Hunkeler macht Sachen - Hansjörg Schneider - E-Book

Hunkeler macht Sachen E-Book

Hansjörg Schneider

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Beschreibung

Es ist bereits nach Mitternacht, als der leicht angetrunkene Kommissär Hunkeler auf seinem Nachhauseweg in Basel den alten Hardy auf einer Bank sitzen sieht. Er möchte mit ihm eine Zigarette rauchen, aber der sonst so gesprächige Hardy bleibt stumm – seine Kehle ist eine klaffende Wunde. Medien und Polizei sind sich rasch einig: Hinter dem Mord steckt eine mafiöse Schmugglerbande aus Albanien. Doch Hunkeler geht seiner Intuition nach und gerät ins Basler Rotlichtmilieu und in dunkle Abgründe der jüngeren Schweizer Geschichte.

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Seitenzahl: 312

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Hansjörg Schneider

Hunkeler macht Sachen

Der fünfte Fall

Roman

Die Erstausgabe erschien 2004 im Ammann Verlag, Zürich

Das Gedicht Poesie von Manfred Gilgien stammt aus: Manfred Gilgien,

Strassen-Tango. Erweiterte Neuauflage mit einem Vorwort von Hansjörg Schneider

© 2005 Verlag Nachtmaschine, Basel

Das Gedicht Salz von Rainer Brambach stammt aus: Rainer Brambach, Gesammelte Gedichte, © 2003 Diogenes Verlag, Zürich

Covermotiv: Foto von Zorka Vuckovic (Ausschnitt)

Copyright © Zorka Vuckovic / PantherMedia

Die Personen und die Handlung

des vorliegenden Romans sind frei erfunden,

jede Ähnlichkeit mit realen Personen oder

Begebenheiten ist rein zufällig

Der Autor dankt Herrn

Kriminalkommissär Markus Melzl

für die Durchsicht des Romans

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2023

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24235 5

ISBN E-Book 978 3 257 60294 4

[5] Peter Hunkeler, Kommissär des Kriminalkommissariats Basel, gewesener Familienvater, jetzt geschieden, trat aus der Tür der Wirtschaft Milchhüsli auf die Missionsstraße hinaus. Es war der 27.Oktober, ein früher Montagmorgen, 0Uhr30 genau, er hatte vor dem Verlassen der Kneipe noch auf die Wanduhr geschaut. Ein weißer Schimmer lag in der Luft, heruntergeworfen von der Straßenlaterne in den Nebel. Ende Oktober, und schon war die Stadt grau und nass wie Anfang Dezember.

Hunkeler verspürte Harndrang. Die plötzliche Kälte, dachte er, drinnen war es wohlig warm gewesen. Nicht nur wegen der Heizung, sondern auch der Menschen wegen, die um den Stammtisch gesessen hatten, Leib an Leib wie im Stall. Er überlegte, ob er zurückgehen sollte auf die Toilette. Da hörte er, wie sich von rechts, von der Stadt her, eine Trambahn näherte. Das leise Rollen der Räder in den Schienen, Metall auf Metall, ein rundes Licht, kaum erkennbar dem Umriss nach. Ein schemenhafter Schein, der durch den Nebel glitt. Dann die erleuchteten Fenster des Dreiers, im Triebwagen ein Mann mit Hut, im Anhänger ein junges Paar. Das helle Haar des Mädchens hing über die Schulter des Burschen. Das Tram verschwand im Nebel Richtung Grenze. Ein plötzliches Schleifen der Räder, die Ampel auf dem Burgfelderplatz vorn stand wohl auf Rot.

Hunkeler wartete, bis er die Bahn wieder anfahren hörte. Er überquerte die Straße zur türkischen Pizzeria gegenüber [6] und schaute durch die Glasscheibe des Billard-Centers. Er sah am runden Tisch den Künstler Gerhard Laufenburger sitzen mit seiner Freundin Nana, nebenan den kleinen Cowboy mit seinem Stetson auf dem Kopf und seinem schwarzen Hund. Die wollte er heute Nacht nicht antreffen, und er ging weiter Richtung Burgfelderplatz.

Nach wenigen Schritten erreichte er die Kantonalbank an der Ecke, vor der ein Zierbaum stand. Er fand dieses Gewächs lächerlich. Entweder ein Baum oder kein Baum, lieber gar nichts als eine Baumattrappe. Aber jetzt kam ihm das Bäumchen gerade gelegen. Er trat hin und pisste ans dünne Stämmchen. Verdammte Prostata, dachte er, mittlerweile konnte er sein Wasser nicht einmal mehr die wenigen hundert Meter bis zu seiner Wohnung halten.

Er drehte den Kopf und sah auf der Steinbank in der Ecke eine dunkle Gestalt sitzen, die gegen die Mauer gelehnt war. Er ging hin, um zu sehen, wer es war. Es war Hardy, der alte Stromer, der stets einen Diamanten im linken Ohrläppchen trug. Er schien zu schlafen, mit offenem Mund. Hunkeler setzte sich neben ihn auf die feuchte Bank, griff sich den Kragen seiner Jacke und klappte ihn hoch. Er schaute über den Platz, auf dem nichts war als Nebel. Nach einer Weile hörte er das Geräusch eines anfahrenden Autos. Zwei Scheinwerfer leuchteten auf, langsam glitten sie vorbei.

»Scheißwetter«, sagte Hunkeler, »Scheißstadt, Scheißzeit.«

Er schaute hinüber zu Hardy, der sich nicht regte. Die künstlichen Zähne leuchteten seltsam weiß.

»Meine Freundin Hedwig«, sagte Hunkeler, »ist ein Miststück. Wenn man sie braucht, ist sie nicht da. Im Moment hockt sie in Paris und studiert die Impressionisten. [7] Sabbatical nennt sie das, drei Monate lang, bis Neujahr. Um aufzutanken, Kindergärtnerin ist offenbar ein extremer Stressberuf. Der normale Urlaub genügt nicht, um sich zu erholen. Man braucht noch drei Monate Weiterbildung in Paris, um dem psychischen Druck der Gören standhalten zu können. Das ist ein Vierteljahr.«

Er spuckte auf den nassen Asphalt hinaus, drei Meter weit, und steckte sich eine Zigarette an. Er nahm einen Zug, hustete und lehnte sich nach hinten gegen die Mauer.

»Ich habe alle Mühe«, sagte er, »diese triste Zeit zu überstehen. Nicht zu viel zu rauchen, nicht zu viel Bier zu trinken, nicht zu spät ins Bett zu gehen. Ich könnte auch ein Sabbatical gebrauchen. Stell dir vor, Manets Frauen mit den wunderschönen Hüten und den weißen Blusen im Park, und das Sonnenlicht fällt durch das Laub. Monets Seerosen. Van Goghs blaue Kirche. Und jetzt schau einmal über diesen Platz. Was siehst du? Nur Dreck, und der ist so grau, dass du ihn nicht einmal als Dreck erkennst.«

Er spickte die Zigarette in weitem Bogen hinaus, sie fiel neben das Bäumchen. Er schaute zu, wie die Glut erlosch.

Hardy sagte noch immer nichts. Er hatte den Kopf nach hinten gelehnt, seine Augen standen halb offen. Fast schien es, als würde er nicht atmen.

Hunkeler spürte eine plötzliche Kälte im Nacken. Er erhob sich, packte den Mann mit beiden Händen an den Oberarmen und versuchte, ihn hochzureißen. Doch er war zu schwer. Immerhin gelang es Hunkeler, den reglosen Leib so weit hochzuhieven, dass der Kopf nach hinten kippte, als säße er nicht mehr fest. Auf der Gurgel erschien eine scharf gezogene Wunde, die zu beiden Seiten nach hinten lief. Das [8] linke Ohrläppchen war aufgerissen. Er schaute genau hin, ob der Diamant noch da war. Er war nicht mehr da.

Er ließ den Männerleib zurückfallen und trat zum Bäumchen, um sich zu erbrechen. Er wollte es nicht, aber er musste. Bier rann ihm aus dem Mund und tropfte hinunter. Seltsam, dachte er, warum kotze ich ans Bäumchen und nicht einfach auf den Boden, als ob das etwas ändern würde?

Er atmete schnell und tief, wie ein hechelnder Hund, er würgte, was empordrängte, wieder hinunter. Er wischte sich mit dem Taschentuch Kinn und Stirn ab, die plötzlich schweißnass waren. Er spürte, wie er schwankte. Er staunte darüber, denn er war nicht betrunken. Einen Moment lang dachte er daran, zu fliehen, sich ins Billard-Center zu setzen zu Laufenburger und dem Cowboy, als ob nichts geschehen wäre. Aber dann nahm er sein Handy aus der Tasche und stellte die Notfallnummer ein.

Als Erste war die Ambulanz da, mit Martinshorn und drehendem Blaulicht, das durch den Nebel blinkte. Sie kam von der Hebelstraße, die Richtung Rhein lag. Der Arzt sprang heraus, ein jüngerer Mann mit randloser Brille. Er trat zum sitzenden Hardy und fasste ihn am Kinn, so dass der Kopf zur Seite kippte. Er schaute genau hin, auf Halswunde und linkes Ohr.

»Genickbruch«, sagte er, »stranguliert. Was ist mit dem Ohr?«

»Er hat im Ohrläppchen einen Diamanten getragen«, sagte Hunkeler.

[9] »Da ist kein Diamant mehr«, sagte der Arzt und lehnte den Kopf sorgfältig gegen die Mauer. Er nahm einen Zigarillo aus einer Blechschachtel, steckte ihn an und schaute angewidert auf den Platz hinaus. Dort standen im Nebel die ersten Gaffer.

»Stellen Sie endlich dieses verdammte Blaulicht ab«, sagte Hunkeler.

Der Fahrer nickte, setzte sich in den Wagen und schaltete es aus. Grau lag die Kreuzung da, in diffusem Licht, von dem man nicht wusste, woher es einfiel. Es war ruhig, eine fast beängstigende Stille. Die Männer merkten es alle, keiner bewegte sich mehr. Die Gaffer standen wie Schemen, niemand kam nahe heran.

Da blitzte ein Licht auf, scharf und brutal. Es war auf den toten Mann gerichtet, riss ihn aus dem behütenden Dunkel, die weißen Zähne, die Wunde am Hals. Es war der dicke Hauser, der Windhund, von Beruf Reporter und Fotograf, die schnellste Kamera Basels. Er wohnte gleich um die Ecke an der Hegenheimerstraße.

Hunkeler ging hin und packte ihn am Arm, aber Hauser war jung und kräftig.

»Ich breche dir sämtliche Knochen«, sagte Hunkeler, »wenn du noch einmal abdrückst.«

»Nicht nötig, ich habe, was ich brauche.«

Er entwand sich dem Griff und war im Nebel verschwunden.

Hunkeler trat zu den Gaffern. Er kannte sie alle. Nana war da aus dem Billard-Center und der kleine Cowboy samt Hund. Luise in der Leopardenjacke. Dolly mit den langen Beinen, der kleine Niggi, der bleiche Franz, Richard der [10] Fremdenlegionär. Sie hatten alle am Stammtisch im Milchhüsli gesessen. Auch einige alte Leute standen da aus den umliegenden Wohnungen, sie hatten wohl auch das Martinshorn gehört.

»Hardy ist tot«, sagte Hunkeler. »Jemand hat ihm das Genick gebrochen.«

Er wusste nicht, was er weiter hätte sagen sollen. Niemand rührte sich, niemand weinte. Draußen auf der Straße glitt ein Taxi vorbei.

Da tauchte Hermine aus dem Nebel auf. Sie wohnte gleich gegenüber in einer Wohnung über der Apotheke, die sie leitete. Sie war über fünfzig, hatte aber noch immer ein Porzellangesicht wie ein Mannequin. Sie war in Hausschuhen und hatte sich einen blauen Morgenrock übergeworfen. Sie ging bis auf drei Schritte an den sitzenden Hardy heran, blieb stehen, fasste sich an den Mund und schien einen Augenblick lang zu schwanken.

»Sie müssen hier verschwinden«, sagte der Arzt. »Das hier ist ein Tatort. Den darf kein Unbefugter betreten. Eigentlich wäre das ja Ihre Aufgabe, Herr Kommissär. Sie sollten wissen, was zu tun ist.«

»Sie ist Hardys Geliebte«, sagte Hunkeler. »Sie will Abschied nehmen von ihm.«

»Nein«, sagte Hermine, »ich nehme nicht Abschied von ihm. Wir haben uns bloß gestritten, es war kein Abschied für immer. Warum ist er tot?«

»Das weiß ich nicht. Geh jetzt, trink einen Cognac.«

Er legte den Arm über ihre mageren Schultern und führte sie zu den andern.

»Nehmt sie mit. Geht etwas trinken, auf meine Rechnung. [11] Der Platz hier wird abgesperrt, es gibt nichts weiter zu sehen.«

Luise nickte. »Los, kommt. Wir können Hardy nicht mehr helfen.«

Sie verschwanden im Nebel Richtung Milchhüsli.

Endlich fuhr das Pikett vor, gut eine Viertelstunde, nachdem Hunkeler angerufen hatte. Es bestand aus Detektivwachtmeister Madörin, Korporal Lüdi und Haller, der seine erloschene Luzerner Pfeife im Mund hängen hatte. Sie stiegen aus, ein bisschen zu langsam, wie es schien, und traten zum toten Hardy.

»Der ist tot«, sagte Lüdi, »stranguliert.«

Sie schauten auf den Platz hinaus in den Nebel, angewidert von ihrem Beruf, von der Arbeit, die auf sie wartete.

Haller kratzte sich umständlich am Hals.

»Eine blöde Geschichte«, sagte er. »Was machst du für Sachen?«

»Ich mache keine Sachen«, sagte Hunkeler. »Dies ist mein Heimweg. Ich habe ihn zufällig entdeckt.«

»Wie du am Telefon gesagt hast, kennst du ihn. Du weißt, wie er heißt.«

»Er heißt Bernhard Schirmer. Genannt Hardy. Er trug einen Diamanten im linken Ohrläppchen.«

»Ich habe keinen Diamanten gesehen in seinem Ohrläppchen«, sagte Haller. »Ich habe einen blutigen Riss gesehen.«

»Heimweg?«, fragte Madörin. »Von wo? Das Milchhüsli [12] da vorn ist nicht gerade die beste Adresse. Und das Billard-Center auch nicht. Dort verkehren die Albaner.«

»Das ist mir egal«, sagte Hunkeler. »Ich trinke mein Bier, wo ich will.«

Er versuchte, seiner Stimme die Schärfe zu geben, die er üblicherweise draufhatte, wenn er wollte. Jetzt hatte er sie nicht drauf.

»Ich habe im Milchhüsli noch etwas getrunken und dabei eine Akte im Fall Barbara Amsler studiert. Diese Akte lässt mir keine Ruhe.«

»Nachtarbeit also«, grinste Madörin. »Was war das denn genau für eine Akte?«

»Ich rufe das Pikett an«, sagte Hunkeler, »und ihr braucht über eine Viertelstunde. Was soll das?«

»Ruhe«, sagte Lüdi scharf. »Wir können nicht mit Blaulicht durch den Nebel rasen. Das solltest du eigentlich wissen.«

»Hauser war hier«, sagte Hunkeler. »Der war schneller als ihr. Er hat fotografiert.«

»Und das lässt du zu?«, giftete Madörin.

»Ich habe ihn nicht kommen sehen, wegen des Nebels. Im Übrigen habe ich eine Depression, als wäre es kurz vor Weihnachten.«

»Das ist der Scheißnebel«, sagte Haller.

Sie standen und warteten. Keiner setzte sich auf die Steinbank, sie war zu feucht.

Dann traf die kriminaltechnische Abteilung ein, mit drei Wagen. Sie parkten auf dem Trottoir. Die Scheinwerfer wurden aufgestellt, der Platz wurde abgesperrt, die gewohnte Arbeit begann.

[13] Ein rundlicher Mann mit gerötetem Gesicht trat zu Hunkeler und fasste ihn am Arm. Es war Dr.de Ville, Elsässer und Leiter der Abteilung.

»Hélas, Hünkelé«, sagte er, »warum musstest du gerade über diesen Platz heimgehen? Der Mann hätte ruhig bis am Morgen sitzen bleiben können. Den macht niemand mehr lebendig.«

Hunkeler nahm eine Zigarette aus der Schachtel und schob sie sich zwischen die Lippen. Er sah Madörins giftigen Blick und schob sie in die Schachtel zurück. Dann suchte er beim Bäumchen die Kippe, die er weggespickt hatte, und hob sie auf.

»Der Tatort bleibt so, wie er angetroffen wurde«, sagte Madörin. »Wer ist hier eigentlich Verfahrensleiter?«

»Diese Kippe habe ich weggeworfen, als ich auf die Ambulanz und auf euch gewartet habe. Der Verfahrensleiter bin ich. Und ich ordne an, dass wir die Kriminaltechniker ihre Arbeit tun lassen. Lüdi und Madörin gehen ins Billard-Center und nehmen die Personalien der Gäste auf.«

»Wenn es einer von denen war«, sagte Lüdi, »so ist er längst über die Grenze. Und keiner kennt ihn.«

»Niemand verlässt das Lokal«, sagte Hunkeler, und er spürte, wie die Schärfe in seine Stimme zurückkehrte, »bevor nicht Adresse und Telefonnummer notiert sind. Haller und ich machen im Milchhüsli dasselbe.«

Als Hunkeler das Milchhüsli betrat, spürte er einen leichten Schwindel. Er blieb stehen und fasste sich an die Stirn. Er [14] sah die Bartheke, an der niemand saß. Die Darts-Automaten an den Wänden, an denen niemand spielte. Den Stammtisch, der rundum besetzt war, den Tabakqualm darüber. Es war ihm, als würde er in eine längst vergangene Zeit zurückkehren, an die er sich kaum mehr erinnern konnte, die ihn aber im Griff hatte und nicht entkommen ließ. Am liebsten wäre er gleich wieder umgekehrt, mit weiten Schritten Richtung Grenze gegangen hinaus ins Elsass. Über die nassen Wiesen gestapft, durch die lehmigen Wälder, die Steigung hinauf nach Folgensbourg, über die Hochebene zum Dorf, in dem sein Haus stand. Die Tür hätte er geöffnet, die Katzen gerufen, im Ofen Feuer gemacht, sich ins Bett gelegt und sich zugedeckt bis über den Kopf. Dann das Knistern des Holzes, das Schnurren der Katzen, das Rufen der Eulen draußen in den Bäumen.

Er nahm die Hand von der Stirn, als ob er sich den Schweiß wegwischen wollte, trat an die Theke und bestellte bei Milena eine Tasse Kaffee. Er schaute zu, wie sich Haller an den Stammtisch setzte, die Pfeife ansteckte und einen Schreibblock aus der Tasche nahm. Das alles war so sinnlos, so langweilig, so dumm. Er sah, wie Hermine wimmernd in Luises Armen lag.

»Hardy ist tot, nicht wahr?«, sagte Milena, als sie ihm die Tasse hinstellte.

»Ja.«

»Wer hat das getan?«

»Ich weiß es nicht.«

Milena war Serbin. Sie hatte zwei schulpflichtige Töchter, die man manchmal abends in der Küche hinten ihre Aufgaben machen sah. Sie war bleicher als sonst. Sie schaute Hunkeler [15] lange und genau an. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. Diese Langsamkeit war einer der Gründe, weshalb er sie so gern mochte.

»Ich kann mir nicht vorstellen«, sagte sie, »dass es irgendeinen Grund gibt, Hardy umzubringen. Der tut keiner Fliege etwas.«

Er rührte zwei Zuckerwürfel in den Kaffee, er tat es ebenfalls langsam.

»Man weiß nie, wer wem etwas antun kann«, sagte er. »Ist dir heute Abend irgendetwas Besonderes aufgefallen?«

Sie überlegte, schüttelte wieder den Kopf.

»Es ist Ende des Monats. Ein paar haben ihr Geld schon bekommen, sie haben Runden bezahlt. Es ist viel getrunken worden. Aber nicht mehr als an anderen Monatsenden.«

»Ist Hardy hier gewesen? Ich meine, bevor ich hier war?«

»Ja, um acht, wie immer. Er hat Apfelsaft getrunken, bis um neun. Dann hat er sich auf seinen Marsch gemacht, wie jeden Abend. Er trinkt keinen Alkohol mehr, seit ihn Hermine aus ihrer Wohnung geworfen hat. Er konnte nicht mehr schlafen. Er hat jede Nacht den Block umrundet, in dem sie wohnt, als ob er sie hätte bewachen wollen. Aber das weißt du ja.«

Sie senkte den Blick und schob sich eine Strähne aus dem Gesicht.

»Jetzt ist er tot«, sagte sie.

»Als Hardy da war von acht bis neun, ist dir in dieser Zeit etwas aufgefallen? War jemand da, den du noch nie gesehen hast?«

Sie dachte nach, ihr Blick hellte sich auf.

»Ja, zwei Herren mittleren Alters. Kräftig gebaut, gut [16] angezogen, mit Krawatte und so. Sie haben Kaffee getrunken. Der eine wog bestimmt über hundert Kilo. Der andere trug eine Kette am linken Handgelenk, schweres, massives Gold.«

»Weißt du, was für Landsleute es waren?«

»Sie haben türkisch geredet. Vermutlich haben sie in der Pizzeria gegenüber Geld eingetrieben. Ich bin mir eigentlich sicher, ich kenne diese Art Herren. Sie kamen kurz nach Hardy. Sie haben sehr laut gelacht, das ist mir aufgefallen. Sie sind gleich nach Hardy gegangen.«

Hunkeler schaute zum Stammtisch hinüber, wo Haller etwas auf den Notizblock schrieb. Niemand redete, sie warteten gespannt auf die Fragen.

»Glaubst du, dass die beiden Hardy umgebracht haben?«

»Nein. Es waren Profis. Die bringen nicht einfach so einen alten Mann um.«

Er nahm sein Notizbuch aus der Tasche und schrieb hinein: Zwei Türken, Profis, der eine mit massiver Goldkette am linken Handgelenk.

»Es sind nicht die beiden gewesen«, sagte Milena, »die brauchen nur Gewalt, wenn es nicht anders geht.«

»Ich weiß. Trotzdem ist es merkwürdig, dass zwei Türken in einem serbischen Lokal Kaffee trinken. Oder nicht?«

»Nicht unbedingt. Das sind alte Geschichten, man muss sie vergessen.«

Sie nahm eine Wodkaflasche aus dem Kühlschrank, stellte Schnapsgläser auf ein Tablett und schenkte ein.

»Willst du auch einen?«

»Nein.«

Er schaute ihr zu, wie sie das Tablett zum Stammtisch trug, ein bisschen schlampig, aber doch voller Anmut.

[17] »Wie geht es Hedwig?«, fragte sie, als sie wieder hinter der Theke stand. »Sie ist doch in Paris?«

»Gut geht es ihr, hervorragend.«

Jetzt lächelte sie, mit einer Spur Spott, wie ihm schien.

»Ich gebe dir einen guten Rat. Geh heim und schlafe dich aus. Du hast dunkle Ringe um die Augen.«

Draußen überquerte er die Straße und sah, dass im Billard-Center noch immer Gerhard Laufenburger saß. Auch Nana und der Cowboy waren da. Am liebsten wäre er heimgegangen. Aber etwas wollte er noch wissen.

Skender, der albanische Wirt, kam auf ihn zu, als er das Lokal betreten hatte.

»Hören Sie, Herr Hunkeler«, sagte er aufgeregt, »das ist ein Missverständnis. Wir sind friedliche Leute. Wir bringen niemanden um. Das verbietet uns unsere Religion. Neuerdings meinen alle, wir Muslime seien Banditen und Mörder. Das ist eine Beleidigung.«

»Ich weiß«, sagte Hunkeler.

»Sie sind der Chef. Schicken Sie die beiden Polizisten weg. Das sind schlechte Menschen. Sie behandeln uns wie Hunde und wollen unsere Adressen wissen.«

Hunkeler schaute hinüber zu den Billardtischen, die leer standen. An den Kaffeetischchen nebenan saßen dicht gedrängt die albanischen Gäste. Junges Volk, vor allem Männer, wenige Liebespaare.

»Der Nächste bitte«, sagte Madörin, der vor ihnen stand, mit scharfer Offiziersstimme. »Genauer Name, [18] genaue Adresse, genaue Telefonnummer. Und keine faulen Tricks. Wer lügt, bekommt Schwierigkeiten. Wir überprüfen alles.«

Nebenan saß Lüdi und notierte mit versteinertem Gesicht, was er hörte.

»Ich habe Hardy gern gemocht«, sagte Skender, »besonders seit er keinen Alkohol mehr trank. Wer bringt so einen alten Mann um?«

»So alt war er noch gar nicht«, sagte Hunkeler, »er war um die sechzig.«

»Wir sind ein Lokal für meine albanischen Landsleute, aber auch für Leute von hier. Wir sind tolerant, wir schenken Alkohol aus, auch wenn die Schweizer manchmal zu viel trinken. Aber wir sind ein anständiges Lokal, wir brauchen keine Polizei.«

»Es tut mir leid, es muss wohl sein. Es wird nichts nützen, aber irgendetwas müssen wir ja tun.«

Er grinste, er versuchte, mit dem linken Auge zu zwinkern. Es gelang ihm schlecht, er war einfach zu müde.

Er setzte sich neben Nana an den runden Tisch. Laufenburger hatte seine Siamkatze bei sich, sie schnurrte auf seinem Schoß. Der schwarze Hund des Cowboys lag auf dem Boden und schlief. Im sechs Meter langen Aquarium an der Wand schwammen ein paar Fische, ruhig und still. Im Fernseher in der Ecke lief ein Videoclip, niemand schaute hin. Auf dem Tisch stand eine halbvolle Flasche Rotwein. Hunkeler hätte gern davon getrunken. Doch er bestellte Kaffee.

»Warum bist du hier sitzen geblieben?«, fragte er. »Du hast doch die Ambulanz auch gehört.«

[19] »Weil ich nicht wegkonnte wegen der Katze«, sagte Laufenburger.

»Die nimmst du doch sonst überallhin mit.«

Laufenburger senkte den Blick, griff zum Glas und nahm einen Schluck.

»Ich habe Hardy nicht gemocht«, sagte er.

»Warum sagst du das? Du hast ja gar nicht wissen können, dass es um Hardy ging.«

Wieder griff Laufenburger zum Glas. Seine Hand schien leicht zu zittern.

»Nana ist hinausgerannt, um zu sehen, was los war. Sie ist gleich wiedergekommen und hat gesagt, Hardy sei tot. Dann ist sie wieder hinausgerannt.«

Er hob den Blick und sah Hunkeler direkt in die Augen.

»Hardy ist mir stets auf die Nerven gegangen. Er war nicht ganz sauber. Weißt du das nicht?«

»Wie meinst du das?«

»Krumme Touren. Warum war er immer wieder weg?«

»Er hat mir erzählt«, sagte Hunkeler, »er habe eine Hütte im Elsass, am Morschwiller Weiher, glaube ich.«

»So? Womit hat er denn die bezahlt? Und sein Diamant war gut und gerne 20000 wert. Woher hat er ihn gehabt?«

»Er war Lastwagenchauffeur«, sagte der Cowboy, »bevor er Magenkrebs bekam. Sie haben ihm die Hälfte herausgeschnitten. Er hatte eine hohe Rente. Jedenfalls hat er immer genug Geld gehabt. Und den Diamanten hat er schon immer getragen.«

»Wer’s glaubt, wird selig«, sagte Laufenburger.

»Wer hat eigentlich Hermine informiert?«, fragte Hunkeler.

[20] »Ich«, sagte Nana, »ich habe ein Handy.«

Hunkeler schaute sie an. Sie hieß eigentlich Natascha und war Weißrussin. Eine fünfzigjährige Frau, blondgefärbtes Haar, helles, feines Gesicht, eine Spur von Sommersprossen. Er schaute Laufenburger an, seine lächerliche Schiffermütze, die Silberkette an seinem Hals, die nikotingelben Finger. Er hasste diesen Kerl plötzlich, er hasste sich selbst.

»Wie halten Sie es eigentlich aus mit diesem Wrack?«, fragte er.

»Er ist kein Wrack«, sagte Nana. »Er trinkt im Moment bloß viel Wein. Aber ich koche für ihn, und manchmal isst er ein bisschen. Ich liebe ihn.«

Hunkeler schmiss das Geld für den Kaffee hin und ging hinaus. Er war jetzt wirklich wütend. Er hasste diese Kneipen, er hasste diese Stadt, er hasste diesen Beruf. Alles Lumpenpack, dachte er. Tut nichts, arbeitet nichts, hockt herum und bezieht Rente. Und wird sogar noch geliebt.

Vorn auf der Kreuzung sah er die Kriminaltechniker im weiß bestrahlten Nebel arbeiten. Zwei junge Typen knieten neben dem Bäumchen und untersuchten den Boden. Auf einer Bahre lag der tote Hardy.

Er ging ohne Gruß vorbei und bog in den St.Johanns-Ring ein Richtung Mittlere Straße.

Er hatte eine unruhige Nacht, obschon er todmüde war. Er rollte sich ein in die Embryostellung, die ihm üblicherweise erlösenden Schlaf bescherte, Hände an den Schläfen, Knie angezogen, eingekugelt in die warme Decke. Es gelang ihm [21] auch mehrmals, wegzutauchen und anzudocken an das, was er nicht kannte, ans altvertraute Ungewisse, in dem er sich heimisch fühlte. Aber immer wieder schreckte er hoch, musste auftauchen aus der behütenden Traumwelt. Schmerzlich war dieses Aufsteigen, das in rasendem Tempo vor sich ging, es schmerzte fast physisch. Und dann sah er wieder, wie Hardys Kopf zur Seite kippte.

Er hatte zu viel Kaffee getrunken. Kaffee am späten Abend war er nicht gewohnt. Er hatte um zehn, als er das Milchhüsli betrat, einen Espresso bestellt und allein an einem Tisch gesessen, weil er den Abschiedsbrief von Barbara Amsler noch einmal hatte lesen wollen. Barbara war eine Nutte gewesen, die ein regelmäßiges, nicht sehr hohes Einkommen als Prostituierte versteuert hatte. In Schinznach Dorf, Kanton Aargau, aufgewachsen, schwierige Jugend, ihr Vater war ursprünglich Landwirt und Weinbauer gewesen und arbeitete dann im Elektrizitätswerk an der Aare unten. Ihre Mutter war eine Zugezogene, hieß Rosa Minder, beide Eltern waren verstorben. Barbara war schon früh weggelaufen von zu Hause, hatte fast keine Schulbildung, war in mehreren Heimen und Anstalten gewesen. Sie war dann nach Basel gekommen und hatte an der Kasse eines Lebensmittelkonzerns gearbeitet. Am 14.August war sie, knapp 32Jahre alt, im Allschwiler Weiher gefunden worden, erdrosselt mit einem Strick aus weißer Rohseide. Der Allschwiler Weiler lag auf basellandschaftlichem Gebiet. Und da der Fundort über die Zuständigkeit entschied, war die Kriminalpolizei Baselland zuständig. Da aber der Tatort möglicherweise in Basel-Stadt lag, war Kommissär Hunkeler eingeschaltet worden.

[22] In ihrer Wohnung in der Schneidergasse hatte er einen Brief gefunden, den er als Abschiedsbrief betrachtete. Er lautete: »Wenn du mich trittst, sehne ich mich nach dir. Wenn du mich schlägst, krieche ich zu dir. Wenn du mich tötest, bleibe ich für immer bei dir.«

Diese Sätze hatte Hunkeler immer und immer wieder gelesen, als ob sie ihm den Schlüssel zu diesem Mordfall hätten liefern können. Er hatte sich in den Fall verbissen wie noch selten in seiner Karriere. Und er wollte ums Verrecken nicht zugeben, dass er ihn nicht lösen konnte. Der Norditaliener Enrico Casali, für den Barbara im Singerhaus und im Kleinbasler Klingental offensichtlich angeschafft hatte, hatte ein hieb- und stichfestes Alibi. Und ihre Kolleginnen wussten von nichts.

Hunkeler konnte ihr schmales Gesicht, ihren vollen Mund, der ihn an eine Pflanze erinnerte, nicht vergessen. Er selber stammte auch aus dem Aargau. Er kannte diese Art Frauen, die lieb und sanft waren wie die Täler, aus denen sie kamen, er mochte sie.

Im Milchhüsli hatte er um elf an den Stammtisch hinübergewechselt und drei Stangen Bier getrunken. Er hatte Gesellschaft gebraucht, menschliche Wärme. Nach zwölf hatte er das Lokal verlassen und den toten Hardy gefunden. Gegen zwei hatte er im Milchhüsli einen weiteren Kaffee getrunken, und später noch einen im Billard-Center. Und das war eindeutig zu viel gewesen.

Er spürte, wie sein Puls hämmerte. Üblicherweise schlief er wie ein Stock, das Schlafen war eine seiner Stärken. Jetzt pumpte sein Herz, als ob er einen Berg hochgestiegen wäre. War es das Alter, klappte sein Kreislauf zusammen?

[23] Er hörte es von der nahen Turmuhr schlagen, er zählte mit, vier Mal.

Er erhob sich, ging zum Telefon und stellte eine Pariser Nummer ein. Er ließ es 14Mal klingeln, bis Hedwig antwortete.

»Ja?«, hauchte sie.

»Ich brauche dich«, sagte Hunkeler, »jetzt gleich. Du musst mit mir reden.«

»Was hast du denn? Ich bin mitten im Schlaf. Ruf morgen an.«

»Nein, leg nicht auf. Ich brauche deine Stimme.«

»Was willst du mit meiner Stimme? Du spinnst.«

»Bist du allein?«

Sie kicherte, sie war endlich wach geworden.

»Nein, ich bin mit jemandem zusammen. Mit einem Traum.«

»Ich bringe den Kerl um«, schrie er.

Sie lachte, sie ließ sich Zeit.

»Ich bin mit den Pointillisten zusammen, mit Seurat und Sisley. Die sind pures Licht.«

»Seurat kenne ich. Das ist der mit den vielen Tupfern. Der kann nicht einmal einen anständigen Strich ziehen. Komm zu mir.«

»Mitten in der Nacht? Du bist verrückt.«

»Hardy ist tot«, sagte er. »Jemand hat ihm das Genick gebrochen.«

Stille, sie war erschrocken.

»Bist du noch da?«, schrie er.

»Ja. Ist das der sympathische Alkoholiker, der mit der sexy Stimme?«

[24] »Ja, der. Aber er hat seit zwei Monaten nicht mehr gesoffen.«

Sie wartete, er hörte, wie sie sich aufsetzte.

»Es wird also nichts mit Paris am nächsten Wochenende«, sagte sie kühl.

»Nein. Aber ich werde dich jede Nacht anrufen.«

»Hör mal«, sagte sie nach einer Pause, »ab und zu mag ich einen solchen Anruf schon. Aber die kommenden Nächte werde ich mein Handy abschalten. Ich habe nämlich ein Sabbatical, um mich zu erholen.«

Sie brach ab.

Er trat auf den Balkon hinaus und schaute in den Hinterhof. Er sah nichts als Nebel. Nur ein leises Rascheln war zu hören. Es mussten die letzten Herbstblätter des Ahorns sein.

Als er erwachte, war es schon neun, aber das war ihm egal. Es würde ohnehin Schwierigkeiten geben, das war so gewiss wie das Amen in der Kirche. Beim Auszug der Staatsanwaltschaft aus dem Lohnhof in den Waaghof war enorm umstrukturiert worden. Wer sich den neuen Strukturen nicht anpassen konnte oder wollte, musste früher oder später mit Schwierigkeiten rechnen. Und zu diesen Leuten gehörte der alte Kommissär Peter Hunkeler.

So alt, wie er war, kam er sich allerdings nicht vor. Aber das war wohl eine der Hauptschwierigkeiten, die sich beim Altern ergaben. Das Bild, das man von sich selbst hatte, hinkte der Wirklichkeit hinterher.

Als er sich im Bad das Kinn einseifte, um sich die grauen [25] Barthaare wegzuschaben, hielt er einen Moment inne und betrachtete sich im Spiegel. Er kannte das Gesicht genau, das er sah, es war schließlich sein eigenes Gesicht. Es gefiel ihm nicht schlecht, es gefiel ihm auch nicht gut. Es war nichts anderes als sein Gesicht, das ihn anschaute aus dem Spiegel.

Er griff zur Klinge und fing wie immer rechts unten an. Die wenigen Jahre bis zur Pensionierung würde dieses Gesicht noch halten, das hoffte er wenigstens. Und bis dahin gedachte er nicht, sich groß umstrukturieren zu lassen.

Auf der Straße unten beschloss er, das Auto wegen des Nebels stehenzulassen. Er betrat die Wirtschaft Sommereck, setzte sich zu Edi an den Stammtisch und bestellte Kaffee. Er nahm die beiden Zeitungen und blätterte sie durch, aber es stand nichts drin über Hardy. So schnell war auch der Windhund Hauser nicht gewesen.

»Ich hätte da noch ein schönes Stück Elsässer Speck«, sagte Edi, als er den Kaffee brachte. »Diese Sau ist von der Bäuerin ausschließlich mit Küchenabfällen und Kartoffeln gemästet worden. Sie hat in der Wiese geweidet und sich im Bach gesuhlt und ist im Kamin geräuchert worden. Mit frischem Weißbrot ist das ein Gedicht.«

»Nein danke«, sagte Hunkeler, »Speck am Morgen mag ich nicht.«

»Schade«, sagte Edi, schnitt den Speck in Scheiben und stopfte sich einige in den Mund. »Schade um Hardy. Wer hat ihn umgebracht?«

Hunkeler zuckte mit den Achseln. Er trank langsam den Kaffee.

»Wenn du mich fragst«, sagte Edi, »sind es diese Albaner [26] aus dem Billard-Center gewesen. Die haben alle ein Messer bei sich, die stoßen bei jeder Gelegenheit zu.«

»Hardy ist nicht erstochen worden.«

»Und der Schnitt am Hals? Woher kommt der?«

»Woher soll ich das wissen? Schwatz nicht so viel am frühen Morgen.«

»Früher Morgen? Es ist bald zehn.«

Hunkeler bezahlte und ging hinaus. Er schob sich zwischen zwei Autos durch, die vor der Ampel warteten. Die Scheibenwischer bewegten sich, obschon es nicht richtig regnete. Die Fahrer beachteten ihn nicht, sie schienen mit offenen Augen zu schlafen. Er überquerte den Vorplatz der Kantonalbank und sah, dass er nicht mehr abgesperrt war. Sie dachten also, sie würden nichts mehr finden. Oder sie wollten nichts finden.

Er stieg in den überfüllten Dreier und fuhr bis zum Barfüßerplatz.

Als er den Waaghof betrat, winkte ihm Frau Held von der Pforte. Er ging hin und grüßte freundlich, so freundlich, wie es ihm möglich war an diesem nassen Morgen.

»Was machen Sie für Sachen?«, fragte sie. »Man erzählt sich, sie hätten gestern Nacht mit einem Mann, der jetzt tot ist, in Basels übelster Kaschemme herumgesoffen.«

»So, erzählt man sich das?«

Er beugte sich vor und betrachtete wieder einmal ihre schön geschwungenen Lippen.

»Ich verrate Ihnen ein Geheimnis. Ich bin gestern Abend [27] im Milchhüsli gewesen an der Missionsstraße. Das ist Basels lustigste Kneipe, ein Geheimtipp. Da müssen Sie auch einmal hingehen. Vielleicht treffen wir uns dann und trinken einen Halben zusammen.«

Er zwinkerte mit dem linken Auge, sie kicherte.

In seinem Büro setzte er sich auf den Holzstuhl, den er von zu Hause mitgebracht hatte. Er betrachtete den Raum. Nirgends hing ein Bild, er hatte viel übrig für weiße Wände. In einer Ecke stand der Drehstuhl, den man rückengerecht verstellen konnte. Auf Regalen an der Wand Aktenordner, neben dem Computer auf dem Pult zwei Schreibhefte, Stöße von handbeschriebenen Zetteln. Er kam sich vor wie ein stummer Fisch im Aquarium. Er rückte nach hinten, stellte die Füße gegen die Tischkante, erst den linken, dann den rechten, kippte den Holzstuhl. Er umfasste die Knie und legte den Kopf darauf. Das ging immer noch gut, trotz seines Bierbauchs. Er atmete aus, wartete den Moment der Leere ab, atmete dann, ohne einzuhalten, wieder ein. Das gefiel ihm, dieser fließende Übergang, er achtete nur noch darauf.

Jemand klopfte an die Tür. Er reagierte nicht. Er hörte, wie jemand hereinkam. Es waren Madörins Schritte.

»Störe ich?«

Hunkeler löste seine Umklammerung. Er nahm die Füße von der Tischkante und ließ den Stuhl nach vorn kippen.

»Ja, du störst.«

Madörin ging zum Drehstuhl und setzte sich. Er wartete lang, er schien bekümmert zu sein.

»Ich weiß nicht, was los ist mit dir«, sagte er. »Du machst mir echt Sorgen. Es gab eine Zeit, da habe ich dich gern gemocht. Ich habe viel von dir gelernt, das weißt du. Aber seit [28] einiger Zeit lässt du dich gehen. Du lässt dich fallen, du bist bereits tief gefallen. Und du lässt dir nicht helfen, auch von deinen besten Kollegen nicht.«

»Was hast du?«, fragte Hunkeler. »Sonst redest du nicht soviel.«

Madörin schüttelte den Kopf, mit traurigem Hundeblick.

»Deine Ironie wird dir nicht mehr helfen. Auch dein scharfer Verstand nicht.«

Er erhob sich, schien hinausgehen zu wollen, blieb aber noch einen Moment.

»Staatsanwalt Suter ist, wie du weißt, auf einem Psychologiekongress in Baden-Baden. Ich habe ihn informiert. Er wird um 14Uhr zurück sein. Der Rapport findet um 16Uhr statt. Es wäre schön, wenn du auch teilnehmen würdest.«

»Bist du wahnsinnig?«, schrie Hunkeler. »Was meinst du denn, was ich hier tue?«

»An deiner Stelle würde ich nicht so laut schreien«, sagte Madörin. »Ich glaube, du täuschst dich über deine Situation. Es hat nämlich jemand vor der Kantonalbank gegen den Baumstamm gepisst. Und gekotzt hat er auch.«

Er öffnete leise die Tür und ging hinaus.

Hunkeler schaute zu, wie sich die Tür schloss, sehr langsam, als ob jemand ein Krankenzimmer verlassen hätte. Was war los? Selbstverständlich hatten sie herausgefunden, dass jemand gepisst und sich erbrochen hatte. Und natürlich vermuteten sie, dass er es gewesen war. Aber was war denn so schlimm daran? War er ein Auslaufmodell, das weggemobbt werden musste?

Er hätte sich ohne weiteres zurückziehen können in die Frühpension. Er hätte im Haus im Elsass genug zu tun gehabt. [29] Zudem hatte er eine Frau, die er liebte und die ihn, wie er glaubte, ebenfalls liebte, auch wenn sie im Moment in Paris hockte und die Pointillisten anhimmelte.

Sabbatical, ha! Was glaubten denn diese Kindergärtnerinnen eigentlich, was sie sich alles herausnehmen konnten? Diese verwöhnten Staatsangestellten, die mit putzigen Kindern Ringelreihen tanzten? Er selber hatte nicht mit Kindern zu tun, sondern mit erdrosselten Huren und alten Männern mit gebrochenem Genick. Er hätte auch ein Sabbatical brauchen können.

Er grinste bitter, denn es fiel ihm ein, dass er selber auch Staatsangestellter war. Ein Staatskrüppel, abgesichert gegen Krise und Elend, eingebettet ins helvetische Netz der wohlhabenden Rechtschaffenheit. Das war wohl der Grund, weshalb er immer wieder abtauchte zu den verlorenen Nachtvögeln. Weil er Menschlichkeit brauchte. Weil er leben wollte. Weil er atmen wollte.

Nein, sie würden ihn nicht einfach so, mir nichts, dir nichts, hinausekeln können. Er war noch immer baselstädtischer Verfahrensleiter im Fall Barbara Amsler, auch wenn er den Fall nicht lösen konnte.

Er nahm den Abschiedsbrief aus der Jackentasche und las: »Du hast mir gezeigt, was Liebe ist. Was du mir gezeigt hast, bleibt bei mir. Du bist ein Teil von mir. Wenn du mich trittst, sehne ich mich nach dir. Wenn du mich schlägst, krieche ich zu dir. Wenn du mich tötest, bleibe ich für immer bei dir.«

Hunkeler griff zum Handy und rief seinen Hausarzt an.

»Ich brauche zwei Termine«, sagte er. »Einen bei einem Urologen, und einen bei einem Herzspezialisten.«

[30] »Warum?«, fragte der Arzt.

»Meine Pumpe dreht durch. Und ich muss dauernd pissen.«

»Nach wie viel Bier?«

»Gestern Abend waren es drei Stangen. Ich habe es nicht einmal mehr bis nach Hause geschafft.«

Der Arzt überlegte. Er kannte Hunkeler genau, sie hatten zusammen das Gymnasium besucht.

»Ein Kommissär, der in den Rinnstein uriniert«, meinte er trocken, »gehört pensioniert.«

»Es war nicht der Rinnstein, es war ein beschissenes Zierbäumchen.«

»Warum muss es eigentlich immer ein Baum sein?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Dann komm einmal her und rede mit mir.«

»Nein«, sagte Hunkeler, »ich brauche Spezialisten. Ich will wissen, was los ist. Sag mir die Daten auf den Beantworter zu Hause.«

Er legte auf und blieb eine Weile ruhig sitzen. Doch, das war richtig. Vielleicht konnte man den Schaden beheben, vorläufig wenigstens.

Er verließ den Waaghof und ging die paar Schritte bis zum Hochhaus. Dort fuhr er mit dem Lift hoch in Harrys Sauna. Er legte sich drei Mal in den Schwitzraum, je eine Viertelstunde. Er fand keine Ruhe, er spürte wieder sein Herz hämmern.

Nach dem dritten Schwitzgang stieg er die Treppe hoch zur Dachterrasse. Er trat an die Brüstung und schaute hinunter, auf Heuwaage und Cityring. Er hörte das Rauschen des Verkehrs. Zu sehen war nichts, nur manchmal leuchtete [31] ein Bremslicht auf. Er hüllte sich ins Badetuch und legte sich auf eine der feuchten Liegen. Er versuchte, an nichts anderes zu denken als an Nebel, nichts anderes zu spüren als feuchte Kühle, sich an nichts anderes zu erinnern als an den Augenblick.

Als er erwachte, fühlte er sich gut. Er hatte traumlos geschlafen, er bemerkte das an den tiefen Atemzügen. Er war ziemlich durchfroren, aber das war richtig nach dem Schwitzen. Erstaunlich, dachte er, wie schnell sich so ein Menschenleib erholt, wenn man ihm die Zeit dazu gibt.

Pünktlich um vier saß er im Sitzungszimmer in Erwartung des Rapports, zusammen mit der gesamten Mannschaft. Sie hatten sich nur kurz zugenickt, als er hereingekommen war. Das war immer so bei einem neuen Mordfall, niemand hatte Lust zu reden.