Jezebel Files - Und täglich grüßt der Nekromant - Deborah Wilde - E-Book

Jezebel Files - Und täglich grüßt der Nekromant E-Book

Deborah Wilde

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Beschreibung

Eine Reihe kniffliger Rätsel, die sie meisterhaft löst – so hat sich Ash ihr Leben als Privatdetektivin vorgestellt. Allerdings hat sie nicht damit gerechnet, dass ihre Familie sie vor das größte aller Rätsel stellen würde. Am Tatort eines Mordes entdeckt Ash, dass ihr Vater der Schlüssel dazu sein könnte, Chariot den Traum von Unsterblichkeit zu vermasseln. Der Haken? Seit ihrer Teenagerzeit hat sie ihn nicht mehr gesehen. Er könnte sich überall auf der Welt verstecken. Ausgerechnet jetzt überträgt Levi, ihr Lieblingsfeind (mit Vorzügen) und frischgebackener Boss, ihr den ersten offiziellen Fall: Sie soll seiner Ex-Freundin helfen – der Frau, die Ash früher das Leben zur Hölle gemacht hat. Ihre Ermittlungen führen Ash immer tiefer in das tödliche Dickicht der Geheimnisse, zurück nach Hedon und in ihre eigene Vergangenheit. Wenn sie diesen Fall löst, könnte sie ihre Familie wieder vereinen – oder alle, die sie liebt, für immer verlieren.

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Seitenzahl: 514

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DEBORAH WILDE

UND TÄGLICH GRÜẞT DER NEKROMANT

JEZEBEL FILES 3

Aus dem Englischen von Julia Schwenk

Über das Buch

Eine Reihe kniffliger Rätsel, die sie meisterhaft löst – so hat sich Ash ihr Leben als Privatdetektivin vorgestellt. Allerdings hat sie nicht damit gerechnet, dass ihre Familie sie vor das größte aller Rätsel stellen würde.

Am Tatort eines Mordes entdeckt Ash, dass ihr Vater der Schlüssel dazu sein könnte, Chariot den Traum von Unsterblichkeit zu vermasseln. Der Haken? Seit ihrer Teenagerzeit hat sie ihn nicht mehr gesehen. Er könnte sich überall auf der Welt verstecken. Ausgerechnet jetzt überträgt Levi, ihr Lieblingsfeind (mit Vorzügen) und frischgebackener Boss, ihr den ersten offiziellen Fall: Sie soll seiner Ex-Freundin helfen – der Frau, die Ash früher das Leben zur Hölle gemacht hat.

Ihre Ermittlungen führen Ash immer tiefer in das tödliche Dickicht der Geheimnisse, zurück nach Hedon und in ihre eigene Vergangenheit. Wenn sie diesen Fall löst, könnte sie ihre Familie wieder vereinen – oder alle, die sie liebt, für immer verlieren.

Über die Autorin

Deborah Wilde ist Weltenbummlerin, ehemalige Drehbuchautorin und Zynikerin durch und durch. Sie schreibt mit Vorliebe witzige Romane für Frauen in den Genres Urban Fantasy und Paranormal Romance.

In ihren Geschichten geht es um selbstbewusste, toughe Frauen, starke weibliche Freundschaften und Romantik mit einer Prise Charme und Feuer. Sie mag Happy Ends, und es ist ihr wichtig, dass auch der Weg dorthin ihre Leser:innen zum Lachen bringt.

Deborah Wilde lebt in Vancouver, zusammen mit ihrem Mann, ihrer Tochter und ihrer überaus eigenwilligen Katze Abra.

Die englische Ausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Shadows & Surrender« bei Te Da Media Inc.

Deutsche Erstausgabe Januar 2023

 

© der Originalausgabe 2020: Deborah Wilde

© für die deutschsprachige Ausgabe 2023:

Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth,

Hammergasse 7–9, 98587 Steinbach-Hallenberg

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Umschlaggestaltung: Frauke Spanuth, Croco Designs,

unter Verwendung von Motiven von yurkaimmortal,agsandrew,

Maksim Shmeljov, faestock, robin_ph,

alle stock.adobe.com

 

Lektorat: Stephanie Langer

Korrektorat: Julia Funcke

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

ISBN: 978-3-948457-35-8

 

 

www.second-chances-verlag.de

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Weitere Bücher von Deborah Wilde

Danksagung

KAPITEL 1

Normalerweise hielt ich es für eine schlechte Idee, Cops anzulügen, aber eine Frau durfte durchaus mal ihre Meinung ändern.

Der Mann auf dem Foto hätte mit seinen hellbraunen Haaren und den unauffälligen Gesichtszügen jeder x-beliebige Weiße sein können, doch das violette Muttermal in Form eines Kometen unter einem Auge machte ihn unverwechselbar.

»Den habe ich noch nie gesehen.« Ich reichte Sergeant Margery Tremblay von der Weltigenpolizei das Bild zurück. Unter den Cops war sie für mich das, was einer Freundin am nächsten kam. »Wer ist das?«

»Können Sie mir sagen, wo Sie vorgestern zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens waren?« Wie immer war ihr Make-up makellos, und ihr grauer Pixie saß perfekt, doch heute ließ sie sich nicht anmerken, dass wir einander ganz gut kannten. Sie musterte mich mit stahlhartem Blick.

Ich lehnte mich auf dem Plastikstuhl zurück. »Da habe ich geschlafen.«

»Allein?«

»Schockierend, ich weiß. Meine Mitbewohnerin war aber auch zu Hause.«

»Es gibt also niemanden, der bestätigen kann, dass Sie Ihre Wohnung nicht verlassen haben?«, bohrte sie weiter nach.

»Nein.« Ich verschränkte die Arme. »Worum geht es hier eigentlich, Sergeant?«

Sie tippte auf das Foto. »Yevgeny Petrov wurde erschossen.«

Das warf zahlreiche Fragen auf, doch ich strich schnell die von der Liste, die seltsam wirken könnten, wenn eine vollkommen Außenstehende und vermeintliche Weltige sie stellte. Fragen wie: »Warum ermitteln weltige Polizisten in diesem Fall, wo Yevgeny doch ein Nefesh war?« Oder: »Wie hat man es geschafft, ihn zu erschießen, obwohl er seine Haut in Gummi verwandeln konnte? Das weiß ich, weil er genau das gemacht hat, als er mich angriff und ich versehentlich versucht habe, ihm seine Magie aus dem Leib zu reißen. Sein erstes Mal vergisst man nie, stimmt’s?«

»Mein Beileid«, meinte ich stattdessen. »Ich bin mir sicher, dass seine Mutter ihn geliebt hat. Was hat das mit mir zu tun?«

Margery massierte sich die Schläfen. »Er ist derjenige, den Sie laut dieser anonymen Anzeige angegriffen haben sollen. Als Sie undercover als alte Frau aufgetreten sind.«

Yevgeny hatte mein wahres Gesicht nie gesehen, nur die Lillian-Tarnung, die ich in Form einer Illusion getragen hatte. Als ich mich über seine Magie hermachte, hatte er allerdings erkannt, dass ich eine Jezebel war – und damit der Feind der religiösen Schattenorganisation namens Chariot, für die er arbeitete. Jezebels waren was Besonderes.

»Sie denken, dass ich das herausgefunden und ihn erschossen habe? Das ist ganz schön weit hergeholt, oder? Die Anzeige wegen Körperverletzung war doch Bullshit. Ich besitze keine Magie, was wäre also mein Motiv dafür, ihn anzugreifen, Sergeant?«, erwiderte ich kühl. Es hatte durchaus ein paar Vorteile, dass ich in den Akten immer noch als Weltige geführt wurde.

Margery schnaubte entnervt. »Na schön. Hör schon auf mit dem ›Sergeant‹-Mist. Ich mache hier nur meinen Job. Ich glaube nicht, dass du was damit zu tun hast, und es wird auch keine Anklage gegen dich erhoben, aber du könntest etwas wissen. Bist du dir sicher, dass bei seinem Namen nichts bei dir klingelt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wo wurde er gefunden?«

»Eins unserer Dezernate hat einen Hundekampfring hochgenommen. Dabei haben sie seine Leiche gefunden und die Nefesh-Mordkommission informiert.«

Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte Yevgeny wimmernd und vollkommen fertig auf dem Boden gelegen, weil er davon überzeugt gewesen war, von einem Haufen Ameisen überrannt zu werden. Diese Illusion war meinem Komplizen an dem Abend zu verdanken gewesen. Offensichtlich hatte Yevgeny sein Trauma weit genug überwunden, um wieder ein produktives Mitglied der kriminellen Untergrundgesellschaft zu sein.

»Yevgeny hat Magie?«, fragte ich mit dem richtigen Maß an Neugier in der Stimme. »Hat House Pacifica was damit zu tun?«

»Nein. Er ist bei House Ontario registriert und war nur hier, um seine Schwester zu besuchen. Sie ist als nächste Angehörige bereits informiert worden.«

Was für ein Unsinn. Selbst wenn das mit der Schwester stimmte, hatte ich im Zuge meiner Ermittlungen doch schon rausgefunden, dass er hier in Vancouver für Chariot gearbeitet hatte – indem er Teenager in prekären Lebensverhältnissen entführte, um ihnen ihre Magie zu stehlen. Diese war anschließend bei einer Auktion versteigert worden, wo er als Wachmann fungiert hatte.

»Sind wir dann fertig?«, wollte ich wissen.

Da ich nichts weiter zu ihrem Fall beizutragen hatte, entließ Margery mich seufzend, nicht jedoch ohne mich vorher anzuweisen, keine Schwierigkeiten zu machen, bis sie im Herbst Urlaub hatte.

»Ich bringe doch Freude in Ihr Leben!«, rief ich ihr noch im Gehen zu.

Ich eilte zu meinem Auto Moriarty zurück und loggte mich von dort aus in die Datenbank von House Pacifica ein. Sieh mal einer an, Yevgeny hatte tatsächlich eine Schwester. Tatiana Petrov, eine Bannweberin mit Magielevel fünf. Shit. So viele Leute mit Level fünf gab es nicht, egal bei welcher Magieform. Wie hoch war wohl die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Bannweberin gewesen war, die mit den Schutzzaubern des Hauptquartiers von House Pacifica beauftragt worden war, nur um später den Zauber aufzulösen und so einem deutschen Chariot-Attentäter Zutritt und damit die Möglichkeit zu verschaffen, einen potenziellen Zeugen umzubringen?

Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

Ihre Adresse zu ermitteln, war dank meiner exzellenten Schnüfflernase kein Problem. Leider half sie mir jedoch nicht beim Anlassen meines Autos. Der Kühlerschlauch hatte ein Leck. Also holte ich die notwendigen Utensilien aus der »Erzfeind«-Kiste im Kofferraum. Ausgestattet mit Gummihandschuhen und Sonnenbrille – Sicherheit ging schließlich vor, wenn man mit Kühlflüssigkeit hantierte – trocknete ich den Schlauch und dichtete das Loch sauber ab, indem ich ein paar Schichten Panzertape darumwickelte. Das gute alte Panzertape. Gab es irgendwas, was man damit nicht reparieren konnte? Zum Schluss füllte ich den Behälter wieder mit Kühlflüssigkeit auf. Bonuspunkte gab es dafür, dass ich das alles im strömenden Regen erledigte.

Ich setzte mich mit klatschnassen Haaren wieder hinters Steuer. »Ich habe jetzt echt keine Zeit, dich in die Werkstatt zu bringen und den Schlauch austauschen zu lassen, also wirst du dich damit zufriedengeben, dass ich meinen inneren MacGyver für dich ausgepackt habe, und anständig funktionieren, sonst geht’s direkt auf den Schrottplatz. Haben wir uns verstanden, Auto?«

Was für ein herrlicher Start in den Tag. Ich drehte die Heizung auf und fuhr zu Tatianas Haus, das sich außerhalb von Langley, etwa eine Stunde von Vancouver entfernt, befand. Ein kurzer Zwischenstopp führte mich in einen Starbucks-Drive-in, wo ich mir einen dringend benötigten Mocha Latte mit extra Sahne und einen Chicken-Wrap gönnte, die ich beide lange verputzt hatte, bevor ich mein Ziel erreichte.

Ich parkte am Straßenrand neben der Einfahrt eines Nachbarn und schlich eine Runde um Tatianas großzügiges Grundstück – wie man das als Privatdetektivin eben so machte. Außer dem Haus im Ranch-Stil mit seinen beeindruckenden Ahornbäumen im Vorgarten gab es keine Gebäude. Auf einem Streifen totem Gras neben dem Schotterweg, der als Einfahrt diente, stand ein SUV mit kaltem Motor. Im näheren Umkreis gab es nichts, was für irgendwen von Interesse hätte sein können, und da gewöhnlich nur Briten und Masochisten freiwillig im Regen im Wald spazieren gingen, war Tatiana wohl zu Hause – sofern sie keinen Zweitwagen besaß.

Das Haus war weit genug von der Landstraße zurückgesetzt, dass man hier nur den Wind in den Bäumen hörte. Und das Quietschen der Hintertür. Ich blieb unterhalb der Fenster und huschte gerade noch rechtzeitig um eine Hausecke, um ein Auto mit matschverschmierten Nummernschildern zu sehen, das mit durchdrehenden Reifen davonraste. Es handelte sich nicht um den SUV, und die Person hinter dem Steuer trug eine Baseballmütze, unter deren Schirm ich sein oder ihr Gesicht nicht erkennen konnte.

Alle Sherlock-Sinne auf »Hab Acht«, stieg ich die Treppe zur hinteren Veranda hoch und manifestierte mithilfe meiner Blutmagie einen scharfen roten Dolch in einer Hand. Ausgerüstet mit der Ausrede, dass mein Auto nicht mehr ansprang und überbrückt werden musste, klopfte ich an die Küchentür, doch niemand antwortete. Durch die Scheibe entdeckte ich keine Anzeichen eines Kampfs, aber Tatianas Bruder war tot, und der Besuch hatte es gerade verdächtig eilig gehabt, zu verschwinden.

Ein paar Minuten später kehrte ich zur Küchentür zurück. Noch im Gehen streifte ich mir die dünnen Handschuhe über, die ich schnell aus dem Auto geholt hatte. Meine Haare schob ich sorgfältig unter die Strickmütze, bevor ich die Fingerspitzen auf den Türrahmen legte. Keine Magie.

Ich runzelte die Stirn. Schutzzauber waren in Privathäusern nicht so üblich wie in öffentlichen Gebäuden, aber Tatiana war eine Bannweberin mit hohem Level. Außerdem hatte zumindest ihr Bruder, der vor seinem Tod bei ihr untergekommen war, mit ein paar echt gefährlichen Leuten zu tun gehabt. Wenigstens ein Schutzzauber, der feindselige Absichten erkannte und potenzielle Angreifer festsetzte, sollte vorhanden sein. Durch ihn wurden sie an Ort und Stelle gehalten und ihre Magie neutralisiert, wenn sie denn welche besaßen.

Da sich Schutzzauber nicht automatisch beim Tod ihres Webers abschalteten, verpackte ein aktiver Bann die Besucher hübsch als Geschenk für die Cops.

Vorsichtig drehte ich den Knauf und fand die Tür unverschlossen vor. Keine Sirene ging los, als ich sie öffnete, und da es drinnen nirgendwo ein Keypad gab, erschien mir ein stiller Alarm unwahrscheinlich. Das alles würde auch Sinn ergeben, wenn sich Tatiana auf einen Schutzzauber verlassen hätte, aber dem war offensichtlich nicht so. Mir waren schon einige vertrauensselige Menschen begegnet, doch normalerweise waren das nicht welche mit potenziell gefährlicher Magie, die so stark war, dass sie die Leute in den Wahnsinn trieb. Vielleicht war Tatiana davon ausgegangen, dass in dieser ländlichen Umgebung niemand außer harmlosen Nachbarn vor ihrer Tür stehen würde.

Irgendwie bezweifelte ich das. Wenn die Person im Auto ein unschuldiger Besucher gewesen war, warum war sie dann so davongerast?

»Hallo?«, rief ich laut. Als ich keine Antwort bekam, schlüpfte ich aus meinen Motorradstiefeln und ließ sie draußen auf dem Fußabtreter stehen, damit ich keine Spuren hinterließ. Auf Zehenspitzen schlich ich mich ins Haus und schaute mich um, ob ich irgendetwas Auffälliges entdeckte.

Langsam arbeitete ich mich in den Flur vor, blieb dann aber mit einem erschrockenen Keuchen stehen. Tatiana Petrov lag mit dem Gesicht nach unten und mit verrenkten Gliedmaßen in einer Lache aus gerinnendem Blut, das vermutlich aus dem Loch in ihrem Hinterkopf stammte. Wahrscheinlich war sie sofort tot gewesen, ein kleiner Trost.

Hatte sie gewusst, was geschehen würde, oder war sie überrascht worden? Die brutale Szene vor mir lieferte darauf keine Antworten, doch mein Verstand kehrte immer wieder zur Frage nach dem Schusswinkel zurück und zu dem Bild einer Frau, die lächelnd einen Gast begrüßte und dann für eine Sekunde erstarrte, als sie merkte, was ihr bevorstand.

Ich schnappte nach Luft und griff mir an den Brustkorb, während ich mich vornüberbeugte. Plötzlich war ich unendlich dankbar für den Abstecher zu Starbucks und die Zeit, die ich so gewonnen hatte. Mein Beruf brachte so einiges mit sich, aber die sehr reale Vorstellung, dass ich beinahe Zeugin eines Mordes geworden wäre, verursachte mir ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Gehörte die davonfahrende Person zu Chariot, oder stand sie irgendwie mit ihnen in Verbindung? War das ein Vorgeschmack auf mein eigenes Schicksal?

Am ganzen Körper zitternd stopfte ich meine chaotischen Emotionen in eine Box, die ich tief in mir vergrub. Ich musste die Situation mit kühlem Kopf beurteilen. Am klügsten wäre es wohl, einen anonymen Anruf bei der Nefesh-Polizei zu machen und das Verbrechen zu melden. Wenn allerdings tatsächlich Chariot dahintersteckte, bot sich mir hier eine absolut einmalige Gelegenheit. Als Jezebel musste ich jeden Vorteil gegenüber meinen Gegnern ausnutzen, den ich bekam.

Also rief ich Miles Berenbaum an, den Sicherheitschef von House Pacifica.

»Was?«, meldete er sich knurrend. Der alte Brummbär musste dringend seine Anrufetikette verbessern, zumal wir noch eine verdammt lange Zeit miteinander arbeiten mussten.

»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: Ich weiß zu neunundneunzig Prozent, wie der deutsche Attentäter an den Schutzzaubern vorbeigekommen ist, um Yitzak zu töten.« Ich kaute am Daumennagel. Wie oft würden Menschen meine Antworten noch mit dem Leben bezahlen müssen?

Die Vorschriften verboten, dass ich die Leiche anfasste, aber aus irgendeinem Grund wollte ich mir unbedingt Tatianas Gesicht ansehen. Warum? Das war nicht meine erste Tote. Und doch war es etwas anderes. Wie Yitzaks leerer Blick erinnerte mich auch Tatiana an das, was auf mich wartete, wenn ich nicht auf der Hut blieb.

»Und was ist die schlechte?«, fragte Miles.

»Ihr braucht eine neue Bannweberin, wenn ihr in Zukunft Schutzzauber installieren lassen wollt.«

Der folgende Wortschwall enthielt ziemlich viele »fuck«, was ich durchaus nachvollziehen konnte.

»Wo bist du?«, wollte er wissen.

Ich nannte ihm die Adresse.

»Und wo ist die Leiche?«

»Im Hausflur.«

Miles gab einen widerwilligen Laut von sich. »Du bist eingebrochen?«

»Nein.« Die Wahrheit war so befreiend. Und genauso befreiend war es, wenn man Dinge unter den Tisch fallen lassen konnte.

»Hmhm. Warum musst du mir eigentlich immer den Tag versauen?«

Ich durchsuchte die Küche methodisch nach Beweisen, die Tatiana oder ihren Bruder mit Chariot in Verbindung brachten. »Sieh es einfach als Erweiterung deines Horizonts.«

»Verschwinde da und melde es.«

»Gib mir eine Stunde.«

»Das ist ein Tatort«, fuhr Miles mich grollend an. »Du wirst ihn kontaminieren.«

»Du weißt schon, mit wem du hier redest, oder? Handschuhe an, Haare bedecken, Schuhe ausziehen, die Leiche nicht anfassen. Keine Griffe oder Türknäufe berühren, damit keine Fingerabdrücke verwischt werden.« In der Küche fand ich nichts außer den zu erwartenden Kochutensilien. Selbst in dem altmodischen Adressbuch in der Kramschublade stand nichts. Ich schloss die Schublade wieder. »In der Nefesh-Polizei gibt es vielleicht Chariot-Spione, und wenn die herkommen und irgendwas Wichtiges vor uns in die Finger kriegen, landet das mit Sicherheit nicht in der Asservatenkammer.«

»Wenn es Chariot war, werden sie das Haus wohl schon durchsucht haben.«

»Keine Ahnung, die schienen es ziemlich eilig zu haben.« Mir rann ein Schauder über den Rücken.

»Du hast den Mörder gesehen?« Miles klang, als würde er mich am liebsten durchs Telefon erwürgen. »Bist du bemerkt worden?«

»Nein.« Da war ich mir sicher, aber für meinen Geschmack war es ein bisschen zu knapp gewesen. »Ich konnte die Person auch nicht identifizieren. Die Nummernschilder waren dreckig, und wer immer auch am Steuer saß, hatte eine Baseballkappe auf, die ich nur ganz kurz von hinten gesehen habe.«

»Levi wird ausflippen.«

»Dann liefere ihm halt einen Bericht, bei dem er das nicht tut«, entgegnete ich giftig. Als wäre das meine Schuld. Chariot war auf der Suche nach Unsterblichkeit, sie hielten sich an keinerlei Spielregeln, und sie hielten sich nie zurück. Deswegen durfte ich das auch nicht tun.

»Wenn es keine Verbindung zwischen Chariot und Tatianas Bruder geben würde, der vorgestern umgebracht worden ist, wäre ich überhaupt nicht hergekommen.« Ich durchsuchte den Gefrierschrank, der meine letzte Hoffnung auf etwas Nützliches war, aber auch hier Fehlanzeige. In der Küche war tatsächlich nichts. »Meine Jezebel-Pflichten haben hier Priorität. Ich habe das Erbe angetreten und kann nicht einfach abhauen, wenn es haarig wird. Ich schaue mir noch den Rest des Hauses an.« Damit legte ich auf und ignorierte für die nächsten zehn Minuten das anhaltende Vibrieren in meiner hinteren Hosentasche.

Tatiana war eine interessante Frau. Sie besaß keinen Fernseher, dafür aber einen CD-Turm voller klassischer Musik. Neben ihrer magischen Begabung fürs Weben betrieb sie offenbar hobbymäßig auch die physische Variante, von der ein großer Webstuhl mit einem unfertigen Wandbehang zeugte, der prominent im Wohnzimmer stand. Überall in ihrem Haus war Kunst zu finden, aber es gab keinerlei Hinweise auf eine religiöse Überzeugung. Was also hatte sie zu Chariot gebracht? War auch ihr Unsterblichkeit versprochen worden, oder lief es einfach auf Geld hinaus? Und warum zum Teufel gab es keinen einzigen verdammten Schutzzauber?

Ihr Laptop lag auf dem Couchtisch und war nicht passwortgeschützt, brachte aber auch keine neuen Erkenntnisse außer den Buchhaltungsunterlagen zu ihren Bannweber-Aufträgen und E-Mails von Kunden.

Ein Handy mit dem Daumen einer toten Frau zu entsperren, war nicht gerade meine Sternstunde, aber ich hielt mein Versprechen an Miles und schaffte es, ohne die Leiche zu bewegen. Rasch transferierte ich ihre Kontaktliste auf mein Smartphone, um sie später durchsehen zu können. Immerhin etwas. Die Textnachrichten bestanden größtenteils aus Verabredungen mit ihren Freunden. Anschließend legte ich das Handy wieder dorthin, wo ich es gefunden hatte.

Miles musste über so ziemlich jede rote Ampel gefahren sein, weil er nach gerade mal vierzig Minuten eintraf. Zusammen mit meinem Freund, Kampfsporttrainer und neuen Nachbarn Arkady Choi stieg er aus einem Pick-up. Ich kam ihnen an der Hintertür entgegen.

Arkady arbeitete nicht nur bei verdeckten Operationen für House Pacifica, er war auch Mitglied der Nefesh Mixed Martial Arts League und ein Adrenalin-Junkie. Die rasante Fahrt hierher hätte eigentlich voll sein Ding sein müssen, doch sein Gesichtsausdruck war finster.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Schnell, ohne Rücksicht auf Verluste und mit Bleifuß gefahren. Wäre es denn wirklich zu viel verlangt gewesen, wenn er unterwegs irgendwo kurz angehalten hätte, damit ich mir einen Kaffee holen kann?« In Arkadys dunklen Augen blitzte etwas auf. »Oder dass er sich mit mir unterhält?«

»Es war eine Fahrt, um von A nach B zu kommen.« Miles, dieser Berg von einem Mann mit Muskeln über Muskeln, streifte sich die schwarzen Schuhe von den Füßen und ließ sie neben meinen auf der Matte stehen. »Das wusstest du, bevor du ins Auto gestiegen bist.«

»Zum Ziel zu kommen, kann doch aber auch Spaß machen«, erwiderte Arkady.

»So schlimm, ja?«, warf ich ein. Ich konnte es kaum erwarten, Priya brühwarm zu erzählen, dass die beiden definitiv miteinander geschlafen hatten.

Sie wandten sich überrascht zu mir um, als hätten sie vergessen, dass ich neben ihnen stand.

Arkady schlug sich theatralisch einen Arm vor die Stirn. »Mein Leben ist an mir vorbeigezogen.«

»Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie gut war das, was du da gesehen hast?«, wollte ich wissen.

»Ich bitte dich, Pickle.« Er schlüpfte ebenfalls aus seinen Schuhen. »Es war eine Elf.«

»Hast du was Interessantes gefunden?«, erkundigte sich Miles.

»Noch nicht. Es fehlen noch das Bad, zwei Schlafzimmer und ein Raum, der wahrscheinlich ihr Büro ist, aber der ist abgeschlossen.«

Wir schauten uns grinsend an – als ob das ein Problem darstellen würde. Miles holte Latexhandschuhe und Papierhäubchen wie für Küchenmitarbeiter aus seiner Tasche und stattete sich und Arkady damit aus. Bei Miles war das ziemlich übertrieben, da er seine blonden Haare raspelkurz trug, aber seine Liebe zum Detail passte zu ihm als Sicherheitschef.

Arkady erschauderte dramatisch, als er sich das Häubchen über seine schwarzen, kinnlangen Haare streifte.

»Du wirst es überleben«, meinte ich.

»Das ist eine Modesünde.« Dann hellte sich sein Gesichtsausdruck jedoch auf. »Aber wenigstens lenkt es nicht von meinem fantastischen Aussehen ab.« Damit hatte er nicht unrecht. Der Kerl hatte unglaubliche Wangenknochen, einen Schmollmund und wirkte auch sonst wie ein heißes Supermodel.

Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Das ist die richtige Einstellung. Denk positiv.«

Wir betraten die Küche, und ich führte die beiden zu unserem Opfer. Mit einer ausladenden Geste wies ich auf die Leiche. »Darf ich vorstellen, Tatiana Petrov.«

»Woher willst du wissen, dass sie es ist?« Arkady umrundete den Körper. »Man sieht ihr Gesicht nicht. Wenn sie überhaupt noch ein Gesicht hat.«

Ich deutete auf die breite weiße Strähne in ihrem dunklen Haar. »Sie ist bei House Pacifica registriert, und in der Datenbank gibt es ein Foto von ihr. Ihr Bruder hatte ein violettes Muttermal unter dem Auge. Diese weiße Strähne ist ihr Muttermal.«

»Ich hatte schon mit ihr zu tun«, sagte Miles leise. »Sie hat Levi durch sein Blut mit den Schutzzaubern von House Pacifica verbunden, als er die Leitung übernommen hat. Ich hätte sie nie verdächtigt.« Seine Kiefermuskeln spannten sich an.

Arkady hob die Hand, als wollte er ihm über den Rücken streichen, steckte sie dann jedoch in seine Hosentasche.

»Mach dir keine Vorwürfe«, entgegnete ich. »Wir konnten alle nicht wissen, wie weit Chariots Einfluss reicht.«

Genau genommen wussten wir das immer noch nicht. Ja, wir hatten inzwischen eine Ahnung davon, wie sie operierten, aber wir kannten weder einzelne Mitglieder der Organisation noch ihre exakte Reichweite. Bislang war Tatiana eine der führenden Magierinnen auf ihrem Gebiet gewesen und hatte außerdem einen tadellosen Ruf genossen. Damit konnte buchstäblich jeder zu ihnen gehören. Wie sollte ich mich und meine Freunde schützen, wenn ich nicht mal wusste, worauf ich achten musste?

»Erzähl mir was über ihren Bruder«, forderte Miles mich auf.

»Yevgeny Petrov.« Ich berichtete ihnen alles, was ich über ihn wusste, von meinem ersten Aufeinandertreffen mit dem Muttermal-Kerl bis hin zu meinem Besuch bei Sergeant Tremblay. Als ich fertig war, betrachtete ich noch einmal stirnrunzelnd die Leiche.

»Was ist denn?«, fragte Miles.

»Mir will nicht in den Kopf, warum es hier keine Schutzzauber gibt«, sagte ich. »Wer auch immer sie erschossen hat, ist hier einfach reinspaziert und hat sie offenbar erwischt, als sie entweder aus einem der Schlafzimmer oder dem Büro gekommen ist. Sie ist eine Bannweberin. Ihr Bruder hat für Chariot gearbeitet und sie vermutlich auch. Hat sie ihnen wirklich so bedingungslos vertraut?«

»Nicht jeder ist so paranoid wie du«, warf Arkady ein.

»Wenn man für derart üble Leute arbeitet, wäre das nur gesunder Menschenverstand«, entgegnete ich. »Bösewichte sind nicht gerade für ihre unerschütterliche Loyalität bekannt.«

»Du arbeitest auch für Bösewichte«, gab Miles zu bedenken. »Aus ihrer Perspektive. Hey, eigentlich bist du sogar der Oberbösewicht. Trotzdem hast du dir ein Team zusammengestellt. Woher willst du wissen, dass dir keiner von denen ein Messer in den Rücken rammt?«

»Als wenn ich ein Messer bräuchte.« Arkady rümpfte die Nase.

»Könntest du ein Mal keinen Witz reißen? Nur ein einziges Mal?«

Arkady verdrehte die Augen. »Oh, stimmt ja. Das elfte Gebot nach Berenbaum. Du sollst nicht auflockern die Stimmung, dersonst der Zweifel gesät werde, dass du nicht ernst genug nehmest deinen Dienst.«

Am Anfang war ihr Geplänkel ja noch ganz amüsant gewesen, weil es mir einen interessanten Einblick in die Dynamik zwischen ihnen gewährte. Aber jetzt nicht mehr. »Zurück zu Chariot.«

»Chariot ist genauso felsenfest davon überzeugt, dass sie das Richtige tun, wie du«, erklärte Miles. »Wenn du das auch nur für einen winzigen Augenblick vergisst, werden wir als Nächstes deine Leiche finden.«

»Oh bitte. Mansplaine gerne die Gefahren meiner Berufung für mich. Ich bleibe trotzdem dabei: Tatiana hätte besser aufpassen müssen. Ihr Bruder Yevgeny wurde ermordet. Sie hätte besonders vorsichtig sein sollen.«

»Dann finden wir doch mal heraus, warum sie es nicht war«, erwiderte Arkady.

Nach einer halbherzigen Durchsuchung des Bads machten Miles und Arkady im Gästezimmer weiter, in dem Yevgeny geschlafen hatte, während ich Tatianas Schlafzimmer übernahm.

»Nichts zu finden!«, rief ich den beiden zu. Im nächsten Moment ertönte ein ohrenbetäubender Knall.

Ich rannte ins Gästezimmer, wo Arkady halb im Schrank stand und die Tür eines Safes mit kräftigen Schwingern seiner Steinfäuste bearbeitete. In weiser Voraussicht blieb ich hinter Miles, der einen praktischen Schild abgab, bis die Tür schließlich nachgab und Arkady Zugriff auf den Inhalt des Safes bekam.

»Und du hattest Angst, dass ich den Tatort kontaminiere?« Ich verpasste Miles einen kräftigen Schubs.

Er setzte sich in Bewegung, als das metallene Keypad des Safes zu Boden fiel. »Die Leute von der Mordkommission werden es entweder für einen Raub oder für einen vorgetäuschten Raub halten.«

»Darum geht es doch gar nicht. Ich bin gut ausgebildet und professionell, und das hier … ist es nicht. Gib wenigstens zu, dass ich recht damit hatte, das Haus zu durchsuchen.«

»Kommt drauf an, was wir finden.« Alter, dieser Kerl weigerte sich echt dermaßen, mir auch nur einen Millimeter entgegenzukommen.

Arkadys magische Fäuste wurden wieder normal. Er griff in den Safe und holte eine Kamera heraus. »Yevgeny, du kleiner Perversling«, meinte er beim Durchsehen der Bilder.

Miles und ich traten zu ihm, um ebenfalls aufs Display zu schauen, und ich holte überrascht Luft. Das waren Bilder von meiner Jezebel-Vorgängerin Gavriella Behar und ihrem ehemaligen Arbeitsplatz, der Star Lounge, samt Positionen der Sicherheitskameras und der Hintertür. Sie waren aus verschiedenen Blickwinkeln vom Parkplatz aus aufgenommen worden.

»Gavriella wurde auf der Arbeit entführt.« Das hatte ich schon vermutet, aber es war trotzdem immer gut, Beweise zu haben. »Yevgeny hat sie verfolgt und den Club ausgekundschaftet, um den besten Zeitpunkt abzupassen, zu dem er sie sich schnappen konnte, ohne dabei gesehen zu werden.«

Arkady reichte die Kamera an Miles weiter und beugte sich in den Safe. »Da drin sind noch ein paar andere Sachen.«

Das Android-Smartphone, das er als Nächstes zutage förderte, war passwortgeschützt, also würde ich es Priya Khatri geben, ihres Zeichens meine beste Freundin, Teilzeitkraft und ein Hackergenie. Außerdem gab es noch eine flache Schließkassette. Der Deckel war aufgebrochen worden, und in den Scharnieren hatte sich Staub gesammelt.

Ich fuhr mit einem Finger darüber und zerrieb den Staub ein wenig. »Holz. Ein Bodentresor?«

In der Kassette lagen ein paar Fotos, aber ich brauchte einen Moment, um das Mädchen darauf zu erkennen. »Das ist auch Gavriella.« Alles, von der Kindheit bis zur Zeit als junge Erwachsene, war auf Aberdutzenden von Bildern festgehalten worden. »Dem aufgebrochenen Deckel, dem Inhalt und der Tatsache nach zu schließen, dass Gavriella gerne Sachen versteckt hat, könnte die Box aus ihrer Wohnung stammen.«

»Hatte Gavriella einen Schutzzauber an ihrer Tür?«, wollte Miles wissen.

»Ja, und der war noch aktiv, als Levi und ich dort waren«, antwortete ich. »Oh, fuck. Level-fünf-Bannweberin. Wenn jemand den außer Kraft setzen und wieder neu hätte aufbauen können, dann Tatiana. Sie müssen Gavriellas Apartment durchsucht haben, nachdem sie sie entführt haben. Was wollten sie wohl finden?«

»Glaubst du, dass das ihr Telefon ist?«, fragte Arkady.

»Möglich. Levi und ich konnten es bei ihr zu Hause nicht finden.« Rasch sah ich die restlichen Fotos durch, bis ich auf etwas Hartes ganz unten in der Kassette stieß. Ein Buch mit rotbraunem Einband. Oder genauer: eine Ausgabe von Eine Studie in Scharlachrot von Sir Arthur Conan Doyle – dem ersten Roman über meinen geliebten Sherlock Holmes.

»Pluspunkte für ihren guten Literaturgeschmack, aber warum hat sie dieses hübsche Ding mit eingeschlossen?« Ich klappte den Umschlag auf und zog die Brauen zusammen. »Was ist das?«

Unter dem Schmutztitel auf der ersten Seite hatte jemand etwas in Druckbuchstaben notiert – perfekt, wenn man sich nicht durch seine Handschrift verraten wollte.

In der ersten Zeile stand eine »3«.

In der zweiten Zeile eine »1«.

Und dann in der dritten wieder eine »1«, zusammen mit einem Fragezeichen.

Darunter stand: »Donnerstag. Steam Clock. 20 Uhr.«

»Mit der Steam Clock könnte die dampfbetriebene Uhr in Gastown gemeint sein.« Ich blätterte die Seiten durch, doch es gab keine Hinweise auf das Alter der Nachricht, und auch sonst fiel mir nichts weiter ins Auge. Zumindest nicht, bis ich bei der letzten Seite ankam.

Die beiden Männer spähten mir über die Schulter und betrachteten die krakelige Zeichnung einer riesigen Sonnenblume.

Miles gab einen angewiderten Laut von sich. »Kinder, die in Büchern herumkritzeln. Kleine Scheißer.«

»Löwenzahn«, murmelte ich.

»Falsch. Das ist eine Sonnenblume«, korrigierte er mich.

Ich fuhr mit einem Finger über die Blume, als könnte sie mir Wärme spenden. »Die Farbe des Buntstifts hier bei den Blütenblättern. Löwenzahn-Gelb. Meine Lieblingsfarbe.«

Sie war fröhlich, wie mein Zuhause. Talia hatte darüber gewitzelt, dass ich eine »monochrome Phase« hätte, die ihr viel besser gefiel als die Klugscheißerphase meiner gleichaltrigen sechsjährigen Freunde. Dad hatte mein künstlerisches Talent gelobt, und unser Kühlschrank war über und über mit meinen Bildern bedeckt gewesen.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Arkady.

»Dieses Buch hat meinem Vater gehört.« Ein Summen erfüllte meine Ohren, und ich hatte das Gefühl, als würde sich die Welt um mich drehen, eine Welt, die nur aus Glassplittern bestand, die mich bei lebendigem Leib zerfetzten.

»Bist du dir sicher?«, fragte Miles. »Viele Kinder malen Blumen.«

Ich tippte auf das lachende Gesicht in der Mitte der Sonnenblume. Statt einer Nase war da ein kleines »A«. »Ganz sicher.«

Langsam holte ich tief Luft. Ich war nicht mehr das Kind, das hilflos den Handlungen der Menschen in seinem Leben ausgesetzt war.

»Pickle …« Arkady musterte mich besorgt. »Dir läuft Blut über die Haut.«

Feuer kroch durch meine Adern und meine Wirbelsäule hinauf. Ich fachte es zornig noch weiter an, bis es hinter meinen Augen aufflammte und alles zu verschlingen drohte. Mir fiel der berühmte Satz von Sherlock Holmes wieder ein: »Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit, wie unwahrscheinlich sie auch ist.«

Und das hier war meine: Mein Vater hatte mir die Magie geraubt. Dann hatte er mit einer codierten Nachricht Kontakt zu einer Jezebel aufgenommen, was ihn noch tiefer in das Rätsel verstrickte, als ich mir je hätte träumen lassen. Hatte er etwa die ganze Zeit über gewusst, was ich war? War dieses Buch Teil eines groß angelegten Betrugs? War ich Teil davon?

»Hey, tief durchatmen.« Miles machte es langsam und gleichmäßig vor, bis ich im gleichen Rhythmus mitmachte. »Was hast du jetzt vor?«

Ich raffte all die komplizierten Gefühle zusammen, die ich für meinen Dad hatte, und schob sie von mir, gemeinsam mit meiner Blutrüstung, die sich den Weg an die Oberfläche bahnen wollte. Die letzten fünfzehn Jahre über hatte ich nicht gewusst, was mit ihm passiert war, und ich hatte genug davon, dass mich die Vergangenheit immer noch beeinflusste. Es war an der Zeit für Antworten – und einen Abschluss.

»Ich werde ein für alle Mal herausfinden, was Adam Cohen für ein Spiel treibt.«

Und hoffte dabei, dass es mich nicht alles kosten würde.

KAPITEL 2

Ich warf das Handy in die Schließkassette und brachte diese in die Küche, damit ich sie nachher mit nach Hause nehmen konnte. »Lasst uns hier fertig werden.«

Nach einer Runde Schere-Stein-Papier, um zu bestimmen, wer das Schloss knacken würde – für die ich zu abgelenkt war, während Miles seine Teilnahme rundheraus verweigerte –, übernahm schließlich Arkady den Einbruch.

Hinter der Tür befand sich jedoch kein Büro, sondern eine Treppe, die in den Keller führte. Arkady griff nach dem Lichtschalter, doch als alles dunkel blieb, schob er Miles nach vorn. »Du bist dran.«

»Angst?« Miles grinste.

»Nein, aber in einen gruseligen Keller gehen normalerweise nur dumme, weiße Leute. People of Color sind dafür viel zu schlau.« Er winkte zum Abschied. »Ruft mich, wenn ihr überlebt.«

Miles holte eine Münze aus der Hosentasche und warf sie in die Dunkelheit. »Keine bewegungsaktivierten Fallen.«

»Ooh, Verstand und ein hübsches Gesicht.« Arkady stupste Miles an. »Auf geht’s, Mr Badass.«

Miles beschwor einen kleinen Feuerball herauf, und wir spähten ins schummrige Zwielicht. Der Weg schien frei zu sein. Da meine Geduld sich ihrem Ende zuneigte und ich nach Hause wollte, um in Ruhe vor mich hin brüten zu können, manifestierte ich meine Blutrüstung und drängte mich an Miles vorbei. Die oberste Stufe quietschte laut, doch sonst passierte nichts.

»Bleib dicht bei mir«, wies ich ihn an. Langsam arbeiteten wir uns die Treppe hinunter, bis ich schließlich einen großen Kellerraum betrat. »Hier ist nichts zu …«

Ein Stück orangefarbenen Seils, etwa so dick wie mein Oberschenkel, schoss aus der Decke und wickelte sich um meinen Knöchel. Ich wurde kopfüber nach oben gezogen, was einen stechenden Schmerz durch die alte Verletzung in meinem rechten Bein jagte. Hastig versuchte ich, den Knoten zu lösen, doch schon folgten weitere Seile – dieses Mal in Lila –, die mich am Handgelenk erwischten und seitlich in Richtung Wand schleuderten. Aus meinem Fluchen wurde ein lauter Aufschrei.

Würde meine Rüstung mich vor dem Aufprall bewahren, oder würde ich hier gleich den Crashtest-Dummy geben, dessen Schädel wie eine Melone platzte? Ich versuchte, meinen Kopf mit der freien Hand zu schützen, wurde jedoch von einem neuen Seil daran gehindert. Als ich dann mit dem linken Bein strampelte, folgte die Reaktion prompt in Form eines blauen Seils, das es fesselte und mich dabei umdrehte.

Noch demütigender ging es ja wohl nicht, als hier mit ausgestreckten Armen und Beinen in der Luft festgehalten zu werden. Na ja, immerhin bewahrte mich das vor einem heftigen Aufprall auf der Wand. Und da warfen die Leute mir immer vor, ich wäre eine Pessimistin.

Miles erging es nicht viel besser, nur dass er auf der Seite lag. »Ein verdammtes Spinnennetz. Soll das ein Witz sein?«

Ich zerrte an den Seilen, doch sie trotzten meiner geringfügig erhöhten Körperkraft. »Ist schon irgendwie poetisch, wenn man so drüber nachdenkt. Eine Bannweberin, die ihre Beute einspinnt.«

»Ist deine Rüstung feuerfest?«, wollte Miles wissen. »Ich könnte uns rausbrennen.«

»Versuch es.«

Feuer tanzte über seine Unterarme, und die Seile, die ihn gefangen hielten, begannen rot zu glühen. Ja, zeig diesen Bindfäden, wer hier der Boss ist!

Das Feuer knisterte lauter, im Raum wurde es heißer. Schweiß rann mir übers Gesicht und in die Rüstung, kitzelte mich unangenehm. Ich wurde gerade in meinem eigenen Schutzanzug gekocht. »Mutig gekämpft, im eigenen Saft geschmort« sollte aber definitiv nicht auf meinem Grabstein stehen.

»Beeil dich«, drängte ich ihn harsch.

Seine Magie loderte so hell und hoch auf, dass die Flammen beinahe an der Decke leckten. Die Seile knacksten.

»Hab ich dich!«

Klar doch.

Die Seile zischten, und der Raum füllte sich mit beißendem schwarzen Rauch, der uns beiden einen Hustenanfall bescherte. Miles’ Magie verschwand abrupt wieder, ohne den Seilen ernsten Schaden zugefügt zu haben. Warum hatte ich noch mal einen Mann den Job einer Frau erledigen lassen wollen?

»Ich bin dran.« Ich manifestierte einen scharfen Blutdolch – meine Lieblingswaffe – und versuchte, das Gewebe durchzuschneiden. Erfolglos. Äh …

»Viel besser«, kommentierte Miles giftig.

»Das war nur Schritt eins.« Ich ließ meine magische Rüstung verschwinden, was mir ein winziges bisschen Bewegungsspielraum verschaffte. Das reichte, um ein seidiges rotes Band in das grüne Seil abzuschießen, das meinen linken Arm festhielt. Meine Magie schlug ihre Klauen hinein, und ich zuckte heftig zusammen. »Fuck. Fuck. Fuck.«

Meine Kräfte zogen sich ruckartig in mich zurück.

»Was ist denn?«, fragte Miles.

»Ich schwöre, dass mir gerade irgendwas direkt ins Hirn fassen wollte.« Seile als Verteidigungsmechanismus waren eine Sache, aber dass sie ein Bewusstsein zu besitzen schienen, stand auf einem ganz anderen Blatt und war eine mehr als unwillkommene Entdeckung. Ein gruseliges Prickeln kroch über meine Haut. Nur ein Dummkopf würde es direkt wieder versuchen. Doch da ich hier verschnürt wie ein Weihnachtspaket in der Luft hing, hatte ich nicht gerade eine große Auswahl an Alternativen.

»Okay, jetzt weiß ich, was auf mich zukommt. Ich probiere es noch mal.« Ich schoss meine Magie erneut auf das Seil ab und zog so fest daran, wie ich konnte.

Die Magie schmeckte nach Seide. Ich schloss lächelnd die Augen, als mich ein scharfes Summen durchzuckte. Der teuerste Whiskey brannte wie billiger Fusel im Vergleich zu diesem schmeichelweichen Geschmack. Ich trank gierig davon und zog die Magie in einem öligen Schatten aus den Seilen, den ich mit meinen roten Verästelungen festsetzte.

Die Seile erbebten. Ein Teil formte einen Trichter und dann ein buntes Gesicht mit klaffender Mundöffnung.

Ich japste erschrocken auf. Der Netzabschnitt, der mich gefangen hielt, befreite sich aus meinen magischen Ästen und wickelte sich um mich. Jetzt konnte ich nichts mehr sehen und kaum noch atmen, aber ich kämpfte weiter darum, die Magie der Seile erneut zu fassen zu kriegen. Sie entglitt mir jedoch immer wieder, und irgendwann wusste ich nicht mehr, wo oben und unten war. Ich schlitterte ins pure Chaos, das ich einfach nicht in den Griff bekam, egal, wie sehr ich es auch versuchte.

Ein lautes Mahlen brachte das Seil zum Vibrieren. Nein, etwas wie ein gedämpftes Knirschen. Genau so hörte sich wohl ein Maul voller Zähne an, die aus riesigen Knoten bestanden.

Ich zappelte nutzlos in meinem Gefängnis. Es gab so vieles, was mich umbringen konnte, inklusive der Wahrheit über meinen Vater, und diese Ehre würde nicht einer toten Frau mit einem Bindfaden-Fetisch und Webermagie gebühren.

Selbst wenn ich meine Rüstung wieder heraufbeschwören wollte, um mich vor den herannahenden Zähnen zu schützen, war ich einfach zu eng eingesponnen. Wenn ich sie manifestierte, würde ich nur noch schneller zerquetscht werden. Mit jeder abgehackten Bewegung wurde ich näher an das Maul heranbefördert. Zumindest nahm ich das an. Ich war so fest in Seile gewickelt, dass sie mir die Haut im Gesicht wund scheuerten und ich die Augen nicht öffnen konnte.

Je mehr ich versuchte, mich in die Magie der Seile zu krallen, desto geschickter wich sie mir aus. Ich brauchte ein Ablenkungsmanöver.

»Miles!« Hoffentlich hörte er meinen gedämpften Schrei. »Verbrenn sie noch mal!«

Knotenzähne bissen in meinen rechten Knöchel und schickten einen heißen Schmerz mein Bein hinauf. Das war mal was Neues. Normalerweise raste das Stechen in die andere Richtung, vom Oberschenkelknochen ausgehend, der seit einem Unfall in meiner wilden Jugend von Metallteilen zusammengehalten wurde. Die Zähne packten fester zu und versuchten, sich durch den Schutz meiner Hose zu nagen.

Vollkommen erschöpft bereitete ich mich innerlich darauf, vor, dass mein Sprunggelenk nachgab, doch dann hörte das Knirschen plötzlich auf.

Ich schnüffelte. Rauch. Hastig ließ ich meine Magie in die der Seile schießen. Miles sorgte für genug Ablenkung, dass ich mich erneut darin verhaken konnte. Am liebsten hätte ich ihn vor lauter Dankbarkeit geküsst. Ich riss die Magie heraus, umschloss sie mit meinen roten Verästelungen und schickte die wunderbaren weißen Funken direkt hinterher.

Die Seile verschwanden, sodass Miles und ich abrupt zu Boden fielen. Mir entwich ein Fluch, als mein verletzter Knöchel auf dem harten Beton auftraf.

Ein lauter Knall hallte vom Kellerabgang herunter und ließ mich zusammenzucken, aber es war nur Arkady, der die Tür aufgebrochen hatte.

Blinzelnd versuchte ich, mich an das helle Deckenlicht zu gewöhnen, das plötzlich anging, und dann stürmte Arkady auch schon die Treppe runter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Er wirkte völlig verstört. »Das war doch nur ein Scherz«, stammelte er. »Ich hätte euch niemals allein hier runtergeschickt – ich habe die Tür nicht aufbekommen.«

Miles’ Wange zierte ein Streifen Ruß, und er lag fix und fertig auf dem Rücken. Als er jedoch merkte, wie aufgebracht Arkady war, setzte er sich auf. »Nichts, womit wir nicht auch allein fertiggeworden sind. Oder?«

»Klar doch.« Ich bewegte vorsichtig den Fuß, was mir ein schmerzerfülltes Zischen entlockte. »Ziemlich stark geprellt, aber nicht gebrochen.«

Arkady nickte angespannt, legte Miles jedoch beide Hände auf die Schultern, als wollte er sich davon überzeugen, dass ihm nichts passiert war. Miles lehnte sich in die Berührung, was sie aber offensichtlich daran erinnerte, dass sie sauer aufeinander waren, denn sie lösten sich eilig wieder voneinander.

Miles lachte tief aus dem Bauch heraus.

»Krieg jetzt ja keinen Nervenzusammenbruch, Berenbaum«, meinte ich.

»Machst du dir immer noch Sorgen, weil es keinen Schutzzauber gibt?«, fragte er.

Ich lachte mit, verzog dann aber das Gesicht, da das meinem Knöchel gar nicht guttat. »Ja, weil das Knotengesicht nur hier unten aktiv war.«

»Klingt spannend.« Arkady reichte mir einen Arm, um mir auf die Beine zu helfen.

»So kann man es auch nennen.« Zittrig stützte ich mich auf ihn, schüttelte aber den Kopf, als er mich wieder nach oben bringen wollte. »Dort ist noch eine Tür, und nach dieser Begrüßung will ich wissen, was sich dahinter befindet.«

Miles stemmte sich ebenfalls hoch und öffnete vorsichtig die Tür. Eine Kakofonie von lautem Gejaule sowie der beißende Geruch von Urin trafen uns wie ein Schlag ins Gesicht.

»Was zum …« Miles hielt sich eine Hand vor Mund und Nase.

Ein kurzer Blick auf die Wände sagte mir, dass der Raum schallisoliert war. In seinem Inneren befand sich nichts als ein Käfig, in dem man normalerweise wohl einen großen Hund untergebracht hätte. In diesem waren jedoch fünf Welpen verschiedener Rassen zusammengepfercht und winselten mitleiderregend.

Nur damit eins klar ist: Ich mag keine Hunde. Doch ein winzig kleiner Teil meines kalten, toten Herzens konnte sich Welpen in Not offensichtlich nicht entziehen. Tatiana hatte ich nicht vor ihrem Mörder retten können und die Magie meines dreizehnjährigen Ichs nicht vor den Machenschaften meines Vaters, aber verdammt, jetzt konnte ich was tun.

Arkady half mir, mich neben den Käfig zu knien. So dicht an dem Pipi-See wünschte ich mir inständig, nichts mehr riechen zu können. An der Tür war ein Vorhängeschloss angebracht, mit dem ich jedoch kurzen Prozess machte. Die Hunde waren von ihren Näpfen – die ohnehin leer waren – weggesperrt gewesen, also öffnete ich die Käfigtür, so weit es ging.

»Na kommt schon raus, ihr Süßen.« Die Tiere wichen noch weiter vor mir zurück.

»Miles? Könntest du vielleicht?« Ich deutete auf den Sack mit Trockenfutter, der in einer Ecke stand.

Er füllte die Näpfe damit, und dann warteten wir an der Tür, damit die Hunde sich trauten, den Käfig zu verlassen. Der erste, der sich herauswagte, war ein winziger, sandfarbener Mops. Die Welpen hatten so wenig Platz, dass der Kleine dabei einen halben Purzelbaum nach vorn machte.

»Mazel tov«, wünschte ich. »Es ist ein Mädchen.«

Die Kleine tapste vorsichtig zu einer der Schüsseln, wobei sie uns alle paar Sekunden einen Blick zuwarf, ob wir uns auch ja nicht bewegten. Nachdem sie beschlossen hatte, dass es sicher war, zu fressen und zu trinken, schlang sie ihre Portion hinunter und lockte die anderen dann mit einer Kombination aus Schnappen und ermutigendem Ablecken heraus.

Ich schickte Arkady nach oben, damit er uns drei warme, nasse Handtücher besorgte. Danach schlichen – oder hinkten – wir langsam auf je einen der Welpen zu, um ihn sauber zu machen. Keine Chance. Sobald wir uns ihnen näherten, winselten sie und rannten weg. Das war, wie einen Sack Flöhe zu hüten.

»Was hat das Miststück nur mit ihnen gemacht?«, fragte Arkady.

Ich ging in die Hocke und redete sanft auf die Mopsdame ein. Für jeden Schritt, den ich auf sie zu machte, ging sie zwei rückwärts, aber irgendwann kam sie tatsächlich vorsichtig auf mich zu. Ich hielt ihr das Handtuch hin, damit sie daran schnüffeln konnte, und als sie nicht wieder abhaute, wischte ich ihr damit sacht über die Ohren.

Sie schnaufte zufrieden und entspannte sich ein wenig.

»Warum sperrt man Hunde in einem schallisolierten Raum ein?«, überlegte ich laut.

Der Mops schniefte, als würde er sich das auch fragen, doch dann schaute die Kleine plötzlich drein, als hätte sie Verstopfung, und ihre Haut begann, Falten zu schlagen. Selbst mir als Hunde-Unwissender war klar, dass das nicht normal war.

Hastig krabbelte ich ein Stück zurück und verzog angewidert das Gesicht, als dicke, nasse Tentakel aus ihrem Kopf hervorsprangen. Tentakel mit Zähnen. Sehr vielen Zähnen.

»Deswegen wahrscheinlich«, kommentierte Arkady.

»Mach das weg«, forderte Miles mich auf.

»Ich weigere mich, hier einen auf Cruella De Vil zu machen.« Ich brachte mich vor einem der Tentakel in Sicherheit, der wie ein nasses Handtuch nach mir schlug.

»Habe ich was davon gesagt, dass du die Hunde häuten und zu einem Pelzmantel verarbeiten sollst?« Miles wich dem verängstigten Pudelwelpen mit der Eleganz eines Balletttänzers aus, die man seiner massiven Statur gar nicht zugetraut hätte. »Jemand muss dem Hund Magie eingepflanzt haben.«

»Ach, glaubst du?«

Der Pudel rannte wie irre im Kreis, bevor mit einem Mal auf seinem gesamten Körper rote Augen erschienen. Das löste eine Frankenstein-Kettenreaktion aus, bei der einer der Welpen in Flammen aufging und dem schwarz-weißen Mischling ein Hammerkopf wuchs. Aus dem schwarzen Labrador wiederum explodierte elektrische Energie, was ihn auf dem Hintern durch den ganzen Raum hüpfen ließ.

Ich nutzte meinen gesunden Fuß, um mich auf einen der Tentakel des Mopses zu stürzen. Er schlug nach mir und erwischte mich mit einem lauten, feuchten Klatschen an der Hand, doch die Zähne schafften es nicht durch meine Haut. Ein Schauder lief mir über den Rücken, und das Ding rutschte aus meinem Griff. Jetzt musste ich es noch mal versuchen.

Arkady war hinter dem Mischling mit dem Hammerkopf her, bevor dieser mit seinem Gezappel noch versehentlich jemandem den Fuß brach. Mit seinen Steinfäusten setzte er das sich windende Tier schließlich fest. »Dieses Verhalten verstößt gegen die Genfer Konvention, Colonel Welpe.«

Miles hatte den Hund, der wie eine Leuchtfackel in Flammen stand, in eine Ecke gedrängt. Er ließ zwei riesige Feuerbälle auf seinen Handflächen erscheinen und starrte dem Tier so lange in die Augen, bis es seine Überlegenheit anerkannte und sich unterwürfig auf den Rücken rollte, um seinen brennenden Bauch zu zeigen.

Arkady versetzte dem Mops einen Schubs, um ihn von dem Hammerkopf-Mischling fernzuhalten, bevor der noch einen der Tentakel zu Brei verarbeitete. »Och, wie süß. Der Mops sieht aus wie meine Großtante Hyun-Mi. Sie hatte auch Probleme mit den Zähnen.«

»Das ist nicht witzig.« Ich warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Galgenhumor, Pickle. Du schaffst das.«

Ich sandte den stummen Wunsch ins Universum, dass ich dem armen Tier nicht wehtun wurde, dann griff ich nach der Magie, die in dem kleinen, schwer atmenden Körper herumwaberte. Das Gefühl von spitzen Emaille-Splittern, die in feuchtem Fleisch steckten, verursachte mir eine Gänsehaut.

Die Magie in dem Hund fühlte sich nicht an wie die Schatten, sie roch nicht nach Fäkalien und schickte auch nicht die Illusion von Maden über meine Haut. Zum einen war sie nicht mal annähernd so stark, und zum anderen mischten sich hier enorm viele Gerüche und Aromen. Ich schmeckte vier: Minze, Fisch, Salz und Kreide. Aber den Magietyp, den sie repräsentierten, konnte ich nicht bestimmen.

Ich grub mich stirnrunzelnd tiefer. Wenn Schatten auf einen neuen Wirt übergingen oder jemand mit Magie angegriffen wurde – wie ich vor einiger Zeit, als ein Medusa meine rechte Körperhälfte in Stein verwandelt hatte –, bewegte sich die invasive Magie frei im Körper der betreffenden Person.

»Wie ist das überhaupt möglich?«, fragte ich.

»Was denn?« Arkady erwischte den Hammerkopf-Welpen gerade noch rechtzeitig, als dieser sich aus seinem Griff winden wollte.

»Die Magie ist an sie gebunden.«

»Wie bei einem magischen Artefakt?«, wollte Miles wissen. »Sag mir bitte, dass das ein Scherz ist.«

»Nein. Tatiana hat mehrere Nefesh dazu gebracht, ihre Magie in diesen Mops zu leiten, und dann die Kräfte miteinander verbunden, um sie in ihm zu verankern. Als wäre der Welpe irgendein unbelebtes Ding.« Ich schaute verzweifelt zu den beiden Männern auf. »Aber das hier sind lebendige Wesen mit Herzen und allem, was so dazugehört.«

Der Leuchtfackel-Welpe gab ein herzerweichendes Jaulen von sich. Miles streichelte den winzigen Körper und murmelte beruhigende Worte, bevor er mich mit versteinerter Miene fixierte. »Bring das wieder in Ordnung, Cohen.«

»Meinst du, ich will das nicht? Ich habe nur keine Ahnung, was ich tun soll«, erwiderte ich und schnappte mir den Mops von der am wenigsten zahnbewehrten Seite. »Was, wenn ich die Magie herausziehe und eine Niere gleich mit? Ich könnte sie alle umbringen.«

Der Tentakel-Mops winselte. Wenn Tatiana nicht schon tot wäre, würde ich sie mir persönlich vorknöpfen. Diese Magie war so instabil, dass sie die armen Hunde buchstäblich zerriss.

Ich nutzte meinen drohenden »Stirb ja nicht«-Tonfall, der sonst für Moriarty reserviert war, und hoffte, dass der Welpe besser darauf reagierte als mein Auto.

»Warte.« Miles holte sein Handy heraus und begann zu filmen. »Wir halten das für Levi fest.«

»Oder für den Fall, dass wir später dafür geradestehen müssen«, warf Arkady ein.

»Oh, toll, wenn ich es versaue, können wir gleich einen Snuff-Film mit Welpen draus machen.« Ich hielt den Mops fest und schickte meine Magie auf der Suche nach einer Schwachstelle in das Geflecht aus Knoten in ihm. Irgendwo musste es doch ein loses Ende geben, das nicht mit dem Tier verwoben war.

Schließlich fand ich das Ende des Knäuels, das wie ein loser Faden an seiner linken Vorderpfote hing. Mit geschlossenen Augen visualisierte ich meine Magie als Nadel, die mitten in dieses Garnende stach. Statt die invasive Magie herauszuziehen und mit den Ästen meiner Magie zu umschließen, schickte ich einen einzelnen, hauchdünnen roten Zweig in den ersten Knoten und ließ ihn zu weißen Funken werden. Der Knoten löste sich auf.

Zögerlich öffnete ich ein Auge. Die Hündin hechelte flach, wehrte sich aber nicht gegen mich, also arbeitete ich mich weiter an dem Spinnennetz entlang zum nächsten Knoten und zu den nächsten weißen Funken. Als ich schließlich das gesamte Gespinst aufgelöst hatte und sie für magiefrei erklärte, saß ich erschöpft auf dem Hintern, mein pochendes rechtes Bein vor mir ausgestreckt. Mein Oberteil klebte mir durchgeschwitzt am Rücken.

»Einer geschafft, bleiben noch vier«, sagte Miles und tippte auf den Button seiner Handykamera, um das Video zu beenden und direkt ein neues zu starten. »Leg los, Cohen.«

Mir drehte sich der Magen um, und ich biss mir auf die Unterlippe. Noch vier weitere höchst riskante magische Operationen fehlerfrei durchführen?

Der Mops leckte mir schwach über die Hand, bevor er den mit Augen übersäten Pudel anknurrte, der sich näher herangetraut hatte. Der Labrador schoss an uns vorbei, noch immer geschüttelt von elektrischen Impulsen.

Ich atmete tief durch und schüttelte die Hände aus. Nur ich konnte den Welpen helfen. »Kannst du den Feuerball festhalten?«

»Ja.« Miles reichte das Handy an Arkady weiter.

»Bring ihn her.«

Einen nach dem anderen nahm ich mir die Hunde vor und befreite sie von ihrer Magie. Der Labrador hätte mich beinahe gegrillt, und der Mischling versuchte, mir mit seinem Hammerkopf ein Stück Fleisch aus dem Arm zu reißen, doch schlussendlich überlebten wir es alle.

Arkady legte mir eine Hand in den Nacken, riss sie aber mit einer Grimasse sofort wieder weg und wischte sie sich mit einer theatralischen Geste an seiner Jeans ab. »Wow, bist du nass geschwitzt. Alles okay?«

»Bestens.«

»Welche Art von Magie hat in den Seilen gesteckt?« Miles holte sich sein Handy wieder und schob es in die Hosentasche.

»Gut gemacht, Ash«, entgegnete ich. »Vielen Dank für deinen wertvollen Beitrag und dafür, dass du echt vorsichtig warst und es geschafft hast, keinen der armen Hunde mit deiner Magie umzubringen, die du selbst kaum verstehst.«

»Die Magieform?«

»Du bist echt furchtbar. Wenn ich raten müsste, würde ich auf Level-fünf-Animator-Magie tippen.« Ich streckte Arkady eine Hand hin und ließ mir erneut von ihm aufhelfen, um mich direkt auf ihn zu stützen.

Die Welpen hatten einen neuen Energieschub bekommen, rannten durch den Raum und purzelten übereinander.

»Yevgeny wurde bei einer Razzia in einem Hundekampfring getötet, oder?«, fragte Arkady.

»Ja.«

»Hunde mit Magie eröffnen ganz neue Wettmöglichkeiten«, fuhr er fort. »Dann geht es nämlich nicht mehr nur um Größe und Kraft. Aber Tieren so was anzutun, ist unmoralisch und grausam. Sie besitzen natürlicherweise keine Magie, und so sollte es auch bleiben.«

»Haben Tatiana und ihr Bruder das auf eigene Faust gemacht, oder war es Teil eines größeren Plans von Chariot?«, fragte Miles.

»Ich statte mal den Männern einen Besuch ab, die wir beim Hochnehmen des Chariot-Labors geschnappt haben«, meinte Arkady. »Und hole einige Antworten aus ihnen raus.«

»Und das schaffst du, indem du …« Ich führte ein paar Boxhiebe in die Luft aus.

»Miles hat mir verboten, Leute zu verprügeln. Immer will er alles streng nach Vorschrift machen.« Arkady zog einen Schmollmund.

»Wir wollen schließlich nicht, dass das Gericht auch nur den geringsten Grund hätte, den Fall abzuweisen. Es ist schon schlimm genug, dass wir die Typen nur wegen der Entführungen belangen können«, erwiderte Miles. »Die meisten Beweise für die Operation waren im Labor, und das befand sich in Hedon. In den Räumen hier wurde nicht viel mehr als der Käfig gefunden, in dem die Jugendlichen festgehalten wurden. Und außerdem dürfen wir die Vorwürfe von grundloser Nefesh-Gewalt nicht noch weiter anfachen.« In Miles’ braune Augen trat ein harter Ausdruck. »Ich glaube auch nicht, dass du besonders weit kommst. Inzwischen sind ein paar hoch bezahlte Anwälte im Spiel, die dafür gesorgt haben, dass die Männer in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegt wurden.«

»Ach ja?«, erkundigte ich mich.

»Die Verdächtigen sind Weltige. Damit befinden sie sich jetzt außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs.«

»Es gibt immer noch rechtliche Möglichkeiten, an sie heranzukommen und sie zu befragen«, wandte Arkady ein und befreite nebenbei den Saum seines Hosenbeins aus dem Maul des schwarz-weißen Mischlings. Der Welpe nahm das als Aufforderung zu einem tollen Spiel und schnappte begeistert erneut nach dem Stoff.

Ich sprach ein wenig lauter, damit die beiden mich über das Gebell hinweg noch verstanden. »Ich glaube, ich weiß jetzt, warum kein Schutzzauber auf dem Haus lag. Ihr habt ja gesehen, wie die Hunde reagiert haben, als die Magie aus ihnen herausgeplatzt ist. Sie waren eine Gefahr für sich selbst und für alle in ihrer Nähe.«

Schutzzauber wirkten anders als Artefakte. Bei einem Bann wurde die Magie um ein Objekt gewoben, anstatt sie in den Gegenstand einzubringen und dauerhaft mit ihm zu verschmelzen.

»Aber natürlich. Schutzzauber spüren Bedrohungen«, sagte Miles. »Tatiana musste sie also abschalten, wenn sie an den Welpen arbeiten wollte, weil der Schutzzauber sie festgehalten und ihre Magie neutralisiert hätte, sobald sie Tatiana angriffen. Und das hätte sie daran gehindert, mit ihren gruseligen Experimenten voranzukommen.«

»Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass das Haus normalerweise geschützt war«, meinte Arkady. »Sie hatte den Zauber nur noch nicht wieder reaktiviert.«

Miles beäugte angewidert den Käfig. »Ich stecke sie da nicht wieder rein. Sollen die Cops ruhig spekulieren, was es mit diesem Raum auf sich hatte. Ark, hilf mir, die Welpen einzusammeln. Wir müssen sie in ein Tierheim bringen. Den Mord können wir von unterwegs melden.«

»Ark? Womit hat er es sich denn verdient, deinen Namen abkürzen zu dürfen?«, wollte ich wissen.

»Hat er nicht.« Arkady warf den Käfig in eine Ecke, wo er krachend von der Wand abprallte.

»Arkady«, wies Miles ihn warnend zurecht.

Arkady salutierte sarkastisch und schnappte sich dann den Mischling.

»Himmelherrgott.« Miles bückte sich, um nach dem Mops zu greifen, doch die kleine Hündin flitzte zwischen seinen großen Händen hindurch und rannte direkt zu mir.

»Oh nein, Hund.« Ich wich hinkend vor ihr zurück. »Ich muss das fünfzehn Jahre alte Geheimnis um meinen Vater aufklären. Für dich habe ich keine Zeit.«

Sie kratzte zweimal herrisch mit der Vorderpfote über den Boden.

»Ich bin allergisch?«

Sie knurrte mich an.

»Na schön.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bringe dich ins Tierheim, aber das war’s dann. Wir werden nicht mit angesabbertem Spielzeug spielen.«

Die Tentakel und Zähne waren verschwunden, nur um von etwas viel Schlimmerem ersetzt zu werden: großen, braunen Hundeaugen.

Ich schnalzte spöttisch mit der Zunge. Das war quasi die Basis eines jeden Betrugs: Lass dich nicht einwickeln. »Netter Versuch, Hund. Heb dir das lieber für jemanden auf, der solche wie dich mag.«

KAPITEL 3

Drei Stunden später war dem Mops vollständige Gesundheit attestiert worden, er war geimpft und mit mir auf dem Weg nach Hause. Arkady schleppte die Hundeausstattung, die ich mehr hopsend als gehend in einer Zoohandlung zusammengesammelt hatte, zusammen mit Gavriellas Schließkassette nach oben. Währenddessen beschützte ich die Weinflasche, die ich ebenfalls mitgenommen hatte, mit meinem Leben. Die kleine Hündin trippelte vor uns her, ihre neue Leine schleifte auf dem Boden.

»Sag mal, bist du jetzt komplett durchgeknallt?« Priya öffnete unsere Wohnungstür, die Hände in die Hüften gestemmt. »Du musstest im Haus einer toten Frau herumhängen?«, fuhr sie mich stinksauer an. »Hast du gehofft, dass der Mörder zurückkommt und noch eine weitere Leiche hinterlässt?«

»Arkady, du elende Ratte.« Ich bückte mich nach der Leine. »Wann hattest du denn bitte Zeit, sie anzurufen?«

»Ash hat sich einen Hund angeschafft.« Damit wuchtete er Priya meine Einkäufe in die Arme und floh, um sich in seinem eigenen Apartment in Sicherheit zu bringen.

Priyas Augenbrauen schossen nach oben, als sie den Mops entdeckte.

»Arkady hat mit Miles geschlafen!«, rief ich laut.

»Ach, wiiiirklich?« Priya machte einen Schritt nach vorn, und das Wort »Verhör« stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

Arkady drehte den Schlüssel im Schloss und riss seine Wohnungstür schwungvoll auf. »Mädchenfragen sind streng verboten.« Ich sah noch, dass seine linke Augenbraue heftig zuckte, dann schlug er schon die Tür hinter sich zu.

Ooh. Arkady hatte einen Tell, etwas, das ihn verriet. Undercover-Arbeit meisterte er vollkommen problemlos, aber sobald man einen Schritt in Richtung seines Privatlebens machte, wurde er nervös. Nein. Das stimmte so nicht. Er konnte ohne Schwierigkeiten mit überzogenen Zweideutigkeiten ablenken, doch das, was zwischen ihm und Miles schiefgelaufen war, setzte ihm wirklich zu. Es machte ihn verletzlich. Wenn man dem zu nahe kam, wurde er nervös. Interessant.

Priya rümpfte die Nase und warf der geschlossenen Tür noch einen letzten Blick zu, bevor sie die Hundesachen vor unserer Tür ablegte und dann mit ausgestreckter Hand in die Hocke ging. »Soll das ein Wachhund sein?«

»Sie ist nur vorübergehend zu Besuch. Ich würde mir nie ein Haustier anschaffen, ohne das vorher mit dir abzusprechen.«

Die Mopsdame schnüffelte an ihren Fingern und drückte dann vorsichtig ihre Nase gegen Priyas Hand.

»Hat sie einen Namen?«

»Mrs Hudson.« Ich winkte ab, in der Hoffnung, damit weiteren Fragen zu entgehen. »Mir ist auf die Schnelle nichts anderes eingefallen, und der Tierarzt wollte unbedingt wissen, wie sie heißt.«

Priyas eselhaft röhrendes Lachen erfüllte den Treppenabsatz. »Du hast ihr einen Sherlock-Namen verpasst?« Sie kraulte den Welpen hinter den Ohren und machte dabei Küsschengeräusche. »Wer ist ein süßes Mädchen, das für immer hier wohnen wird? Ja, genau, du.«

»Okay, nein.« Ich gab ihr einen Klaps auf die Hand. »Dieses komische Babygebrabbel ist der Grund, warum ich Welpen nicht mag und sie auch nicht behalten werde. Ich wollte sie nur nicht wie ein Kindergartenkind ›Hund‹ nennen. Außerdem war das Tierheim voll, und ich war zu müde, um zu dem auf der anderen Seite der Stadt zu fahren. Aber sobald wir ein gutes Zuhause für sie gefunden haben, ist sie wieder weg.«

Mein Job und ein Hund passten nicht gut zusammen. Mrs Hudson verdiente Stabilität und eine liebevolle Familie.

»Hmhm.« Priyas verengte ihre grünen Augen skeptisch. »Komm was essen. Ich habe Chinesisch besorgt, wenn du magst.«

Meine Batterien waren fast leer, mir tat alles weh, und ich musste dringend allein sein und mich ausruhen, aber Priya hatte noch nie als Gesellschaft gezählt. Sie war einfach meine Pri, und ich konnte mich in ihrer Gegenwart ebenso gut entspannen wie allein in meinem Zimmer. Doch dann regte sich eine vage Erinnerung. Ich kniff die Augen leicht zusammen und ging im Kopf unseren Kalender durch. »Moment mal, ist heute Abend nicht Ariannas Geburtstagsessen?«

»Ich hatte keine Lust.« Sie nahm mir die Leine ab. »Macht mehr Spaß, mit dir und Mrs Hudson abzuhängen.«

»Sicher doch.« Weil es ja so viel besser war, Zeit mit einer verletzten Freundin und einem Hund zu verbringen, von dessen Existenz man vorher gar nichts gewusst hatte, als in dem Thai-Restaurant zu essen, auf das man sich schon einen Monat im Voraus gefreut hatte. Und was noch viel schlimmer war: Sie trug einen cremefarbenen Kaschmirpullover und eine Jeans.