Im Namen der Gerechtigkeit - Giorgio Fontana - E-Book

Im Namen der Gerechtigkeit E-Book

Giorgio Fontana

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Beschreibung

Der erfolgreiche Staatsanwalt Roberto Doni wird durch seinen letzten Fall in ein Dilemma gestürzt: Ein Tunesier wird beschuldigt, an einer Schießerei beteiligt gewesen zu sein, die eine Unschuldige verletzte. Der Angeklagte hat kein Alibi und verweigert die Aussage. Eigentlich ein klarer Fall. Da meldet sich eine Journalistin, die einen Zeugen für die Unschuld des Verdächtigen hat: einen Ägypter, der jedoch schweigt, da er um sein Leben fürchtet. Doni ahnt, dass er dabei ist, einen Unschuldigen zu verurteilen, zögert aber, die Anklage zu revidieren. Als der Zeuge schließlich spricht, wird er umgebracht. – Ein spannendes Justizdrama um Karriere und Gewissen, um Schuld und Gerechtigkeit, erzählt von einem der vielversprechendsten jungen Autoren aus Italien.

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Giorgio Fontana

Im Namen der Gerechtigkeit

Roman

Aus dem Italienischen von Karin Krieger

Nagel & Kimche

Titel der Originalausgabe: Per legge superiore

Sellerio editore, Palermo

© 2011 Giorgio Fontana

© 2013 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Umschlaggestaltung und Motiv: David Hauptmann, HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Susan Fox / Trevillion Images

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann

ISBN 978-3-312-00584-0

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FÜR MEINEN VATER

Darum bin ich dem Unrecht

schon richtig ein wenig dankbar

Was finge ich bloß ohne es an

mit dem Rest meines Lebens?

Erich Fried, Lebensaufgabe

1

DIE NÄGEL. Damit begann alles. Jeden Tag, wenn Doni zur Arbeit oder zur Mittagspause ging oder wenn er auf dem Heimweg war, blieb er kurz stehen und betrachtete sie.

Von weitem wirkten sie wie Unregelmäßigkeiten oder natürliche Flecken im Stein, doch es waren Nägel, dicke Spreiznieten aus Metall, dazu da, den Marmor zu stützen, denn der Originalmörtel begann zu bröckeln, und das ganze Gebäude war einsturzgefährdet. Diese kleinen Teile hatten, natürlich, so etwas wie eine Moral. Die Stätte der Gerechtigkeit den höheren Gesetzen der Materie unterworfen. Doch Doni sah darin nur die Blödheit der Menschen und bestenfalls noch eine Lehre: Baue nie auf Sand.

Am Tag, als sie ihm schrieb, ging Doni durch den Kopf, dass den Justizpalast dieses Schicksal wohl ereilt hatte, weil er sich seiner Umgebung verweigerte. Er kämpfte gegen sie an, unfähig, zu diesem oder auch zu jedem anderen Teil der Stadt zu gehören. Das konnte nicht nur an Nägeln, Rissen und Hässlichkeit liegen, und auch die faschistische Architektur und der Triumph der Breite über die Höhe genügten nicht, um ihn zu verdammen: Nein, dieser Palazzo hatte etwas Besonderes an sich.

Es hatte mit Exil zu tun. Mit einem schwer fassbaren Gefühl.

In diesem Bauwerk fühlte Doni sich fernab vom Rest der Stadt, der Nation, der Welt. Es wurde von der Kraft Hunderter Nägel gehalten, Sand auf Sand gebaut.

Anstatt wie gewohnt mit einem Energieriegel vorliebzunehmen, aß Doni am Tag, als sie ihm schrieb, mit Staatsanwalt Salvatori zu Mittag. Das war sonst nicht üblich. Die Richter und Staatsanwälte hatten es immer eilig, man ging höchstens in einen der schrecklichen Schnellimbisse in der Umgebung.

Die wenigen noch verbliebenen Freunde und besonders sein Schwager beneideten ihn um die Lage des Palazzos: Mochte er auch ein Klotz sein, der sich seiner Umgebung verweigerte, so war er doch nur einen Katzensprung vom Dom entfernt. Daher könnte man meinen, Doni würde in kleinen, entzückenden Brasserien à la française oder in nüchternen Bars im Stil der zwanziger Jahre essen – Safranrisotto, Steaks, dazu Kaffee an der Theke mit dem Schal über dem Mantel.

Dabei aßen Doni und seine Kollegen fast nur Brötchen. Viele hatten einen regelrechten Hass auf das Ritual des Mittagessens entwickelt, und manche zogen durch bis zum abendlichen Aperitif oder bis zum Essen, bei dem sie sich dann für alles andere schadlos hielten.

Doch mit Salvatori war das etwas anderes. Sich mit ihm ein wenig die Zeit zu vertreiben war angenehm, denn er war ein gewöhnlicher und verzweifelter Mann. Zwei Eigenschaften, die Doni nicht ausstehen konnte, die jedoch vereint in einem durchaus selbstironischen Dickerchen um die fünfundvierzig aus der Basilicata eine amüsante Mischung bildeten.

Sie gingen in ein Restaurant in der Via Corridoni. Doni bestellte eine Seezunge nach Müllerin-Art und probierte ein Ökobier. Während des gesamten Essens behielten sie die übliche Rollenverteilung bei, in der Salvatori den Schwätzer abgab und Doni den Part mit den Antworten im Telegrammstil übernahm.

«Du bist jetzt fein raus, was?»

«Abgesehen davon bin ich vor allem alt.»

«Tja, sicher. Aber da hinzukommen, in die Oberstaatsanwaltschaft.»

«Ach, da kommst du auch noch hin. Mit etwas Geduld.»

«Aber du hast Stehvermögen. Du bist ein Arbeitstier, das weiß jeder.»

«Ich war schon immer ein Arbeitstier.»

«Ja, aber du bist es auch jetzt noch. Du setzt dich nicht aufs Altenteil. Verstehst du, was ich meine?»

Doni schüttelte kaum merklich den Kopf.

«Jetzt geben sie dir noch einen schönen Posten als Staatsanwalt in der Provinz, und dann machst du es dir gemütlich», beharrte Salvatori. «Oder etwa nicht?»

«Das will ich hoffen. Ich sollte nach Varese, doch dann haben sie lieber Riccardi genommen.» Doni schnitt das letzte Stückchen Seezunge in zwei gleich große Teile. «Jünger und brillanter als ich, wie es aussieht.»

«Und stärker seiner Fraktion im Verband verhaftet.»

«Und stärker seiner Fraktion im Verband verhaftet.»

«Aber jetzt erholst du dich doch, oder? Pavia, Piacenza … Oder vielleicht weiter nördlich, Como … Verdammt, wie heißen die Nester da noch mal?»

«Keine Ahnung. Como, Lecco?»

«Ja, genau. So was in der Art.»

«Wir werden sehen.»

«Du hast keine Lust mehr hierzubleiben, was?»

Doni zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck Wasser. Die Kellnerin brachte die Rechnung.

«Ich habe jedenfalls die Nase voll», sagte Salvatori. «Mailand kotzt mich an. Ich arbeite erst seit vier Jahren hier und kann jetzt schon nicht mehr. Wie hält man das bloß aus? Jaja, ich weiß, man schlägt sich so durch. Aber das ist es ja gerade. Mailand ist eine Stadt, die man nur durchquert. Ich habe sie noch nicht verstanden, und vor allem kenne ich sie nicht. Ich fahre immer bloß unter ihr durch, unter dieser verfluchten Stadt. Ich wohne in Piola, nehme die grüne Linie, dann die rote, steige morgens in San Babila aus und fahre abends denselben Weg zurück. Kannst du mir vielleicht sagen, wo zum Teufel ich wohne?»

«In Piola.»

«Ja, schönen Dank auch.»

«Du kannst ja abends einen Spaziergang machen, wenn dir so viel daran liegt.»

«Bloß nicht. Wohin denn auch? Außerdem ist es im Winter zu kalt und im Sommer zu heiß.»

«Na ja, im Moment ist es doch ganz angenehm.»

«Ach, wie soll ich dir das bloß erklären. Es ist eine Frage des Tempos, der Gangart.» Doni lächelte breit. «Der Belohnung.»

«Mailand ist eine geizige Stadt. Du musst sie bitten, um etwas zu bekommen.»

«Aber so kenne ich das nicht. Ich bin es gewohnt, dass eine Stadt mir entgegenkommt, und nicht, dass ich auf den Knien rutschen und mir jedes Stückchen Frieden erkämpfen muss. Vielleicht liegt es daran, dass ich aus dem Süden bin, ganz dem Klischee entsprechend, was weiß ich. Doch wie dem auch sei, um hier zu leben, ist man dringend auf die Hilfe Gottes angewiesen.»

«Amen», sagte Doni und nahm noch einen Schluck Ökobier. Es war kühl und stark. Er spürte die Entspannung in seinem Mund und einen angenehmen Schmerz an den Kinnbacken.

Salvatori sah ihn an und lachte auf.

«Amen», wiederholte er. «Und Ehre sei Gott in der Höh’.»

Doch als Doni aus dem Restaurant trat, sah er, wie an der Kreuzung mit der Via Conservatorio ein Lichtstrahl die Palazzi teilte. In diesem Augenblick herrschte eine unnatürliche Stille, eine im Kontrast festgeschriebene Schönheit: Salvatoris entkräftete Theorie und das unversehens aufstrahlende Mailand.

Doni erinnerte sich an den Heimweg zu seinen Eltern, den er als junger Mann nach den Juravorlesungen genommen hatte. Durch diese Straßen war er gegangen, die Via Sottocorno hinauf und dann weiter auf dem Corso Indipendenza bis zum Piazzale Susa, wo sein Vater von den Ersparnissen des Großvaters eine Dreizimmerwohnung gekauft hatte. Manchmal hatte er in einer Bar auf dem Corso haltgemacht, um ein Tramezzino zu essen, oder er war nach Norden abgebogen, um sich auf dem Corso Buenos Aires einen Film anzusehen. Nichts Schwindelerregendes – nur die Sanftheit einer Pause.

Salvatori ging ein paar Schritte vor ihm. Doni blieb kurz stehen, um nochmals das Licht zu betrachten. Der Strahl war in einen diffusen Glanz zerfallen, der alles umfing: die Zweige voller Knospen, die Hauswände, die Fensterbretter. Der April schien eher ein Körper als ein Monat zu sein.

Ein Kind schnellte auf den kleinen Brunnen vor der Kirche San Pietro in Gessate zu. Ein eleganter, alter Mann klemmte sich seine Zeitung unter den Arm und sandte pfeifend einige Töne in die Luft.

Doni spürte einen leichten Rausch und ordnete ihn als ein Vergnügen ein, das er schon eine Weile nicht mehr gehabt hatte – eine kurze, spontane Anwandlung, die wahrscheinlich auf das Bier zurückzuführen war: Er war quicklebendig.

Den Nachmittag verbrachte er im Serverraum, um mit den Technikern ein Problem zu klären. (Zu seinem Leidwesen hatte man ihn zum Computerverantwortlichen der Oberstaatsanwaltschaft gemacht.) Eine Sekretärin hatte versehentlich einen Teil der Datenbank gelöscht, was sie jedoch unausgesetzt bestritt. In Tränen aufgelöst, saß sie auf ihrem Stuhl und schüttelte Kopf und Zeigefinger: «Das ist nicht meine Schuld, das ist nicht meine Schuld!», sagte sie. «Auf dem Bildschirm hat sich plötzlich ein Fenster geschlossen, ich wusste nicht, was los war, aber es ist nicht meine Schuld!»

Doni hatte wenig Ahnung von diesen Dingen und trug die Verantwortung für die Entscheidung, was gespeichert werden sollte. Die Techniker wussten bedeutend mehr, waren jedoch reichlich verwirrt. Während er erörterte, was zu tun sei, rief Ferrero ihn an. Ein Kollege aus Piemont, spindeldürr und wahrscheinlich verrückt. Doni verließ den Raum und ging ans Handy.

«Roberto», sagte Ferrero. «Ich habe schon versucht, dich zu erreichen.»

«Marco.»

«Hast du einen Moment Zeit für mich? Ich habe ein Problem mit dem Rechner.»

«Ich auch», sagte Doni. «Und zwar mit diversen Rechnern.»

«Inwiefern?»

«Ich bin im Serverraum, es gab da eine mittlere Katastrophe.»

«Ah.» Kurzes Schweigen. «Es handelt sich um einen Virus.»

«Dann lass das Antivirenprogramm durchlaufen.»

«Ich weiß nicht, wie man das macht.»

«Was soll das heißen, du weißt nicht, wie man das macht?»

«Ich weiß es nicht. Roberto, ich bin einundsechzig.»

«Na und? Ich bin fünfundsechzig.»

«Kannst du nicht vorbeikommen und einen Blick darauf werfen?»

Doni spürte, wie in seinem linken Oberschenkel das Blut pulsierte.

«Marco», sagte er ruhig. «Dafür gibt es Techniker. Ruf einen von ihnen an. Ich bin Jurist. Ich frage mich, warum ich überhaupt hier bin.»

«Ja, ich weiß, aber du weißt ja, wie das ist …» Er senkte die Stimme. «Dir kann ich vertrauen, wir sind Kollegen. Wer weiß, was diese Typen so rumerzählen.»

«Was könnten sie denn erzählen?»

«Nicht so laut … Nein, du weißt doch, man geht auf gewisse Seiten, und dann fängt man sich vielleicht einen Virus, nicht?»

«Gewisse Seiten?»

«Nicht so laut.»

Doni flüsterte: «Marco, willst du mir etwa sagen, dass du während der Arbeit auf Pornoseiten gehst?»

«Ach was, Porno. Das heißt, nicht direkt. Ab und an surfe ich mal ein bisschen im Internet … Na gut, komm schon, wir verstehen uns doch, unter Männern. Also, hilfst du mir?»

Als er in sein Büro zurückkam, hatte das Licht nachgelassen und der Justizpalast wieder die Oberhand gewonnen. Die kleine mittägliche Freude – weg war sie.

Doni zog die Jalousie hoch und sah hinaus. Es war Viertel nach sechs, und ein Großteil der Arbeit, die er hatte erledigen wollen, lag noch immer ungeschoren auf dem Schreibtisch. Er überlegte einen Moment, ob er Überstunden machen sollte, wie damals, als er noch jünger war (und ihm das Spaß gemacht hatte: Es hatte ihm Spaß gemacht, mal eben schnell für eine Piadina und eine Coca-Cola hinunterzulaufen, es hatte ihm Spaß gemacht, den vergehenden Tag zu spüren, den plötzlichen Schauder des Abends, und es hatte ihm Spaß gemacht, in menschenleerer Einsamkeit zu arbeiten), oder ob er lieber nach Hause gehen sollte.

Schließlich entschied er sich dafür, die Arbeit aufzuschieben. Er war zu müde, und das Ende des Nachmittags mit der Virenbekämpfung bei diesem Perversling von Ferrero hatte ihm den Rest gegeben. Er setzte sich an den Schreibtisch, beschrieb einen Kreis mit der Maus und öffnete Outlook, um einen letzten Blick auf seine Mails zu werfen.

Unter den ungelesenen Nachrichten war eine mit unbekanntem Absender. Er öffnete sie.

2

Sehr geehrter Dottor Doni,

mein Name ist Elena Vicenzi, ich arbeite als freiberufliche Journalistin. Ich bin für verschiedene Lokalzeitungen und vorwiegend für die Zeitschrift A-Zone tätig.

Der Anlass meines Schreibens ist der Fall Ghezal.

Vermutlich ist es eher unüblich, einem Staatsanwalt Beweise zur Verteidigung eines Angeklagten zukommen zu lassen, doch ich habe Vertrauen zu Ihnen und denke, dass ich so verfahren kann.

Zur Sache: In den vergangenen Monaten habe ich viel für eine Reportage recherchiert, und ich habe guten Grund zu der Annahme, dass Khaled Ghezal unschuldig ist.

Dies mag Ihnen wie der übliche Brief einer Verrückten erscheinen, doch bitte glauben Sie mir: Ich bin nicht verrückt.

Ich muss Sie dringend sprechen, denn der Prozess findet bereits in drei Wochen statt. Kann ich mich mit Ihnen treffen? Im Justizpalast oder anderswo, ganz wie Sie es wünschen. Es geht um das Leben eines Unschuldigen.

In der Hoffnung, bald von Ihnen zu hören, und mit freundlichen Grüßen,

Elena Vicenzi

Doni saß einen Augenblick reglos vor dem Bildschirm. Dann schloss er die Nachricht und las noch zwei andere. Eine kam von der Mailänder Sektion des Verbands der Magistratsrichter. Im CC-Feld standen etliche Empfänger, und es ging um das Geschenk für den Generalstaatsanwalt anlässlich des Festessens, das er wie jedes Jahr in der Nähe von Pavia gab. Die andere war eine Mailingliste der Magistratura Indipendente, der rechten Strömung innerhalb des Verbands, der er angehörte. Eine Strömung, die nie eine Rolle gespielt hatte, der Doni jedoch trotzdem beigetreten war: mit einem Drittel Skepsis, einem Drittel Überzeugung und einem Drittel Spaß daran, zu einer Minderheit zu gehören.

Erneut öffnete er die Mail der Journalistin, dann rief er Google auf und gab ihren Namen ein. Elena Vicenzi. Er fand kaum eine Handvoll Treffer. Ein paar vereinzelte Artikel, hauptsächlich zu sozialen Themen. Die Zeitschrift A-Zone (die er nicht kannte) vermerkte sie als Mitarbeiterin.

Doni scrollte weiter. Er erfuhr, dass die Journalistin es mit einer kleinen Untersuchung über die Schwarzbauten in der Gegend vom Viale Fulvio Testi auf die Webseite des Espresso geschafft hatte. Flüchtig las Doni die erste Zeile, dann klickte er auf die Rubrik Bilder. Nur ein Foto schien zu ihr zu passen. Die Auflösung war gering, viel war nicht zu erkennen, Elena hatte blondes, lockiges Haar, das ihr auf die Schultern fiel, und sie lächelte nicht.

Doni löschte die Mail und warf noch einen Blick auf die ANSA-Seite. Ein Mord in der Emilia. Streitereien im Parlament. Angriffe auf Richter und Staatsanwälte im Allgemeinen und auf die in Mailand im Besonderen.

Er schaltete den Rechner aus, nahm seine Jacke und ging nach Hause.

3

DONI WOHNTE IN der Via Orti, hinter dem Corso Porta Romana. Von seiner Wohnung bis zum Justizpalast war es nicht weit, zu Fuß in dem Rhythmus, den er in den Lauf der Jahre graviert hatte, genau zwölf Minuten.

Auf dem Hinweg ging er durch die Via della Commenda, am Hauptkrankenhaus mit seiner roten Backsteinmauer entlang, die ihm eine Londoner Prägung gab, und mit den Rettungswagen auf dem Parkplatz. Dann kam die Piazza Umanitaria und gegenüber ein reizender Palazzo in Beige. Manchmal, wenn er zu früh aus dem Haus gegangen war, hielt Doni einen Moment inne, um ein besonderes Vergnügen zu genießen: mitten in Mailand unter Bäumen auf einer Bank zu sitzen. Dann war er nicht mehr dort, sondern in einer Stadt in Mitteleuropa, in einer kühlen, würdevollen Metropole – Wien, München, Paris –, wo Form und Gedächtnis im Schatten einer Abkürzung vereint waren.

Schließlich bog er in die Via Daverio, wo bereits die Rückseite des Justizpalastes zu sehen war, das erhöhte, schwarze Dach mit den in den achtziger Jahren hinzugefügten Stockwerken, die zur Ermüdung der Steinplatten geführt hatten. Von hier aus wirkte der Palazzo wie eine gestrandete Galeone.

Auf dem Rückweg, so wie jetzt, änderte er seine Route und ging durch die Via Pace. Dieselben Straßen, derselbe Schritt, hin und zurück: zwölf Minuten.

So war es nicht immer gewesen.

Einige Jahre zuvor hatte er weiter südlich gewohnt, am Außenring. In einer Querstraße zum Viale Liguria. Im Sommer war er samstags mit Claudia und Elisa an den Navigli, den Kanälen Mailands, frühstücken gegangen. Bei Tee und Gebäck schauten sie auf das langsam dahinfließende Wasser. Dann machte Elisa einen Bummel durch die Buchhandlungen und Boutiquen am Kanal, kaufte einen Armreif aus Holz oder eine Kette, und zu dritt kehrten sie wieder nach Hause zurück – eine Familie.

Und davor? Die Wohnung seiner Eltern, zwei Jahre in Apulien, fünf Jahre in den Marken, wo er sich von unten hochgearbeitet hatte, und dann weitere zehn in Gallarate – die schlimmsten –, in dieser Kleinstadt, die in die Mailänder Gegend geschleudert war wie ein Satellit; hin und zurück im Auto, anderthalb Stunden im Stau, Auseinandersetzungen mit Claudia, weil es so nicht weitergehen konnte in jener Zeit, die ihnen wie ein einziger, langer November erschien.

Doch das war vorbei. Staatsanwalt in Mailand und schließlich Oberstaatsanwalt.

Doni nahm die Treppe, statt mit dem Aufzug hinaufzufahren, und betrat die Wohnung. Claudia war noch nicht zu Hause oder war noch einmal weggegangen.

Da er seine Diät zum Mittag ohnehin schon nicht eingehalten hatte, nahm Doni eine Flasche Müller-Thurgau und einige Gourmetpäckchen aus dem Kühlschrank. Er stellte einen Teller mit drei Scheiben spanischem Knochenschinken, zwei Röllchen Butter, einigen marinierten Sardellen, etwas geraspeltem Parmesan und einigen gefüllten Kirschpaprika zusammen. Bewundernd betrachtete er das Ergebnis.

Dann nahm er ein Weinglas aus der Anrichte und goss sich ein. Er trug alles ins Wohnzimmer und schaltete die Stereoanlage ein. Im CD-Player lag noch die Fünfte von Mahler, und Doni beließ es dabei.

Er stellte den Teller auf den niedrigen Glastisch, trank einen Schluck und ließ den Kopf gegen die Rückenlehne fallen.

Er erwachte vom Klappen der Tür. Nacheinander setzten sich die Stückchen des Abends wieder zusammen. Mahler war nun beim Rondo, der Teller vor ihm war noch unangetastet, und Claudia war nach Hause gekommen.

«Hallo», sagte sie hinter ihm.

«Ciao», sagte Doni vorsichtig.

«Entschuldige, ich war mit der Tür etwas zu laut. Hast du gerade Mahler gehört?»

«Was? Ja. Das heißt …»

«Eine kühne Wahl», sagte sie lächelnd. Während sie sich den Mantel auszog, beugte sie sich vor und warf einen Blick auf den Teller. «Du hast schon gegessen?»

«Nein, nein.» Doni hustete, damit seine Stimme kräftiger wurde. «Ich wollte nur einen Aperitif trinken, doch wie es aussieht, bin ich vorher eingeschlafen.»

Claudia ging um die Couch herum und kam zu ihm. Sie schien gute Laune zu haben und war schöner als am Morgen. Sie nahm eine Scheibe Schinken und biss hinein.

«Wie war dein Tag?», fragte sie.

«Wie immer.»

«Hast du immer noch so viel zu tun?»

«Nicht besonders. Nach dem Santarelli-Prozess scheint alles leichter zu sein.»

«Das kann ich mir vorstellen.» Sie zog sich die Schuhe aus. «Aber bei mir ist es anstrengend, weißt du. Sie haben mir da diese neue Sekretärin gegeben, die hat von Tuten und Blasen keine Ahnung, das kannst du mir glauben. Sie mag vielleicht dreißig, zweiunddreißig sein. Was weiß ich. Doch es ist schon ein Wunder, wenn sie es schafft, ein Fax abzuschicken.»

Doni schwieg. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

Seine Frau schnaufte. «Gut», sagte sie. «Was möchtest du essen?»

«Ich weiß nicht. Pasta?»

Claudia verzog das Gesicht. «Die hatte ich schon zu Mittag. Wir waren in einer hübschen, neuen Bar, nicht weit vom Büro. Da ist die Pasta noch hausgemacht, stell dir vor.»

«Salat?»

«Nein, doch keinen Salat, ich habe Hunger.»

«Tja … Dann eben was anderes.»

«Gut, mal sehen, ich lass mir was einfallen.»

Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer. Die letzten Takte der Sinfonie klangen unbehaglich, und Doni fragte sich, wie er mit dieser Geräuschkulisse hatte einschlafen können. Er schaltete die Musik aus und rieb sich das Gesicht mit den Fäusten.

Claudia kam in Jeans und T-Shirt zurück. Sie ging in die Küche.

«Ach, übrigens, ich habe mit Elisa telefoniert», sagte sie im Vorübergehen.

«Aha», sagte Doni.

«Sie kämpft immer noch um die Verlängerung ihres Stipendiums. Wie nervig.»

Doni schwieg. Das Klappern von Töpfen und Tellern.

«Ist auch in Amerika immer das Gleiche», rief Claudia. «Man könnte meinen, das ist nur in Italien so, aber eigentlich ist da gar kein Unterschied.»

«Na ja, wenigstens haben sie sie bis jetzt bezahlt, und gar nicht mal so schlecht.»

«Wie?»

«Ich sage», wiederholte Doni, «bis jetzt haben sie sie ja bezahlt. Und gar nicht mal so schlecht. Oder?»

Claudia antwortete nicht. Doni dachte daran, dass er schon seit Monaten keinen Anruf mehr von seiner Tochter erhalten hatte und dass seine beiden letzten Mails unbeantwortet geblieben waren. Claudia wusste das. Unbekümmert rieb sie ihm ihren besonderen Draht zu Elisa unter die Nase – jaja, die Damen des Hauses, immer dasselbe, und er der arme Roberto, der arme Papa, unflexibel im Gegensatz zu ihrer weiblichen Energie, vernunftbetont und ein bisschen verbohrt im Gegensatz zu ihrer geistigen Offenheit, langsam und systematisch im Gegensatz zu ihrer farbenkräftigen Klugheit – vor allem zur Klugheit Elisas, die nun an der Indiana University Bloomington im Nordosten der Vereinigten Staaten Physik studierte, während sie in Italien versauerten.

Rutscht mir doch beide den Buckel runter, dachte Doni. Er wusch sich die Hände und ging in sein Arbeitszimmer, zur Magdalena.

Über seinem Schreibtisch hing eine große Reproduktion von Georges de La Tours Magdalena. Diesen Künstler liebte er. Von Malerei verstand er nichts, doch seitdem er im Palazzo Reale eine Ausstellung mit dessen Werken gesehen hatte, war er begeistert von ihnen. Sie gefielen ihm aus einem einfachen, fast schon idiotischen Grund: Sie waren voller Kerzen. Auf den Bildern von La Tour hatte das Licht stets etwas Zartes, etwas, das beschützt werden musste.

Doni stützte sich mit den Händen auf die Rückenlehne des Bürostuhls und betrachtete seine Magdalena. Zwei Jahre zuvor hatte sie noch im Schlafzimmer gehangen, doch eines Tages hatte Claudia, während sie ihren Pyjama anzog, beschlossen, dass sie ihr nicht mehr gefiel. Sie führte ihre letzten Träume (aufwühlende Albträume) auf die Düsternis des Gemäldes zurück und bat Doni, es abzunehmen.

Er sah sich das Bild aus der Nähe an. Die Frau war der Kerze zugewandt, deren Licht den Raum ringsumher spärlich erleuchtete. Ihre linke Hand stützte das Kinn, die Rechte in ihrem Schoß lag auf einem Totenschädel, der auf ihrem roten Rock fast von der Dunkelheit verschluckt wurde.

Magdalenas Gesicht war ausdruckslos. Sie betrachtete die Flamme, weiter nichts, und wie jedes Mal spürte Doni einen Schauder: Würde er die Glasscheibe anhauchen, so dachte er, würde die Kerze verlöschen.

Das Abendessen verlief wortlos. Claudia hatte sich schließlich für gesalzene Makrelen entschieden. Sie aß schnell, trank eine halbe Flasche Müller-Thurgau und stand noch vor dem Nachtisch auf.

«Ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen», sagte sie. «Macht es dir was aus, den Tisch abzuräumen?»

«Nein, natürlich nicht.»

«Halte dich nicht damit auf, das Geschirr zu spülen, das kann warten. Aber du würdest mir einen Gefallen tun, wenn du abräumen könntest.»

«Keine Sorge. Nimm eine Tablette, vielleicht eine Moment.»

«Haben wir denn noch welche?»

«Sieh mal im Bad nach.»

«Neulich habe ich welche gesehen, doch ich glaube, sie sind abgelaufen.»

«Du kannst ja mal nachschauen. Falls es so ist, suchen wir eine Apotheke heraus, die Notdienst hat.»

«Okay.»

«Es müsste eine ganz in der Nähe geben.»

«Okay, okay.»

Claudia ging mit der Hand an der Stirn aus dem Zimmer. Doni stellte die Teller zusammen, räumte sie mit dem Besteck ins Spülbecken, gab einen Spritzer Spülmittel dazu, ließ Wasser einlaufen und schaute dann aus dem Fenster.

Die Straße war menschenleer und die Nacht mild, mit einem Hauch von Erde in der Luft, als hätte jemand die Stadt aufs Land versetzt. Das Licht der Laternen betupfte die Straße in gleichmäßigen Abständen. Niemand auf dem Gehweg. Ein Vogel schmetterte ein kurzes Lied.

Als er ins Schlafzimmer kam, lag Claudia schon im Bett und schlief. Sie schnarchte sacht, mit leicht geöffnetem Mund auf der Seite liegend. Durch den Rollladen fielen Lichtstückchen.

Doni suchte einen Pyjama heraus und knipste die Nachttischlampe an. Claudia murmelte etwas und drehte sich auf die andere Seite. Auf dem Nachttisch stand ein Foto von Elisa. Doni nahm es in die Hand und klopfte zweimal kurz gegen das Glas des Bilderrahmens. Dann schüttelte er den Kopf und fuhr mit dem Zeigefinger rings um das Gesicht seiner Tochter. Er löschte das Licht und ging zu Bett.

4

ZWEI TAGE SPÄTER klopfte es an Donis Bürotür. Es war früher Nachmittag und sehr heiß. Die Temperaturen waren in die Höhe geklettert.

Die Flure des Justizpalasts waren von körnigem Licht durchflutet, und der abgestandene Geruch nach Zigarettenrauch im Treppenhaus war nun fast unerträglich. Alles schien noch statischer zu sein als sonst, ein Schwebezustand, der schon an Schönheit grenzte, der reinste De Chirico: eine Metaphysik, die ihren Höhepunkt im Sommer erreichen sollte, wenn Doni durch die ungemein hohen, menschenleeren Flure ging wie durch die Straßen einer Stadt in der Stadt.

«Herein», sagte er.

Eine blonde, junge Frau um die zwanzig trat ein. Sie drehte sich kurz um und überlegte, ob sie die Tür schließen sollte, dann tat sie es, schnellte wieder nach vorn und blieb stehen.

Wieder so etwas, was die Leute nicht wussten oder nie für möglich halten würden. Die Verrückten. Die Stammgäste, wie ein Kollege sie nannte.

Eigentlich konnte jeder x-Beliebige in den Justizpalast gelangen. Natürlich gab es eine Eingangskontrolle, doch an der vorbeizukommen, war nicht schwer. Doni hatte schon öfter Besuch gehabt, von Größenwahnsinnigen, von verkalkten Greisen, von Obdachlosen, die von Weltverschwörungen faselten, und sogar von einem kleinen Jungen, der während einer Besichtigung seine Schulklasse verloren hatte.

Immer wieder beherbergte der Palazzo einen Unbefugten. Jemanden, dessen Anwesenheit nicht erlaubt war, dem es aber trotzdem gelungen war, in den Bauch der Justiz einzudringen – weniger ein Bakterium als vielmehr eine Zelle, die aus einer anderen Welt hereingeschneit war, ein harmloses, doch illegales Element.

Immer wieder klopfte zuweilen jemand an die Tür der Richter und Staatsanwälte und gab seinen Senf zum Besten. Er fragte, redete, quasselte, egal was. Wie war das nur möglich? Doni verstand es nicht. Doch vielleicht gehörte auch das zur Logik des Palazzos, dieser Zone, in der die Regeln unsicher waren, das ganze Gegenteil von dem, was er sein sollte: Nägel und Risse, wie immer.

Die junge Frau sah ihn an, ohne zu lächeln.

«Dottor Doni?», fragte sie.

«Ja. Und wer sind Sie?»

«Elena Vicenzi, Journalistin. Ich habe Ihnen vor zwei Tagen eine Mail zum Fall Ghezal geschrieben.»

Doni kniff kurz die Augen zusammen, dann erinnerte er sich. Sie hatte nicht viel mit dem Foto gemein, das er online gefunden hatte. Diese Frau wirkte jünger, und sie hatte vor allem kurzes Haar. Er beschloss, auf der Hut zu bleiben, und nickte nur.

«Sie haben mir nicht geantwortet», sagte sie.

«Nein», sagte Doni. Und dann mit härterer Stimme: «Nein, ich habe Ihnen nicht geantwortet. Könnte ich Ihren Ausweis sehen?»

«Wie bitte?»

«Ihren Presseausweis, bitte. Wie sind Sie denn hereingekommen?»

Sie war sprachlos. Dann wühlte sie in ihrer weißen Einkaufstasche und nahm die Papiere heraus. Sie reichte sie ihm.

«Ich bin Publizistin», sagte sie. «Wie ich Ihnen geschrieben habe, arbeite ich freiberuflich.»

Doni warf einen kurzen Blick auf den Ausweis.

«Und wie sind Sie hereingekommen?», fragte er noch einmal.

«Na ja … Ich habe an der Rezeption nach Ihnen gefragt, und man hat mir den Weg beschrieben. Das war’s.»

«Das war’s.»

«Eigentlich ganz einfach. Hätte ich gar nicht gedacht.»

«Wem sagen Sie das.»

Einen Moment lang schwiegen sie. Doni schaute auf und bemerkte ihr geblümtes Kleid, ein bisschen im Stil der Sechziger und für diese Gelegenheit unpassend. Sie war sehr dünn.

«Jedenfalls bin ich vorbeigekommen, eben weil Sie mir nicht geantwortet haben, die Zeit drängt. Ich muss kurz über Khaled Ghezal mit Ihnen sprechen.»

Doni schüttelte den Kopf. «Auf gar keinen Fall.»

Sie trat einen Schritt vor.

«Dottore, ich weiß ja. Sie denken wahrscheinlich, ich bin verrückt oder will nur ein Interview. Aber so ist es ganz und gar nicht.»

«Das ist eine Frage jenseits aller …»

«Das weiß ich doch.» Sie ließ nicht locker. «Ich weiß, ich weiß, bitte hören Sie mir nur einen Augenblick zu. Ich bin in diesen Dingen nicht geübt, und glauben Sie mir, es ist das erste Mal, dass ich an einen Staatsanwalt schreibe und dann auch noch einfach so aufkreuze … Also, das ist absolut unüblich und keineswegs die Norm, nicht wahr?» Sie lächelte, scheinbar entwaffnet, sprach jedoch sofort weiter: «Tja, also. Wie ich Ihnen in meiner Mail bereits erklärt habe, ist Khaled wirklich unschuldig. Er hat nicht geschossen. Er war nicht mal am Tatort, als es passierte. Er ist ein anständiger Kerl und hat nie was Unrechtes getan, noch nie in seinem Leben hat er eine Pistole in der Hand gehabt. Ich kenne Leute, die das bestätigen können. Sie wissen das genau, und sie wissen auch, wo er an jenem Abend war, wo er sich aufhielt und was er tat. Ich kann mir denken, dass das alles verrückt klingt, mit dem Kuddelmuddel, der nun zum Vorschein kommt, doch es ist die Wahrheit. Sie müssen mir glauben.»

Doni wartete einen Augenblick, dann entschied er sich für einen sarkastischen Ton.

«Aber ich glaube Ihnen ja. Wenn Sie so viele Beweise haben, brauchen Sie sie nur Ghezals Anwalt zu übergeben, er wird sie in der Berufung alle vorlegen.» Er grinste. «Falls Sie es noch nicht begriffen haben, ich bin hier der Böse.»

«Ja.»

«Auch ich habe Berufung eingelegt. Ich bin es, der die strafmildernden Umstände, auf die in erster Instanz erkannt wurde, für schwächer hält als die belastenden. Wussten Sie das?»

Sie starrten sich an, ohne den Blick abzuwenden.

«Ja. Ja, ich weiß.»

«Und weiter?», fragte Doni.

Sie schüttelte den Kopf und griff sich an den Hals. Dann senkte sie den Blick.

«Ich habe kein Vertrauen zu Dottor Caterini.»

«Was meinen Sie damit?»

«Rechtsanwalt Caterini, Khaleds Verteidiger. Ich traue ihm nicht.»

«Und warum nicht?»

«Weil … Na ja, weil ich schon bei ihm war. Er ist ein Idiot. Verzeihen Sie, doch auf mich hat er den Eindruck gemacht, als könnte er eine Frage nicht von einer Behauptung unterscheiden. Er hat mich nach zehn Minuten mit der Begründung weggeschickt, er habe bereits genügend Material für eine niedrigere Strafe beisammen, und überhaupt seien alle Möglichkeiten ausgelotet, es gebe keinen Grund, noch weitere Personen hinzuzuziehen, der Fall sei schon schlimm genug, man müsse den Schaden begrenzen, es sei zwar eine Tragödie und so weiter, gewiss, aber mehr sei nicht drin.»

Doni entschlüpfte ein Lächeln. Genau das dachte auch er über diesen Anwalt – womöglich dachten sogar alle so. Über Enrico Caterini, den Sohn eines alten IKP-Kämpfers, Rhetorik im Überfluss und fast nichts dahinter.

«Er kam mir, wie soll ich sagen, ideologisch verbohrt vor. Als wäre Khaled ein armer Teufel, der aus Versehen oder schuldhaft in eine größere Sache hineingeraten ist, er und alle unglückseligen Immigranten seinesgleichen.»

Donis Lächeln wurde breiter. Das war ja noch besser. Diese junge Frau ging den Anwälten der Linken nicht auf den Leim.

«Aber Khaled braucht keine Bestätigung der Strafe. Khaled ist unschuldig, verstehen Sie? Deshalb kann ich mich nur auf Sie stützen, so absurd das auch klingen mag.» Sie hielt kurz inne, doch Doni antwortete nicht. Nervös kratzte sie sich die Wange, dann fügte sie hinzu: «Außerdem … Nun ja, keiner der Zeugen will vor Gericht erscheinen. Sie alle haben Angst, ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlieren, oder fürchten Repressalien.»

«Typisch.»

Doni stand von seinem Stuhl auf und ging um den Schreibtisch herum.

«Hören Sie», sagte er. Wieder hatte er seinen Tonfall geändert. «Ihren, sagen wir, Gemeinsinn in allen Ehren und auch Ihr Engagement für diesen komplizierten Fall, doch es gibt Verfahrensregeln. Und dieses Gespräch verstößt gegen alle Vorschriften. Ich habe nicht die Absicht, es fortzusetzen.»

«Und warum nicht?»