hoch und stieß mir dabei den Kopf an der Heckklappe. Ein stechender Schmerz zog von meinem Hinterkopf bis in die Schläfen. Welcher Idiot musste mich so erschrecken.

»Merde!«

Fluchend rieb ich mir die schmerzende Stelle und sah den Übeltäter mit zusammengekniffenen Augen an. Jener war einen Kopf größer als ich und sah mich schuldbewusst an.

»Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. Dachte, du könntest Hilfe gebrauchen.«

»Das könnte ich tatsächlich«, sagte ich und warf einen Blick auf die Kartons, die unter anderem vollgepackt waren mit Büchern für die Uni.

»Und wo soll das ganze Zeug hin?«

»Ich schätze, ich muss unterwegs mal nach dem Weg fragen.«

Er fing an zu lachen.

»Erstsemester, richtig?«

»Ist wohl nicht zu übersehen«, meinte ich lächelnd. »Ich bin übrigens Calla.«

»Colin. Freut mich.«

Lässig, als wären in den Kartons nur Federn, holte er zwei der Pappkisten aus dem Kofferraum. Dabei konnte ich einen kurzen Blick auf seinen knackigen Hintern erhaschen, der in verdammt engen Jeans steckte. Wenn ich ihn mir genauer ansah, war Colin ziemlich attraktiv. Mit seinen wasserstoffblonden Haaren, der eigenwilligen Frisur und dem Nasenring, der durch die Nasenscheidewand gestochen war, fiel er definitiv auf. Ein bisschen erinnerte er mich an den Sänger einer Rockband, wie ich sie von den Postern meines Bruders kannte. Ich konnte mir vorstellen, dass die meisten Mädels hier auf solche Typen standen. Welche Frau würde auch nicht von einem gut aussehenden Bad Boy träumen, der in einer Rockband spielte?

»Calla?«

Verträumt sah ich ihn an.

»Wie bitte?«

»Da steht sie neben mir und träumt mit offenen Augen, statt mir zur Hand zu gehen.«

Ein angedeutetes Lächeln umspielte dabei seine Mundwinkel und brachte mich ebenfalls zum Schmunzeln. Dafür, dass er mich gerade dabei erwischt hatte, wie ich ihn begutachtete, blieb er ziemlich gelassen. Anscheinend war er es schon von anderen Frauen gewohnt.

»Du bist eben ein gut aussehender Kerl, da darf man doch ruhig ein wenig träumen, oder etwa nicht?«

Überrascht zog er die Augenbrauen in die Höhe.

»Du gehst ja ziemlich ran, dafür, dass du mich gerade ein paar Minuten kennst.«

»Das Leben ist zu kurz, um schüchtern zu sein.«

Grinsend schloss ich den Kofferraum ab und zog mein Gepäck über den gepflasterten Platz zum Wohnheim. Ich hatte mir schon gedacht, dass Colin nicht mit so einem Spruch rechnete. Die meisten Leute hegten mir gegenüber Vorurteile, wenn sie mich sahen. Aber, dass hinter den teuren Klamotten und dem Make-up keine verwöhnte Göre steckte, vermuteten nur die wenigsten. Wahrscheinlich gehörte auch Colin zu der Sorte Mensch, die dachten, ich wäre die verzogene Prinzessin von nebenan. Aber das war ich nicht. Nie wirklich.

»Du hast 'ne ziemliche Klappe, das weißt du.«

Mit zwei Kartons auf seinen Armen hatte Colin mich eingeholt und ging neben mir her. Ich lachte.

»Du bist da nicht der Erste, der mir das sagt.«

»Sprichst du eigentlich fließend Französisch oder fluchst du nur?«

»Ich spreche es fließend, allerdings nur dann, wenn ich meine Verwandten in Frankreich besuche. Die Flüche kommen durch, wenn ich etwas gereizt bin.«

Grinsend beäugte mich Colin.

»Was ist? Was gibt es da zu grinsen?«

»Ich habe dich völlig falsch eingeschätzt.«

Abrupt blieb ich stehen und sah ihn empört an.

»Natürlich. Die kleine Prinzessin, die keine schmutzigen Wörter in den Mund nehmen darf.« Augenrollend ging ich weiter. »Meine Großeltern sind da der gleichen Meinung. Wenn es nach ihnen ginge, würde man mich ins Kloster stecken.«

Colin schüttelte lachend den Kopf.

»Du scheinst wirklich keine Prinzessin zu sein. Jedenfalls nicht, was deinen Charakter betrifft. Äußerlich aber«, kurz ließ er den Blick über meinen Körper wandern, »kommst du dem Bild einer reichen und verwöhnten Göre ziemlich nahe.«

»Wer weiß, vielleicht bin ich das ja doch.«

»War nicht böse gemeint«, sagte er entschuldigend. »Ist nur so, dass ich mit solchen Leuten oft aneinandergeraten bin.«

Ich nickte verstehend. Ich wusste, wovon er sprach. Wenn ich an die Zeit in der High School zurückdachte, fing ich an, mich zu hassen. Was war nur aus mir geworden, dass ich anderen Menschen so etwas antun konnte? Ich wusste schließlich, wie weh es tat, ausgegrenzt zu werden, wie schmerzlich die Beleidigungen und Gerüchte waren. Warum verhielt ich mich nicht besser als alle anderen? Weil ich einsam und naiv gewesen war! Weil ich dazugehören wollte.

Jeder konnte sagen, was er wollte. Dass die High School dazu da war, Fehler zu machen, erst noch den richtigen Weg zu finden und sich auszuprobieren. Mein Verhalten entschuldigte das nicht. Es würde es nicht ungeschehen machen. Ich hatte es gehasst. Dennoch hatte ich keinen Ausweg gefunden. Ich wollte nicht allein sein. Nie mehr.

»Alles in Ordnung? Ich wollte dich damit nicht verletzen.« Colins besorgte Stimme drang zu mir durch.

Lächelnd sah ich ihn an und schüttelte den Kopf, womit ich ihm stumm zeigte, dass alles in Ordnung war. Dass er sich Gedanken darüber machte, mich verletzt zu haben, ließ ihn in meinen Augen noch sympathischer werden. Er war auf mich zugekommen und hatte mir ohne Hintergedanken seine Hilfe angeboten, was nicht für jeden selbstverständlich war. Außerdem hatte er zugegeben, dass er anfangs Vorurteile gehabt hatte. Colin konnte also kein schlechter Mensch sein. Jedenfalls nicht, wenn ich meinem Gefühl vertrauen konnte.

Zudem hatte es auch etwas Gutes, dass Colin mich überfallen hatte. Mit seiner lockeren und unbeschwerten Art schaffte er es, meine Nervosität verschwinden zu lassen. Aufgeregt war ich noch immer ein wenig, meine Glieder hatten jedoch aufgehört zu zittern. Die Angst, mich falsch entschieden zu haben, war dadurch wie weggeblasen.

Ich war gespannt, welche Leute ich in den nächsten Tagen noch treffen würde. Zunächst wollte ich meine Mitbewohnerin kennenlernen und das bescherte mir immer noch ein flaues Gefühl im Magen. Wenn sie nur ansatzweise so sein würde wie Colin, dann sollten wir sicherlich keinerlei Probleme haben. Dazu brauchte ich nur ein wenig Glück.

Schweigend legten wir die letzten Meter zum Eingang zurück. Ich öffnete die Tür mit meiner ID-Karte und machte den ersten Schritt ins Foyer. Ein Schwall aufgeregter Stimmen strömte mir entgegen, von denen ich die Wortfetzen Party, Jungs und Verbindungshaus auffing. Anscheinend war das Topthema eine Party, von der ich noch nichts wusste. So sollte mein erster Tag am College also anfangen? Mit einer fürs College typischen Verbindungsparty? Ich war mir nicht sicher, ob es das Richtige war, gleich am ersten Tag dem Alkohol zu verfallen. Colin musste es meinem Gesicht angesehen haben, dass ich Bedenken hatte.

»Keine Sorge, die Veranstaltung ist nicht heute. Die Verbindungshäuser schmeißen am Wochenende eine Einführungsparty, bei der sie um Mitglieder werben.«

»Schade, dabei hatte ich mich gefreut, mich heute ordentlich betrinken zu können.«

Der Hauch von Ironie war deutlich herauszuhören, was Colin zum Lachen brachte.

»Ich mag deinen Humor.«

Ein aufrichtiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel und wärmte mein Herz. Wie konnte ich solches Glück verdienen? Dass ich an meinem ersten Tag jemanden wie Colin kennenlernen durfte. Ein Mensch, der aufrichtiger und freundlicher nicht sein konnte. Ich schwor mir, Colin niemals zu verletzen. Dass ich ihm die gleiche Aufrichtigkeit entgegenbringen würde, die er auch mir zuteilwerden ließ.

»Sagst du mir jetzt auch, wohin wir müssen? Die Kartons werden langsam schwer«, meinte er und rückte die Kisten auf seinen Armen zurecht.

»Oh und ich dachte, du bist nicht so ein Schwächling, der nach zwei Kartons schon schlappmacht.«

Colin hörte das Lächeln aus meiner Stimme heraus, weshalb er nicht böse über den Spruch war. Stattdessen ging er darauf ein.

»Mit 30 Kilo hält das kein Mann lange aus, auch keiner, der regelmäßig pumpen geht.«

»31 Kilo«, meinte ich belustigt und sah mich nach jemandem um, den ich fragen konnte. »Du weißt nicht zufällig, wo sich das Zimmer 101 befindet, oder?«

Colin zog erstaunt die Brauen nach oben.

»101? Ernsthaft?«

Ich nickte nur. Das flaue Gefühl, das die Unsicherheit mit sich brachte, wurde durch Colins Reaktion stärker.

»Was ist mit dem Zimmer?«, krächzte ich mit schwitzigen Händen, die ich an meinen Jeans abwischte.

»Ach weißt du, man sagt, dass in dem Zimmer ein Geist sein Unwesen treibt. Deshalb haben sie es bisher nie vergeben. Unerklärliche Dinge sind dort passiert«, erzählte er mit dunkler Stimme, die seinen ernsten Gesichtsausdruck unterstrich.

Ein unangenehmer Schauer lief mir über den Rücken, während ich an Geister dachte. Unbeirrt schüttelte ich den Kopf. So ein Schwachsinn! Geister gab es weder hier noch irgendwo anders.

»Kleine Kinder glauben an Geister. Das ist doch nur eine Geschichte, um den Neuen Angst einzujagen.«

»Wenn du meinst.«

Colin machte einen Schritt auf mich zu und sah mir eindringlich in die Augen. Es war schwer zu sagen, ob er die Wahrheit sprach oder mich auf den Arm nahm. Ich konnte ihn nicht durchschauen.

»Na los, ich bringe dich hin, dann kannst du dich selbst überzeugen.«

»Du verarschst mich doch gerade, oder?«

Da ich nicht einschätzen konnte, was Colin vorhatte, folgte ich ihm nur langsam. Er führte mich einen schmalen Korridor entlang, dessen Wände cremefarben gestrichen waren. Hin und wieder blieb er stehen, um sich mit den Bewohnern zu unterhalten. Viele fragten, wie es ihm ginge, wie er die Semesterferien verbracht und wann er mal wieder einen Auftritt hatte. So wie es den Anschein machte, war Colin kein Unbekannter am College. Ich fragte mich insgeheim, ob ich mit meiner Vermutung, er würde in einer Band spielen, vielleicht sogar Recht hatte. Es würde zumindest erklären, warum ihn im Wohnheim so viele kannten.

Gerade als ich ihn danach fragen wollte, blieb er vor einer Tür stehen, die mit einem schwarzen Totenkopfposter versehen war. Mit seinem rechten Fuß stieß er gegen die Tür, welche sich daraufhin wie von Geisterhand einen Spalt öffnete. Ohne zu zögern, lehnte er sich dagegen und trat in ein geräumiges Wohnheimzimmer.

»Darf ich vorstellen, der Geist von Zimmer 101.«

»Ich gebe dir gleich Geist! Was hast du überhaupt hier zu suchen?«

Noch bevor Colin ein Kissen im Gesicht treffen konnte, wich er einen Schritt zur Seite, sodass es an der Wand im Flur landete. Vorsichtig lugte ich um die Ecke, um einen Blick ins Zimmer und auf meine Mitbewohnerin zu erhaschen. Diese bedachte mich mit einem neugierigen Gesichtsausdruck.

»Nanu, bist du meine neue Sklavin?«

»Sklavin? Wohl eher Opfer«, mischte sich Colin ein, während er die Kartons auf dem freien Bett abstellte und sicherheitshalber in Deckung ging.

Meine neue Mitbewohnerin bedachte ihn mit einem Blick aus zusammengekniffenen Augen.

»Wenn du nicht gleich still bist, endest du auf dem Opfertisch.«

»Habt Erbarmen«, flehend fiel Colin auf die Knie. »Ich tu alles, nur lasst mich leben.«

Noch immer stand ich in der Tür und betrachtete das Schauspiel mit einem Lächeln. Man sah den beiden an, dass sie Spaß machten und sich eigentlich gut verstanden.

»Du kannst Colin nicht opfern. Er hat sich mir schon verpflichtet«, scherzte ich.

Überrascht sah mich die Schwarzhaarige mit dem geraden Pony an.

»So? Hat er das?« Prüfend warf sie einen Blick auf Colin, der tatkräftig nickte, um meine Aussage zu bestätigen.

»Da kann man wohl nichts machen«, seufzend wandte sie sich mir zu. »Ich bin Dana, und auch wenn Colin der Auffassung ist, ich würde Opfer darbringen, glaube dem bloß nichts.«

»Schade«, meinte ich. »Ich war noch nie bei einem Opferritual dabei.«

Dana sah erst Colin an, dann mich. Ihr stand die Verwunderung deutlich ins Gesicht geschrieben, als sie ihn leise fragte, ob ich das ernst meinte.

»Nur ein Scherz«, erwiderte ich belustigt. »Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Calla.«

»Mann, ich dachte schon, du meinst das ernst.« Sichtlich froh darüber, dass ich nur Spaß gemacht hatte, musste auch Dana darüber lachen. »Ich denke, wir werden sicher gut miteinander auskommen.«

»Na Klasse! Jetzt muss ich mit zwei von der Sorte auskommen«, kam es von Colin, der dafür einen strengen Blick erntete. »Was denn? Immerhin kannst du froh sein, dass sie nicht so 'ne Tussi ist.«

»Da hat er Recht«, stimmte Dana zu. »Aber ich muss ehrlich zugeben, dass ich es im ersten Moment gedacht habe. Sorry, Calla.«

Ich tat es mit einem Kopfschütteln ab. Ich war es ja schon gewohnt, dass man mich in die falsche Schublade steckte.

»Jeder Mensch hat Vorurteile. Der Unterschied liegt darin, ob man ihnen Glauben schenkt, oder die Person kennenlernt.«

»Wahre Worte«, meinte Colin und erhob sich vom Fußboden. »Sag mal, Calla, brauchst du mich noch oder bin ich entlassen?«

»Geh nur. Du hast mir schon genug geholfen. Und danke«, antwortete ich lächelnd.

»Ach, komm schon. Du kannst Calla ihre Kartons nicht alle allein schleppen lassen«, mischte sich Dana ein.

Colin, der schon in der Tür stand, drehte sich zu ihr um.

»Dafür hat sie doch dich. Außerdem habe ich einen wichtigen Termin.«

Augenrollend sah sie Colin an.

»Du und einen wichtigen Termin? Dass ich nicht lache. Du willst doch nur zu Gabe und mit ihm rumschieben.«

In dem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Anfangs hatte ich gedacht, ich wäre einfach nicht Colins Typ und er deshalb nicht auf meinen Spruch eingegangen war.

»Moment mal, du stehst auf Männer?«

Entschuldigend, als wäre das nicht offensichtlich gewesen, sah er mich an.

»Sorry, Kleines, aber ich muss dich enttäuschen. Aus uns wird nichts. Auch wenn du wirklich 'n hübsches Ding bist.«

»Du hast ihn nicht wirklich angebaggert, oder?« An Danas zuckenden Mundwinkeln erkannte ich, dass sie sich das Lachen verkneifen musste.

»Oh mein Gott. Nein! Natürlich nicht. Das vorhin war nur so dahergesagt«, rechtfertigte ich mich und hob abwehrend die Hände.

Beide fingen an zu lachen.

»Bleib locker. Wir machen doch nur Spaß«, platzte es lachend aus meiner Mitbewohnerin heraus. »Und du«, sie warf Colin einen strengen Blick zu, »komm ja nicht zu spät zur Probe.«

Die Fingerspitzen seiner rechten Hand an die Stirn gelehnt, stand Colin übertrieben aufrecht in der Tür.

»Aye, aye, Ma'am!«

»So ein Spinner!«

Nachdem Colin verschwunden war, wandte sich Dana mir zu.

»Na los, holen wir deine restlichen Sachen.«

Zwei

Laut dröhnte Lady Gaga aus den kleinen Boxen meines Laptops, als ich am nächsten Morgen meine Koffer ausräumte. Ich liebte diese Frau. Jedes Mal, wenn ich sie hörte, bewegte sich mein Körper von selbst, sodass ich nun tanzend die Kleidung im Schrank verstaute. Ich konnte von Glück reden, meinen eigenen Kleiderschrank zu besitzen, auch wenn er nicht sehr groß war und nur ein Teil meiner Kleidung hineinpasste.

Es gab aber noch zusätzlichen Stauraum durch die Schubladen unter meinem Bett, welches sich gegenüber von Danas befand. Im Großen und Ganzen konnte ich zufrieden mit meinem Zimmer sein. Es hätte mich wesentlich schlechter treffen können. In einer Sardinendose zu wohnen, zum Beispiel, eingequetscht zwischen Bett und Schreibtisch, in der man kaum noch Luft zum Atmen hatte.

Mit dem nächsten Kleidungsstück, das ich aus dem pinkfarbenen Koffer holte, begann der nächste Song. Obwohl ich absolut unmusikalisch war, konnte ich es nicht lassen, meine Lieblingslieder mitzusingen. Leider waren die schiefen Töne alles andere als Balsam für die Ohren meiner Mitmenschen. Das störte mich jedoch wenig. Es ging mir gut, wenn ich Musik hörte. Die Welt um mich herum verschwand aus meinem Blickfeld und mit ihr die nervigen Gedanken. Während ich weiter meine Koffer auspackte und die Songs lauthals mitsang, wäre mir beinahe das Klingeln meines Laptops entgangen. So schnell wie möglich versuchte ich, zum Bett zu gelangen. Dabei musste ich den am Boden verstreuten Gegenständen ausweichen, weshalb ich nur hüpfend durchs Zimmer gelangte.

Ich hatte es gerade zum Bett geschafft, als das blöde Ding aufhörte zu klingeln. Wie sich herausstellte, hatte ich gerade einen Videoanruf von meiner Mutter verpasst. Fluchend, wie immer auf Französisch, ließ ich mich auf die Tagesdecke fallen. Ich machte die Musik aus und klickte auf den Anrufbutton.

»Guten Morgen, mein Schatz«, begrüßte sie mich mit strahlendem Lächeln, das kleine Grübchen um ihre Mundwinkel hervorrief. Wie immer waren ihre Lippen perfekt dunkelrot geschminkt, was ihre weißen Zähne hervorhob.

Sofort erwiderte ich ihr Lächeln. Wie konnte ich es auch nicht? Sie war immerhin meine Mutter und hatte in den vergangenen Jahren einiges durchmachen müssen. Ich machte mir immer noch Vorwürfe, dass ich meinen Eltern so viele Sorgen bereitet hatte, statt ihnen ein paar mehr der glücklichen Erinnerungen zu schenken. Genau wie ich bemühten sie sich nun, nach vorn zu schauen. Das Lächeln, das sie mir jeden Morgen schenkten, war der Anfang gewesen. Ich wusste, sie liebten mich und würden mir nie Vorwürfe machen. Schließlich war es nicht meine Schuld gewesen, was damals geschah.

»Schätzchen, du siehst müde aus.« Die Stimme meiner Mutter holte mich aus den trüben Gedanken. »Hast du nicht gut geschlafen?«

Ich schüttelte sachte den Kopf, um sie zu beruhigen.

»Ich habe geschlafen wie ein Stein. Mach dir keine Sorgen, es geht mir gut, Mom.«

»Hast du denn auch was Schönes geträumt?«, fragte mein Vater, dessen Stimme ich außerhalb des Bildschirms vernehmen konnte. »Denk daran: Alles, was du in der ersten Nacht träumst, wird wahr.«

»Was treibt Dad schon wieder, dass er nicht im Bild ist?«

»Ach, du kennst doch deinen Vater. Er hat bis spät in die Nacht gearbeitet und braucht jetzt seine tägliche Dosis Koffein.«

Kurz wandte sie das Gesicht vom Bildschirm ab und schenkte meinem Vater ein liebevolles Lächeln. Es veranlasste ihn dazu, zu meiner Mutter zu kommen und ihr einen Kuss aufs Haar zu drücken. Mir wurde jedes Mal richtig warm ums Herz, wenn ich meine Eltern auf diese Weise sah. Nach so vielen Jahren Ehe und zwei erwachsenen Kindern waren sie immer noch unzertrennlich und verliebt wie am ersten Tag. Insgeheim wünschte ich mir ebenfalls eine solche Zukunft. Mit einem Mann, der mich bedingungslos liebte, so lange, bis ich von der Erde verschwand.

»Also, Töchterchen, hast du schon jemanden kennengelernt? Vielleicht unseren Schwiegersohn?«, wollte mein Vater mit einem breiten Grinsen wissen.

»Nein, den nicht. Es sei denn, er entscheidet sich dafür, doch noch auf Frauen zu stehen«, erwiderte ich und spielte mit den Kopfhörern, die neben mir auf dem Bett lagen.

»Das heißt, du hast schon ein paar Leute kennengelernt? Deine Mitbewohnerin auch? Wie ist sie so? Kommt ihr gut miteinander aus?«, fragte meine Mutter, ohne Luft zu holen.

So und nicht anders kannte ich sie. Sie war neugierig und wollte immer alles wissen. Da hatte sie es bei mir nie leicht gehabt, als ich noch auf der High School war. Ich hatte ihr nie erzählt, was mich beschäftigte. Stattdessen hatte ich sie nach Strich und Faden belogen, damit sie sich keine Sorgen machen musste. So etwas hatten sie nicht verdient. Keiner von beiden.

Neugierig funkelten mich ihre Augen an, die darauf aus waren, jedes noch so unwichtige Detail zu erfahren. Schmunzelnd, weil ich es schon von ihr kannte, warf ich einen Blick zu meinem Vater. Jener erwiderte mit einem leichten Nicken meine stumme Frage. Meine Mutter würde erst Ruhe geben, wenn ich ihr alles haargenau erzählt hatte. Also berichtete ich ihr, wie ich Colin kennengelernt hatte, dass er in einer Band spielte und auf Männer stand, wie auch, dass er mir beim Tragen der Kartons geholfen hatte.

»Das klingt nach einem sehr netten jungen Mann«, stellte mein Vater lächelnd fest.

Ich liebte sein Lächeln und vermisste es jetzt schon. Immer wenn ich traurig war, hatte mein Vater mich aufmuntern können. Dafür musste er nicht einmal viel tun. Seine Grübchen und die kleinen Falten um die Augen reichten dafür normalerweise aus.

»Und du bist dir auch ganz sicher, dass er auf Männer steht?« Die Neugierde in der Stimme meiner Mutter war dabei nicht zu überhören.

»Definitiv. Er hat es mir selbst gesagt.«

Seufzend lehnte sich meine Mutter zurück, woraufhin mein Vater ihr sanft über die Schultern strich.

»Schatz, Calla ist doch noch am Anfang ihres Lebens. Sie wird dir schon noch einen Enkel schenken.«

»Na, das will ich auch hoffen! Bei Daniel ist ja bereits Hopfen und Malz verloren. Der hat nur seine Arbeit im Kopf.«

Es war meiner Mutter anzusehen, dass sie sich von Daniel einen Enkel wünschte. Aber das würde in naher Zukunft wohl nicht der Fall sein. Daniel liebte seine Arbeit heiß und innig. Da blieb keine Zeit für eine Beziehung. Allerdings wusste ich auch, dass er das gar nicht wollte. Er hatte sich dafür entschieden, nach Südfrankreich zu gehen, um ein großer Wissenschaftler zu werden. Das Wichtigste war in meinen Augen, dass er glücklich damit wurde. Und das war er mit seiner Entscheidung. Das allein sollte doch Grund genug sein, meine Eltern glücklich zu machen.

Meine Mutter hegte jedoch den Traum von einer großen Familie, da sie selbst keine Geschwister und ihre Eltern schon früh verloren hatte. Jetzt blieb natürlich alles an mir hängen. Ich wusste aber, dass meine Mutter nachsichtig bleiben würde. Dass sie es verstand, wenn ich vorerst mein wiedergewonnenes Leben in allen Zügen genießen wollte. Mein Vater hatte Recht, ich war noch jung. Kinder würde ich immer noch kriegen können, wenn mir der Richtige über den Weg lief. Im Moment stand das aber ganz hinten auf meiner Liste von Dingen, die ich tun wollte.

Mitten in unserem Gespräch ging die Zimmertür auf und Dana kam hereingeschneit. Fragend schaute ich sie an, da sie eigentlich schon längst unterwegs zu ihrer Campusführung sein wollte.

»Sorry, ich wollte nicht stören«, entschuldigte sie sich. »Ich bin auch gleich wieder weg. Hab nur was vergessen.«

»Schatz, ist das deine Mitbewohnerin?«, schaltete sich sogleich meine Mutter in das Gespräch ein. Wie schon vorhin kam mir ihre Neugierde in die Quere.

»Telefonierst du mit deiner Mom?«, wollte Dana wissen, während sie sich nebenbei über ihr Bett lehnte und sich ein Buch aus dem Regal schnappte.

»Ja. Du weißt doch: Allgemeiner Kontrollanruf«, scherzte ich.

»Werde nicht frech, Kleines«, kam es aus den Lautsprechern meines Notebooks von meinem Vater.

Er versuchte immer wieder, streng rüberzukommen, was am Ende doch nicht so ernst klang. Kurzerhand kam Dana zu mir herüber und winkte in die Kamera, um meinen Eltern ›Hallo‹ zu sagen.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. und Mrs. Devereux. Ich werde schon auf Ihre Tochter aufpassen, machen Sie sich also keine Sorgen.«

Statt meine Mutter antwortete mein Vater:

»Das ist sehr nett von dir. Danke ...«

Hilfesuchend, weil Dana ihren Namen nicht genannt hatte, sah mein Vater mich an.

»Dana«, sprach ich ihren Namen lautlos aus und half ihm damit auf die Sprünge.

»Danke sehr, Dana«, meldete sich nun auch meine Mutter zu Wort. »Vielleicht möchtest du uns in den Semesterferien mal mit Calla zusammen besuchen kommen.«

»Das ist sehr nett von Ihnen. Ich werde über das Angebot nachdenken. Sie entschuldigen mich, ich muss leider los.«

Ehe meine Eltern sich verabschieden konnten, war Dana aus ihrem Blickfeld verschwunden. An der Tür blieb sie kurz stehen.

»Wir sehen uns dann später.«

»Sie scheint ein nettes Mädchen zu sein. Allerdings trägt sie mir ein wenig zu viel Schwarz«, äußerte sich meine Mutter zu Danas Kleidungsstil.

»Na ja, sie gehört einer Sekte an und treibt sich nachts auf Friedhöfen herum. Da sind schwarze Klamotten so üblich«, eröffnete ich ihr so locker wie möglich.

Während meinem Vater der sarkastische Ton nicht entgangen war, hatte meine Mutter nur einen Blick des Entsetzens für mich übrig. Nachdem sich allerdings die Grübchen um die Mundwinkel meines Vaters bemerkbar machten, konnte ich nicht länger an mich halten und prustete los.

»Entschuldige, Mom, aber man kann dich zu leicht auf den Arm nehmen«, brachte ich gerade so zwischen zwei Lachern hervor.

Gespielt beleidigt verschränkte sie die Arme vor der Brust.

»Also wirklich! Das hast du eindeutig von deinem Vater. Der hat auch immer seine Späßchen mit mir gemacht«, schimpfte sie in einem weniger ernsten Ton. Ihr Blick wurde aber umgehend liebevoller. »Jedoch freut es mich – uns – zu sehen, dass du dich gut eingelebt hast und dich mit deiner Mitbewohnerin verstehst.«

Ich nickte.

»Ich denke, ich werde hier eine ganz tolle Zeit haben. Allerdings muss ich auch gleich los. Ich wollte mich noch ein wenig umsehen, bevor nächste Woche keine Zeit mehr dafür bleibt.«

»Hast du heute noch keinen Unterricht?« Mein Vater wirkte verwundert.

»Nein«, antwortete ich mit einem Kopfschütteln, »der geht nächste Woche erst los. In den nächsten Tagen geben sie die Einführungskurse.«

»Dann wünschen wir dir ganz viel Spaß und melde dich zwischendurch«, verdeutlichte meine Mutter, damit ich es auch ja nicht vergaß.

Ich schüttelte nur den Kopf und verabschiedete mich von den beiden. Natürlich würden sie mir fehlen, aber ich hatte es ihnen schon vor meiner Abreise deutlich gemacht, dass ich mich nicht jeden Tag melden würde. Wenn die Vorlesungen begonnen hatten, würde nicht mehr viel Zeit dafür bleiben. Hätte ich ihnen das Versprechen nicht gegeben, mich am Wochenende einmal kurz zu melden, wären sie wohl gar nicht erst einverstanden gewesen, mich gehen zu lassen.

Seufzend schnappte ich mir meine Tasche und verließ damit das Zimmer. Bereits auf dem Weg aus dem Wohnheim stöpselte ich die Kopfhörer in mein Handy, damit die Welt um mich herum wieder in Musik versank. Den Impuls unterdrückend laut zu singen, ging ich draußen summend den gepflasterten Weg entlang. Zu beiden Seiten wurde er von hohen Bäumen gesäumt, die bereits ihr rotes Kleid angelegt hatten. Ich liebte den Herbst mit all seinen Facetten. Von dem einen auf den anderen Moment konnte er mystisch und geheimnisvoll sein und dann war er mit all seinen Farben wie das schönste Bild eines Malers. Heute war einer dieser Tage, an denen alles leuchtete und in ein warmes Rotgold getaucht war. Am liebsten hätte ich die Einführungskurse geschwänzt, mich auf eine Bank gesetzt und die wohltuenden Strahlen der Sonne genossen. Ich war jedoch nicht hier, um zu faulenzen, sondern um zu studieren.

Ich hatte mir ein hohes Ziel gesteckt, das ich seit meinem 14. Lebensjahr verfolgte. Allerdings hatte ich dafür einiges tun müssen. Deshalb war ich auch manchmal kurz davor gewesen, aufzugeben. Doch dann rief ich mir die Worte meines Bruders in Erinnerung.

Wenn du fällst, dann steh auf. Schau nicht zurück, sondern auf das, was vor dir liegt.

Und genau das tat ich. Ich behielt immer im Blick, was ich erreichen wollte. Und würde man mir noch so große Steine in den Weg legen, ich würde sie überwinden.

Ich setzte den Weg fort und suchte in meiner Tasche nach der Broschüre, auf der die Gebäude abgebildet waren. Natürlich hätte ich es viel bequemer haben können, wenn ich eine Führung mitgemacht hätte, aber ich wollte den Campus lieber auf eigene Faust erkunden. Zumal mir die Wege so besser im Gedächtnis bleiben würden. Die Gebäude auf dem Campus waren dem Wohnheim sehr ähnlich. Auch sie hatte man aus rotem Ziegel erbaut und die Eingänge zierten riesige Säulen, die das Vordach stützten.

Das Ganze erinnerte mich ein wenig an die römischen Tempel mit ihren weißen Säulen aus Marmor, die aus längst vergessenen Zeiten stammten. Als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, war ich wie erschlagen von den mächtigen Obelisken gewesen, die über zwei Stockwerke reichten. Das Hauptgebäude, in dem sich die Verwaltung befand, stach dabei besonders heraus. Ähnlich war es auch bei der Bibliothek, die ich mir noch immer nicht von innen angesehen hatte.

Es würde sich mir bald schon eine Möglichkeit bieten, die Bibliothek zu besuchen. Zum Beispiel, wenn ich zum ersten Mal in meinen Hausarbeiten erstickte. Zunächst musste ich das Gebäude finden, in dem meine Vorlesungen gehalten wurden. Den Blick auf den Lageplan gerichtet, ging ich langsam über den Campus. Immer wieder sah ich auf, nur um festzustellen, dass ich ganz woanders gelandet war. Frustriert, weil ich schon seit zwanzig Minuten das Gebäude F suchte, fluchte ich leise vor mich hin.

»Irgendwo hier muss es doch sein«, murmelte ich, während ich die Treppe hochging und die Karte auf die Seite drehte.

Das half leider auch nichts, um daraus schlau zu werden. Ich war zu vertieft in den Plan, weshalb ich nicht wirklich auf den Weg achtete. Die Stufen vor mir hatte ich zwar im Blick, aber nicht die Person, die ganz plötzlich vor mir auftauchte. Mit dem Kopf zuerst machte ich Bekanntschaft mit etwas mir Undefinierbarem. Völlig perplex, was mir da in den Weg gehüpft war, sah ich auf, direkt in die verdutzte Miene meines Gegenübers.

»Tut mir leid«, murmelte ich und nahm die Kopfhörer aus den Ohren. »Ich ... Ich habe nicht darauf geachtet, wo ich hinlaufe.«

»Das habe ich gemerkt.«

Beim Klang seiner Stimme musste ich unwillkürlich schlucken. Sie hatte etwas derart Kratziges an sich, was mich an ein Reibeisen erinnerte. Es jagte mir einen wohligen Schauer über den Rücken. Zudem konnte ich nicht den Blick von seinen grauen Augen wenden, die je nach Lichteinfall bläulich schimmerten. Diese Augen. Irgendwie kamen sie mir bekannt vor. Ich war mir nahezu sicher, sie schon einmal gesehen zu haben, konnte mich jedoch nicht erinnern, was bei diesem Blick gar unmöglich schien.

»Mach ein Foto, Prinzessin.«