Ich diss dich - Arno Strobel - E-Book

Ich diss dich E-Book

Arno Strobel

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Beschreibung

Jetzt exklusiv und nur als eBook: eine Thriller-Kurzgeschichte von Bestsellerautor Arno Strobel! Lisa ist zutiefst erschüttert, als ihre beste Freundin Vanessa Selbstmord begeht. Sie ist sich sicher, dass die Fotos auf Facebook der Auslöser waren! Doch wer hat sie hochgeladen, etwa Vanessas Exfreund Phillip? Lisa versucht die Hintergründe für den Tod ihrer Freundin aufzudecken und tritt dabei eine Lawine los, die sie selbst zu überrollen droht.

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Seitenzahl: 48

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Es begann zu regnen.

Die ersten Tropfen zerplatzten auf dem weißen Sargdeckel, als der Pfarrer den Weihwasserwedel in den silbernen Behälter neben sich eintauchte. Es schien, als wolle Gott sagen: „Lass mal, das übernehme ich selbst.“

Lisa spürte die kühlen Regentropfen auf ihrer Kopfhaut, aber sie scherte sich nicht darum. Was spielte es für eine Rolle? Was spielte überhaupt eine Rolle an diesem Nachmittag im Mai, an dem ihre beste Freundin in einer Holzkiste lag, die gleich für immer in der Erde verschwinden würde?

Lisa horchte in sich hinein, forschte wie so oft in den letzten Tagen nach einem Gefühl, das Vanessas Tod in ihr ausgelöst hatte. Und fand wie jedes Mal nur diese Leere. Wie ein tiefes, schwarzes Loch, das genau dort saß, wo es sonst immer warm wurde, wenn Lisa besonders glücklich war.

Aber da war auch noch etwas anderes. Das Bedürfnis, gegen die Ungerechtigkeit anzuschreien, bis ihr die Stimme versagte.

Sie hörte die monotonen Worte des Pfarrers, ohne zu verstehen, was er sagte. Wieder einmal versuchte sie zu begreifen, was es für Vanessa selbst wohl bedeutete, tot zu sein. War sie jetzt irgendwo anders? An einem Ort, an dem es schöner war, wo es ihr besser ging? Schwebte sie als Geist über ihnen und sah bei ihrer eigenen Beerdigung zu? Erlebte sie vielleicht sogar, wie sie in dem geschlossenen Sarg lag, unfähig, sich bemerkbar zu machen, weil das Leben aus ihrem Körper geflossen war? Oder hatte alles, was sie gewesen war, was sie ausgemacht hatte, vollkommen aufgehört zu existieren? Einfach fort, als hätte es sie nie gegeben?

Hinter Lisa schluchzte ein Mädchen aus ihrer Klasse. Alle waren gekommen und standen in einem Pulk zusammen. Sämtliche Mitschülerinnen und Mitschüler, viele Lehrer. Gerhard Ludes, ihr Geschichtslehrer, stand mit gesenktem Kopf ein paar Meter neben ihr. Er war blass und sah ziemlich fertig aus.

Ja, alle waren da. Nur er nicht. Wieder einmal füllten sich Lisas Augen mit Tränen, aber anders als zuvor rührten sie nicht von der Trauer um Vanessa. Diesmal war es blanke Wut. Die Umgebung zerfloss zu einem konturlosen Durcheinander aus Schwarz-Weiß-Tönen. In einer fahrigen Bewegung wischte Lisa sich mit dem Handrücken über die Augen und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.

Schräg gegenüber stand Vanessas Familie. Eine dunkle Sonnenbrille verdeckte die Augen der Mutter. Sie hatte den Kopf ein wenig gesenkt, sodass die langen Haare wie ein dunkler Vorhang zu beiden Seiten des Gesichts nach vorne fielen. Ihre Schultern zuckten in unregelmäßigen Abständen, während sie ein Taschentuch gegen Mund und Nase gedrückt hielt. Daneben bemühte sich Vanessas Vater mit starrem Gesicht um Haltung. Seine Hände lagen auf Leons Schultern, und es war nicht zu erkennen, ob er seinen zehnjährigen Sohn festhielt oder sich bei ihm abstützte.

Der Pfarrer beendete seine Predigt und machte ein paar Schritte vom Grab zurück. Vier Männer in schwarzen Anzügen traten nach vorne. Als sie Vorbereitungen trafen, den Sarg in die Grube hinabzulassen, wandte Lisa sich ab.

Sie ging an Mitschülern vorbei, die ihr fragende Blicke zuwarfen, ging nach links. Weg vom Grab und von der Kiste, in der Vanessa lag. Weg von diesen Menschen, die Vanessa gekannt und doch nicht gewusst hatten, wer sie war und was sie bewegte. Was sie in den Tod getrieben hatte.

Als Lisa die hinteren Reihen passierte, stellte ihre Mutter sich ihr in den Weg. „Wo willst du hin?“, raunte sie ihr zu. „Möchtest du Vanessas Eltern nicht dein Beileid ausdrücken?“

„Das habe ich schon getan. Ich möchte nicht dabei zusehen, wie sie Vanessa in dieses Loch stecken.“

„Und was ist mit einem Abschied am Sarg?“

Lisa warf einen schnellen Blick zurück und schüttelte energisch den Kopf. „Sie weiß auch ohne diese Show, dass sie mir fehlt.“

Lisas Weg führte sie an engen Grabreihen vorbei. Sie ignorierte die lange Parade aus Steinen, Engeln und Kreuzen auf den Gräbern ebenso wie das Auto ihrer Mutter vor dem Ausgang. Sie hatte keine Lust, auf dem Heimweg wieder mit nervigen Fragen konfrontiert zu werden. Oder überhaupt zu reden. Sie wollte einfach nur alleine sein.

An dem kleinen Park hinter der ersten Kreuzung blieb sie stehen. Die beiden Holzbänke darin waren ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche. Man stand dort zusammen, alberte rum, quatschte, hörte Musik. Sie war oft mit Vanessa dort gewesen. Zwischen üppigen Büschen hindurch konnte man die Stelle vom Gehweg aus sehen.

Lisas Blick heftete sich auf eine der beiden Bänke. Von ihrem Standort aus konnte sie es nicht erkennen, aber sie wusste, die hölzerne Rückenlehne war übersät mit eingeritzten Namen, Herzen und Symbolen. Irgendwo im oberen Bereich hatten sich auch Vanessa und sie mit ihren Anfangsbuchstaben verewigt.

V+L stand da, und darunter friends forever.

Das war im letzten Sommer gewesen. Die Erinnerung an diese unbeschwerte Zeit überkam Lisa mit solcher Wucht, dass sie glaubte, ihre Freundin wieder dort sitzen zu sehen. Wie immer auf der Kante der Rückenlehne, die Füße in den gelben Vans auf der Sitzfläche, die Hände seitlich abgestützt. Und wie meist lachte sie und schüttelte dabei so wild den Kopf, dass ihre langen, blonden Haare flogen.

Ohne darüber nachzudenken drückte Lisa sich zwischen den Büschen hindurch, überquerte ein kleines Rasenstück und stand dann vor der Bank. Die eingeritzten Initialen fand sie sofort wieder. Sie strich mit einem Finger vorsichtig über die Vertiefungen. Auf dem Anfangsbuchstaben von Vanessas Namen ließ sie die Fingerkuppe eine Weile ruhen und schloss die Augen.