Jenseits der Mur - Gudrun Wieser - E-Book

Jenseits der Mur E-Book

Gudrun Wieser

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Beschreibung

Eine turbulente Hetzjagd durch das kaiserzeitliche Graz – detailreich recherchiert und wortgewandt. Graz, 1882. Immer wieder werden Körperteile am Ufer der Mur angespült, und keiner weiß, zu wem sie gehören. Gendarm Wilhelm Koweindl steht vor einem Rätsel – und erhofft sich einmal mehr Rat von Hauslehrerin Ida Fichte. Kurz darauf verschwinden das Hausmädchen von Idas Dienststelle und dann die gnädige Frau höchstselbst. Wilhelm und Ida stürzen sich in die Ermittlungen, doch als sie erkennen, dass sie einer falschen Fährte folgen, ist es beinahe zu spät . . .

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Gudrun Wieser, geboren 1987 in Frohnleiten, machte ihre Matura bei den Ursulinen in Graz (damals noch eine reine Mädchenschule), darauf folgte das Lehramtsstudium für Deutsch und Latein an der Karl-Franzens-Universität in Graz. Aus Leidenschaft für die alten Sprachen hängte sie 2017 noch ein Doktorat in Klassischer Philologie (Latein) in Graz und Wien an. Als Lehrerin verschlug es sie nach einem Abstecher als Lektorin an der Universität und mehreren Sprachkursen an der Urania an das geschichtsträchtige Akademische Gymnasium Graz, wo sie nun Latein, Deutsch, Interkulturelles Soziales Lernen und Darstellendes Spiel unterrichtet. Daneben tritt sie als Erzählerin allein und als Duo Wieser&Wiesler mit der Schauspielerin und Autorin Marion Wiesler auf.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer mit einem Motiv von Magdalena Wasiczek/Arcangel.com

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-948-8

Historischer Kriminalroman

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Textbaby Medienagentur Carsten Polzin.

Für Gerald,der mich dazu animiert hat, meinen ersten Krimi zu schreiben,und Marion,mit der sich die besten Geschichten erfinden lassen

1

… in welchem ein Schatten auf ein lang ersehntes Tanzvergnügen fällt …

Natürlich weiß man inzwischen, was mit Charlotte Linhard geschehen ist. Es war eine furchtbare Sache – skandalös und außerordentlich interessant.

Die ganze Geschichte ereignete sich in dem beschaulichen Pensionat am Annaberg, unweit von Gratwein, an einem idyllischen Ort, etwas oberhalb der Mur gelegen, welche die Steiermark ungefähr in der Mitte zerteilte und majestätisch (wenn sie nicht gerade die Abwässer der Poudrette-Fabrik mit sich führte) durch Graz floss.

Man könnte sagen, dass alles bei dem Tanzerl-Abend begann, der jedes Jahr zum Namenstag des Barons stattfand, welcher mit seinem Geld gnad- und huldvoll jene Erziehungsanstalt für junge Fräulein erhielt.

Natürlich könnte man auch etwas weiter zurückgehen, zu dem ersten Tag des Jahres, der einen Hauch von Frühlingswärme mit sich brachte, aber womöglich wäre auch das nicht weit genug. Da derlei Spekulationen jedoch selten zu etwas führen, sollen die Ereignisse bei etwas Vergnüglichem ihren Anfang haben.

Für die jungen Fräulein im frischen Alter zwischen vierzehn und achtzehn Jahren, die in der sicheren Abgeschiedenheit des Pensionats am Annaberg ihre Erziehung vervollkommneten – Gott sei Dank nicht allzu weit von Graz entfernt, aber immer noch mit genügend Sicherheitsabstand, um allzeit den Anstand zu wahren –, bedeutete der Tanzerl-Abend (neben dem Weihnachtsabend und der Fronleichnamsprozession) einen der wenigen Höhepunkte des Jahres. Kein Wunder, denn die Oberlehrerin Fräulein Berta Stieglitz, eine bitterstrenge alte Jungfer noch diesseits der vierzig, war der Ansicht, dass Höhepunkte, egal, welcher Art, im Leben einer anständigen Frau nichts zu suchen hatten.

Allerdings, so hatte besagtes Fräulein Oberlehrerin bereits vor einiger Zeit festgestellt, gehörte es nun einmal zur standesgemäßen Ausbildung ihrer Zöglinge dazu, dass sie sich auch in der Gesellschaft bewegen konnten. Denn dies war ihr erklärtes Ziel: vollkommene junge Heiratskandidatinnen hervorzubringen, fleißig, bescheiden und gut gebildet, gewohnt, mit einem stets freundlichen Lächeln auf den Lippen zu tun, was man ihnen sagte, und nur dann selbstständige Gedanken hervorzubringen, wenn es die Haushaltsführung unumgänglich machte.

Da schien der Oberlehrerin jener jährliche Tanzerl-Abend, zu dem auch Familienangehörige und – es ließ sich einfach nicht vermeiden – ein paar junge Herren aus dem Ersten Staatsgymnasium geladen wurden, noch das geringere Übel zu sein. Nicht auszudenken, wenn sie mit ihren Schützlingen ins Theater hätte gehen müssen oder sie ihnen der Bildung halber gar andere Vergnügungen angedeihen ließe!

Da war es ihrem Erziehungskonzept nur zugutegekommen, dass im vergangenen Dezember 1881 das Ringtheater in Wien dank der altersschwachen Gasbeleuchtung vollkommen niedergebrannt war. Das kam davon, wenn man sich unmäßigen Lustbarkeiten hingab! Die fast vierhundert Toten waren nur eine bedauerliche Bestätigung ihrer Ansicht gewesen, und dass bei dem Unglück auch der Bruder einer gewissen Mary Vetsera umgekommen war, tut hier nichts zur Sache.

Wahrscheinlich hätte dieses Fräulein Stieglitz statt als Oberlehrerin eher ihr Glück in einem Kloster gefunden, in dem sie ganz in Buße und wollüstiger Selbstverneinung aufgegangen wäre. Dummerweise hatte ihr, kurz bevor sie ihr Gelübde ablegen wollte, ein junger Bekannter rein theoretisch eine mögliche Verlobung in Aussicht gestellt. Eilig hatte sie ihre klösterlichen Pläne aufgegeben, um für alle Eventualitäten bereit zu sein – doch es war bei der Theorie geblieben. Statt ins Kloster war sie dann mit säuerlicher Miene und gebrochenem Herzen ins Mädchenpensionat am Annaberg gekommen, wo sie es durch ihre hervorragend schlechte Laune und ihre Hingabe an jegliche Art der Zurechtweisung und Bestrafung bald von der Hilfslehrerin zur Oberlehrerin gebracht hatte.

Sei es, wie es sei, der Tanzerl-Abend musste stattfinden.

Während die Mädchen, vorerst noch siebzehn an der Zahl, damit beschäftigt waren, möglichst viel Aufheben um ihre abendliche Garderobe zu machen, welche aufgrund der strengen Vorschriften des Hauses ohnehin reichlich schlicht ausfallen musste, blieb den Lehrerinnen des Pensionats wenigstens noch eine kurze Zeit der Ruhe.

Fräulein Helene Ammann, gerade noch diesseits der dreißig und von Kopf bis Fuß faltenlose Korrektheit, saß mit ihrem nachmittäglichen Tee vor dem Hintergrund eines betrüblichen Heiligenbilds im Lesezimmer. Alles an ihr war kerzengerade: ihre etwas lange Nase, ihr Scheitel, der sich blass durch ihre dunklen Haare zog, ihre schmalen Lippen, die Knopfleiste an ihrem Kleid. Ebenso geradlinig gestaltete sich ihr Unterricht in Schönschreiben, Deutscher Sprache und Literatur sowie Englisch und ein wenig Naturgeschichte (bloß nicht zu viel, das könnte die Pensionärinnen nur auf natürliche Gedanken bringen!).

Mit den Dingen der Natur war es bei Fräulein Ammann ohnehin nicht so einfach bestellt. Vor ein paar Jahren sollte sie nämlich eine ganz besondere Beziehung zu dem damaligen Hausmädchen des Pensionats unterhalten haben, das jedoch bald eine bessere Stellung im Haus einer reichen Witwe angenommen hatte. Selbstverständlich redete niemand davon, und es galt der allgemeine Konsens, dass man davon auch nichts wusste. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass ihre Vorliebe für Sapphos Dichtung nicht allen unbekannt war.

Rechts von ihr auf einem urgroßväterlichen Polstersessel saß eine zweite Lehrerin, vielleicht ein wenig jünger als sie und gewiss weit weniger geradlinig, denn alles an ihr schien in Bewegung: ihr Haar, das sich hinter den Ohren und im Nacken kräuselte, ihre Augen, ihre Lippen, die manchmal rascher als ihre Gedanken waren, ihre Hände, die die Tasse schwenkten und den dünnen Tee darin tanzen ließen.

»Noch eine Dreiviertelstunde«, sagte Fräulein Ammann mit einem akkuraten Blick auf ihre Uhr, die sie stets an einer Nadel über dem Herzen trug.

»Die Mädchen können es sicherlich kaum erwarten«, erwiderte Fräulein Fichte.

»Die Frage ist nicht, ob sie es erwarten können, sondern ob sie sich, wenn es so weit ist, angemessen benehmen werden.«

»Ich finde, unsere Zöglinge benehmen sich weitestgehend vorbildlich!«

»Das, meine Liebe …«, Fräulein Ammann sah die andere mit tadelnd erhobenen Brauen an, »… kann allein die Oberlehrerin entscheiden. Erst heute musste ich ihr von einer Schülerin berichten, die gewisse Neigungen zu einem jungen Mann gefasst hat, wie es scheint.«

»Um welches Fräulein handelt es sich denn?«

»Auch das unterliegt ganz meiner Verschwiegenheit.«

Ida Fichte schluckte ihre verständliche Neugier herunter und lächelte. Sie war gerade erst dem Status der Hilfslehrerin entwachsen, auch wenn es ihrer Kollegin eine diebische Freude bereitete, sie immer noch zu allerlei Aufgaben heranzuziehen, die nichts mit ihren eigentlichen Kompetenzen, nämlich Geschichte, Klassische Sprachen, Zeichnen und Musik, zu tun hatten.

Ida hatte sich gezwungen gesehen, die Stellung als Lehrerin im Pensionat anzutreten, nachdem sie gleich zwei unglückverheißende Heiratsanträge abgewiesen hatte. Dieses Zeichen von geradezu revolutionärem Selbstbewusstsein hatte ihr Vater, der endlich alles, was ihn an seine erste Ehefrau erinnerte, aus dem Haus haben wollte, für puren Starrsinn gehalten und sie kurzerhand vor die Tür gesetzt. Möglicherweise war es Herrn Fichte auch unangenehm gewesen, als Witwer eine Frau zu heiraten, die ganze zwei Jahre jünger war als seine jüngste Tochter, aber darüber war selbstverständlich nicht geredet worden. Überhaupt hatte Ida Fichte seit damals kein einziges Wort mehr mit ihrem Vater gewechselt; und deshalb soll hier nun auch keines mehr über ihn verloren werden.

Neben den drei Lehrerinnen gab es im Pensionat noch eine junge Hilfslehrerin, Anna Bauer, die allerdings seit Wochen täglich mit einem Antrag ihres langjährigen Verlobten rechnete, welcher endlich zum Schichtführer in einer Kartonfabrik avanciert war, und somit eher als Durchlaufposten zu betrachten ist.

Weiters verfügte die Institution über eine notorisch schlecht gelaunte Köchin, ein Hausmädchen und einen Hausdiener, der längst die Schwelle zum Greisenalter überschritten hatte – sehr zur Freude der Oberlehrerin, denn so brauchte sie sich um die Tugend ihrer Schützlinge weit weniger Sorgen zu machen, als wenn der einzige Mann im Hause noch etwas ansehnlicher gewesen wäre als der gute Joseph.

Pünktlich mit dem rostigen Glockenschlag der Standuhr erhoben sich die Lehrerinnen. Fünf Uhr, der Tanzerl-Abend begann.

Zugegeben, es war noch reichlich früh, um diese Lustbarkeit einen »Abend« zu nennen, doch es war die fixe Meinung von Fräulein Stieglitz, dass alle Untaten prinzipiell nur in den dunklen Nachtstunden geschähen. Aus diesem Grund wollte die Oberlehrerin das Tanzvergnügen und die damit verbundene Anwesenheit jeglicher Männer im Pensionat so früh wie möglich hinter sich bringen. Am liebsten wäre es ihr ja gewesen, wenn man sich bloß am Nachmittag für ein paar unschuldige Rundtänze getroffen hätte – und womöglich wäre dann auch alles ganz anders gekommen.

Der Tanzerl-Abend begann wie immer mit dem Auftritt der Pensionärinnen, die in ihren hellgrauen Sonntagskleidern, welche sie zu diesem Anlass nach Kräften mit Spitzen und Bändern verschönert hatten, und mit aberwitzigen Frisuren am Kopf die Treppe herunterkamen, wo ihre Verwandten und die geladenen jungen Herren sie schon gespannt erwarteten.

Die Schwestern Judith und Juliane Hahn hatten sich bei dieser Gelegenheit selbst übertroffen, indem sie die Federn eines Staubwedels zweckentfremdet hatten und nun mit wippenden gräulichen Straußenfedern über den hochgesteckten Locken einherschritten.

Sarah Vogelsang winkte schon von Weitem aufgeregt ihrem Vater entgegen, einem geradezu herausfordernd jüdisch aussehenden Herrn, der eine blasse Dame am Arm hielt. Die Schülerinnen Marie Seebenstein und Emma Probst reckten ungeniert die Hälse, um nach ihren Verwandten Ausschau zu halten, während Klara Schlanitz und die sommersprossige Annegret Thun plötzlich in hysterisches Kichern ausbrachen, als sie der Gymnasiasten, die vom Ersten k. k. Staatsgymnasium zum Tanz abkommandiert waren, mit ihren weißen Glacéhandschuhen ansichtig wurden.

Anna Buchenberg gefiel sich darin, alles nach strengster Vorschrift zu tun, und trug (als eine der wenigen) ausschließlich das erlaubte Sonntagskleid zu blendend weißen Strümpfen und altmodischen Zopfschnecken.

Das Fräulein Luise von Eber hingegen, Tochter eines adeligen Rittmeisters außer Dienst, wie sie regelmäßig bescheiden anmerkte, stach wie gewöhnlich unter ihren Kameradinnen hervor. Diesmal hatte sie sich kunstvoll einen Spitzenschal um die Taille drapiert, um damit einen modischen Überrock zu simulieren.

Fräulein Stieglitz blickte mit ausgesucht säuerlicher Miene auf ihre Zöglinge herab. »Popanz«, murmelte sie, ehe sie sich entschließen konnte, sich unter die Gäste zu mischen.

Ihr folgten Fräulein Amman, deren gestreiftes Kleid ihre Geradlinigkeit noch unterstrich, und Ida Fichte, die in einem viel zu selten getragenen hellen Nachmittagskleid, das sie mit ein paar Spitzen dem Anlass angepasst hatte, auf einmal nur um ein weniges älter als die Pensionärinnen selbst wirkte. Es war ihr fast peinlich, als sich, kaum dass die ersten Takte der Tanzmusik erklangen, ein Herr vor ihr verbeugte und sie zum Walzer aufforderte.

»Ich weiß nicht, ob ich …«, setzte Ida an, entschloss sich dann aber doch, diese Gelegenheit beim pomadisierten Schopfe zu packen.

»Ah, so ein junges Fräulein darf sich das Vergnügen doch nicht entgehen lassen!«

Was besagter Herr dachte, als er nach wenigen höflichen Floskeln bemerkte, dass er sich eine Lehrerin statt einer Schülerin angelacht hatte, muss hier nicht näher beleuchtet werden. Allerdings steht fest, dass er nur ein paar Jahre später von den vorrangig finanziellen Reizen einer deutlich älteren Dame dermaßen angetan war, dass er sie in aller Eile heiratete, um bald darauf die gute Gesellschaft Richtung Amerika zu verlassen.

Wohlerzogen schoben ein paar Gymnasiasten die Fräulein übers Parkett, krampfhaft bemüht, höchstens über ihre eigenen Füße, keinesfalls aber über die ihrer kichernden Tanzpartnerinnen zu stolpern. Hier und da drehten sich auch andere Gäste zur Musik, es wurde angeregt geplaudert, und jeder gab vor, sich gebührend zu amüsieren, sodass niemand die Gestalten im Schatten bemerkte, die sich an diesem Abend ebenfalls im Pensionat am Annaberg herumtrieben.

Zwei Männer, die geduckt und eilig durch den Seiteneingang huschten und dann zielstrebig an den Schlafsälen der Mädchen vorbei ins Dachgeschoss stiegen, hätten wohl manchen, der ihnen unvorbereitet über den Weg gelaufen wäre, aufs Höchste erschreckt. Sie hatten etwas Rohes, gewissermaßen Ungehobeltes an sich, von harter Arbeit knorrige Hände, die gewiss nicht zögerten, wenn sie einem jungen Kaninchen das Genick brachen, und zornige Falten auf der Stirn.

Dennoch darf man sie in dieser Geschichte getrost außer Acht lassen. Es handelte sich bei ihnen nämlich um Freunde des alten Hausdieners, die den Tanzerl-Abend zu einer ausgiebigen Runde Schnaps und Kartenspiel nutzen wollten – und um heroische Erinnerungen an die Märzrevolution auszutauschen, an der sie vor über dreißig Jahren allesamt erfolglos teilgenommen hatten. Ein wenig verwundert waren die beiden Männer zwar, dass nun auch noch ein klobiger Schrank, der ob seiner kunstfertigen Ausgestaltung eher in den Salon oder ins Lesezimmer des Pensionats gepasst hätte, den ohnehin spärlichen Platz unter dem Dach einnahm, doch machten sie sich darüber an diesem Abend keine weiteren Gedanken.

Auch Dr. Carl kann aus der Reihe der potenziellen Verdächtigen gestrichen werden. Er erfreute sich eher an jungen Burschen und betrachtete die Mädchen des Pensionats zwar mit Interesse, aber ohne die gewissen Absichten, mit denen er zum Beispiel sonntags die Ministranten bedachte.

Die ältliche Tante der Schülerin Ilse Täublein hingegen war eine eher unheimliche Gestalt in der Runde. Immerhin war es in ihrer Familie bekannt, wenn auch darüber geschwiegen wurde, dass sie gewisse sadistische Neigungen an ihren Haustieren auslebte, meist Dackeln oder Pekinesen, und sie nach einem bestimmten Vorfall ihre Papageien nur noch in einem separaten, stets verschlossenen Zimmer hielt. Angeblich hatte sie in den 1860er Jahren, als sie zur Erholung ihrer Nerven eine Saison in Paris verbrachte, eine kurze, aber stürmische Affäre mit Dr. Claude Bernard gehabt, welcher damals allerhand absonderliche Tierversuche anstellte und mit Curare experimentierte.

Fräulein Ammann, die eigentlich gerne getanzt hätte und daher immer wieder bedeutsam ihre Augen auf die anwesenden Herren richtete, fiel zudem ein Gast auf, der den finsteren Blick nicht eine Sekunde von der sommersprossigen Nase der Pensionärin Annegret Thun wandte und sich dabei immer wieder verstohlen über die Lippe leckte, was sie höchst ungustiös fand.

Ida Fichte beobachtete hingegen einen jungen Mann, den sie für einen der Gymnasiasten hielt, welcher mehrmals mit Charlotte Linhard in einem Winkel verschwand, aus welchem sie stets mit geröteten Wangen und zunehmend finsterer Miene wieder hervortaumelte. Ganz offensichtlich versuchte er mit seinen überlangen Koteletten seinen kümmerlichen Milchbart zu kompensieren, was Charlotte allerdings wenig zu beeindrucken schien. Just als sich Ida dazu bereit machte, dem Treiben Einhalt zu gebieten, war der junge Mann verschwunden, was ihr im Nachhinein besonders verdächtig vorkam.

Fräulein Stieglitz schließlich beobachtete, wie die Mutter der Pensionärin Rudolfine von Oberg sich zwei silberne Vorlegelöffel in ihren Retikül stopfte. Sie entschloss sich aber zu schweigen, denn der Vater des Fräuleins war immerhin Gerichtsrat.

Den eigentlichen Schatten, der mehrmals außen an den Fenstern vorbeistreifte, bemerkte jedoch niemand. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn nur einer der Gäste im rechten Moment den Blick in die Dunkelheit gerichtet hätte, wie viel Unglück wäre vielleicht gar nie geschehen.

2

… in welchem ein Morgenspaziergang eine schauerliche Entdeckung mit sich bringt …

Es war für die Oberlehrerin immer eine besondere Freude, die Pensionärinnen nach dem ihr verhassten Tanzerl-Abend extra früh aufstehen zu lassen, um sie zu einem erfrischenden Morgenspaziergang zu zwingen. Das zaghafte Aufbegehren der Mädchen pflegte sie mit biblischen Weisheiten und Durchhalteparolen zu übertönen. »Wer abends lang der Freuden frönt, sich morgens harte Arbeit gönnt«, war einer ihrer Lieblingssprüche.

Überraschenderweise allerdings hatte sie an diesem Morgen verschlafen.

Fräulein Ammann und Ida Fichte, die in Erwartung der traditionellen Schikane nach dem Tanzvergnügen bereits angezogen waren, standen mit Hut und Schal bewaffnet vor dem Zimmer der Oberlehrerin. In den Schlafsälen der Mädchen herrschte noch selige Ruhe.

Pflichtbewusst hob Helene Ammann schon die Hand, um zu klopfen, als Ida einen Einspruch wagte: »Wollen wir sie nicht diesmal schlafen lassen?«

»Die Oberlehrerin hat nichts dergleichen angeordnet.« Fräulein Helene Ammann betonte die Rechtschaffenheit ihrer Pläne immer gern durch die Anwendung von Titeln.

»Aber es war gestern eine wirklich lange Nacht.«

»Nicht länger als vorgesehen.«

»Da oben schon.« Ida deutete mit dem ausgestreckten Finger an die Zimmerdecke. »Der Joseph hat wohl wieder Gäste geladen, und die Stieglitz hat Kehraus machen müssen.« Ein Anflug von Ironie und eine Prise Schadenfreude klang in ihren Worten. Nicht so viel, um tatsächlich Missfallen zu erregen, doch genug, um für eine Sekunde die Geradlinigkeit von Fräulein Ammann durcheinanderzubringen.

»Davon habe ich nichts gehört. Ich habe selbstverständlich geschlafen.« Helene hingegen bereitete es Vergnügen, in allem vorbildlich zu sein. Selbst im Schlaf, der sich bei ihr ausschließlich auf die dafür vorgesehenen Stunden beschränkte.

In der folgenden halben Stunde kleideten sich die Mädchen in ihre vorgeschriebenen Alltagskleider – denn Bescheidenheit und Reinlichkeit waren oberstes Gebot im Pensionat –, die Köchin ließ den Kaffee anbrennen, das Hausmädchen hätte auf der Vordertreppe fast einen Kübel Waschwasser ausgeleert, und der Hausdiener sann beim Holzholen über einen Traum nach, in dem er immer wieder einen Infanteristen mit einem Pflasterstein erschlagen hatte.

Die beiden Lehrerinnen hatten sich schließlich doch für Pflicht und Tradition entschieden und scheuchten nun eine Schar von sechzehn Mädchen zum morgendlichen Spaziergang. Ida hatte auf den üblichen Appell verzichtet – vielleicht auch, um die Oberlehrerin möglichst lange schlafen zu lassen – und es zugelassen, dass die Pensionärinnen kurz darauf nicht in dunkelblauen Zweierreihen das Haus verließen, sondern lediglich als eine Schar junger Mädchen, die kichernd und schwärmend einander jedes Detail des vergangenen Abends rekapitulierten.

Fräulein Ammann, der schon allein der Gedanke Sodbrennen verursachte, von der Oberlehrerin dabei erwischt zu werden, wie sie irgendeine Form von Individualität zuließ, konnte erst aufatmen, als sie ihre Schützlinge wieder in Reih und Glied sah. Erleichtert gab sie das Kommando zum Abmarsch, wobei sie auf die verhasste Anweisung, in welcher Sprache die Konversation während der Promenade zu geschehen habe, vergaß. Üblicherweise wechselten sich Deutsch und Französisch ab, hin und wieder gab es auch Experimente mit Englisch oder gar Italienisch, was zu besonders schweigsamen Ausflügen führte.

So kam es, kaum dass sie die Gartenmauer des Pensionats hinter sich gelassen hatten und im Begriff waren, auf die Landstraße einzubiegen, dass plötzlich ein Mädchen, wahrscheinlich war es Ilse Täublein, auf Deutsch aufkreischte: »Die Charlotte! Die Charlotte liegt da!«

Für einen Augenblick hing ihre helle Stimme in der Luft, als scheute sie sich, den bis dahin so milden Morgen in einen Scherbenhaufen zu verwandeln. Klirrend stürzten die Worte dann den Mädchen und den beiden Lehrerinnen ins Bewusstsein.

Viel zu friedlich lag Charlotte Linhard am Straßenrand, die zu komplizierten Kringeln zusammengefassten Haare (welche am folgenden Morgen wie immer als modische Löckchen ihre Toilette hätten vervollständigen sollen) unter einem Spitzenhäubchen verborgen, kaum bekleidet, nichts als leichte Hausschuhe an den Füßen. Allein die bläuliche Blässe auf ihrem Gesicht verriet, dass sie nicht schlief.

Fräulein Luise von Eber machte sogleich Anstalten, in Ohnmacht zu fallen, unterließ es aber, als sie bemerkte, dass sich auf einmal alle um die Mitschülerin Charlotte Linhard scharten und sie nicht im Geringsten beachteten.

»Großer Gott!«, schlug sich Ida die Hand vor den Mund und blickte hilfesuchend zu Helene Ammann, die ihrerseits fürs Erste erstarrte und kein Wort herausbrachte.

Es verwunderte wohl niemanden, dass gleich darauf völliges Chaos um sich griff, zumal daran sechzehn Mädchen und zwei schockierte Lehrerinnen beteiligt waren – ganz zu schweigen von einer Leiche, wie man bald feststellen würde. Kaum dass die Schockstarre von den Schülerinnen abgefallen war, brach eine Flut von Stimmen über die Tote herein. Während die einen einander zu trösten suchten, steigerten sich die anderen immer mehr in panische Klagen, bis selbst die Gefasstesten unter ihnen sich ihren Kameradinnen anschlossen.

Dass weder Fräulein Ammann noch Ida Fichte zuvor auf den Gedanken gekommen waren, die Pensionärinnen zu zählen, ehe sie zur morgendlichen Promenade aufgebrochen waren, mag man den Nachwirkungen des Tanzerl-Abends zuschreiben. Alles andere würde bedeuten, auf eine nebensächliche Nachlässigkeit das Augenmerk zu lenken. Immerhin besaß Ida nach einer ausgiebigen Schrecksekunde genügend Geistesgegenwart, die Hilfslehrerin, die ihnen als Schlusslicht gefolgt war, eiligst loszuschicken, um von irgendwoher Hilfe und Beistand anzufordern.

»Was wird die Stieglitz sagen?«, war das Erste, was Helene nach einigen Minuten stammelte.

»Ich befürchte, wir werden bald ganz andere Sorgen haben«, erwiderte Ida, die sich redlich bemühte, ihren Schrecken vor den Mädchen zu verbergen. Sie sah nicht, wie Helenes Blick bei diesen Worten zum Pensionat zurückflog. Ein ganz eigener Schimmer von Furcht und Sorgen lag dabei auf ihrer Stirn, den sie zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht bemerkte, flatterte doch ihr eigenes Herz gerade wie ein aufgescheuchter Vogel in ihrer Brust.

»Und wie sie da liegt …«, murmelte Helene nach einer Weile.

»Hoffentlich musste sie nicht leiden …«

Helene sah Ida an, als hätte sie gerade etwas ganz besonders Ungehöriges gesagt. »Die Frage ist nicht, ob sie leiden musste, sondern ob sie es womöglich –«

Demonstrativ wandte Ida sich ab, bevor Helene den Satz beendet hatte.

Als die angeforderten Gendarmen etwa eine Stunde später – zu Fuß, denn die k. k. Landwehr, der sie unterstanden, sah einen berittenen Einsatz nur in dringenden Fällen vor – vom Posten in Gratwein heraufkamen, fanden sie das verblichene Fräulein Charlotte Linhard am Straßenrand liegend und von sechzehn heulenden Mädchen umstanden.

Man kann sich denken, dass das Erscheinen der beiden uniformierten und ordnungsgemäß adjustierten Männer wenig dazu angetan war, für Ruhe zu sorgen. Im dunkelgrünen Rock, mit krapprotem Kragen, die dunklen Mützen schneidig in die Stirn gezogen, sahen sie sich erst mit strenger Miene um, ehe sie sich der Toten zuwandten. Ein Säbel schlug dumpf auf den Boden, als sich der eine hinhockte, um sich Charlotte aus der Nähe anzusehen.

Fräulein Ammann hatte ihre kerzengerade Haltung wiedergefunden und sah scheinbar ruhig den Gendarmen bei ihrer Arbeit zu. Nur ihre Hände, die sich zwischen den makellosen Falten ihres Rocks verbargen, hätten ihre Anspannung verraten können. Ida hingegen wartete etwas abseits und versuchte, erst ihre eigenen Gedanken und dann die Mädchen zur Ordnung zu rufen.

Jammernd, wimmernd, hysterisch und erstarrt standen sie wie Gänschen zusammen, starrten die Tote an oder vergruben die Gesichter in den Händen. Selbstverständlich war der Lehrerin bewusst, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte. Zöglinge des Pensionats hatten weder tot noch lebendig etwas am Straßenrand zu suchen. Noch aber scheute sie sich davor, diesen unerfreulichen Gedanken in seinem vollen Ausmaß zuzulassen.

Pfarrer und Arzt waren vorsichtshalber auch bereits informiert worden, doch ließen diese auf sich warten. Der eine, weil er ohnehin zu spät kommen würde, der andere, weil es nicht wirklich einen Unterschied machte.

Fräulein Ammann hatte in der Zwischenzeit die Oberlehrerin herbeigeholt, die nun wie eine dräuende Gewitterwolke über der Szenerie auftauchte. Ihre Miene zeigte steinerne Gefasstheit; und wäre Ida nicht selbst so aufgewühlt gewesen, hätte sie das vielleicht verwundert.

Während sich die eine Hälfte der beiden Gendarmen eifrig daranmachte, allerlei zu notieren und mit Kennermiene die Leiche zu vermessen (nachdem der Kampf mit einem riesigen neumodischen Fotoapparat unter Fluchen gescheitert war), taxierte derweil die andere Hälfte, ein Mann, der auch ohne seine Kopfbedeckung seine Umgebung locker um Haupteslänge überragte, die umherstehenden Frauenzimmer. Anscheinend suchte er nach der geeigneten Person, um die obligaten Befragungen zu beginnen. Schließlich entschied er sich für eine der Lehrerinnen.

»Ich nehme an, Sie gehören zum Pensionat?«, trat der Ruhe- und Ordnungshüter schließlich an Ida Fichte heran, nachdem er einen knappen Gruß angedeutet hatte. Mit geübtem Blick hatte er erkannt, dass aus ihr wahrscheinlich noch am ehesten eine vernünftige Antwort herauszubekommen war.

Ida nickte, wobei sie den Kopf wegen der außergewöhnlichen Höhe des Mannes ein wenig in den Nacken legen musste.

»Was ist geschehen?«

»Wir haben die Pensionärin Charlotte Linhard beim Morgenspaziergang hier gefunden.«

»Genau so?« Er deutete auf die totenblasse Gestalt, im Nachthemd, mit rosa Schleifen im Haar und am Kragen.

»Fast. Die Mädchen haben …«

Sofort zogen sich seine dichten Brauen zusammen. »Sie haben – den Tatort verfälscht!« Die militärische Strenge, die er bei diesen Worten über seine Miene streifte, schien eine Unsicherheit verbergen zu wollen.

Ida versuchte zu erklären, dass die Mädchen allesamt im ersten Schrecken auf die Kameradin losgestürzt waren, dass sie ja selbst nicht gleich begriffen hatte, was mit der Schülerin los war. »Ja, meinen Sie, dass das bei uns öfter passiert?«

»Wozu wurde die Kriminalistik erfunden, dass dann ein paar Frauenzimmer …«, brummte der Gendarm mit professionellem Missmut und wandte sich rasch zu seinem Kameraden, dass nicht womöglich ein unbedachtes Lächeln seine Autorität untergrub. Wieso er für einen Moment versucht war, Ida anzulächeln, wusste er selbst nicht.

Kurz darauf trat die Oberlehrerin zu den beiden Gendarmen, und mit dem Tonfall eines altgedienten Feldwebels befahl sie sofortige Aufklärung des Verbrechens, das Schande über ihr makelloses Pensionat brachte. Die Männer waren sichtlich überrascht von der Art, wie Fräulein Stieglitz mit ihnen sprach, für die beiden anderen Lehrerinnen war es bloß ihr üblicher Tonfall. Nur wer die Oberlehrerin sehr genau kannte und sehr genau hingehört hätte, dem wäre das versteckte Beben in ihrer Stimme aufgefallen.

»Und außerdem dulde ich nicht, dass die Fräulein hier noch länger an diesem Schauplatz des Gräuels herumstehen müssen!«, fügte sie kämpferisch hinzu.

»Aber eine Befragung wäre durchaus –«, wagte einer der Gendarmen zaghaften Einspruch.

»Ich dulde auch nicht, dass meine Zöglinge Ihnen wie gemeine Verbrecher Rede und Antwort stehen! Ich führe ein anständiges Institut. Ein höchst anständiges!«

»Selbstverständlich, aber vielleicht könnten wenigstens die engsten Freundinnen –«

»Und schon gar nicht dulde ich, dass Sie sich in persönliche Belange der Pensionärinnen mischen! Meine Schülerinnen sind den Umgang mit … Männern nicht gewöhnt.«

Der lange Gendarm versuchte seinem Kameraden zu Hilfe zu kommen, indem er höflich und überaus umständlich anmerkte, dass es bei einem Verbrechen, wie es hier offensichtlich vorlag, durchaus angemessen sei, ein paar kleine Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen.

»Ich bin nicht der Vormund meiner Zöglinge. Wenn der Gerichtsrat von Oberg und Rittmeister von Eber oder Professor Vogelsang ihre Zustimmung erteilen, können Sie deren Töchter sicherlich befragen – wenn es denn unbedingt notwendig ist.«

Der gekonnte Einsatz der wenigen halbwegs prominenten Namen ihres Instituts hatte seine Wirkung nicht verfehlt, und den Gendarmen blieb nichts anderes übrig, als Fräulein Ammann dabei zuzusehen, wie sie sich eilig daranmachte, ihre Schützlinge vom Tatort ins Pensionat abzuführen.

Besorgt sah Ida den Mädchen nach.

Zitternd, weinend, mit vor Aufregung geröteten Wagen oder schreckensblass, erstarrt oder fahrig, hektisch, hysterisch oder apathisch trotteten die Schülerinnen der Lehrerin hinterher. Nur manche wagten es, halblaut miteinander zu tuscheln, und die wenigsten warfen noch einmal einen Blick auf die tote Gestalt am Straßenrand zurück. Nicht alle von ihnen waren mit Charlotte Linhard eng befreundet gewesen, Emma Probst und Maria-Magdalena Zureiter hatten sogar eine herzliche Abneigung gegen sie gehegt, doch die Kameradin tot aufzufinden hatte keines der Mädchen unberührt gelassen.

»Womöglich hat sie nach dem Tanzerl der Schlag getroffen!«, ließ sich im Weggehen noch aus der Gruppe der gänsegleich zusammengetriebenen Mädchen vernehmen.

»So ein Blödsinn. Für einen Schlag muss man alt und fett sein wie mein Onkel Theo oder zu viel trinken wie die Tante Genoveva.«

Fräulein Ammann war mit ihren Gedanken so weit entfernt, dass nicht eine einzige Silbe dieses ernsten Gesprächs in ihr Bewusstsein drang.

»Oder der Gustav …«

Ida Fichte allerdings war schlagartig ganz Ohr.

»Aber wenn er davon gewusst hätte, dass sie eigentlich diesen …«

»Er hat doch beim Tanzerl immer wieder –«

»Hast du ihn abgeschickt?«

Fräulein Stieglitz war gerade mit der ausführlichen Darlegung ihres pädagogischen Konzepts beschäftigt – das vornehmlich aus Arbeit, Gehorsam und der gnadenlosen Exekution weiblicher Tugenden bestand – und bekam kein Wort von dem mit, was die Mädchen einander zuflüsterten.

Ganz im Gegensatz zu Ida, deren Gedanken zu rotieren begannen. Am liebsten wäre sie den Schülerinnen nachgelaufen, um zu erfahren, was sie einander über Charlotte zuflüsterten, doch irgendetwas hielt sie zurück. Ein paar Stunden lang würden die Mädchen nun wohl unter der Aufsicht von Fräulein Ammann ausgewählte Passagen aus dem Katechismus in feinster Schönschrift abschreiben. Ein probates Mittel, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen …

Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln bemühte sich die Oberlehrerin, die beiden Gendarmen möglichst rasch wieder loszuwerden. Nicht dass sie kein Interesse daran gehabt hätte, dass für das furchtbare Verbrechen, welches quasi vor ihrer Haustür geschehen war, rasch ein Schuldiger gefunden wurde, doch gab es gute Gründe, die sie dazu veranlassten, zu größtmöglicher Eile zu drängen. Einer dieser Gründe (wenn auch nicht der einzige) war, dass sie grundsätzlich so gut wie keine Männer in der Nähe ihrer Zöglinge duldete – und schon gar nicht, wenn selbige leidlich wohlgestaltet und noch dazu in schneidiger Uniform waren.

Etwas unschlüssig verharrte Ida Fichte derweil neben der Toten. Selbstverständlich hatte sie keine kriminalistische Ausbildung genossen – überhaupt beschränkte sich ihre Bildung lediglich auf den Besuch eines Lyzeums mit einem anschließenden Aufenthalt in der Lehrerinnenbildungsanstalt, der sie schließlich ins Pensionat am Annaberg geführt hatte. Dennoch waren ihr ein paar Dinge aufgefallen, die den anderen womöglich entgangen waren: Rund um Charlottes Leichnam war das Gras am Straßenrand von zahlreichen Füßen zertrampelt, nach Fußspuren eines Täters brauchte man also gar nicht erst Ausschau zu halten, allerdings gab es auch keine Schleifspuren, die darauf hindeuteten, wie das Mädchen an diesen Ort verbracht worden war. Entweder ein halbwegs kräftiger Mann hatte also ihren Körper hierhergetragen – oder sie war an diesem Ort getötet worden. Weshalb sie aber ausgerechnet im Nachthemd hier unterwegs gewesen war, blieb fraglich.

Ida runzelte sinnend die Brauen und schaute sich um. Ein paar Schaulustige aus dem Ort drückten sich einige Meter entfernt unter einem Nussbaum herum, die Gendarmen wirkten beschäftigt. Ihr war klar, dass sie hier nichts mehr zu tun hatte – dennoch hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass sie noch nicht zurück zum Pensionat gehen durfte.

Zum Glück, denn wenn sie doch den Fräulein nachgeeilt wäre, hätte jener lange Gendarm namens Wilhelm Koweindl, der sie zuvor schon angesprochen hatte und der bisher ganz nach Vorschrift sein Notizbuch gefüllt hatte, eine interessante Information gar nicht erhalten. Vielleicht hätte sich Ida später auch gar nicht mehr getraut, dieses scheinbar nichtige Detail zu erwähnen. So allerdings sagte sie auf einmal, ohne jemand Bestimmten anzusprechen: »Rosa Schleifen hat sie doch immer gehasst.«

Wilhelm Koweindl, der übrigens unter anderem aufgrund seiner beachtlichen Höhe von über einem Meter und fast neunzig Zentimetern von seinem Regiment in den Gendarmerie-Dienst versetzt worden war, stutzte und vergaß, was er gerade hatte notieren wollen. »Wie meinen, Fräulein?« Es gehörte ja zu seiner militärischen Ausbildung, immer höflich zu sein. Gegen Zivilisten im Allgemeinen und Frauen im Speziellen – vor allem, wenn er quasi versehentlich bemerkte, dass sie auch noch einigermaßen hübsch waren.

»Nichts. Bitte um Verzeihung«, erwiderte sie rasch.

»Nein, sagen Sie nur.«

»Die Charlotte hasste rosa Schleifen«, wiederholte Ida, indem sie den Blick zu seiner imposanten Höhe emporrichtete. »Sie sahen ihr zu romantisch aus und passten nicht zu ihren rotblonden Haaren.«

»Rosa?«, fragte er verwirrt und bemerkte dann, als wäre dies ein passendes Gegenargument: »Aber sie trägt ja auch ein Nachthemd.« Wilhelm Koweindl war nämlich nicht verheiratet, weshalb er die vage Vermutung hegte, dass Schleifen durchaus zu einem Nachthemd passten. Überhaupt hatte er mit Frauen – seine Mutter und ein paar rein körperliche Bekanntschaften ausgenommen – bisher sehr wenig zu tun gehabt.

»Wieso sollte sie dazu Schleifen tragen?«

Rasch versuchte er sein Unwissen zu kaschieren, indem er jenen einen Satz sagte, der in weiterer Folge Ida Fichte dazu bewegen sollte, gewisse Nachforschungen über Charlotte Linhard anzustellen: »Vielleicht ist sie mit so einer Schleife ja erwürgt worden?«

Ida zögerte, sah den Gendarmen forschend an. Sie verfügte über einen raschen Verstand, und es bereitete ihr durchaus Vergnügen, selbigen auch anzuwenden. Wahrscheinlich hatte sie sich ja gerade deshalb damals gegen die beiden Heiratsanträge entschieden.

Dann beugte sie sich zu der Toten hinunter, strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und wollte gerade den Kragen ein wenig beiseiteschieben, als der Aufschrei der Oberlehrerin sie erstarren ließ: »Was um Himmels willen tun Sie da?«

»Ich –« Bevor Ida noch etwas antworten konnte, hatte Fräulein Stieglitz sie am Arm gepackt und zerrte sie mit sich zum Pensionat zurück.

»Fräulein Lehrerin …«, wollte der Gendarm ihr noch etwas nachrufen. Vergeblich.

Just in diesem Moment fanden sich endlich auch der Arzt und der Pfarrer ein, was die sofortige Aufmerksamkeit der beiden Gendarmen forderte.

Während die Oberlehrerin einen Schwall an Zurechtweisungen auf Ida niederprasseln ließ, blickte Wilhelm Koweindl ihr noch ein paar Sekunden länger als notwendig nach. Vielleicht entschloss er sich da schon, recht bald noch einmal mit der Lehrerin zu sprechen, die womöglich etwas entdeckt hatte, was männlichen Augen entgehen musste. Vielleicht aber fasste er den Entschluss auch erst am Abend, als er mit ein paar Kameraden bei einer Runde Uhudler beisammensaß.

Vor allem aber entschloss er sich zu tun, wozu sie nicht mehr gekommen war. Er beugte sich zu der Toten und zog ihren Kragen beiseite. Es war nichts Scheußliches, was er darunter entdeckte, nichts, was ihn zurückzucken ließ, bloß die dunklen Verfärbungen an ihrem Hals, die ihm verrieten, dass das Mädchen tatsächlich erdrosselt worden war.

Mit Hilfe einiger Schaulustiger wurde die Leiche von Charlotte bald darauf in einen behelfsmäßigen Sarg und weiter nach Graz verfrachtet.

Die folgenden Stunden im Pensionat vergingen wie unter dem Schatten einer Gewitterwolke. Die jungen Mädchen, die bisher behütet und umsorgt dem gesellschaftlichen Feinschliff unterzogen worden waren, hatten zum ersten Mal in einen der vielen Abgründe des Lebens geblickt. Wer weiß, wie viele Taschentücher von hilflosen Tränen durchnässt wurden, wie viele Tagebuchseiten mit den dramatischen Erlebnissen des Morgens gefüllt wurden. Manch eine wagte aus Angst vor dem »Bösen« kaum mehr allein auf den Abort zu gehen, andere verkrochen sich mit ihrer Arbeit stumm brütend in eine Ecke.

Fräulein Stieglitz verbot unter dem Vorwand größter Diskretion den Mädchen, an ihre Eltern und Verwandten zu schreiben, da sie diese zuerst selbst von dem Vorfall unterrichten wollte – immerhin war sie vom Ruf ihrer Einrichtung und dem Kostgeld ihrer Zöglinge abhängig –, und verhängte ein Schweigegebot über die kommenden Arbeitsstunden. Dies galt übrigens auch für die Lehrerinnen und Hausangestellten. Kein unnötiges Wort durfte über den Tod von Charlotte Linhard gesprochen werden.

Die Köchin versalzte vor lauter Sorge das Essen, und die Hilfslehrerin vergaß, die Tintenfässchen im kleinen Unterrichtsraum nachzufüllen. Der Hausdiener Joseph ließ sich für den Rest des Tages nicht mehr blicken, und hier und da meinten die Mädchen, ein unheimliches Knarren im Gebäude zu vernehmen. Dass es der Geist der Toten sein musste, stand für sie von Stund an außer Frage – auch wenn ähnliche Geräusche im alten Gebälk vorher schon vorgekommen waren.

Die Türen und Fenster wurden am Abend doppelt verriegelt, und die Oberlehrerin stieg kurz vor dem Zubettgehen persönlich ins Dachgeschoss hinauf, um zu überprüfen, ob auch die Dachluken verschlossen waren.

Sehr zum Missfallen von Fräulein Ammann, die sich gerade selbst darum kümmern wollte.

Ida, die mittlerweile den Luxus einer eigenen winzigen Kammer genoss, lag lange noch wach und fragte sich, was in der letzten Nacht geschehen sein mochte.

Charlotte war nach dem Tanzerl-Abend wie alle anderen in den Schlafsaal gegangen, das hatte sie selbst gesehen. Wie alle anderen musste sie sich hinter dem Paravent entkleidet haben, hatte sich vorschriftsmäßig mit dem längst kalten Wasser aus der Waschschüssel Gesicht und Hände gewaschen, hatte ihr Nachthemd angezogen – und dann? War sie etwa mondsüchtig, dass sie zur dunkelsten Stunde einfach hinausgegangen war? Und selbst wenn, vom Mond konnte man ja nicht erdrosselt werden. Also musste jemand anderes das Furchtbare getan haben. Ein Mensch – ein Mann? Natürlich, wer denn sonst … Und wann sonst im Jahr befanden sich so viele männliche Wesen hier im Pensionat?

Kein Wunder, dass Ida in ihrem Bett erschauerte, als sie daran dachte, dass sie doch selbst an dem Abend mit zwei oder drei dieser Individuen getanzt hatte. Fräulein Stieglitz hatte ihr nur zu deutlich missbilligende Blicke zugeworfen dafür, dass sie sich erdreistet hatte, auch ein wenig Vergnügen zu haben.

Das mit den Männern war ohnehin so eine Sache, nicht bloß im Pensionat am Annaberg. Wer nicht rasch genug einen bekam, musste sich entweder von der Familie als alte Jungfer aushalten lassen oder sich eine Arbeit suchen. Und wer das Pech hatte, zu viel Bildung genossen zu haben, taugte nicht mehr als Hausmädchen oder Arbeiterin, vielleicht gerade noch als Zofe. Also musste man Lehrerin werden. Und als Lehrerin war es ihre Aufgabe, die Mädchen darauf vorzubereiten, rechtzeitig einen Mann zu finden …

Es steht übrigens außer Frage, dass Ida Fichte in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen empfehlenswerten Mann näher kennengelernt hatte. Jedenfalls war der Kreis ihrer männlichen Bekanntschaften ausgesprochen klein, ihren Vater und Beichtvater weggerechnet.

Und während sie sich bemühte, endlich Schlaf zu finden, fühlte sie sich in ihren Gedanken von Bändern und Schleifen in allen würgenden Farben umwunden, bis sie keuchend wieder hochfuhr, ohne bemerkt zu haben, dass sie zwischenzeitlich doch geschlafen hatte.

3

… in welchem reichlich Tränen fließen und eine Lehrerin ein ungewöhnliches Angebot annimmt …

Bei der Inspektion der Schlafsäle am folgenden Morgen entgingen Fräulein Ammann zwar die abgekauten Nägel der kleinen Paula Theuerdank, nicht aber die ungeputzten Schuhe von Rudolfine von Oberg, während Ida vor allem die Unruhe bemerkte, welche die Schülerinnen ergriffen hatte. Was ja kein Wunder war, nachdem eine von ihnen auf ebenso unerwartete wie furchtbare Weise aus ihrer Mitte gerissen worden war.

Vielleicht wäre es in dieser schwierigen Situation besser gewesen, die Mädchen nicht mit einem Schweigegebot zu belegen, sondern mit ihnen zu sprechen, dachte Ida bei sich. Statt sich mit dem Katechismus und irgendwelchen Handarbeiten zu beschäftigen, hätte ihnen erlaubt sein müssen, über ihre Ängste und Sorgen zu reden, man hätte ihnen zuhören und Mut machen, ihnen Sicherheit und Trost spenden müssen. Aber das Wort von Fräulein Stieglitz galt als sakrosankt, und selbst eine Person wie Ida Fichte widersetzte sich dem nicht leichtfertig.

Während rund um das Pensionat Gendarmen Präsenz zeigten und jeden, der ihnen unterkam, nach besonderen Vorkommnissen befragten, ging Ida in der nachmittäglichen Rekreations-Stunde, in der die Pensionärinnen zur Erholung zwischen den Unterrichtsstunden handarbeiten mussten, strickend und lauschend durch die Reihen und hoffte, etwas Hilfreiches aufzuschnappen.

Die Oberlehrerin war in der Zwischenzeit abermals ins Dachgeschoss hinaufgestiegen, angeblich um Joseph für seine Unachtsamkeit die Leviten zu lesen, und Fräulein Ammann hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen, um die Schrecken des vergangenen Tages lesend zu verarbeiten. Bei all ihrer Strenge und Geradlinigkeit hatte sie nämlich jüngst – was noch kaum jemand ahnte – ein neues Interesse für Dichtung entwickelt. Für gute, erhabene Dichtung wohlgemerkt, die den Autor zu einem übermenschlichen Wesen machte und den Leser in lyrische, metaphysische Regionen entführte, in denen sich ohnehin niemand mehr auskannte, aber jeder so tat, als hätte er endlich den Musengral gefunden.

Am festen Boden des Klassenzimmers versuchte derweil Ida den Mädchen eine schwesterliche Freundin und Stütze zu sein. Als Antonia Maurer, die mit Charlotte ein Nachtkästchen geteilt hatte, auf einmal über ihrem Strumpf in Tränen ausbrach, entschloss sie sich, die Gelegenheit zu nutzen und anzusprechen, was wohl allen hinter der Stirn herumgeisterte.

»Ich weiß, ihr trauert alle um Charlotte.«

Sechzehn Paar Augen wandten sich in ihre Richtung.

»Ihr werdet sie gewiss als gute Kameradin in Erinnerung behalten …«

Sechzehn Köpfe nickten zu den Worten.

»Und«, später würde Ida sich wundern, warum sie den Satz ausgerechnet auf diese Art formuliert hatte, »wer ohne Sünde stirbt, wird seinen Frieden finden.«

Statt zustimmender Trauergesten flogen plötzlich beredte Blicke zwischen den Mädchen umher, manche geradezu furchtsam, sodass Ida hinzufügte: »Jeder kann Verzeihung erlangen, wenn –«

Ihr heroischer Versuch, die Mädchen zu trösten, wurde durch Antonias neuerliches Aufheulen unterbrochen. Rudolfine und Emma versuchten sie halbherzig zu beruhigen, ihre Bemühungen waren jedoch nicht von Erfolg gekrönt, denn mit einem erstickten Wimmern sprang das Fräulein Maurer plötzlich auf und rannte aus dem Raum.

Einen Moment zögerte die Lehrerin, irritiert von der überbordenden Reaktion, ehe sie sich entschloss, es wie der gute Hirte zu tun und ihre Schäflein dem Herrn zu überlassen, um sich um das eine verirrte – oder eher entwischte – zu kümmern.

Es war nicht schwer, Antonia zu finden, die sich im Schlafsaal auf ein Bett geworfen hatte und den Polster, auf welchem vormals Charlottes Haupt geruht hatte, mit ihren Tränen wässerte. Wortlos setzte sich Ida neben das Mädchen und wartete, bis es wieder zu Atem kam.

Die Oberlehrerin hätte die Gelegenheit sicher dazu genutzt, über die Unart zu predigen, tagsüber auch nur die Nähe eines Bettes aufzusuchen, da selbiges den Untergrund zu zahlreichen Todsünden bot, im Speziellen der Faulheit und der Wollust. Dass Ida Fichte das nicht tat, genügte wohl schon, um Antonias Vertrauen zu gewinnen.

Nachdem das Kissen keine weiteren Tränen mehr aufnehmen konnte, wandte sie ihre wässrig blauen Augen der Lehrerin zu. »Wie hätte ich denn wissen sollen, dass sie woanders hingeht … sie ist ja sonst nie …«

Ida runzelte irritiert die Brauen. »Was meinst du damit? Wohin ist Charlotte gegangen?«

»Ich … Wir waren alle schon im Bett, weil die Anna auch gesagt hat, dass sich das so gehört nach dem Tanzerl-Abend. Und da ist die Lotti plötzlich noch einmal aufgesprungen und hat gemeint, dass sie … na ja … dass sie eben ein Bedürfnis hat.« Antonia wurde rot und druckste herum, sodass Ida schon befürchtete, gleich etwas ganz Furchtbares zu hören zu bekommen. »Abort …«, nuschelte das Mädchen dann.

»Sie ist auf den Abort gegangen?«, wiederholte Ida.

Antonia nickte nur und wischte sich über die Augen. »Und ich bin dann eingeschlafen … Wenn ich gewusst hätte, dass …«

»Niemand hat ahnen können, dass so etwas … Furchtbares passiert«, versuchte Ida sie zu trösten.

»Und was Sie gesagt haben – wegen der Sünden … die Lotti wird keinen Frieden finden«, flüsterte sie tonlos. »Sie hat nämlich … sie wollte … das heißt, nicht gleich, sondern wenn …«

Zum Glück fand die Lehrerin in diesem Moment genau die richtigen Worte. Sie sagte schlicht: »Erzähl mir, was los war.«

Und während zur selben Stunde in der Stadt die Leiche der Pensionärin Charlotte Linhard von zahllosen männlichen Augen medizinisch, forensisch, kriminalistisch und auch lediglich interessiert von allen Seiten betrachtet wurde, erfuhr die Lehrerin Ida Fichte, dass ihr Schützling angeblich nur Augen für einen gehabt hatte: nämlich den Gymnasiasten Gustav Auer.