Himmelsbild und Weltanschauung im Wandel der Zeiten - Troel F. Troels-Lund - E-Book

Himmelsbild und Weltanschauung im Wandel der Zeiten E-Book

Troel F. Troels-Lund

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Beschreibung

In vorliegendem Buche will ich mich auf eine andere Aufgabe einlassen, welche wichtiger und schwieriger als jene ist. Ich will suchen darüber klar zu werden, in welcher Beleuchtung sich den Menschen jener Zeit das Leben zeigte, welcher Farbenton damals über allen Verhältnissen, über der Lebenstätigkeit selbst lag. Es geschieht, soviel mir bekannt, zum erstenmal, dass ein solcher Versuch gemacht wird. Die Untersuchung hat nicht nur lokales, sondern auch allgemein menschliches Interesse. Wenn ich recht habe, diese Aufgabe zu stellen, und wenn mein Verfahren bei ihrer Lösung richtig ist, so wird eine Erweiterung des kulturgeschichtlichen Gebietes und eine Vereinfachung seiner Behandlungsweise die Folge werden können.

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Himmelsbild und Weltanschauung im Wandel der Zeiten

 

 

Troels F. Troels-Lund

 

 

 

 

Verlag Heliakon

 

2024 © Verlag Heliakon

Umschlaggestaltung: Verlag Heliakon

 

Titelbild: Pixabay (SGND)

 

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

 

www.verlag-heliakon.de

[email protected]

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Einleitung

Entstehung der Bestandteile der Weltanschauung des 16. Jahrhunderts

Mischung der Bestandteile der Weltanschauung des 16. Jahrhunderts

Auflösung und Neubildung in der Neuzeit

 

 

 

Einleitung

In einer Reihe früherer Schriften habe ich zu zeigen versucht, wie die Generationen, welche im 16. Jahrhundert in den drei nordischen Reichen lebten, zur Welt kamen, wohnten, sich kleideten, aßen und tranken, sich verheirateten und in der Ehe lebten. Nur eine von diesen Schriften („Das tägliche Leben in Skandinavien während des sechzehnten Jahrhunderts“, Kopenhagen 1882) ist auch in deutscher Ausgabe erschienen. In vorliegendem Buche will ich mich auf eine andere Aufgabe einlassen, welche wichtiger und schwieriger als jene ist. Ich will suchen darüber klar zu werden, in welcher Beleuchtung sich den Menschen jener Zeit das Leben zeigte, welcher Farbenton damals über allen Verhältnissen, über der Lebenstätigkeit selbst lag. Es geschieht, soviel mir bekannt, zum erstenmal, dass ein solcher Versuch gemacht wird. Die Untersuchung hat nicht nur lokales, sondern auch allgemein menschliches Interesse. Wenn ich recht habe diese Aufgabe zu stellen, und wenn mein Verfahren bei ihrer Lösung richtig ist, so wird eine Erweiterung des kulturgeschichtlichen Gebietes und eine Vereinfachung seiner Behandlungsweise die Folge werden können. Daher lege ich diese Untersuchung nicht nur meinen Landsleuten sondern auch deutschen Lesern vor.

Es ist schon schwierig, die Aufgabe klar auszudrücken. Aber unmittelbar empfindet jeder, welcher selbst eine Entwicklung durchgemacht hat, dass, unabhängig von den äußeren Verhältnissen an und für sich, zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene Beleuchtung über ihnen liegt, welche ein und dasselbe Ding zu etwas weit Verschiedenem macht. Wie dieselbe Gegend sich verschieden ausnimmt bei Tage und bei Nacht oder von demselben Individuum in verschiedenem Alter gesehen, so sehen auch die verschiedenen Geschlechter ein und dasselbe Ding sehr verschieden an. In diesem Unterschiede beruht der tiefste Inhalt der Geschichte. Außen herumgehen und sich nur an die äußeren handgreiflichen Veränderungen halten, das heißt sich mit einem geringeren Grad von Verständnis begnügen. Denn wir wissen alle von uns selbst, dass die gegebenen Verhältnisse jedesmal gerade in der Beleuchtung ihre eigentliche, ihren inneren Wert bestimmende Erklärung finden.

Dieses flüchtige Öl der Geschichte ist also das Wechselspiel zwischen jeder Generation und ihren äußeren Verhältnissen, der Duft und die Farbe, welche über diesen für die Zeit selbst lagen, während sie noch lebendig waren, ehe sie getrocknet und gepreßt in das Herbarium der Geschichte gepackt wurden. Man könnte suchen, sich dies durch eine Betrachtung dessen wiedervorzustellen, was noch aus jener Zeit erhalten ist, die Stimmung zu empfinden, welche Zimmer, Hausrat usw. von damals bewirken. Aber wie unvollkommen etwas derartiges sein würde, weiß jeder, der damit vertraut ist, wie individuell die Stimmung ist. Das Gesehene hängt von den Augen ab, welche sehen. Und wir wünschen ja gerade zu wissen, wie jene Zeit sah, nicht wie wir sehen.

Eine Zukunft wird unserem Geschlecht gegenüber ein Hilfsmittel in unserer Literatur haben. Aus den heutigen Romanen, Gedichten, erbaulichen, populären, wissenschaftlichen Schriften wirdeinmal ein fremdes aber verständnisvolles Ohr einen Grundtonausscheiden können, welcher der Zeit gemeinsam war und darum einen Fingerzeig wird geben können. Aber das 16. Jahrhundert war nicht literarisch im Sinne des unserigen. Nur in geringem Grade und höchst unvollkommen sprach es seine Gedanken und Stimmungen im Druck aus. Und hierzu kommt ein zweites, noch entschiedeneres Hindernis. Mit dem 16. Jahrhundert wurde ein von dem unserigen weit verschiedener Gedankengang abgeschlossen; ein Jahrtausende alter Abschnitt der menschlichen Entwicklungsgeschichte, welchem die Gegenwart kalt, fremd und verständnislos gegenübersteht, war zu Ende. Selbst wenn man daran denken könnte, literarische Stimmungsproben aus jener Zeit aufzufischen, ist die größte Wahrscheinlichkeit vorhanden, dass die Gegenwart sie nicht würde richtig deuten können. Es würde mit ihnen wie jenen Tiefseefischen gehen, welche, unter einem bestimmten atmosphärischen Drucke heimisch, sich, wenn sie heraufgezogen werden, in unheimliche Karikaturen ihrer selbst verwandeln, weil ihre an einen schwereren Luftdruck gewöhnte Schwimmblase während des Hinaufziehens das Tier auseinandertreibt.

So wie die Verhältnisse liegen, lässt sich das, was wir in Bezug aus das 16. Jahrhundert suchen, nicht von oben greifen. Dazu fehlt es jener Zeit zu sehr am Ausdruck, unserer Zeit zu sehr an sympathischem Verständnis.

Wie jedes Gewächs lässt sich die Lebensanschauung jener Zeit nur fassen, wenn man sie von unten nach oben verfolgt durch eine Untersuchung, warum und wie sie entstanden ist. Wie Pflanzen sind diese Gefühle und Stimmungen in Jahrtausenden vom Boden aufgeschossen, haben, vom Gedankengang vieler Geschlechter getragen, Form angenommen und nicht nur aus gleichzeitigen, sondern auch aus vergangenen Eindrücken Nahrung gezogen. Wie Pflanzen werden sie nur in ihrer Ganzheit erkannt, nicht an den abgerissenen Kopfenden.

Der Weg zum Verständnisse, welcher hierdurch gewiesen wird, scheint noch weniger gangbar als der frühere. Um die Stimmung des 16. Jahrhunderts zu verstehen, sollen wir nicht ihre Ausdrucksweise unserer Zeit abstreifen, sondern wir sollen ihr Wachstum von Grund auf verfolgen, d. h. vom Morgen der Zeiten an durch alle Zeitalter. Weil es zu schwierig ist drei Jahrhunderte hinabzusteigen, sollen wir also viele Jahrtausende tiefer steigen.

So betrachtet ist die Aufgabe natürlich unlösbar. Aber mit starkem Abzug sind» soweit es sich überhaupt aus diesem Weg erwarten lässt, doch einzelne Antworten erreichbar, gewisse allgemeine Aufklärungen nicht ausgeschlossen. Wo es gilt so große Tiefen zu messen, muss man mit langen Leinen und Spielraum für das Unsichere rechnen.

Ehe wir uns hinaus wagen, wollen wir uns darum klar werden, was wir zu wissen wünschen, und in welchem Grade dies erreichbar ist.

Worauf wir eine Antwort wünschen, das ist die Frage: Wie nahm sich im Norden das Leben für die Generationen des 16. Jahrhunderts aus? In welchem Lichte zeigte sich die ganze Umgebung, große und kleine Begebenheiten: Wohnstube, Mahlzeiten, tägliche Arbeit, Werktag und Feiertag, Zerstreuungen, Unglücksfälle, Gesundheit, Leben und Tod? Nicht für den einzelnen, den Gelehrten, den Gebildeten, oder nur für den Alten im Gegensatz zu dem Jungen, sondern wie erschien ein und dasselbe Ding in größerer oder geringerer Klarheit für alle? Und insoweit dieser gemeinsame Farbenschimmer des Zeitalters sich als verschieden von unserem erweisen muss, wie war er dann? einfach oder wie die grüne Farbe aus lauter blau und gelb zusammengesetzt? Wie war er entstanden, ausgewachsen durch die Zeiten« und warum musste er aufhören und dem einer späteren Zeit platz machen?

Volle Antwort hierauf können wir, wie gesagt, nicht erwarten, sondern indem wir eine ungewohnte wenn auch höchst berechtigte Frage stellen, müssen wir uns mit passenden Mitteln ausrüsten, um die Antwort zu erreichen. Wo es gilt, die Antwort aus so großen Tiefen abzulesen und ein Wachstum von ganz unten nach oben zu verfolgen, müssen wir die Beantwortung erleichtern, indem wir die Frage selbst in ihre einfachste Form auflösen.

Im Einklang hiermit wagen wir also den Versuch, die menschliche Natur und ihre Entwicklungsgeschichte unter einfacheren Formen als bisher anzusehen. Und indem wir diese Einleitung. durch die Zeiten hinab verfolgen, suchen wir an den großen Zügen die Stufenreihe der Stimmungen abzulauschen, den Barometerstand der Stimmung abzulesen, welcher dem Druck der Auffassungen und ihrer Voraussetzungen entsprochen haben muss.

Wir gehen hierbei davon aus, dass die Empfänglichkeit für Lichteindrücke und das Ortsgefühl die beiden ursprünglichsten und tiefstliegenden Äußerungsformen der menschlichen Intelligenz sind. Auf diesen beiden Wegen geht die wesentlichste geistige Entwicklung des einzelnen und des Geschlechtes vor sich. Von hier aus sind jederzeit die drei großen Fragen beantwortet worden, welche das Dasein selbst jedem von uns stellt: Wo bist du? Was bist du? Was sollst du tun?

Mit anderen Worten: für jeden Bewohner der nicht selbst leuchtenden Kugel, der Erde, ist das Wechselspiel zwischen Licht und Dunkel, Tag und Nacht der früheste Impuls und das letzte Ziel seines Denkvermögens. Nicht nur unsere Erde, sondern wir selbst, unser eigenes geistiges Ich, von unserem ersten Blinzeln vor dem Licht an bis zu unseren höchsten religiösen und moralischen Gefühlen, sind sonnengeboren und sonnengenährt. Die Sonne scheint durch unsere Rede von dem Gott des Lichtes und der Wärme der Liebe. Die fortschreitende Auffassung des Unterschiedes von Tag und Nacht, Licht und Dunkel ist der innerste Nerv aller menschlichen Kulturentwicklung.

Und ein entscheidender Faktor in dieser Entwicklung sowohl, als auch ein richtiger Weiser ihres Ganges ist das bei den einzelnen verschiedene Gefühl für den Ort. Nicht nur die unmittelbaren Empfindungen, welche dem Flecken Erde entsprechen und entstammen, wo ein jeder aufgewachsen ist, sondern zugleich die hierauf gebauten Vorstellungsformen und Schlüsse. Die deutlichste Äußerung aller Arten des Ortsgefühls ist die Bestimmung des Abstandes. Und der weiteste Abstand, mit welchem der Mensch zu rechnen hat, ist der zwischen Himmel und Erde. In den zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Bestimmungen der Entfernung zwischen Himmel und Erde haben wir den am leichtesten lesbaren Maßstab für ihre geistige Entwicklung, ihre verschiedene Lebensansicht Denn zwischen dem Kind, das nach dem Monde greift, und dem Erwachsenen, der seine Bahn kennt, liegt die bisherige Entwicklung der Menschheit. Und jeder bedeutenden Änderung der moralischen und religiösen Lebensanschauung liegt mehr oder minder bewusst eine Änderung in der Bestimmung des Abstandes zwischen Himmel und Erde zugrunde. Nur wird der Abstand hier nicht immer in Längenmaß ausgedrückt, sondern weit häufiger in bildlicher Form.

Unsere Mittel und Maßstabe sind die menschlichen Lichteindrücke und Abstandsbestimmungen. Unser Verfahren ist, die Kulturentwicklung soweit als möglich zurück zu verfolgen und beständig die Antworten aus dieselben Fragen zu suchen: Wie ist die Naturumgebung und besonders das Sonnenverhältnis auf dem Fleck Erde gewesen, von welchem die Rede ist? Wie hat man darum hier das Verhältnis zwischen Tag und Nacht, Licht und Dunkel aufgefasst? Und welchen Abstand und welche Wechselwirkung hat man im Einklang hiermit zwischen Himmel und Erde angenommen? Unser Ziel ist es auf diesem Wege einigermaßen zuverlässige Angaben über die breiten Lebensstimmungen in ihrem Wachstum zu finden.

Wie unvollkommen und beschränkt auch die Ausbeute sein mag, welche auf diesem Wege erreichbar ist, so scheint der Weg selbst der einzig gangbare zu sein. Denn die Lebensbeleuchtung, deren historische Entwicklung wir zu verfolgen suchen, ist ja doch nicht eine Summe von willkürlichen Schimmern, sondern das Wechselspiel zwischen Himmelslicht und Menschensinn selbst. Es ist das Spiegelbild in diesem, welches den Widerschein der Stimmungen erzeugt. Und wie im menschlichen Wohnhaus eine Entwicklung des Fensters stattgefunden hat von der Vollwand zur Holzluke, zur Lederscheibe, zum Glasfenster, so hat auch die Lichtöffnung im Menschensinne ihre Entwicklung gehabt.

Die Entwicklung dieser Lichtöffnung wünschen wir kennen zu lernen, den wachsenden Winkel, unter welchem die Menschheit vermocht hat die Himmelshöhe zu messen. Unser Interesse gilt jedoch nicht der Lichtöffnung an und für sich, nicht ihren wissenschaftlichen Dimensionen, sondern der Lichtsumme, welche hierdurch in die Stube, den Sinn, hat strömen können. Denn der Menschensinn ist es, wonach wir fragen. Der Deutlichkeit wegen folgen wir dem Gange der Zirkelschenkel am Himmel; wir wissen, dass die Größe der Winkelöffnung dem entspricht. Was uns aber eigentlich interessiert, ist die Spitze des Winkels, der empfängliche Blick hier auf der Erde, der auffängt, was der Winkel einrahmt. Wie sich das Bild hier drinnen zeigt, in Beleuchtung. Begrenzung und mit bestimmten Schatten, so hat sich das Leben für jenes Geschlecht ausgenommen.

Das, was wir zu bestimmen suchen, ist also nicht der Umriss der Dinge, sondern das Licht, der Schein, der Ton. Das, was wir von den Geschlechtern erkennen wollen, sind nicht ihre wissenschaftlichen Resultate, sondern etwas, das zugleich vor und hinter diesen liegt, die gemeinsame Stimmung, die stille Mittagsluft, wo Erkennen, Fühlen und Wollen in Eins gehen und doch wach auf dem Sprung liegen. Das, wonach wir zielen, ist der Widerschein des ganzen Lebens als Lichtschimmer in dem Auge der einzelnen Geschlechter gespiegelt, der Punkt des Sinnes, wo Religion und Moral, Wissenschaft, Kunst und Tatenlust sich in ein Strahlenbündel sammeln und gerade darum so unmittelbar und sicher das Ganze mit ihrem Schimmer färben.

In welchem Grad unser Versuch glücken wird, muss der Erfolg lehren. Die Art der Aufgabe selbst zieht dem Erreichbaren enge Grenzen. Indessen müssen wir, ehe wir uns auf den Weg begeben, um späterem Streite über Weg und Richtung vorzubeugen, gewisse Voraussetzungen festlegen. Was wir zu verstehen wünschen, ist der Ursprung und die Zusammensetzung des Schimmers, welcher im Norden für die Generationen des 16. Jahrhunderts über dem Leben lag. An allem, was nicht zum Verständnis hiervon beiträgt, nicht dazu führt, gehen wir vorbei, wie sehr es auch sonst zur Betrachtung einluden mag. Aber umgekehrt reicht die menschliche Kultur weit, auf der ganzen Erde emporgesprosst, wie sie ist. Und dunkle Ursachen treiben oft auf unbekannten Wegen geistigen Blütenstaub von einem Ende der Welt zum anderen. Darum können wir genötigt werden bis Indien, bis China zu ziehen, um den reinsten Ausdruck, vielleicht auch die Stammpflanze eines Gedankens zu finden, der uns wohlbekannt und alltäglich vorkommt.

Endlich werden wir hierbei nicht nur die bisherige Entwicklung der Menschheit, sondern zugleich teilweise unsere persönliche zu sehen bekommen. Deine und meine Gedanken von Kindesbeinen an bis jetzt treffen wir hier nur in festerer Form und vergrößerter Wiedergabe an. Aber auch zwei denken und sehen nicht ganz gleich. Und es ist ein gemeinsames Gesetz sowohl in der Geschichte der Geschlechter, als auch in dem tierischen und dem geistigen Leben der einzelnen, dass die Nährwerte schwanken, und dass Nahrungsstoff, selbst wenn er aufgenommen und in organische Form umgesetzt ist, verhärten und zuletzt hemmend wirken kann. Dasselbe was Leben wirkt, kann Tod wirken. Was für mich Leben ist, ist vielleicht für dich Tod, oder umgekehrt. Was ist da Wahrheit? Hier gilt es nicht, nach der Beschränktheit des einzelnen zu urteilen, sondern freimütig und milde nach dem eigenen Gesetz des Lebens. Das Leben ist Wachstum. Weder Keim noch Blüte, weder Larve noch Puppe, weder Tier noch Kind noch der Erwachsene, weder das, was wir Leben nennen, noch das, was wir Tod nennen, hat ganz recht, ist ganz Wahrheit. Alles ist nur ein Glied im ganzen, dem Wachstum nach oben, zum Lichte, zu Gott.

 

 

 

 

Entstehung der Bestandteile der Weltanschauung des 16. Jahrhunderts

Von den beiden Gegensätzen, Licht und Dunkel, muss das Dunkel früher und stärker auf den menschlichen Sinn Eindruck gemacht haben. Das wiederholt sich noch heutzutage. Während das Tageslicht jedem Kind als etwas Natürliches vorkommt, worüber es sich keine Rechenschaft gibt, wird es von einem gewissen frühen Zeitpunkte an mit Schrecken erfüllt vor dem Dunkel, vor diesem Schwarzen, Fürchterlichen, das es beklemmt, worin es zu vergehen fürchtet. Blicken wir auf die niedrigsten Naturvölker der Gegenwart, so zeigt sich dasselbe. Ihr erster Begriff von etwas Weitreichendem, das stärker ist als der Mensch, ihre erste Religion äußert sich in der Angst vor dem Dunkel. Um diesen Kern sammeln sich andere Formen der Furcht, die Furcht vor denen, die fortgegangen sind, den Toten, die Furcht vor dem Alleinsein, die Furcht vor wilden Tieren und Unwetter. All dies verwächst zu der Vorstellung von etwas Mächtigerem, Bösem und Böswilligem, das schadenfroh den Menschen verfolgt, an das sie glauben, vor dem sie sich fürchten.

Was wir so bei den Kindern und Wilden beobachten, stimmt endlich mit der allgemeinen Erfahrung, dass unbehagliche Zustände stärkere Kraft zeigen, die Aufmerksamkeit der Beteiligten zu erwecken, als behagliche, die oft unbewusst dahinfließen, während jene sich wie in einem Stiche sammeln. Wenn wir auch ganz gewiss nichts mit Sicherheit darüber wissen, scheinen wir so doch berechtigt zu schließen, dass der Mensch im ersten Naturzustand, soweit es ihm überlassen war, selbst den Weg zu finden, zuerst zu dem Glauben an die Mächte des Dunkles gelangt sein muss. Wie die erste Lebensäußerung des einzelnen Kindes in der Welt ein Schrei ist, so ist auch die erste geistige Lebensäußerung der Menschheit dasselbe gewesen.

Wie lange sich dieser früheste Glaube gehalten hat — wir ahnen es nicht. Ebenso wenig können wir auf die Frage antworten, ob die vielen wilden Völker, welche ihn jetzt noch teilen, auf dieser niedrigen Stufe seit dem Werden der Menschheit gestanden haben, oder ob sie nur später verdorrte und verkrüppelte Schösslinge einer höheren Kultur sind. Nur so viel scheinen wir aus den heutigen Verhältnissen und der Natur der Sache selbst schließen zu dürfen, dass sich innerhalb des Glaubens an die Mächte des Dunkles gewisse Stimmungen geltend gemacht haben müssen, welche gleichsam die Nebelmasse in Schwingung versetzt haben. Hierzu gehört sowohl die kindliche Neigung, jedes Ding für lebendig und beseelt zu nehmen, als auch der Drang nach Versöhnung mit den höheren Mächten Auf diesem Wege sind der Fetischdienst, der Glaube an Zauberer und Beschwörer, die ersten Priester und endlich die Opferhandlung entstanden. Die Art des Opfers ist der feinste Ausdruck eines jeden religiösen Standpunktes. Aus dieser Stufe muss das Opfer in seiner niedrigsten Form bestanden haben. Von seinem Eigenen hat man den Göttern gegeben. Aber was verlangten diese? Blut, Schmerzen, Tod. Darum schlachtete man ihnen zur Ehre Kriegsgefangene und Vieh. Der Wille der bösen Götter ist damit erfüllt, aber so, dass es dem Geber zugute kommt. Unter wilden Tänzen als dem handgreiflichen Ausdruck dafür, dass man sich seines Daseins freut, unter Schreien und Lärmen, zum Zeichen dafür, dass man nicht allein ist, stürzt man sich schließlich auf das Getötete und verzehrt es, ein naives Symbol dafür, dass man jetzt durch Fleisch und Blut des Opfers mit der höheren Macht versöhnt worden ist.

Wie niedrig auch dieser Standpunkt ist, so haben doch die innersten Kräfte des Menschengeistes hier sich zu regen begonnen. In allem, was ihn umgibt, dämmert dem Menschen sein eigenes Bild entgegen. Religion und Magie gleiten wohl noch ineinander über; aber was ist Zauberei anderes als der erste tastende und unbeholfene Versuch, sich die Natur zu unterwerfen? Und der Drang nach Versöhnung, nach Harmonie mit dem Höchsten ist geweckt.

Viele wilde Völkerschaften befinden sich, wie gesagt, bis auf den heutigen Tag aus dieser Stufe und scheinen außerstande weiter zu kommen. Bei einzelnen dämmert jedoch die Ahnung von einer nächsthöheren Stufe, indem sie wohl an gute Götter glauben, aber doch nur die bösen ehren und anbeten, weil die guten ja nur Gutes tun, man also nicht nötig hat, sie zu fürchten.1

Höchst bezeichnend für alle diese wilden Völker ist der Mangel einer Zeitrechnung. Vom Dunkel überschattet haben sie noch nicht die Fähigkeit, Licht und Dunkel als gleiche Werte anzusehen. Wie jene vereinzelten Volksstämme gelangen sie höchstens dazu, das Licht und die guten Götter als etwas Selbstverständliches und Unschädliches zu betrachten, das keine Beachtung verlangt. Mit anderen Worten, sie haben die große, sinnreiche Entdeckung der Menschheit noch nicht gemacht, nicht die Zeit entdeckt, den gefleckten Faden, auf welchen unser Leben gezogen ist. Wie Kinder, welche die Uhr nicht kennen, wie jeder von uns, wenn wir nicht künstlich anders belehrt worden wären, achten sie nur auf den Inhalt der Begebenheiten.

Alles deutet darauf, dass die Zeitrechnung den Weg, den Übergang für die Völker bezeichnet hat, welche sie zur nächsten Kulturstufe erhoben haben. Denn in dem Bewusstsein von der regelmäßigen Unterbrechung des Dunkles liegt ja ein Wink zur Befreiung. Eine neue Lebensanschauung erwacht von der Stunde an, da die große Entdeckung gemacht worden ist« dass eine Nacht in Schlaf und eine Nacht in Furcht gleich lange währen und immer von einem Morgen mit darauf folgendem Tag abgelöst werden. Ein glücklicherer Glaube, eine Verehrung auch der Mächte des Lichtes dringt daraus hervor, und die Entwicklung hat begonnen, welche damit enden kann, dass die Mächte des Lichts als die alles besiegenden angesehen werden. Der erste unwillkürliche Ausdruck dafür, dass dieser ganze Übergang begonnen hat, ist die Zeitrechnung. Denn von der Stunde an, da man den Wechsel von Tag und Nacht erkannt hatte, war es natürlich, die Tage zu zählen und abzuteilen

Die Art, wie dies geschehen ist, scheint überall ein und dieselbe gewesen zu sein. Bei Indogermanen und Semiten, den Bewohnern von China, Mexiko, Peru und einigen Südseeinseln, bei allen sind Spuren davon erkennbar, dass sie den so naheliegenden Weg eingeschlagen haben: sie ließen jeden Tag einem Finger entsprechen und zählten diese so an den Fingern. Der einfachste Zeitabschnitt, die erste Woche, enthielt so fünf Tage. Diese Zeiteinteilung kommt im Zendavesta bei den alten Persern vor2 und kann als die ursprüngliche im skandinavischen Norden nachgewiesen werden, wo sie sich selbst nach Einführung des Christentums in einzelnen Gesetzen und Sprichwörtern gehalten hat.3 Vor nicht langer Zeit war sie noch auf Java in Brauch.4 Ein anderer Ausdruck für dieselbe Zahlweise wurde die Einteilung in zehn Tage nach beiden Händen. Diese war in Gebrauch sowohl bei den alten Griechen und Ägyptern, als sie auch noch den Kern der chinesischen Zeitteilung bildet.5 Eine letzte Form der natürlichen Zählung ist endlich die, sowohl Finger als auch Zehen zu benutzen und so zu der Zahl 20 als Maß für Tage zu gelangen. Dieser Weg wurde von den Urbewohnern in Mexiko eingeschlagen6; aber er brachte später eine nicht geringe Unbequemlichkeit mit sich, indem er sich als unvereinbar mit der Zeitteilung nach Monden erwies.7

Denn obgleich der Tag die erste Einheit war, mit welcher man rechnete, konnte es doch auf die Dauer einem aufmerksamen Blick nicht entgehen, dass der Mond in regelmäßigen Zwischenräumen bald ganz leuchtend, bald ganz dunkel war. Das passte sehr wohl in die ursprüngliche Einteilung, indem zwischen Vollmond und Neumond ungefähr 15 Tage, d. h. drei kleine Wochen liegen, und ungefähr 30 Tage (eigentlich 29½, Tage) zwischen zwei Vollmonden Ein Monat von 30 Tagen wurde so für die meisten Völker die nächst höhere Einteilungsform, die gut passte, wenn man die Woche zu fünf oder zu zehn Tagen berechnete. Ein Monat hatte entweder sechs kleine oder drei große Wochen. Diejenigen, welche nach kleinen Wochen rechneten, hatten wie gesagt den Vorteil, dass alle drei Wochen ein Merktag war: Vollmond oder Neumond. Mehr als diese zwei Feste gibt der Mond nicht Anlass zu feiern. Es ist die falsche Ansicht einer weit späteren Zeit, dass ein Naturvolk darauf hätte verfallen können, die 15 Tage weiter in zwei Wochen zu je sieben Tagen zu spalten. Der Schluss des ersten Viertels bietet ebenso wenig wie der Beginn des letzten einen Anhaltspunkt für die Zeitteilung. Die siebentägige Woche stammt, wie wir später sehen werden, nicht vom Mondwechsel.

Eine letzte Beobachtung endlich, welche anzustellen am leichtesten in den nördlichen gemäßigten Gegenden fiel, war, dass die Stärke und die Dauer des Tageslichtes innerhalb großer Zwischenräume wechselte, und dass die Sonnenbahn am Himmel sich langsam änderte. Gewiss irrte man sich vielfach über die Dauer dieses Zeitraums, ehe man endlich zu der letzten Entwicklungsform, dem Jahre, gelangte.

Wer brachte das Licht hervor? Welches waren die Götter des Lichtes? Es konnte kein Zweifel über die Antwort bestehen: die Himmelskörper. Nur Morgens und Abendröte konnten vielleicht über ihre Selbständigkeit täuschen, sonst waren als Hauptgötter leicht wahrzunehmen: Sonne, Mond und die klarsten Sterne. Hiermit waren zugleich gewisse Hauptbegriffe fest geprägt: der Wohnsitz der Götter, das Reich des Lichtes, die Heimat des Glücks lag oben im Himmel. Das Reich des Dunkles, der Wohnsitz der bösen Mächte und des Unglücks lag unten, unter der schwarzen Erde. Wie vieler Jahrtausende es bedurft hat, ehe die Menschheit zu diesen religiösen Begriffen vorgeschritten ist, sind wir ganz außerstande zu entscheiden. Aber auf diesem Punkt fällt ein erster schwacher Lichtstreifen über die Entwicklungsgeschichte. Die indogermanischen Völker sind einmal von einer gemeinsamen Heimat aus in einem merkwürdigen Bogen zerstreut worden, so dass sie sich bis zum Atlantischen Ozean und bis zum Ganges ausbreiteten. Indessen ehe sie sich trennten, haben sie den entscheidenden Schritt getan. Denn die gemeinsame Benennung der Götter, welche sie in ihre neuen Heimstätten mitbrachten, bedeutet in ihrer Wurzel „die himmlischen“. Das lateinische „divus“, „deus“, das gallische „devo“, „divo“, das altnordische „tivar“, das altpreußische „deiwas“, das litauische „dewas“, sind ebenso wie das indische „dewas“ deutlich genug ein und dasselbe Wort.8

Bei flüchtigem Hinsehen könnte es scheinen, als musste der Glaube an die Himmelskörper ein und derselbe auf der ganzen Erde gewesen sein. Hierbei ist jedoch zuerst zu bemerken, dass die Eigenschaften, welche ein Volk seinen Göttern beilegt, niemals über seine eigenen moralischen Begriffe hinausreichen. So konnte derselbe Sonnengott sich für zwei verschiedene Völker sehr verschieden ausnehmen, je nach ihrer verschiedenen Kulturstufe. Aber außerdem mussten schon die natürlichen Verhältnisse dem Glauben an die Himmelskörper in den verschiedenen Gegenden der Erde ein sehr verschiedenes Gepräge geben.

Bei allen Bewohnern der nördlicheren Striche mussten Glauben und Lebensanschauung vorzugsweise von der Sonne beeinflusst werden. Sie war es, welche die Jahreszeiten bestimmte, welche mit ihrem Kommen den lieblichen Sommer herbeilockte, mit ihrem Fortgang Raum gab für den düsteren Winter. Hart war der Streit zwischen der warmen Sonne und dem drängenden Dunkel. Ohne Entscheidung wälzte er sich vor- und rückwärts, jahraus und jahrein. Zu Mittsommer wurde selbst die Nacht zum Tage, zu Mittwinter der Tag zur Nacht. Gegen die Macht der Sonne war die des Mondes nur klein; kalt und feucht erschien er, ein flüchtendes Wild vor den jagenden Wolken. Der Tag war Arbeitszeit, die Nacht zur Ruhe. Die Sonne war der Vater des Tages, das Winterdunkel der Vater der Nacht. Niemand konnte daran zweifeln, dass das Jahr begann, wenn die Tage wieder zunahmen, und der Tag, wenn die Sonne ausging.

Anders bei den Bewohnern der Ufer des Nils, des Euphrat, des Tigris, des Indus und des Ganges. Hier war die Sonne bei weitem nicht der milde Herrscher wie dort. In flammendem Eifer konnte sie das Land zur Wüste brennen und mit ihrem stechenden Licht selbst die Frommen blenden. Für einzelne semitische Völker begann darum das Jahr erst9, wenn mit der herbstlichen Tags und Nachtgleiche die Zeit ihres Wütens vorbei war. Tag und Nacht waren beinahe immer gleich lang. Aber wenigstens ein halbes Jahr lang war die Nacht die beste Zeit des Tages. Man sehnte sich stöhnend nach der kühlen Nacht, der Zeit, da der Sonnenbrand verlöscht ist und das mildere Licht des Mondes sanftere Schatten verbreitet. Ein jeder war darum mit den Sternen an dem fast immer wolkenlosen Nachthimmel vertraut, und besonders war der Mond jedermanns Freund. Bei vielen Semiten ward er zum wichtigsten Himmelskörper, nach welchem allein man das Jahr bestimmte. Der Tag begann mit Einbruch der Nacht. Folgerichtig wurde bei solchen Völkern die Kuppel, das Bild des sternbesäten Nachthimmels, zur schönsten Bauform.

Haben wir recht mit unserer Auffassung, dass das Verhältnis zwischen Licht und Dunkel einer der wichtigsten mitbestimmenden Faktoren in der religionsbildenden Tätigkeit der Menschheit gewesen ist, so waren diese Gegenden von der Hand der Natur besonders begünstigt. Früher als in den nördlichen Ländern mussten sich hier die Bewohner von dem Glauben an die Mächte des Dunkles zum Glauben an die des Lichtes hinwenden. Aber der Weg führte weiter. Denn die natürlichen Verhältnisse spalteten selbst das Reich des Lichtes in zwei Welten: den klaren, blendenden, brennenden Tag; und die Nacht, in der man tiefer und weiter sah, bis ganz hinauf in die funkelnde Kuppel. Das regt zum Nachdenken an. Kein Wunder darum, dass gerade dieser Streifen Erde in besonderem Grade die Wiege neuer Religionen geworden ist. Hier sprießten, wie bekannt, zuerst die assyrisch-babylonische und die ägyptische Religion, später auf dem verhältnismäßig engen Raum zwischen Sinai, Galiläa und Mekka drei neue Lebensanschauungen. Ähnlich erging es den Indo-germanen, als sie unter die gleichen natürlichen Verhältnisse kamen. Nachdem sich die östlichsten Zweige in Iran und am Ganges niedergelassen hatten, erwuchs Zoroasters Lehre bei den persern, und in Indien zuerst die Brahmareligion und schließlich Buddhas Lehre, welche heute noch die zahlreichsten Anhänger auf der Erde besitzt.

In all diesem üppigen Emporwuchern von Religionen ist es eine einzige Religion, welche auf eine merkwürdige Art von ihrer Entstehung an bis zum 16. und I7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung verstanden hat, allen anderen ihr Gepräge aufzudrücken. Das ist die assyrisch-babylonische Religion. Der Grund dazu liegt nicht in ihrer Lehre im allgemeinen, die an Reinheit die gleichzeitigen nicht übertraf und hinter vielen der folgenden zurückstand. Der Grund ist vielmehr, dass die Anschauung von den Himmelskörpern hier zu einer bis dahin unbekannten Höhe gediehen war, und dass das Weltbild, welches bis zu den Tagen von Kopernikus und Newton das allgemein angenommene geblieben ist, sich hier zum erstenmal in seiner edelsten, überwältigendsten Form darstellte.

 

*  *  *

 

Die assyrisch-babylonische Religion lässt sich schwer zu ihrem Ursprung zurückverfolgen.10 Wie das Land von der Hand der Natur begünstigt war, so wurde auch die geistige Entwicklung durch den stetigen Zuwachs frischer Kräfte gefördert. Um das Jahr 4000 v. Chr. scheint das Verhältnis so gewesen zu sein, dass eine Urbevölkerung, die sogenannten Sumerer und Mader, welche an der Mündung des Euphrat und Tigris in den persischen Meerbusen angesiedelt waren, durch fremde Volksstämme start von West und Ost her bedrängt wurde. Von West kamen die siegreichen Semiten. Gegen Ost lag, im südwestlichen Teil des heutigen Persiens, der uralte mächtige Staat Elam, welchem das Flussland winkte. Selbst vom Meere her scheinen Völkerschwärme eingedrungen zu sein, wahrscheinlich Auswanderer aus dem „glücklichen Arabien“, wenn man anders recht hat, auf diese Art die alte Göttersage von dem Fischmenschen Oannes, der aus dem Meer aufstieg und die Bevölkerung höhere Kultur lehrte, zu erklären.

Unter solchen Verhältnissen musste es hier gehen wie so oft. Während die Völker sich um die Herrschaft stritten, brachten sie einander ihre religiösen Begriffe bei. Was bei den Besiegten Religion gewesen, wurde Aberglaube, wurde der Götterkreis des Dunkels bei den Siegern. Ohne dass wir sicher unterscheiden können, was ein jeder im einzelnen eingebracht hat, zeigt die Summe des Ganzen, die sogenannte assyrisch-babylonische Religion, uns deutlich genug nicht eine einfache Auffassung, sondern eine sich stufenweise bildende Gedankenreihe, eine Religion im Wachsen. Wir können hier den gottsuchenden Gedanken ein langes Stück aus seinem Entwicklungsgange vom Dunkel zum Lichte begleiten.

Die unterste Schicht in der assyrisch-babylonischen Religion bildete der Glaube an böse Geister. Vielleicht waren das dunkle Erinnerungen an die Kindheit der Semiten. Eher noch war es zugleich die Hauptreligion der älteren Bevölkerung des Landes, der Akkader und Sumerer, welche jetzt vergessene Schrecknisse in den Gedankengang der Sieger hineingossen Gewiss ist, dass der Glaube an böse Geister bei Assyrern und Babyloniern außerordentlich verbreitet war, und dass eine Anzahl von Beschwörungsformeln in Gebrauch war.11 Über diesem Glauben lag der Glaube an die beseelten Himmelskörper. Hier fällt es noch schwerer, zwischen dem zu sondern, was ursprünglich jedem einzelnen Volk gehörte. Die Akkader hatten schon angefangen, sich zu diesem Glauben zu erheben, welchen die natürlichen Verhältnisse des Landes so sehr begünstigten, und die Semiten teilten ihn, als sie zusammenstießen. Sie trafen sich hier auf gemeinsamem Boden. Mit Fug ist darum in der Keilschrift das Schriftzeichen für Gott ein Stern. Und der Natur des Landes entsprechend erhielt in der gemeinsamen Religion der Himmelskörper der Nacht, der Mond, einen hervorragenden Platz. Im Gegensatze zu den Vorstellungen der meisten anderen Völker wurde seine Gottheit „Sin“ ein Gott und nicht eine Göttin. In eine helle und eine dunkle Hälfte geteilt, wie man es von ihm annahm, wurde der Mond ganz natürlich der Gott für Leben und Tod. Bedeutungsvolle Gottheiten wurden auch die fünf Planeten, welche so hell am Nachthitmnel Mesopotamiens scheinen. Jupiter nahm in sich sogar den uralten Hauptgott Babylons (Merodakh) auf, und Venus (Ishtar oder Astarte) wurde eine Göttin, deren Ruf sich in allen semitischen Ländern verbreitete.

Über diesem Glauben an die Himmelsgötter ging endlich noch eine weitere Bildung vor sich. Sie äußerte sich teils in der auch von anderwärts her wohlbekannten Neigung, weiter zu teilen und beständig mehr Götter für jede neue Seite der Natur und des Menschenlebens, welche man wahrnahm, zu schaffen. Teils äußerte sie sich in einer eigentümlichen Lust, Gottheiten in Gruppen zu dritt zu sammeln, welche dann eine Art Einheit bildeten. Das eigentliche Kennzeichen des Fortschrittes drückte jedoch erst der Drang aus, welcher tiefer suchte als jene beiden, und hinter all den vielen Göttern den höchsten einzigen Gott, den Urquell des Alls, zu finden strebte. Eifrig beschäftigte sich der Gedanke mit der Vorstellung eines unsichtbaren Gottes, der die Welt erschaffen, aber um der Menschen Bosheit willen sein Werk wieder teilweise durch eine große Wasserflut vernichtet hätte.

Unter solchen Verhältnissen kam schließlich viel daraus an, in welcher Richtung der innerste Trieb bei den geistigen Führern des Volkes, bei der Priesterschaft, ging. Die Bedingungen, um schließlich zum reinen Monotheismus, dem Glauben an den einzigen, ewigen, allmächtigen Gott zu gelangen, waren ja vorhanden. Aber die Voraussetzungen der Priesterschaft selbst deuteten nach einer anderen Richtung. In unvordenklichen Zeiten hatte in diesen Gegenden die Stärke der Priester gerade in der scharfen Beobachtung gelegen. Aus diesem Weg hatten sie großartige Resultate erreicht. Und diese ihre Stärke wurde jetzt, wie so oft, ein Hemmnis für die Entwicklung. Am entscheidenden Punkte schwenkten sie seitwärts ab; sie vermochten es nicht, für ein unsichtbares Wesen die sicheren Beobachtungen von Jahrhunderten zu opfern, für einen allmächtigen Gott die Solidität des Weltgebäudes selbst. Ihre Religion endete in Astronomie.

Um diese absonderliche Entwicklung zu verstehen, muss man sich erinnern, dass bei allen Völkern, welche an die beseelten Himmelskörper glaubten, die Priester sternenkundig sein mussten. Sie sollten ja bei Führung ihres Amtes nicht nur die Götter im Auge behalten, sie bedienen und auf ihre Winke achten, sondern sie mussten auch genau die Festzeiten bestimmen. Ihr Wissen war im eigentlichsten Verstand Himmelskunde. Aber in den nördlichsten Ländern, wo das Wetter oft die Beobachtungen hinderte, nahm man es kaum so genau. Das Julifest z. B. wurde von den Nordländern gewiss oft erst spät gefeiert, wenn man ganz sicher war, dass die Tage wieder zunahmen. Anders dagegen in den Ländern am Euphrat und Tigris. Hier waren die Beobachtungsverhältnisse fast immer günstig, und die Priester hatten sich darum jahrtausendelang auf die Astronomie verlegt. Auf diesem Gebiete sind wir nicht imstande, eine Spur von Streit unter den Eroberern des Landes zu entdecken. Die Resultate der Wissenschaft scheinen sich friedlich von Volk zu Volk vererbt zu haben und die Priesterkunde der Akkader bei den Chaldäern weiter gediehen zu sein. Die Form des Tempelbaues ist ein Sinnbild für diesen friedlichen Austausch. Schon bei den Alkadern wurden, wie wir wissen, die Tempel als große aufeinandergestapelte Würfel gebaut, mit einem Wächtergang um jeden derselben und der Wohnung des Gottes in dem obersten, kleinsten Würfel. „Denn das eigentliche Heim der Götter ist in den Bergen gegen Osten“, und sie steigen nur zu den höchsten Stellen der Erde hinab.12 Scheinen dieser Gedankengang und die entsprechende bergähnliche Gebäudeform sich von den östlichen Feinden der Akkader herzuschreiben, den Bergbewohnern von Elam, so verbreiteten sie sich doch weiter zu den Semiten. Zu Herodots Zeit war der Tempel des Bel in Babylon auf ganz dieselbe Art erbaut. Und hier wie dort beobachteten zahlreiche Priester von den Wächtergängen aus den funkelnden Sternhimmel. Der alte, abenteuerliche Bericht von dem Turmbau zu Babel gewinnt dadurch an Verständlichkeit: einträchtig sollte er alles Volk sammeln und hinauf bis an den Himmel reichen.13

Die alten Griechen und Römer sprachen von der Sternkunde der Chaldäer mit größter Bewunderung. Man behauptete, dass der Brauch, den Gang der Himmelskörper zu beobachten, zuerst in diesen Gegenden entstanden sei, und man nannte eine fabelhafte Reihe von Jahren — 470000 ja 720000 Jahre — als den Zeitraum, durch welchen die Beobachtungen stattgefunden hätten.14 Unter den wissenschaftlichen von den Chaldäern erreichten Resultaten wurde die Bekanntschaft mit dem Tierkreise angeführt, jenen zwölf den Himmel umgebenden Sternbildern, welche der Mond im Laufe eines Monats, die Sonne im Laufe eines Jahres durchläuft. Ferner die genaue Bestimmung der Jahreslänge, die Einteilung des Jahres in zwölf Monate und die Einteilung des Tages wieder in zwölf Stunden.15 Als Hilfsmittel hatten sie teils den sogenannten „Gnomon“ benützt, eine lotrecht aufgerichtete Stange, deren Schatten gemessen wurde, teils Uhren. Diese waren ursprünglich nur Sonnenuhren, welche die Unannehmlichkeit hatten, dass die Länge der Stunden nach der Jahreszeit wechselte; aber später hatte man eine eigene Art Wasseruhren erfunden, bei denen aus einem Behälter mit gleichmäßigem Zufluss und Wasserstand ein gleichmäßiger Wasserstrahl ausfloss, so dass die Zeit genau gemessen werden konnte.

Die Neuzeit ist aus eine unerwartete Weise in den Stand gesetzt worden diese Nachrichten zu beurteilen, indem man Aufzeichnungen von den Chaldäern und Akkadern selbst gefunden hat, wie das Altertum ganz richtig angab, auf gebrannte Tontafeln eingeritzt. Besonderes Interesse haben mit Recht 70 Tafeln erweckt, ein Rest der Büchersammlung des Königs Sargon in Agade aus dem 16. Jahrhundert v. Chr. Wie diese jetzt vorliegen, gedeutet von dem Franzosen Oppert16 und dem Englander Sayce17, werfen sie neues Licht auf die Verhältnisse.

Aus diesen Tafeln geht hervor, dass der alte Ruf der Babylonier nicht unbegründet war. Ihre Beobachtungen gehen außerordentlich weit zurück und sind mit größter Tüchtigkeit angestellt und benützt. Wie es wahrscheinlich war, sehen sie den Mond als den wichtigsten Himmelskörper an. In ihrer Schöpfungsgeschichte heißt es auch, dass er vor der Sonne entstanden seil18, und nach dem Mond teilten sie das Jahr ein. Dieses wurde zu 360 Tagen gerechnet — darum die Einteilung des Kreises in 360 Grade, ein Grad für jeden Tag im Jahre. Ein Jahr bestand also aus 12 Monaten, jeder zu 30 Tagen· Darum ist auch das Keilschriftzeichen für den Mond - XXX, nach der Zahl der Monatstage· Die Schwierigkeit hierbei, dass ein solches Mondjahr nicht in das Sonnenjahr hineinpasst, da die Umlaufszeit der Sonne ja 365¼ Tage beträgt, vermieden sie, indem sie alle sechs Jahre einen Schaltmonat hinzufügten, und alle 124 Jahre einen doppelten Schaltmonat. So behauptete der Mond weiter seine Herrschaft in der Zeiteinteilung, ohne dass darum das Verhältnis zu den Jahreszeiten verrückt worden wäre.

Kalender aus einer späteren Zeit, welche gleichfalls in unseren Tagen gefunden worden sind, beweisen die Sorgfalt, mit welcher sie fortwährend den Mond als Zeitbestimmer behandelten. Man ließ jetzt jeden einzelnen Monat genau der wirklichen Umlaufszeit des Mondes entsprechen, und begnügte sich nicht, wie z. B. die Griechen, damit, diese bloß durchschnittlich zu 29½ Tagen anzusetzen. Aber da die Schnelligkeit, mit welcher sich der Mond bewegt, nach den verschiedenen Jahreszeiten verschieden ist, ergab sich daraus die Notwendigkeit, vorauszuberechnen, wie lange Zeit jedesmal zwischen dem Verschwinden und dem Wiedererscheinen des Mondes vergehen würde. Dieser Abstand ist in den Kalendern bis auf Zehntelstunden genau angegeben und schwankt zwischen 19 und 50 Stunden. Hierüber in neuester Zeit angestellte Untersuchungen haben bewiesen, dass diese Angaben selbst dort, wo sie unrichtig erschienen, in Wirklichkeit dem Zeitpunkte entsprochen haben, zu welchem der neue Mond sich im Sehkreis des babylonischen Turmes zeigen musste, und der Monat für das ganze Land beginnen sollte.19

Das Bild des ganzen Weltgebäudes, welches die Chaldäer sich bildeten, muss der Natur der Sache nach einer Entwicklung unterworfen gewesen sein. In seinen allgemeinen Zügen entsprach es dem, welches wir von so manchen alten Völkern kennen, von Persern, Babyloniern, Juden und Ägyptern. Die Welt bildete eine gewölbte Halle. Die feste Decke wurde vom Himmel gebildet, oberhalb dessen die Regenwasser lagen; wenn ein Gitter fortgezogen wurde, strömte der Regen nieder. Auf der Innenseite des Himmels waren die Sterne fest angemacht. Unter diesen bewegten sich Tag und Nacht die zwei großen Lichter zugleich mit den fünf kleineren. Die Erde war ringsum vom Wasser umgeben. Sie bildete jedoch nicht eine glatte Scheibe, sondern hob sich nach oben, denn unter ihr gab es eine dunkle Höhle (Hölle, Helvede), die Unterwelt, die Aufenthaltsstätte der Toten.20 Dieses Bild ist ja dasjenige, welches sich natürlich aufdrängt, und bekanntlich verschwand es auch nicht aus dem allgemeinen Bewusstsein, ehe die Weltumsegelungen um 1500 n. Chr. zwangen, das anzunehmen, was einzelne Vorgeschrittene schon früher im Stillen behauptet hatten, dass die Erde eine Kugel wäre.

Aber das alte Bild mit dem Himmel als Decke, der Erde als Boden und dem Keller der Unterwelt war in Wirklichkeit nicht ein und dasselbe. Wie es selbst mühsam erkämpft worden war, als klare, einfache Antwort auf das furchtsame Suchen der Jahrtausende, so stellte es selbst wieder neue Fragen und nahm sich je nach der Antwort verschieden aus. In Bezug auf die Himmelsgötter war man zu einer vorläufigen Ruhe gekommen: die Welt war ein festlich geschmückter Saal, wo sie als Kerzen leuchteten. Aber hatte sie jemand hier angezündet? Oder leuchteten sie aus eigenem Willen?

Die Chaldäer versuchten es mit beiden Wegen. Das Ganze verlor gleichsam bei dem Gedanken, dass ein Gott es geschaffen hätte. Sie wagten auch nicht, den Gedanken an eine Schöpfung ganz auszudenken. Himmel, Erde und Unterwelt waren wohl von einem Gott gebildet. Aber „die Wasser“ bestanden vorher. Diese bestanden als etwas unerklärt Ursprüngliches, so wie später die Griechen sich alles aus dem Okeanos entstanden dachten, und wie die Juden sich ausdrückten: »der Geist Elohims schwebte über den Wassern.« In Bezug auf sie beschränkte sich die Wirksamkeit Merodakhs — oder nach anderen: Bels — darauf, dass er sie zerteilte und in zwei Hälften sonderte, die Wasser über der Wölbung (das Regenmeer) und die unter der Wölbung (das Weltmeer).21

Die Schöpfungsgeschichte der Chaldäer ist auf sieben Tontafeln aufgezeichnet. Auf der fünften Tontafel heißt es: »den siebten Tag setzte er ein als einen heiligen Tag und gebot, dass man an ihm ruhen sollte von aller Arbeit.«22 Warum gerade sieben? Ja, unvermerkt leuchtete die heilige Siebenzahl der Planeten durch das Schöpfungswerk. Und unvermerkt drückten sie dem ganzen Gedankengange ihr Gepräge aus. Wir stehen hier an dem entscheidenden Wendepunkte, an welchem die Planeten zum erstenmal dem menschlichen Denken einen Anstoß gaben, dessen Wirkungen sich jahrtausendelang halten sollten. Zum zweitenmal wiederholte sich dasselbe, als Kopernikus, gerade mit Rücksicht aus die Bahnen der Planeten, die heute gültige Auffassung der Welt begründete.

Denn der Gedanke an eine Weltschöpfung konnte noch zur Not mit Sonne und Mond in ihrem regelmäßigen Gange vereinigt werden. Sie waren in diesem Falle nicht weiter, wie bisher angenommen, selbstlebende Wesen und Gottheiten, sondern nur Leuchten, von dem einen mächtigen Gott angezündet und dazu bestimmt, sich Tag und Nacht aus die einmal festgesetzte Weise unter der Kuppel zu bewegen. Aber die anderen fünf Planeten! Man brauchte nicht Chaldäer auf dem babylonischen Turme zu sein, um sich über sie zu verwundern. Jeder, der sie aus einer Karawanenreise ein paar Nächte lang mit dem Auge verfolgt hatte, jeder, der schlaflos ab und zu versucht hatte, die Zeit an der einzigen Uhr der Nacht, der sternenbesäeten Wölbung, abzulesen, musste auf ihre Besonderheiten in Licht und Gang aufmerksam geworden sein. Sie leuchteten nicht gleichmäßig, sondern bald stark, bald matt, und ganz anders als andere Sterne: rötlich, grünlich, bläulich. Und ihr Gang schritt jetzt schnell, jetzt langsam, jetzt gegen den Strom, jetzt schräg; zuweilen verschwanden sie ganz. Nicht nur dem unkundigen Beobachter mussten sie unerklärlich erscheinen, sondern in noch höherem Grade selbst dem kündigten Chaldäer. Denn wenn auch ihre Umlaufszeiten möglicherweise berechnet werden konnten, so spotteten ihre Bahnen doch jeder mathematischen Figur. Diese verworrenen Wege konnten nur auf eine Art erklärt werden: als Ausdruck des Willkürlichen, als Äußerungen eines selbstständigen Lebens. In den Bahnen der Planeten lag der astronomische Beweis dafür, dass die Himmelskörper beseelt wären. Die Welt war mehr als geschaffen, sie war das Göttliche selbst in lebendiger Wirksamkeit.23

Wie erweiterte und klärte sich alles von diesem Gesichtspunkte aus! Die Welt wurde zu einer ungeheuren Halle, wo die göttliche Kraft, der göttliche Wille beständig von oben nach unten wirkte. Zu unterst lag die Welt der Elemente. In unermesslichem Abstände hiervon bewegten sich der Mond und die sechs anderen Planeten, jeder in seinem durchsichtigen Himmel. Zu oberst endlich drehte sich die Wölbung des undurchsichtigen Himmels, wo „die Sternbilder hingesetzt waren in Figuren, wie sie Tieren gleichen“ (Tafel 5 Vers 2). Anscheinen hatten diese Bewegungen nichts miteinander zu tun, und doch war es die sie von oben her durchströmende Kraft, welche die Welt der Elemente in Bewegung versetzte. Zeigte nicht die tägliche Erfahrung, wie der Aufgang dieser Gestirne Sommer verkündete, der Aufgang jener Winter, Sturm, Dürre usw.? Die Vorgänge auf der Erde spiegeln so nur ab, geben wider den Gang der göttlichen Himmelskörper und den göttlichen Willen. Aber ihre Art zu wirken ist verschieden. Sonne und Mond spinnen mit ihren regelmäßigen Bahnen gleichsam die festen Längs- und Querfäden; die fünf anderen bewirken das Wechselvolle, das scheinbar Zufällige. Alle sieben im Verein spinnen mit ihrem Gang über den Himmel die Fäden des Schicksals; lautlos weben sie das Muster des Erdenlebens. Von ihnen hängen nicht nur Sommer und Winter, Regen und Dürre, sondern auch Leben und Tod eines jeden lebenden Wesens, sein Aussehen, seine Anlagen, Verhältnisse und Schicksale ab; so wie sie diese durch ihre Stellung in der Stunde der Geburt bestimmt haben, so wird es, so lebt es. Niemals wiederholen sie sich ganz genau in ihrer Stellung zueinander. Darum sind auch niemals zwei Jahre, zwei Tage, zwei Menschen, zwei Blätter vollständig gleich.

In dieser eigentümlichen Weltanschauung erreichte der Gedankengang der Chaldäer seine höchste Form. Von einer Seite gesehen, war sie nur in Religion verwandelte Astronomie; aber zugleich besaß sie infolge ihrer Abstammung Geschmeidigkeit genug, sich jeder Glaubensform anzuschließen, ob an viele Götter, ob an einen Gott oder auch an eine einfache, natürliche Ordnung. Die chaldäische Betrachtungsweise wurde darum allmählich überall die herrschende, und sie musste unüberwindlich sein, solange die Voraussetzungen für ihre Wahrheit unverrückt bestanden. Ihre Herrschaft hielt sich bis ungefähr 1600 n. Chr.

Sie wirkte durch ihre eigene Großartigkeit und Wahrscheinlichkeit Und wenn es an Sinn hierfür gebrach, so führte sie einen Zauberstab in ihrer Hand, welcher ihr den Sieg sicherte. Denn sie brachte die Sterndeutung mit sich.

Es lag nämlich ganz nahe, folgendermaßen zu schließen: werden alle Bewegungen in der Welt der vier Elemente durch den Gang der Planeten hervorgerufen, so lässt sich alles, was hienieden vorgeht und vorgehen wird, auch von den Sternkundigen aus dem Gange der Planeten ablesen. Dieser Schluss war klar und unwiderleglich. Hiermit war die Wissenschaft, die Kunst begründet, welche durch Jahrtausende auf der ganzen Erde aller Aufmerksamkeit gefesselt und als die höchste menschliche gegolten hat.

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Es war ein Ding, dass man alles musste aus den Sternen ablesen können, und wieder ein anderes die Frage, wieweit man selbst imstande dazu wäre. Die Chaldäer bestrebten sich redlich, diese hohe Kenntnis zu erlangen. In dem, was uns aus jener Zeit vorliegt, kann man, wie es scheint, einen bestimmten Fortschritt spüren, indem teils die Prophezeiungen mehr und mehr allein von den Planeten entnommen wurden, teils die Stellungen dieser am Himmel das Übergewicht über ihre bloße Farbe und anderes Ähnliche erhielten. Bei dieser ununterbrochenen Beobachtung der Planeten machten natürlich auch die astronomischen Kenntnisse von ihnen Fortschritte. Man entdeckte nicht nur die Trabanten des Jupiter, welche sich in Südasien mit bloßem Auge erkennen lassen, sondern auch die des Saturn, welche nur für das bewaffnete Auge sichtbar sind. Man bestimmte die Umlaufszeit des Jupiter beinahe richtig auf zwölf Jahre, und kam dazu, die nahezu richtige Reihenfolge der Planeten nach ihrem Abstand von der Erde zu erkennen: Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn, in welcher Reihenfolge die Sonne den wirklichen Platz der Erde einnahm.