i fell in love with hope - Lancali - E-Book + Hörbuch
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i fell in love with hope Hörbuch

Lancali

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Beschreibung

LIMITIERT: Erste Auflage mit wunderschönem Farbschnitt  Ein Krankenhaus, vier todkranke Jugendliche und die Hoffnung, die immer bei ihnen ist. Poetisch, sanft, schmerzhaft direkt und voller roher Gefühle: Die TikTok-Sensation auf Deutsch! Nach einem unfassbaren Verlust hat Sam sich fest vorgenommen, nie wieder zu lieben. Im Krankenhaus lernt Sam Neo kennen, einen todkranken, schlecht gelaunten Jungen, der eigentlich nur schreiben möchte, Sony, ein Mädchen mit nur einem Lungenflügel, Coeur, einen sanften Riesen mit einem versagenden Herzen. Gemeinsam versuchen sie, sich zurückzuholen, was die Krankheiten ihnen genommen haben, zu erleben, was sie nicht wie andere Jugendliche erleben dürfen. Die Freundschaft hält sie zusammen, und doch haben sie die Endlichkeit stets vor Augen. Als Hikari neu auf die Station kommt, verändert sich alles: Sam erkennt in Hikari die Seele einer alten Liebe wieder und der Frieden gerät ins Wanken …  

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Zeit:14 Std. 38 min

Sprecher:Simone Scheuer

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i fell in love with hope

LANCALI ist das Pseudonym von Lou-Andrea Callewaert. Lou wurde in Frankreich geboren und wuchs in den Vereinigten Staaten auf. Seit sie lesen kann, wollte Lancali Schriftstellerin werden. Sie studiert an der University of Florida Literatur und klassische Philologie und verfolgt auch dort ihre Leidenschaft für Literatur und Sprachen. Ihr Debutroman i fell in love with hope wurde auf Anhieb zu einem internationalen Bestseller.

POETISCH, SANFT, SCHMERZHAFT DIREKT UND VOLLER ROHER GEFÜHLENach einem unfassbaren Verlust hat Sam sich fest vorgenommen, nie wieder zu lieben. Im Krankenhaus lernt Sam Neo kennen, einen schlecht gelaunten todkranken Jungen, der eigentlich nur schreiben möchte, Sony, ein Mädchen mit nur einem Lungenflügel, und Coeur, einen sanften Riesen mit einem versagenden Herzen. Gemeinsam versuchen sie, sich zurückzuholen, was die Krankheiten ihnen genommen haben, zu erleben, was sie nicht wie andere Jugendliche erleben dürfen. Die Freundschaft hält sie zusammen, und doch haben sie die Endlichkeit stets vor Augen. Als Hikari neu auf die Station kommt, verändert sich alles: Sam erkennt in Hikari die Seele einer alten Liebe wieder, und der Frieden gerät ins Wanken …Die TikTok-Sensation auf Deutsch!

Lancali

i fell in love with hope

Roman

Aus dem Englischen von Anita Nirschl

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Paperback1. Auflage März 2024© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023© 2023 LancaliPublished by Arrangement with LANCALI LLC.Die amerikanische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel i fell in love with hope by Simon & Schuster, New York.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung eines Motivs von © Danielle Mazzella di BoscoUmschlagabbildung: © Miguel Rodrigues Batista (Illustration Hände); ZU_09 / Getty Images (Frühlingsblumen)Autorinnenfoto: © LancaliE-Book powered by pepyrus

ISBN 978-3-95818-799-3

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Vorwort

vorher

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Schlusswort

Leseprobe: Stars In Your Eyes

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorwort

Widmung

Für meinen Sam. Und für alle in der Welt, die sich ein bisschen weniger allein fühlen müssen

Vorwort

Diese Geschichte nimmt Teile meines Herzens und breitet sie dünn auf Papier aus. Erzählt aus der Perspektive einer allwissenden Erzählfigur, ist sie ein Erforschen von Freundschaft, Sünde, Krankheit, Liebe und all den Dingen, die uns menschlich machen.

Diese Seiten sind voller realer Erinnerungen, in Gestalt anderer Charaktere, ähnlicher Orte und derselben Ideen. Es ist wichtig zu erwähnen, dass viele der technischen Details von Krankheit in diesem Roman fiktiv dargestellt werden und nicht als medizinisch geprüfte Fälle analysiert werden sollten.

Diese Geschichte beinhaltet häuslichen Missbrauch, Essstörungen, heftiges körperliches Mobbing, Selbstverletzung, Selbstmord, Vergewaltigung, Depression, Angststörungen und blutige Beschreibungen von Krankheit.

Autoimmunerkrankungen sind eine heikle Sache aus der Perspektive eines Außenstehenden und noch mehr aus der Erfahrung eines Insiders. Es ist ein breites Spektrum, ein Pendel, das von chronisch bis tödlich schwingt. Eine große Mehrheit der Personen mit Autoimmunerkrankungen kann damit rechnen, ein normales Leben zu führen. Eine kleine Minderheit kann es nicht.

Diese Geschichte ist für beide. Sie ist für alle, die Einsamkeit kennen, und für alle, die auf der Suche nach sich selbst sind.

Ich hoffe, ihr findet einen Teil von euch in Sam, Hikari, Neo, Sony und Coeur wieder, so wie ich.

vorher

Die Liebe meines Lebens will sterben.

Es hat etwas Tragisches, das laut auszusprechen. Nein. Vielleicht nicht tragisch. Vielleicht einfach nur unfair. Aber während du den Anfang dieser Geschichte liest, wirst du wahrscheinlich feststellen, dass Tragödien und Ungerechtigkeiten für gewöhnlich zusammengehören.

Bevor die Liebe meines Lebens entschied, nicht mehr leben zu wollen, sagte er mir, dass die Sterne uns gehören. Wir verbrachten jede Nacht zusammen, sanft ineinander verschlungen auf groben Dachziegeln, während wir uns die Muster am Himmel einprägten. Selbst als er langsam dahinschwand, als sein Körper immer weniger Körper und mehr Leichnam wurde, glaubte ich, dass unsere Sterne ihm Zuversicht geben würden. Ich glaubte, sie würden ihn am Leben erhalten, solange er nur hinaufblicken und sehen würde, dass sie nicht verglüht waren.

Heute Nacht stehe ich mit ihm auf einer Brücke, während der Fluss schwarz dahinströmt und die Straßenlaternen einen goldenen Heiligenschein auf unsere vom Winter tauben Finger werfen.

»Bist du sauer auf mich?«, frage ich, denn heute sage ich ihm die Wahrheit. Ich sage ihm die Wahrheit über mich, die Wahrheit, die ich niemandem erzähle, das Geheimnis, das mich anders macht als alle, die er kennt. Ich werfe sie wie ein Lasso um seinen Hals, eine Rettungsleine, etwas, um ihn daran zu hindern, diesen letzten Schritt in die Dunkelheit zu machen.

Er schüttelt den Kopf, während er nach dem Geländer greift. »Ich bin nur neugierig.« Der Blick seiner gelb leuchtenden Augen, in dem ich immer versank, findet meinen. »Wie fühlt es sich an? Du zu sein?«

»Es fühlt sich an, als hätte ich gestohlen«, antworte ich. »Als würde mir dieser Körper nicht wirklich gehören.«

Geständnisse können schroff sein, sich wie eine Kapitulation anfühlen, aber meine sind sanft. Die Wahrheit darüber, wer ich bin, ergibt keinen Sinn, aber das muss sie auch nicht. Er weiß das. Er ist schon krank seit seiner Geburt. Krank zu sein lehrt dich, dass Gründe nur klägliche Versuche sind, Unglück zu rechtfertigen. Sie geben dir eine Illusion von dem Warum, aber warum ist eine laute Frage, und der Tod ist leise.

»Glaubst du mir?«, frage ich.

Er nickt.

»Liebst du mich noch?«

»Natürlich liebe ich dich noch.« Er seufzt, während er die Hand an mein Gesicht legt und mit dem Daumen über meine Wange streichelt.

Ich lächle.

Liebe ist unser wesentliches Element. Liebe hat uns zu Heuchlern gemacht.

Als Kinder taten wir so, als wäre das Krankenhaus eine Burg und wir wären ihre Ritter. Wir spielten Karten auf Patrouille, und er ließ mich jedes Mal gewinnen. Wir aßen im Erdgeschoss, während er sich Geschichten über die Gemeinen in Kitteln ausdachte, die vorbeigingen. Wir schliefen im selben Bett, während er von den Abenteuern flüsterte, die außerhalb der Palastmauern auf uns warteten. Dann küsste er mich, weil wir allein waren und einander gehörten und alles in Ordnung war.

Wir mussten so tun, als ob.

Die Luft war einfach nur dünn. Deswegen konnte seine Lunge nicht Atem holen. Er war einfach nur traurig. Deswegen konnte sein Herz nicht allein schlagen. Wir waren einfach nur müde. Deswegen gaben seine Muskeln nach, und er brach in meinen Armen zusammen.

Wir verbrachten unser ganzes Leben damit, so zu tun, als ob, aber wenn du das zu lange machst, erinnert dich die Realität auf die eine oder andere Weise daran, dass sie es nicht mag, beleidigt zu werden.

Heute Nacht haben wir uns gestritten. Wir haben uns gestritten wie noch nie zuvor, und er ist allein zu dieser Brücke gekommen, um von mir wegzukommen, denke ich. Ich bin mir nicht sicher. Nun, da er mein Geheimnis kennt, nun, da er weiß, wer ich bin, was ich bin, löst sich der Ärger, den wir teilten, auf, als säße er in einem schmerzenden Muskel, der zu heilen beginnt.

Er legt mir seine Jacke um die Schultern, weil ich zittere. Seine Arme gleiten unter meine, und er zieht mich an sich. Ich lehne mich in seine Wärme, unsere Silhouette unterbrochen von weißen Flocken, die auf die Szene herabsinken.

»Fallen die Sterne vom Himmel?«, frage ich.

»Das ist Schnee«, flüstert er. Vor Lachen widerhallend, streichelt er mir über den Rücken. »Das ist nur Schnee.«

Kühl und zart fällt Schnee auf meine Lippen.

»Gehört der Schnee auch uns?«, frage ich.

»Ja«, sagt er, den Mund an meinem Hals. »Alles gehört uns.«

»Danke.« Meine Finger verstricken sich in seinem Haar. »Für das Alles.«

»Ich danke dir.« Schmerz verätzt seine Kehle. Er presst sich noch fester an mich, als könne er in mir verschwinden, wenn er es versuchen würde. »Dafür, dass du mich dazu gebracht hast, ihm hinterherjagen zu wollen.«

Wieder versucht er zu lachen, aber es ist nicht dasselbe Lachen, das ich immer geliebt habe. Das Lachen, das ich liebe, hallt wider. Ich habe es seiner Brust entlockt, als er mit Nadeln in seinen Adern dalag. Als er meine Hand drückte, in dem verzweifelten Wunsch, sich an etwas Echtem festzuhalten. Jetzt versagt sein Lachen. Es endet abrupt, anstatt zu verklingen.

»Mein Liebster«, sage ich mit halb verlorener Stimme. »Warum bist du zu dieser Brücke gekommen?«

Die Straßenlaterne flackert. Die Sterne scheinen vom Himmel zu fallen, als hätten sie es eilig. Die Dunkelheit kriecht in die Szene, um nach den Rändern des Heiligenscheins zu greifen.

Er beißt die Zähne zusammen und kneift die Augen zu, als Schnee seine Tränen hervorlockt.

»Es tut mir leid, Sweet Sam«, sagt er mit stockendem Atem, während seine Finger die Jacke an meinem Rücken wie ein Laken zerknittern. »Ich wünschte, ich könnte weiter mit dir so tun, als ob.«

Unsere Burg steht hinter uns, lauschend. Als er in meine Schulter weint, spüre ich jeden Moment, in dem er je die Augen öffnete, wenn ich dachte, dass er es nicht mehr tun würde. Ich spüre, wie wir uns anlächelten, wenn der Tod entschied, ihn mir zurückzugeben, immer und immer wieder.

Also kann ich nur flüstern: »Ich verstehe das nicht.«

Er lehnt seine Stirn an meine, während Ströme brennende Spuren auf den frostigen Kanten seiner Wangenknochen hinterlassen, und eine Angst, die ich früher nur zu gut kannte, löst seine Umarmung ab.

»Ich bin froh, dass du mir dein Geheimnis erzählt hast«, sagt er, während sich Tränen am Schwung seines Lächelns verfangen. »Ich bin froh, dass du weiterleben wirst, selbst wenn ich fort bin.«

Er küsst mich, Schnee und Salz zwischen unseren Lippen.

Er küsst mich, als wäre es das letzte Mal, dass er je die Gelegenheit dazu haben wird.

»Vergiss mich nicht«, sagt er. »Vergiss nicht, nur weil die Sterne verglüht sind, bedeutet das nicht, dass sie es nicht wert waren, sich etwas zu wünschen.«

»Ich verstehe das nicht«, sage ich, aber der Kuss ist vorbei.

Seine Berührung ist bereits von meinem Gesicht abgefallen. Er hat sich bereits umgedreht und ist weggegangen. Erneut greife ich nach ihm, um unsere Finger miteinander zu verschränken, um ihn zurückzuziehen, wie ich es immer getan habe, doch stattdessen nimmt der Tod seine Hand.

»Warte.« Seine Fußspuren verblassen unter dem Weiß, werden ausgelöscht. »Warte!«

Er hört mich nicht. Er hört nur die Nacht von der anderen Seite der Brücke rufen, mit dem Versprechen von Frieden.

»Warte – bitte –« Meine Tränen werden echt, denn egal, wie sehr ich es versuche, ich kann ihm nicht folgen.

Die Gestalt unserer Erinnerungen wird dünner, verschwindet aus dem Schein der Straßenlaterne und fort in die Schatten.

»Nein, du kannst nicht – du hast nicht –« Ich schüttle den Kopf. »Du kannst noch nicht gehen – du darfst noch nicht weggehen – du –«

Du.

Mein Licht, meine Liebe, mein Grund.

»Du wirst sterben.«

Die Angst gräbt sich zwischen meine Rippen. Sie bricht meinen Körper, meine Lunge und mein Herz.

Als die Dunkelheit das Letzte von ihm verschluckt, kommt die Realität, um zu ernten, und der Schmerz liegt schwer in ihrer Hand wie eine Sense.

Der Schnee verwandelt sich in einen Sturm. Ich versuche, die tanzenden Flocken in meinen Händen zu sammeln, will sie zurück in ihren Himmel schicken. Ich lasse mich auf den Boden fallen, meine Knie brennen vor Kälte. Meine Burg beobachtet mich mitleidig. Meine Tränen regnen in den Fluss, mein Wimmern wird zu Schluchzen, und meine Erinnerungen zerfallen zu nichts.

Meine Sterne verglühen.

Und ich kann sie nicht retten.

1

gelb strahlende Augen

Jahre später …

Als er starb, wurde ich jemand anderes.

Früher träumte ich von uns, dachte, dass in dem gelben Strahlen seiner Augen eine Zukunft läge, auf die ich zählen konnte. Die Zukunft ist nie gewiss. Nichts lehrt dich das besser, als dabei zuzusehen, wie jemand, den du liebst, verschwindet.

Nichts lehrt es dich besser, als in einem Krankenhaus aufzuwachsen.

Das ständige weiße Rauschen hält dich bei Verstand. Krankenbetten rollen vorbei, und Mitarbeiter gehen auf den ihnen zugewiesenen Spuren, als wären sie auf einer Art medizinischer Autobahn. Außerdem gibt es fades, geschmackloses Essen und fade, geschmacklose Möbelstücke, um deine Haftstrafe zu untermalen. Das ist eigentlich alles, was ein Krankenhaus ist. Kein Ort, um gesund zu werden, oder ein Ort, um behandelt zu werden, sondern ein Ort, um zu warten.

Stellt euch eine an euer Handgelenk gekettete Bombe vor. Sie macht Geräusche. Wie ein Herzmonitor. Tag und Nacht. Ein Countdown. Ein Countdown, den man nicht sehen kann. Seht euch eure Bombe an, haltet sie hoch wie eine Armbanduhr. Alles, was euch entgegenstarrt, ist ein blinkendes rotes Licht mit diesem bellenden Piepsen. Mahnungen, dass diese Bombe hochgehen wird. Du weißt nur nicht, wann.

So ist es, auf den Tod zu warten.

Durch deine Adern treibt eine Bombe namens Krankheit.

Du kannst sie nicht entschärfen. Du kannst sie nicht zerstören. Du kannst nicht vor ihr davonlaufen.

Zeit, Krankheit und Tod funktionieren auf diese klägliche Art. Sie genießen es, Schlingen aus Angst zu knüpfen, und sie lieben es, Spielchen zu spielen. Schatten sind ihre Werkzeuge; sie krümmen sich wie unheimliche Finger um deine Schultern, locken dich in die Dunkelheit und nehmen deinen Körper, deinen Geist und alles, was ihnen gefällt, mit.

Zeit, Krankheit und Tod sind die größten Diebe der Welt.

Zumindest waren sie das.

Bis wir kamen. Vier Freunde, die nicht an Bomben glauben.

Als Sony in mein Leben platzte, lag sie nicht in einem Krankenhausbett, sondern trat gegen einen Snackautomaten, der sie um ihre Schokolade betrogen hatte. In der Sekunde, in der sie mich sah, schmolz ihr Frust dahin, und wir teilten uns miese Schokolade und sprachen über weithergeholte Träume, während wir auf dem kalten Fußboden des Krankenhausflurs saßen. Obwohl ich es damals nicht wusste, hatte sie einen viel größeren Verlust als den eines ihrer Lungenflügel überlebt. Mit Haaren in der Farbe von Feuer und einer Aura von Freiheit ist sie eine Gladiatorin, die mutigste Diebin, die ich kenne.

Coeur ist ein viel ruhigeres Wesen. Er ist unser Muskel, unser stets schuldiger Muskel. Seine Mutter ist Französin, sein Vater Haitianer, beide prätentiöse Namensgeber. Coeur bedeutet Herz, obwohl das Herz in Cs Körper gebrochen ist. Buchstäblich. Aber das Herz in seiner Seele ist das größte unter uns. Er ist der Liebende unserer Runde, und der schlechteste Dieb von uns.

Neo ist ein Literat, ein verbitterter Poet. Anders als Sony ist er still, und anders als C ist er reulos. Sein Rückgrat ist zerbrechlich, aber seine Worte kompensieren das. Er ist knochig und klein, so klein, dass wir ihn Baby nennen, obwohl er für ein Baby ziemlich aufbrausend ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er noch nie in seinem Leben gelächelt hat. Ihn kenne ich am längsten, und obwohl er mürrisch und gemein ist, ist das alles eine Maske, sein Schutz. Er ist außerdem der klügste Mensch, den ich kenne – aufmerksam, kreativ, zäh –, derjenige, der unsere großen Raubzüge plant und protokolliert. Er behauptet, Sony und ich wären Extrovertierte, die ihn gekidnappt und dazu genötigt haben, unser Freund zu sein, aber ich weiß, insgeheim genießt er unsere Gesellschaft. Krankenhäuser sind einsam, bis du deine Leute findest.

Neo, Sony und C sind schon seit Jahren immer wieder im Krankenhaus.

Wenn sie jetzt nach Hause gehen, gehen sie nicht lange nach Hause. Krankheiten sind gierig. Sie nehmen Teile von dir weg, bis du dich selbst nicht mehr wiedererkennst, und Neo, C und Sony erkennen sich außerhalb dieses Ortes nicht mehr wieder.

Ob du krank bist oder nicht, die Nacht macht aus Fenstern Spiegel. In der Vergangenheit zeigte sie meinen Freunden dort im Glas Bilder von Leichnamen: Skelette mit fleischlosen Knochen, Organe, die durch den Brustkorb herausfallen, aus dem Mund sickerndes Blut. Sie erschauderten bei dieser Prophezeiung, während ihre Fingerspitzen über die Oberfläche streiften, die sie in ihren Bann schlug. Diagnosen, Tabletten, Nadeln und so viele neue Spiegel, die sie nie finden wollten, drängten sich in ihr Leben. Ihre Spiegelbilder wurden ihre Realität.

Anstatt also diesen neuen Versionen von sich zu begegnen, verletzlich gemacht durch die Betten, in denen sie schliefen, und die Nachthemden, die sie trugen, schalteten meine Freunde das Licht aus. Sie stiegen eine Treppe hoch und trafen sich auf einem Dach. Sie ließen ihre Fingerspitzen über den Himmel streifen, ohne eine Barriere, die sie davon abhalten könnte, die Sterne zu berühren.

Trotzend.

Wir sollten einfach alles stehlen, sagte Sony. Sogar mit schwach brennender Flamme war sie mutig. Lasst uns alles stehlen, was wir können, bevor wir gehen.

Alles?, fragte C.

Alles.

Alles ist eine lange Liste, sagte Neo.

Euer Leben wurde euch gestohlen, sagte ich. Warum stehlt ihr nicht etwas davon zurück?

Das war der Tag, an dem unsere Liste geboren wurde. Aber bisher gehört uns noch nicht alles.

Stehlen ist eine Kunstform, und wir müssen erst noch zu Künstlern werden. Aber das hält uns nicht davon ab, es zu versuchen.

An einem wolkenlosen Nachmittag schleichen wir uns aus dem Krankenhaus. Sony übernimmt die Führung, während C Neo in einem Rollstuhl über den Boulevard schiebt. Wir machen uns auf den Weg den Gehsteig entlang und in einen Minimarkt. Sony schlendert zu einem Aufsteller voller Sonnenbrillen und setzt eine Pilotenbrille auf, späht den Laden aus und nickt.

»Jetzt«, sagt sie. Das Preisschild baumelt von ihrer Schläfe.

C geht zur Kühlabteilung.

»Jetzt?« Neo schaut hoch, dabei streichelt er das Buch, das ihm nie von der Seite weicht. Seine Ausgabe von Große Erwartungen. Es ist eine Konstante, wie ein Schönheitsfleck oder die Form seiner Nase. Und es hat einen schiefen Rücken, genau wie er.

»Jetzt«, befiehlt Sony mit geschwellter Brust.

»Wird man uns nicht erwischen?«, flüstere ich, während ich mich in dem Tankstellenkiosk umsehe. Drei Leute wandern zwischen den Regalen umher, der Kassierer blättert in einer Zeitschrift.

»Wir werden definitiv erwischt«, sagt Neo.

Schmunzelnd sieht Sony am Rand ihrer bald schon gestohlenen Sonnenbrille vorbei auf ihn hinunter.

»Warum sollten wir erwischt werden?«, neckt sie.

Neo schnaubt. »Wir werden immer erwischt.«

»Heute ist es anders. Der heutige Tag ist auf unserer Seite«, verkündet Sony und nimmt einen tiefen und dramatischen Atemzug. »Kannst du es nicht riechen, Neo? Wie süß die Luft ist?«

»Wir stehen neben einem Süßwarenregal, du Idiotin!« Neos Rollstuhl knarzt, als er den Kopf zurücklegt, um mich anzusehen. »Sam. Sag ihr, dass sie eine Idiotin ist.«

Das würde ich ja, aber ich schätze mein Leben.

»Sony, du bist eine Idiotin«, sagt Neo, während er einen Stift und ein Notizbuch nimmt, die in seinem Rollstuhl liegen, und hineinkritzelt. 16:05 Uhr: Sony ist eine Idiotin.

Neo ist unser Schreiber – derjenige, der unsere großen Taten aufzeichnet.

Zugegeben, er hat nicht wirklich in den Job eingewilligt. Er hat nicht mal eingewilligt, bei dieser Mission mitzukommen. Aber wenn dein Rückgrat die Form eines Hakens hat, kannst du den Fesseln der Freundschaft nicht entkommen. Der Rollstuhl ächzt, als ich ihn knapp außerhalb Sonys Reichweite ziehe.

»Es ist ein Wunder, dass du überhaupt eine Rücken-OP brauchst, Baby.« Sony hat keinen Job an und für sich. Sie ist die Verteilerin von Jobs und fungiert als der Teufel auf meiner Schulter, mit einem breiten, schamlosen Grinsen. »Der Stock in deinem Arsch könnte doch sicher als Rückgrat herhalten, oder nicht?«

»Du laberst ziemlich viel Scheiße für jemanden, der nicht mal eine Treppe hochkommt«, knurrt Neo. Ich ziehe seinen Rollstuhl noch ein bisschen weiter zurück.

»Das ist mein Talent.« Sony seufzt mit ihrem einen Lungenflügel voller Ehrgeiz. »Und jetzt schau mir bei der Arbeit zu und stör nicht meine Konzentration.«

Neo und ich beobachten, wie Sony zum Tresen marschiert. Ihre schmutzigen weißen Sneaker quietschen auf den Fliesen. Die Teufelin vergisst dabei nicht, unterwegs einen Lolli in ihre hintere Hosentasche zu schmuggeln.

»Kleptomanin«, brummt Neo.

»Entschuldigung …« Sony winkt mit den Armen über ihrem Kopf, um die Aufmerksamkeit des Kassierers auf sich zu ziehen. Sein flüchtiger Seitenblick wird zu einem zweiten Hinsehen. Sony ist hübsch. Die Art von hübsch, die brutal, strahlend und unbarmherzig ist. Aber ich schätze, sein Anstarren hat mehr mit den Sauerstoffschläuchen zu tun, die unter ihrer Nase und an ihren Wangen entlang verlaufen.

Die Zigaretten, auf die sie hinter dem Tresen zeigt, schaufeln ihr ihr Grab.

»Nur die, bitte«, sagt Sony.

»Miss, ich …« Der Tankstellenmitarbeiter unterbricht sich, um erst die Zigaretten und dann wieder sie anzusehen. »Sind Sie sicher? Ich glaube nicht, dass ich Ihnen die guten Gewissens geben kann.«

»Er starrt guten Gewissens auf ihre Brust«, presst Neo zähneknirschend hervor, als wolle er gleich in die Faust beißen, auf die sein Kopf gestützt ist.

»Oh nein, Sir, die sind nicht für mich – ähm …« Sony weicht zurück und lässt den Kopf hängen. »Meine Freunde und ich, wir …«

Der Teufel hat schnell Tränen parat. Sie presst eine Hand an ihre Lippen. »Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt. Neo, der Junge hier. Er muss morgen operiert werden. Krebs.«

Sie zeigt über ihre Schulter auf Neo und mich, und der Verkäufer nimmt Blickkontakt mit uns auf. Sofort sehen Neo und ich weg. Neo geht sogar so weit, so zu tun, als suche er eine Kaugummisorte aus, indem er die Zutatenliste auf der Rückseite studiert.

Sony schnieft trocken und wischt sich ungefallene Tränen fort. »Wir wollten einfach nur aufs Dach gehen wie in alten Zeiten, ein bisschen rebellieren«, sagt sie schulterzuckend, über sich selbst lachend. »Ich weiß nicht, was ich machen soll, falls er es nicht schafft. Er ist so eine gute Seele. Er hat seine Eltern bei einem Brand verloren, wissen Sie, und seinen Hund! Ich –«

»Okay, okay!« Der Kassierer greift nach einer Schachtel. »Nehmt sie einfach. Na los.«

»Oh, danke!«, zwitschert Sony, nimmt sie, ohne lange zu überlegen, und tänzelt zur Tür hinaus.

Schockiert darüber, dass das überhaupt funktioniert hat, jagen Neo und ich hinter ihr her. Es gelingt ihm, eine Tüte Gummibärchen zu mopsen und sie zwischen seinem Bein und der Armlehne zu verstecken. Sobald wir draußen sind und sich die Tür hinter uns schließt, atmen wir beide unsere Nervosität aus, während Sony ein paar übermütige Schritte macht und dann stehen bleibt.

»Schreib das auf«, kommandiert Sony und zeigt auf Neos Buch.

Neo tut wie befohlen und schreibt ins Notizbuch: 16:07 Uhr: Die Idiotin hat erfolgreich einen Busenglotzer dazu gebracht, ihr Zigaretten zu schenken.

Sony wirft die Schachtel in die Luft und fängt sie mit einer Hand wieder auf.

»Ich habe keinen Krebs«, sagt Neo.

»Nein, hast du nicht. Aber Krebs hat uns gerade zehn Mäuse gespart, was das einzig Gute ist, das er in absehbarer Zukunft tun wird.«

»Sony«, jammere ich.

»Was denn? Die Krebs-Kinder lieben mich. Sie lachen immer, wenn ich hinter ihnen herrenne und vor Sauerstoffmangel umkippe. Quid pro quo, ja?«

»Bist du sicher, dass sie nicht weinen?«, sagt Neo.

»Quid. Pro. Quo?«, frage ich.

Ich bin nicht sehr versiert in Allgemeinheiten, Dingen, die jeder weiß. Sarkasmus, Ironie, Sprichwörter, Sport. Das alles entzieht sich mir, bis Neo es mir erklärt.

»Das bedeutet ›etwas für etwas‹ auf Latein«, sagt er. Neo weiß alles.

»Ja!«, stimmt Sony ein. »So wie: Wenn du jemanden umbringst, dann wirst du umgebracht. Wie Karma! So funktioniert Quid pro quo.«

Ich sehe Neo an. »Stimmt das?«

»Nein. Gibt es einen Grund, warum ich hier dabei sein musste?«, fragt er. Sein Rollstuhl knarzt plötzlich, weil sein Gewicht sich durch etwas, das in das Fach darunter gesteckt wird, verändert. Neo runzelt die Stirn. Er dreht sich so weit um, wie sein Rücken es zulässt, und sieht, wie ein Sixpack unter seinem Sitz verstaut wird.

Der Muskel unserer Mission ist angekommen. C sieht eher wie ein Mann als wie ein Junge aus, groß und schön. Die Hände in die Hosentaschen gesteckt, schiebt er das Bier sanft mit dem Fuß tiefer in sein Versteck.

»Wie ist es gelaufen?«, fragt C.

Schnell prahlt Sony mit ihrer Beute.

»Ich habe durch Krebs zehn Mäuse gespart!«

C legt den Kopf schief. »Für Zigaretten?«

»Und Gummibärchen«, sage ich. Neo wirft die Tüte über seine Schulter hinweg vor Cs Brust.

»Komm schon, C.« Sony stemmt die Hände in die Hüften. »Was wären wir ohne Ironie, außer langweilige Klischees, oder?«

»Wie wär’s damit, einen Rollstuhlpatienten nicht als Packesel zu benutzen?« Neo versucht, sich wegzurollen, aber C hält die Rückenlehne fest, ganz so, wie man jemanden am Hemdkragen festhält.

Neo verdreht die Augen. Er nimmt ein anderes Notizbuch aus der Seitentasche, von dem das Deckblatt abgerissen ist. Während wir uns auf den Weg über die Straße machen, zurück nach Hause, fügt er die heutigen Errungenschaften unserer Liste hinzu.

Zigaretten (die Coolen aus den Bond-Filmen)BierEin LolliMistige SonnenbrilleGummibärchenEin Nachmittag draußenEin Haufen Angst

Krankenhäuser sind farblose, geschmacklose Orte. Aber selbst wenn ich nicht mehr so träume wie früher, gibt es keine aufregendere Gesellschaft als die Gesellschaft von Dieben.

»Baby, du bist unser Stützpfeiler«, sagt Sony. Stolz und Kameradschaft lassen ihr Gesicht aufleuchten. »Ohne dich würde die Mission auseinanderbrechen. Wer sonst würde über unsere glorreichen Geschichten Buch führen?«

»Außerdem gibst du einen ausgezeichneten Einkaufswagen ab«, fügt C hinzu und streichelt ihm über den Kopf.

»Schau, C, Verkehr«, sagt Neo und zeigt auf die Straße. »Schieb mich rein.«

C stopft Neo stattdessen eine Handvoll Gummibärchen in den Mund, während wir zurückgehen.

Sony springt über die weißen Linien des Zebrastreifens wie ein flacher Stein, den man über einen Fluss hüpfen lässt. C schiebt Neo direkt hinter ihr, zwei im Gänsemarsch folgende Küken. Ich bin die Nachhut, die Erzählfigur. Sie erreichen die Ziellinie immer vor mir.

Neo trägt unsere Liste auf dem Schoß. Ein Funken Licht verfängt sich in der Metallspirale des Blocks, flüchtig, als habe die Sonne entschieden, ihn zu necken. Ich sehe hoch, um sie zu finden, und blicke über die Reihe von Autos hinweg, die nach der Kreuzung abbiegen.

Mein Herz wird schwer.

Gleich hinter den Autos schneidet ein Fluss die Stadt entzwei. Seine Brücke ist alles, was beide Seiten verbindet. Eine Brücke, die ich schon mein ganzes Leben lang kenne und die Schmerz in meiner Brust weckt. Statt lachenden Fremden und Kindern, die Münzen ins Wasser werfen, sehe ich Schnee jenseits des Geländers. Ich sehe die Dunkelheit.

Gerade will ich wegsehen, die Vergangenheit sich selbst überlassen, doch da tritt etwas anderes dahinter hervor.

Gelb.

Nur ein flüchtiges Aufblitzen davon.

Das Grau duckt sich ängstlich, Streifen aus Farbe werden vom Wind des Flusses davongetragen. Ist die Sonne zur Erde herabgestiegen und hat sich entschieden, einen Tag zwischen ihren Untertanen zu verbringen?

Ich recke den Hals, um besser sehen zu können, aber da sind zu viele Leute auf der Brücke; die Pärchen, die Touristen und die Kinder versperren mir die Sicht, und Städte sind ungeduldig. Ein Hupen reißt mich wieder dorthin zurück, wo ich stehe und meine Freunde gleich vor mir warten.

»Sam?«, ruft C.

»Tut mir leid.« Ich haste den Rest des Wegs zurück. Als wir das Krankenhaus zusammen betreten, streift mein Kinn meine Schulter. Die Brücke ist zu weit weg, um mir wehzutun. Ich sehe zurück, bis mein Spiegelbild wie ein Geist über die Glastüren huscht.

»Sieh an, sieh an«, sagt Sony, den Lolli zwischen ihren Zähnen. »Die Schmuggler-Crew kehrt von einem Tag auf See zurück.« Sie steckt die Zigaretten in ihren Ärmel, sobald wir das Atrium erreichen.

Es ist alt und täuschend fröhlich, wie die meisten Kinderkrankenhäuser. Bunte Luftballons und verblasste farbige Fliesen versuchen, einen Ort aufzumuntern, an dem viele in gedämpfter Stimmung kommen und gehen. An den Wänden hängen Poster und Banner über Behandlungen und echte Überlebensgeschichten, aber auch die sind alt. Krankenschwestern und Ärzte stempeln ein und aus, um die Szene zu vervollständigen. »Jetzt, schnell!«, sagt Sony. »Bringen wir alles nach oben, bevor – Eric!«

Der berüchtigtste Gefängniswärter (Pfleger) unserer Station, Eric, hat ein gutes Gespür für Timing. Er zieht bei Sonys Tonfall eine Augenbraue hoch und klopft mit dem Fuß auf den Boden. Sein Lügendetektor ist eine scharfe Waffe, und wenn er wütend wird, würde ich seinen Zorn keinem echten Gefangenen wünschen.

»Und direkt unter der Nase der idiotischen Schmugglerin wiederholt sich die Geschichte«, kommentiert Neo. »Soll ich sagen Siehste, oder euch dafür verpetzen, dass ihr mich gekidnappt habt …« C stopft ihm noch mehr Gummibärchen in den Mund, während ich das Buch aus der Seitentasche aufklappe und vor sein Gesicht halte.

»Wo bist du gewesen?«, fragt Eric, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine dunklen Augenringe entsprechen der Farbe seiner Haare. Er macht sich Sorgen um uns, sonst wäre er nicht den ganzen Weg hier runtergekommen, um uns nach Hause zu scheuchen.

»Eric, Eric – zuerst mal –, ist das ein neuer Kittel?«, fragt Sony, wobei sie geschmeidig an ihm auf und ab zeigt. »Der bringt deinen Teint wirklich zur –«

»Nicht du.« Eric hebt die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Dann sieht er mich direkt an.

Ich wünschte, ich wäre unsichtbar.

»Nur ein bisschen frische Luft schnappen«, sage ich, den Blick zu Boden senkend, und kratze meinen Nacken.

»Frische Luft, was?« Nicht gerade überzeugt verzieht Eric das Gesicht. »Hast du vergessen, dass wir ein ganzes Stockwerk dafür haben?« Er bezieht sich auf den Garten im fünften Stock.

Als Neos Rücken noch funktionierte, haben wir vier uns dort oben in den Büschen versteckt. Wir machten den Plan, unser ganzes Leben in dem Garten zu verbringen, und taten so, als wären wir Waldmenschen, die von wilden Beeren lebten. Das klappte ungefähr drei Stunden lang, aber dann bekamen wir Hunger und fingen an zu frieren, und C war kurz davor, in Tränen auszubrechen, weil er sein Handy nicht laden konnte, um Musik zu hören. Wir kamen voller Mulch und nach Erde riechend zurück.

Seitdem ist Eric nicht allzu scharf darauf, uns aus den Augen zu lassen.

»Nun!« Sony ist unverdrossen. »Entschuldige, dass wir mal rausmussten.«

»Es reicht.« Eric fuchtelt mit den Armen durch die Luft, und wir vier drängen uns enger zusammen. »Ich sollte euch nicht sagen müssen, dass ihr nicht leichtsinnig sein sollt.«

Er zeigt auf Neo – »Du hast morgen eine OP« – und auf C – »Und du hast einen EKG-Termin« –, dann auf Sony: »Und du solltest nicht mal aus dem Bett aufstehen. Jetzt rauf mit euch!«

C schiebt Neos Stuhl vorwärts, während wir zu den Aufzügen traben. Sony drückt den Knopf mit ihrer Schuhsohle. Sobald wir das oberste Stockwerk erreichen, hebt C Neos dünnen Körper aus dem Rollstuhl und auf seine Arme, wobei er auf sein Rückgrat achtet. Von hier aus müssen wir die Treppe hoch, um aufs Dach zu kommen. Ich nehme den Rollstuhl, während Sony die Stufen hochhüpft.

Auf halber Strecke brauchen Sony und C eine Pause.

Sony schließt die Augen und lehnt sich ans Geländer. Eine Seite ihrer Brust hebt und senkt sich schwer und schnell, aber sie weigert sich, zum Atmen den Mund zu öffnen. Eine Niederlage so einzugestehen, ist eine Genugtuung, die sie einem bloßen Höhenanstieg niemals geben würde.

C lehnt sich ebenfalls ans Geländer, Neos Ohr flach auf die Mitte seiner Brust gedrückt.

»Klingt es wie Musik?«, fragt er mit fast verschwundener Stimme.

»Nein«, antwortet Neo. »Es klingt wie Donner.«

»Donner ist schön.«

»Nicht wenn ein Sturm zwischen deinen Rippen tobt.« Neo tippt auf die Narben von Blutgefäßen, die an Cs Schlüsselbeinen hochklettern. »In deinen Adern brodelt ein Gewitter. Es versucht, zu entkommen.«

C lächelt. »Du bist wirklich ein Poet.«

»Ja.« Neo verlagert sein Gleichgewicht, da sein Ohr zurück zu dem Herzschlag gerufen wird.

»Atme, Coeur.«

Das ist ebenfalls ritualisiert. Ein Moment der Stille für eine halbe Lunge und ein halbes Herz.

Sony ist die Erste, die die Augen öffnet und weitergeht. Sie tritt die Tür zum Dach weit auf und streckt die Arme aus, um auf beiden Seiten nach dem Horizont zu greifen. Sie pfeift die Melodie einer unverurteilten Gaunerin, begleitet von ein paar übermütigen Sprüngen.

»Wir haben es geschafft!«

»Wir haben es geschafft«, flüstere ich, während ich Neos Rollstuhl abstelle und die Atemschläuche an Sonys Ohr zurechtrücke. C setzt Neo sanft ab und reicht ihm ein paar Blätter Papier, die er aus seiner hinteren Hosentasche geholt hat.

»Hat es dir gefallen?«, fragt Neo.

»Ja.« Neo und C schreiben zusammen einen Roman. Neo ist der Autor. C ist die Inspiration, der Leser, die Muse, er hat Ideen, die er nicht immer in Worte fassen kann.

»Aber ich habe mich gefragt«, sagt C, immer noch das Kapitel im Kopf durchgehend, »warum er am Ende einfach aufgibt?«

»Wie meinst du das?« Neo wirft einen Blick auf die Seiten.

»Du weißt schon, der Protagonist. Nachdem er herausfindet, dass seine große Liebe ihn die ganze Zeit angelogen hat, schreit er nicht oder wird wütend oder wirft mit Sachen, wie man es von ihm erwartet. Er … bleibt einfach.«

»Darum geht es ja«, sagt Neo. »Es ist schwer, der Liebe den Rücken zu kehren, selbst wenn es wehtut.« Abwesend streichelt er den Verband in seiner Armbeuge, wo die Baumwolle immer noch einen frischen Nadelstich bewacht.

»Versuch, von jemandem fortzugehen, der dich so gut kennt, dass er dich vernichtet. Du wirst dich dabei ertappen, dich zu fragen, wie du je irgendjemand anderen lieben könntest. Und überhaupt, wenn ich dir das Ende geben würde, das du willst, würdest du dich nicht daran erinnern.«

Neo schreibt nicht einfach nur Geschichten, er wird zu ihnen. Die meisten der kleinen Dinge, über die er schreibt, klingen wahr, jagen dir einen gewissen Schauer über den Rücken, andererseits werden die meisten kleinen Dinge, die er schreibt, ausradiert oder verworfen. So war es schon immer.

Sony steckt eine Zigarette in Neos Mund, dann eine weitere in meinen. Neo klemmt sie fest zwischen die Lippen und hält eine hohle Hand davor, um sie vor dem Wind zu schützen. Das Feuerzeug flackert, bis die Glut Sonys Feuer fängt.

Neo inhaliert nicht. Stattdessen beobachtet er, genau wie ich, lässt den Geruch seine Nasenlöcher kitzeln, und sieht zu, wie der Rauch aufsteigt, um eins mit den Wolken zu werden. C und Sony trinken das Gebräu nicht, das unter den Flaschenkorken hochsprudelt. Sie lecken mit den Zungen schnalzend den Schaum.

Wir sind gierige Geschöpfe, aber nicht undankbar. Man muss nicht an Zerstörung teilnehmen, um die Waffen zu bewundern.

»Denkst du, die Leute werden sich an uns erinnern?«, fragt Sony, während sie zum Himmel sieht und mit ihrem Kragen spielt. C streichelt über seine Narben und das Gewitter in ihnen. Neo verlagert hervorstehende Knochen in seinem Sitz.

Ungerechtigkeit oder Tragödie, meine Freunde werden sterben.

Also was bleibt da noch, außer so zu tun, als ob?

»Ich weiß es nicht.«

Sie alle sehen mich an.

»Unser Ende gehört uns nicht.«

Sony lächelt. »Dann lasst uns unser Ende zurückstehlen.«

»Deswegen sind wir hier raufgekommen, oder?«, fügt C hinzu. »Wir haben gesagt, dass wir es heute planen werden. Unsere große Flucht aus dem Krankenhaus.« Neo wirft einen Blick in seine Richtung. Die Möglichkeit des Heute, aber großartiger, regt sich zwischen uns. C zuckt mit den Schultern. »Was hindert uns daran?«

Plötzlich öffnet sich quietschend die Tür.

»Da wären wir. Man soll eigentlich nicht hier raufkommen, aber manchmal kommen die Kinder gern …« Erics Stimme lässt uns hochschrecken. C zerbricht beinahe seine Flasche, indem er drauftritt, während Neo und ich unsere Zigaretten so schnell wegwerfen, dass wir uns fast die Finger verbrennen.

In der Sekunde, in der wir aufgesprungen sind und uns umgedreht haben, schäumt Eric bereits vor Wut, doch mitten in dem ganzen Chaos verlangsamt sich die Zeit. Eine vertraute Melodie schlägt eine einzelne Note an, die alle Köpfe im Orchester herumfahren lässt.

Ich verstumme.

Gelbes Licht tritt hinter Erics Körper hervor.

Hinter ihm versteckt sich eine Sonne in Gestalt eines Mädchens mit einem gelben Leuchten in den Augen.

2

sonnenaufgang

Ich sehe ihn immer noch manchmal.

Er tollt herum, ein Junge, der die Last des Ortes, an dem er lebt, nicht spürt. Seine Hände spielen mit meinen. Er hält Dinge nicht – halten ist das falsche Wort.

Können Hände küssen?, fragt er. Fragen sind seine Lieblingsform des Spielens.

Ich weiß nicht.

Ich glaube, sie können es. Sein Lachen erklingt in drei Takten, bis hinunter in seine Finger. Unsere Hände küssen sich.

Er liegt während der schmerzhaften Stunden in seinem Bett. Nadeln ragen aus seinem Körper hervor, angeschlossen an Schläuche und Maschinen mit Namen, die zu schwierig sind, um sie auszusprechen. Er ist selbst eine Maschine. Eine kaputte, an der sich Mechaniker, die für Ärzte gehalten werden, versuchen.

Seine Nerven protestieren, scharf, wie ein Stoß in die Rippen. Ich sehe ihre Symptome in seinem zuckenden Gesicht, dem Gewichtsverlagern und subtilen Stöhnen. Nichts davon hemmt seine Neugier. Sein Verstand, auch wenn sein Körper es nicht kann, tollt trotzdem ausgelassen umher. Er spielt weiter mit meinen Händen, auf jede ihm mögliche Weise. Er lacht, wenn seine Rippen es zulassen.

Nadeln sind Schwerter, sagt er. So tun, als ob. Sein herrlichstes aller Spiele. Tabletten sind Juwelen.

Was sind Juwelen?, frage ich.

Das sind Steine, sagt er. Sehr hübsche Steine. Manche strahlen sogar. Wie die Sonne.

Sind denn nicht alle Steine hübsch?

Nein, sagt er. Seine Stimme verlagert sich zusammen mit seinem Körper, in ein Gebiet, wo Spielen zu viel Energie kostet. Er leert sich, nach und nach. Die Krankheit laugt ihn aus und drückt ihn nieder.

Ich fühle mich wie ein Stein, sagt er, während er ins Bett sinkt.

Ich verschränke unsere Finger miteinander und streichle über die Knöchel, damit er weiß, dass ich noch da bin. Unsere Hände küssen sich.

Dann bist du ein Juwel, sage ich. Wie die Sonne.

Er mag Berühren auf dieselbe Weise, wie er es mag, so zu tun, als ob. Fragend, redend, selbst wenn er nichts zu sagen hat. Es gibt ihm das Gefühl, eine größere Bestimmung zu haben, als einfach nur vom Tod abgehalten zu werden.

Er lächelt für mich, aber sein Gesicht zuckt. Er verlagert sein Gewicht, dass die Laken rascheln, um aus dem Fenster zu sehen.

Die Sonne geht jeden Tag wieder auf, sagt er, während zwischen den Jalousien hereinfallendes Licht liebevoll seine Haut liebkost. Denkst du, sie geht wieder auf, weil sie gefallen ist?

Er verstand nicht, dass ich ihm damals nie hätte antworten können.

Ich wusste nie mehr als das, was er mir beibrachte. Ich wusste, dass Hände sich küssen können und dass ich sein Gesicht liebkosen wollte, wie das Licht es tat.

Er war mein Licht. Er war mein Sonnenuntergang. Farbenprächtig. Friedlich überspült von der Dunkelheit.

Das war vor langer Zeit.

Er lebt jetzt in meiner Erinnerung. Begraben. Rebellisch, wie er vorher war. Manchmal taucht er auf, in meinen Augenwinkeln, sein Lachen verloren in einer Menschenmenge, während Reste seiner Fragen in der Nacht immer noch auf Antworten warten.

Die Wahrheit ist, ich fürchte die Nacht gar nicht.

Ich lebe in ihr. Deine Augen stellen sich darauf ein, deine Hände gewöhnen sich daran, nicht geküsst zu werden, und dein Herz fügt sich in die Taubheit. Die Nacht ist nicht der Feind, zu dem ich sie gemacht habe. Sie ist der natürliche Zustand der Dinge, wenn deine Sonne ausbrennt.

Also nennt mich überrascht, als, Jahre nachdem meine Sonne längst untergegangen ist, ein Strahl von Gelb aus dem Treppenhaus aufgeht und das Grau überstrahlt …

Gelb.

Ihr Haar ist gelb. Nicht blond oder flachsfarben, gelb. Wie Löwenzahn und Zitronen. Die Farbe drängt sich gerade genug an einen dunklen Ansatz, dass du weißt, sie ist eine bewusste Entscheidung, und rahmt ihr Gesicht mit der Brille auf ihrer Nase ein. Die Augen dahinter flimmern, und ich kann kaum atmen, als ihr Blick auf mir landet.

»Eric!« Sony spreizt Arme und Beine, als wäre es möglich, schäumende Bierflaschen und Zigarettenrauch zu verbergen, indem sie ihre Federn aufplustert. »Würde es helfen, wenn ich dir sage, dass deine Schuhe einfach umwerfend sind?«

Immer noch die Tür aufhaltend, macht Eric eine schneidende Geste quer über seinen Hals. Sofort hält Sony den Mund.

»Hikari«, seufzt Eric, »das sind Neo, Sony, C und Sam.«

Hikari.

Weiß Hikari, dass sie Sonnen in den Augen hat?

»Hallo, du!«, schreit Sony und winkt mit offenem Mund, während C subtiler winkt und Neo nur mit dem Kinn nickt.

»Hi«, sagt Hikari. Ihre Stimme ist fließend, geschmeidig, sinnlich und kühl wie ein Schatten, der an einem heißen Tag über den Rand ihres Mundes fällt.

»Wow«, sagt Sony und rückt Hikari dicht auf den Leib. »Du bist hübsch.«

»Sony«, tadelt Eric.

»Ist schon gut«, sagt Hikari, als wäre sie amüsiert, sogar entzückt über Sonys Verzauberung.

»Bist du lustig?«, fragt Sony. »Du wirkst lustig.«

»Ich denke schon.«

»Hikari«, sagt Neo über die Silben sinnierend, während er seinen Rollstuhl bewusst vor Sony rollt. »Bist du aus Japan?«

»Meine Eltern ja«, sagt Hikari. »Ich bin aus der Vorstadt.«

»Ich bin auch aus der Vorstadt«, gurrt Sony.

Neo verdreht die Augen. »Wusste nicht, dass die Vorstadt in der Hölle liegt.«

Für diese Aussage bekommt er verdienterweise ein Fingerschnippen gegen die Schläfe.

»Hey!«

»Das ist Neo«, sagt Sony und tätschelt seinen Kopf. »Er ist unser Baby.«

»Euer Gefangener, das ist es, was ich bin!« Neo schlägt ihre Hand fort. »Hikari, du hast Beine. Renn weg.«

»Ach du lieber Gott.« Eric seufzt in seine Hände, und jetzt frage ich mich, ob in der Pflegeschule Babysitten unterrichtet wird.

»Das ist C.« Sony zeigt auf ihn. »Sein Name ist groß und französisch wie er, also nennen wir ihn einfach C.«

»Hi, Hikari. Brauchst du Hilfe dabei, dich hier einzuleben?« C lehnt sich über Neos Griffe und stützt das Gewicht seines Oberkörpers darauf. Der Rollstuhl kippt nach hinten, sodass Neo beinahe herausfällt. Er schlägt mit seinem Notizblock gegen Cs Arm, bis die Räder wieder Bodenkontakt haben.

»Ich werde dir helfen!«, bietet Sony an.

»Nein, das wirst du nicht.« Eric packt sie und C an den Ärmeln und benutzt seinen Fuß, um Neo unter Kontrolle zu halten.

»Aber –«

»Ich will es nicht hören. Und Zigaretten? Ernsthaft? Habt ein bisschen Klasse.« Er fängt an, sie zur Tür zu ziehen, die von einem Betonstein offen gehalten wird. »Geht in eure Zimmer.«

»Aber Erriiiiic«, jammert Sony, während sie vergeblich versucht, zu ihrem Neuankömmling zurückzukehren »Was ist mit einer Einführung? Ich habe ihr noch gar nicht meine Witze erzählt –«

»Geht nach unten – Hikari!« Erics Gesicht verändert sich augenblicklich, das Kinn an seiner Schulter, mit einem strahlenden, willkommen heißenden Lächeln. »Sam wird dich zu deinem Zimmer bringen. Falls du irgendetwas brauchst, zögere nicht, zu fragen.«

»Bye, Hikari!«, sagt Sony und winkt mit einem Arm gerade über ihrem Kopf. »Wir werden dich finden, wenn wir abhauen!«

»Geht weiter!«

Die Tür schließt sich, die Stimmen meiner Freunde und ihres Gefangenenwärters hinter ihrem Quietschen einschließend. Hikari bleibt, wo sie ist, und dreht sich erst um, als niemand anderes mehr da ist als ich.

Ich kann mich nicht bewegen. Denn für den Sekundenbruchteil, in dem sie ihren Kopf dreht, fange ich den Schatten von jemand anderem an ihrer Stelle auf, den Ausdruck von jemand anderem, jemandem mit denselben Augen und derselben Stimme aus einem anderen Leben.

»Du bist Sam«, sagt Hikari, eine halbe Frage, die auf ihren Lippen balanciert.

»Ja«, hauche ich, halb gebannt, halb betäubt, vollständig verängstigt.

Hikari neigt den Kopf zur Seite, und ihr Blick wandert über mich, als würde ich eine Landkarte als Kleidung tragen und sie die Orientierungspunkte lesen.

Sie lächelt schief. »Bist du schüchtern, Sam?«

»Ich – äh.« Meine Stimme stottert – verräterisches Ding. »Ich bin nicht schüchtern – ich denke nicht. Ich bin nur schlecht im Existieren.«

»Was bedeutet das?«

»Es ist nur – ich schätze, dieser Körper hat sich nie wie meiner angefühlt.«

Hikaris Lächeln wird breiter, anstatt zu verblassen, diese Belustigung von vorhin spielt mit ihren Zügen.

»Hast du ihn gestohlen?«

Hikari ist eine Patientin, und dem glänzenden weißen Band an ihrem Handgelenk nach zu urteilen, wird sie eine Weile hier sein. Das kann nur auf eine einzige Weise laufen: Wir tauschen weiter diese Höflichkeiten aus. Ich biete an, ihr auf jede Weise zu helfen, wie sie es braucht. Sie nimmt ein wenig davon an und lehnt das meiste ab. Dann trennen sich unsere Wege, und wir werden zu Hintergründen für einander. So läuft es immer. So braucht es dieser Teil von mir, der Angst vor ihr hat.

»Möchtest du, dass ich dich herumführe?«, frage ich zurückschreckend, während ich versuche, den Boden statt sie anzustarren. »Ich könnte dir die Cafeteria oder den Garten zeigen?«

Hikari lacht, in drei Takten, während sie mit langsamen, koketten Schritten auf dem Dach umherwandert.

»Nein«, sagt sie.

»Nein?«

»Nein, ich bin kein Fan von Rundgängen«, sagt sie. Ihr weites weißes T-Shirt passt nicht richtig, und der Rock, der ihre Beine zeigt, weht im Wind, während ihre Haare wie flüssiges Gold zu ihren Unterarmen hi­nunterrieseln. Dort verbergen sie Verbände vom Handgelenk bis zu den Ellbogen, und obwohl ich fragen will, was sie ins Krankenhaus gebracht hat, hat Hikari andere Pläne.

»Ich habe ein Programm«, sagt sie. »Ganz zu schweigen davon, dass es mir gefällt, eine Sache nach der anderen zu erkunden.«

»Du erkundest das Dach?«

»Ich erkunde dich.« Hikari legt ihr Kinn auf ihre Schulter, ihr Schalk grinst zu mir zurück. »Wusstest du das nicht, Sam? Die Leute haben Geschichten auf sich geschrieben, um sie herum, in ihrer Vergangenheit, in ihrer Zukunft. Ich enthülle sie gern.«

So übergriffig das auch klingt, der Wind fängt ihren Geruch ein, süß und doch kräftig, und lenkt mich damit ab. Beinahe lehne ich mich hinein, bevor ich mich zurückhalten kann, doch Hikari bemerkt es. Sie schmunzelt, während sie mich wie ein Buch mustert, das sie vom Regal reißen will, und mir wird allmählich bewusst, dass sie vielleicht eine noch größere Unruhestifterin sein könnte als irgendeiner meiner Diebe.

»Sam«, sagt sie, nicht zu mir, zum Himmel, um meinen Namen zu testen, wie einen Liedtext, den sie nicht zuordnen kann. »Das ist komisch. Ich habe das Gefühl, dass wir uns schon mal begegnet sind.«

Das Herz klopft mir bis zum Hals. Ich schlucke, unfähig, mit irgendetwas zu sprechen, das über ein Flüstern hinausgeht. »Vielleicht in einem früheren Leben.«

Der Wind stört uns, indem er die Glasflaschen aneinanderstößt.

Hikaris Blick schweift zu den Aschespuren und dem verschütteten Alkohol zu meinen Füßen.

»Ihr habt diese Zigaretten und das Bier gestohlen, stimmt’s?«

»Technisch gesehen haben Sony und C die Zigaretten und das Bier gestohlen.«

»Also hast du nur Beihilfe geleistet«, sagt sie, und ihre charmante Haltung weicht einem langen Seufzer. »Nun, sieht so aus, als würdest du genügen müssen.«

Ohne ein weiteres Wort bindet Hikari ihre Haare zu einem Pferdeschwanz und geht zur Tür.

»W-wo gehst du hin?«

»Ich muss etwas stehlen. Und du wirst mir dabei helfen.«

»Ich – aber«, stottere ich, doch letztendlich ist die Anziehungskraft meiner Betörung stärker als dieser lästige Schatten auf meiner Schulter, der mir sagt, dass das eine schlechte Idee ist, was kann ich also anderes tun, als ihr zu folgen? »Wo, sagtest du, kommst du her?«

»Aus einer höllischen kleinen Stadt mitten im Nirgendwo.«

»Nirgendwo?«

»Die Art von Ort, an dem jeder die Geheimnisse aller anderen kennt.«

»Nun, das klingt wie überall.«

»Wo kommst du her, Sam?«

Das ist eine Frage, die zu beantworten ich oft schwierig finde. Ganz zu schweigen davon, dass ich, während ich Hikari die Treppe hinunter folge und auf einen Aufzug warte, nichts anderes tun kann, als sie anzusehen, und jedes Mal, wenn ich sie ansehe, haben meine Gedanken keinen Anfang und kein Ende mehr. Stattdessen taumeln sie umher, bis ich ein unzusammenhängendes, verlegenes Durcheinander bin. Meine Wangen röten sich, und Schmetterlinge verwandeln meinen Bauch in einen Rummelplatz.

Ich räuspere mich. Der Aufzug kommt an, und Hikari geht vor mir hinein und drückt den Knopf für das Erdgeschoss.

»Ich bin von hier«, sage ich.

»Der Stadt?«

»Dem Krankenhaus.«

Ein ernster Ausdruck findet Hikari. Sie hält sich an dem Handlauf hinter uns fest, genau wie ich. So wenig Abstand bleibt zwischen meiner Hand und ihrer, dass ich mich frage, wie es sich anfühlen würde, wenn sie sich küssten.

»Sam.«

»Hm?«

»Was hast du?«, fragt Hikari, und für eine so schwierige Frage ist sie so sanft gestellt.

Das ist ein gescripteter Moment zwischen kranken Menschen. Eine Art Regel. Sie besagt, dass du, wenn du jemanden innerhalb dieser Mauern kennenlernst, eine einzige Sache fragen sollst. Was hast du? Wer ist dein Killer? Das ist eine andere Art zu fragen, aber es ist dieselbe Frage. Was sie fragt, ist, warum ich schon so lange in diesem Krankenhaus bleiben muss, dass ich mich als eine Erweiterung davon betrachte. Sie will wissen, bis zu welchem Grad ich sterbe.

Wenn ich ihre Verbände und die ansonsten gesunde Natur ihres Daseins betrachte, will ich sie dasselbe fragen, aber –

»Das soll man nicht fragen«, lüge ich. Und anstatt zu nicken oder zu sagen, dass sie das versteht, hat Hikari einen weiteren unbekümmerten Lachanfall, der ihre Brust schüttelt. Wieder drei Takte. Als lache ihr Herz mit ihr.

»Was denn, wie im Gefängnis? Wofür sitzt du ein, Sam?«

»Offenbar wegen Beihilfe zu einfachem Diebstahl.«

»Gut«, sagt sie, das Wort gepaart mit flirtenden Endnoten.

»Dann wird das nicht dein erstes Mal sein, dass du jemandem beim Stehlen hilfst.«

Die Aufzugstüren öffnen sich, doch weder Hikari noch ich setzen uns in Bewegung.

Ich habe euch gesagt, dass ich gern Leute beobachte, aber manchmal habe ich Mühe, mit ihnen zu reden. Wenn du so lange am selben Ort gelebt hast wie ich, stellst du fest, dass die Leute nicht wissen, was sie zu jemandem sagen sollen, von dem sie glauben, dass er stirbt. Die Leute fühlen sich unbehaglich in der Gegenwart von Kranken, also tun sie so, als wäre die Krankheit unsichtbar. Sie meiden das Offensichtliche so unverhohlen, dass du merkst, dass es alles ist, woran sie denken. Sie schaffen Abstand, ohne es überhaupt zu wollen, weil Abstand angenehm ist.

Aber nicht jeder bleibt in diesem Muster stecken. Hikari denkt, dass ich sterbe. Das weiß ich. Ansonsten wäre sie nicht hier und würde einen Tourguide brauchen, der stattdessen überredet wurde, ihr dabei zu helfen, ein Verbrechen zu begehen. Doch irgendwie, wie viel Abstand ich auch schaffe, will Hikari ihn überwinden – mit ihrer Neugier, ihrem neckenden Tonfall, ihrem hübschen Aussehen und ihrer noch hübscheren Sprache.

»Du bist nicht sehr geübt in Konversation, nicht wahr, Sam?«

Mist. Ich habe schon wieder gestarrt.

»Ähm – ich – tut mir leid.«

»Warum tut es dir leid?«, fragt sie.

Wir treten aus dem Schlund des Aufzugs hinaus ins Erdgeschoss. Sie bleibt stehen, um das Atrium zu betrachten, das Licht, das durch die Deckenfenster hereinfällt. Als sie wieder mich ansieht, kehrt diese spielerische Art zurück und huscht über ihr Lächeln. »Ich bin gut genug für uns beide darin, und eigentlich ist es irgendwie süß, wie nervös du bist.«

Mein Gesicht wird heiß, und plötzlich kann ich keine einzige Silbe mehr bilden, geschweige denn einen Satz, um zu antworten.

Hikari schmunzelt. »Hier gibt es eine Bibliothek, richtig?«

Ich nicke, und weil ich weiß, dass ich keine Antworten von ihr bekommen werde, bevor ich sie hinführe, tue ich es. Die Bibliothek ist anders als das Atrium, abgeschiedener, weniger zentral und medizinisch. Dort können die Patienten hinkommen, um in den Polstersesseln zu lesen und kleine Welten zu finden, in die sie flüchten können.

»Entschuldigen Sie, Ma‘am? Ich kann irgendwie dieses Buch nicht finden«, sagt Hikari zu der ehrenamtlichen Mitarbeiterin hinter dem Tresen. Sie nennt einen so ungewöhnlichen Titel und Autor, dass ich mir nicht sicher bin, ob es beide überhaupt gibt. »Könnten Sie mir vielleicht helfen?«

Die Mitarbeiterin nickt knapp und sagt, dass sie hinten nachsehen wird.

»Ich glaube nicht, dass ein Buch ausleihen Stehlen ist, außer du hast vor, es nie zurückzugeben«, flüstere ich.

Hikari zieht eine Augenbraue hoch. »Warum stiehlst du, Sam? Du und deine Diebe?«

»Frag nicht, warum.«

»Warum nicht?«

»Ich glaube nicht an Gründe.«

»Warum nicht?«

Bei ihrer Unfähigkeit, sich ihre Neckerei zu verkneifen, sehe ich sie mit schmalen Augen an.

»Wir haben eine Liste gemacht«, sage ich. »Wir stehlen, um sie zu füllen.«

Hikari ertappt mich dabei, wie ich über ihre Schulter sehe.

»Ist die Luft rein?«

»Hm?«

Es dämmert mir, dass ein Buch nicht das ist, worauf Hikari es abgesehen hat. Sie verschwendet keine Sekunde, um über den Tresen hinweg auf die andere Seite zu hüpfen. Mir bleibt der Mund offen stehen, und hektisch drehe ich den Kopf nach links und rechts, um sicherzugehen, dass niemand hersieht.

»Was machst du –«

Völlig unbekümmert steckt Hikari den elektrischen Bleistiftspitzer auf dem Schreibtisch ab und benutzt einen Kugelschreiber, um den schärfenden Teil herauszuhebeln. Ich krümme mich innerlich, als er ein Geräusch wie zerbrechendes Glas von sich gibt. Hikari hält die Klinge hoch ans Licht, um ihre Echtheit zu prüfen, dann runzelt sie die Stirn, als sie merkt, dass sie immer noch durch Schrauben mit etwas Plastik verbunden ist.

»Sie kommt zurück«, flüstere ich, und Hikari macht sich nicht mal die Mühe, hinzusehen. Sie nimmt ein paar Blätter Papier und einen Bleistift, um ihre Beute darunter zu verstecken. Dann hüpft sie über den Tresen zurück und packt mich am Ärmel meines Shirts.

Ich gerate in Panik. Jeder Nerv in meinem Körper spannt sich an. Der begrenzte Abstand zwischen ihrer Haut und meiner ist so klein, dass ich die Wärme, die sie durch ihre Verbände hindurch ausstrahlt, praktisch spüren kann.

»Beeil dich.« Lachend lässt Hikari mich los und zwinkert mir zu, während sie anfängt, mit mir in ihrem Schatten wegzurennen.

Ich starre auf die Blätter, die sie fest in der Hand hält, ohne sie zu zerknittern. »Bist du eine Künstlerin?«

»So was Ähnliches«, sagt sie. Sie blickt über ihre Schulter und kichert, als die ehrenamtliche Mitarbeiterin sich umschaut, wo wir geblieben sind. Sie stürmt einen leeren Fahrstuhl und hält ihn mit dem Fuß offen, damit ich sie einholen kann. Sobald sich die Türen schließen, wirft sie den Kopf zurück und entblößt dabei ihren schlanken Hals. Eine Narbe, die ich einfach bewundern muss, lugt aus ihrem Kragen hervor, während sie nach Atem ringt.

»Eine Liste?«

»Hm?«

»Du hast gesagt, ihr habt eine Liste gemacht«, wiederholt Hikari. Ihre Augen sind jetzt sanfter, verdünnter in ihrer dunkleren Farbe, als wäre eine Welle von etwas Angenehmem und Müdem gerade über sie hinweggespült.

»Um unsere Feinde zu töten«, sage ich.

»Wie poetisch.«

»Du entschuldigst Stehlen, weil es poetisch ist?«

Hikari lächelt. Ein ansteckendes Lächeln. Es fängt meine Lippen nicht ein, aber sein Winkel versucht es jedenfalls.

»Es gibt nichts Menschlicheres als die Sünde«, sagt sie schulterzuckend.

»Also, wo finde ich hier wohl einen Schraubenzieher? Schließlich bist du so lieb, mir Beihilfe zu leisten.«

Von ihr als lieb bezeichnet zu werden, bringt diese Wärme in mein Gesicht zurück und lässt mich stottern. »Warum brauchst du einen Schraubenzieher?«

»Ich dachte, du glaubst nicht an Gründe.«

Unwillkürlich entschlüpft mir ein lachendes Schnauben. Ich schüttle den Kopf, um das Lächeln zu verscheuchen. Ich lächle selten, sogar für meine Diebe, aber sogar diese Angst, die ich nicht erklären kann, hat keine Macht im Vergleich zu ihr.

Wir erreichen das Stockwerk, auf dem ihr Zimmer liegt. Der ganze Weg, unser Abstand zwischen uns, wird ein Spiel.

Unter den vielen Hausmeistern gibt es einen, der immer seine Werkzeugtasche unbeaufsichtigt lässt, und obwohl er schon oft von einer defekten Trittleiter runtergefallen ist, hat er seine Lektion nicht gelernt. Hikari und ich spähen in die Abstellkammer, in der ich ihn vermute.

Er tauscht eine Glühbirne aus, wackelnd mit dem Rücken zu uns auf einer Trittleiter, die droht, wieder unter ihm nachzugeben.

Ich lege einen Finger an meine Lippen. Hikari nickt und sieht zu, wie ich vorsichtig die Abstellkammer betrete. Werkzeuge quellen aus der Tasche heraus, darunter ein Schraubenzieher in der Ecke. Ich schnappe ihn so schnell wie möglich, doch dann gibt die Trittleiter nach. Der Hausmeister fällt auf den Boden, beinahe auf mich drauf.

»Hey!«, schreit er. Ich springe über ihn hinweg, während Hikari kreischt und die Tür hinter mir zuschlägt, dann ergreifen wir beide erneut die Flucht.

»Du hast dich mir gegenüber ja ganz schön zurückgehalten.« Hikari lacht.

»Ich mache das nie.«

»Du stiehlst nie?«

»Ich renne nie.«

»Nun«, raunt Hikari, »für mich bist du gerannt.«

Wir werden durch ein Rudel Ärzte unterbrochen, das unter dem Flurlicht vorbeistürmt. Assistenzärzte, die Kaulquappen des Ausbildungsteichs, die einem Oberarzt folgen. Hikari und ich treten zurück an die Wand wie Autos, die einem Rettungswagen Platz machen. Die weißen Kittel der Ärzte wehen vorbei, zwei Schwestern im Schlepptau, eine mit einem Stethoskop um den Hals, eine andere, die auf ihren Piepser schaut. Ihre Mienen sind unleserlich – Teil ihrer Ausbildung.

Hikari folgt ihnen mit ihrem Blick, von Sorge erfüllt. Ich verschwende keine Zeit darauf. Der Patient, um den sie sich kümmern, ist in seinem eigenen Limbus. Dass wir uns Gedanken um ihn machen, wird ihm nichts nützen.

Hikari entspannt sich nicht mal, als sie außer Sichtweite sind. Wie ich zu unserer Flucht zurückkehre, als wäre nichts geschehen, trifft sie mehr, als es sollte.

»Du bist hier schon dein ganzes Leben, nicht wahr?« Eine weitere Halbfrage. Diesmal spricht die Annahme für sich selbst. Ich habe euch gesagt, dass ich Tag für Tag dieselben Dinge sehe. Apathie ist ein Sy­nonym für Wiederholung. Ich schenke rennenden Ärzten dieselbe Beachtung wie ihr einem Windhauch.

»Leben«, sage ich, »ist vielleicht nicht das richtige Wort für das, woran du denkst.«

Endlich dämmert es ihr. Dass ich vielleicht nicht ganz so wie andere Patienten oder andere Menschen bin, denen sie begegnet ist. Erzählfiguren sind ein natürlicher Teil der Geschichte, bis man einen zweiten Blick auf sie wirft.

»Wer bist du, Sam?«, fragt sie, und als sie das tut, tanzen gelbe Strahlen in ihren Augen. »Etwas sagt mir, dass du mehr bist als nur jemand, der einem fremd ist und trotzdem irgendwie vertraut vorkommt.«

Schaut in eine Person hinein und seht jemanden, den ihr einmal gekannt habt, und fragt euch, ob ihr an Wiedergeburt glaubt. Ob ihr glaubt, dass eine Seele niemals wirklich tot ist, sondern nur in einen anderen Körper übergeht, in einen anderen Geist, ein anderes Leben, eine andere Realität. Wenn ihr das tut, muss ich fragen, was, glaubt ihr, macht jemanden real?

Ist es die Möglichkeit, ihn zu berühren? Die greifbare Natur seiner Wärme zu spüren, die Textur seiner Haut, den Puls, der in seinen Adern pocht? Oder ist jemand real, einfach nur wenn sein Name laut ausgesprochen wird? Wenn ihr ihn in ansonsten leere Luft haucht und ihr sie mit der Vorstellung von ihm füllt?

Hikari kommt näher, und eine alte Angst, die ich nur zu gut kenne, legt ihre Krallen um meine Schultern.

Es mag für euch vielleicht keinen Sinn ergeben, aber ich habe bisher nur eine einzige Person gekannt, die sich mit dem Licht vergleichen konnte, das sie ausstrahlt. Ihr mögt vielleicht denken, sie sieht aus wie er, verhält sich wie er, und deswegen bin ich so verzaubert.

Er ist tot. Er ist ein Geist, und das, was wir miteinander teilten, ebenfalls, also vergleiche ich die beiden nicht. Ich vergleiche nur, was sie sind. Und manchmal sind Sonnen so hell, dass man gezwungen ist, wegzusehen.

Die Angst übernimmt wieder, wie sie es tat, als ich ihre Farbe auf der Brücke entdeckte, und flüstert ihre Regeln:

Wenn sie ist, was ich denke, dass sie ist, darf ich aus gar keinem Grund, fabriziert oder nicht, ihren Namen sagen. Und ich darf nicht zulassen, dass wir diesen Abstand zwischen uns überwinden, durch keine Gewohnheit, Einladung oder Versuchung. Ich darf nicht zulassen, dass sie real wird.

»Ich bin –«

»Hikari!« Hikaris Miene verfinstert sich. Ein älteres Paar, beide mit Besucherschildchen, kommt den Flur entlang und ruft nach ihr.

»Tut mir leid, fremdes Wesen.« Sie seufzt. »Der Spaß ist vorbei.«