Karol, der Weißmagier - Sebastian Stranz - E-Book

Karol, der Weißmagier E-Book

Sebastian Stranz

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Beschreibung

Karol, Schüler der weißmagischen Loge, beklagt sich an seinem 40. Geburtstag bei seinem Meister. Er ist unzufrieden mit seinem Leben, er hat das Gefühl, nicht recht voranzukommen, er möchte nicht nur geistiges Wissen ansammeln, sondern es auch anwenden. Unmittelbar darauf überschlagen sich die Ereignisse. Karol findet die wahre Liebe, er bekommt eine große Aufgabe übertragen, und er erkennt durch seine therapeutische Arbeit mit dem alkoholabhängigen Pawel das eigentliche Wesen der Weißen Magie. Im zweiten Teil findet Karol unverhofft zu einer verborgenen Stadt der weißmagischen Bruderschaft. Voller Faszination lernt er dieses Wirklichkeit gewordene Utopia von Tag zu Tag mehr kennen. Gleichzeitig entdeckt er aber auch seine inneren Fesseln des Egos, die er erst ablegen muss, ehe er wirklich bereit ist, ein Teil davon zu werden.

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Bei diesem Buch handelt es sich um einen fiktiven Roman. Es gibt Anteile wirklicher Ereignisse oder Personen, die mit einfließen, wie vielleicht in jedem Roman. Die Lebensgeschichte der historischen sowjetischen Persönlichkeit A.S. Makarenko, die in die Handlung des zweiten Teils mit einfließt, wird frei gedeutet und ausgemalt, ohne Anspruch auf historische Genauigkeit oder Richtigkeit. Diese Version seiner Lebensgeschichte ist frei erfunden.

Inhalt

Schülerschaft

Der Geburtstag

Vadims Prüfung

Karols Rede

Alchemie

Pawel

Stanislav

Der Kampf mit den Dornen

Dornröschen erwacht

Ein neuer Zirkel

Bruderschaft

Die Reise

Erste Begegnung

Das Sanatorium

Das Felsenkloster

Das integrierte Leben

Sem’s Geheimnis

Gefahr von innen

Die Entscheidung

I Schülerschaft

Der Geburtstag

„25 Jahre! 25 Jahre!“, rief er aus,

„25 Jahre bin ich nun schon Schüler der Weißen Magie, und noch immer darf ich nicht wirken!“

Karol stand vor seinem Meister, dem legendären Mikhael, von dem es hieß, er verstünde die Weiße Magie bis in ihre tiefste Tiefe, ja, er kenne sogar das Geheimnis der Alchemie: des Lebenselixiers, das unbegrenzt jung erhält, und der Umwandlung von gewöhnlichem Eisen in Gold mithilfe des Steins der Weisen. Mikhael wirkte als Direktor des „Instituts für Weiße Magie und Transformation“, wo Karol Schüler sein durfte.

Seit 25 Jahren.

Und das war nicht immer ein Spaß. Es war der Weg der beständigen Arbeit an sich selbst, in der Beachtung der Lehre, den Balken im eigenen Auge zu entfernen, bevor man sich an den Splitter im Auge des Nächsten mache. Jede Disziplinlosigkeit im Leben war wieder so ein Balken, die Balken hörten nicht auf. Es konnte ermüdend sein. Aber Karol war ein treuer und ergebener Schüler. Es musste schon viel zusammen-kommen, ehe er sich beklagte. Und nun war es einmal so weit.

Es war sein 40. Geburtstag. Mit 15 war er als Schüler des Instituts aufgenommen worden. Oft war es ihm so vorgekommen, als seien seine Altersgenossen, die nichts von der Weißen Magie und von diesem Institut wussten, viel weiter als er. Sie hatten Berufe erlernt und Familien gegründet, sie hatten eine Karriere gemacht, als Künstler oder als Sportler, und sie hatten die Liebe erlebt. Ja, manche von ihnen konnten sogar ihre Stellung und ihren Namen dazu verwenden, anderen zu helfen, Stiftungen der Nächstenliebe zu gründen oder um Spenden für Hilfswerke zu sammeln, oder um zumindest eine Familie zu gründen und für sie zu sorgen.

Doch Karol war noch immer Schüler. Oftmals war es ihm erschienen, als seien seine Altersgenossen, die nicht diesen Weg der Disziplin und Selbsterkenntnis gingen, viel weiter als er – nicht nur in weltlicher Hinsicht, auch auf dem mystischen Weg der Einheit und der Nächstenliebe. Sie hatten Berufe, sie wirkten als Künstler oder Helfer, sie lehrten als Lehrer, sie taten Gutes. Und sie hatten bereits eine Geschichte. Er aber war immer noch Schüler, er lebte noch in der Erwartung.

Heute war bereits Karols 40. Geburtstag. So hatten sich alle Schüler am frühen Morgen im Haus des Meisters Mikhael versammelt, hatten ihm brav gratuliert, ein Ständchen gebracht und Geschenke gemacht. Karol war ehrlich gerührt gewesen, denn er hatte hinter den ganzen Geburtstagshöflichkeiten doch die ehrliche Liebe gespürt. Er fühlte sich wohl in der Gemeinschaft der Jünger der Weißen Magie, in der Gemeinschaft seiner Freunde – Juri, Dimitri, Svetlana, Vadim, Boris, Ivanka, Karina und Lazlo, der Diener des Meisters. Eine kleine verschworene Gemeinschaft waren sie. Meister Mikhael und Meister Boguslav waren die Lehrer des Instituts, abgesehen von vielen, vielen Gastdozenten, die sie gelegentlich zu besonderen Themen unterwiesen. Meister Boguslav leitete außerdem das Institut am Rande der Stadt.

Karol war gerührt gewesen, denn die Geschenke, die er bekommen hatte, ließen ihn spüren, dass man ihn wirklich kannte und wusste, was er sich im Innersten wünschte: eine Meditationsbank und ein weiteres Lehrbuch der Weißen Magie – eines, das er sich schon lange gewünscht hatte und von dem er sich versprach, endlich das ganze Geheimnis der Alchemie zu verstehen. Alle Schüler waren wieder gegangen, um ihrem Tagwerk nachzugehen, jeder an seinem Platz. Karol war allein beim Meister zurückgeblieben. Nun machte er seiner tiefen Unzufriedenheit Luft. Die Geburtstagsrunde war schön gewesen und die Geschenke hatten ihn überrascht und gerührt. Aber insgesamt war diese Runde mit all ihren Nettigkeiten doch vorhersehbar gewesen. So etwas konnte sein Herz nicht mehr satt machen.

„Ehrwürdiger Meister Mikhael“, sagte er, „seit 25 Jahren bin ich nun Schüler der Weißen Magie. Ich bin sehr dankbar für alles, was ich lernen durfte. Für all die Stunden des Lernens und der ehrenamtlichen Aufgaben habe ich meine Jugend hingegeben. All meine Energie habe ich für den mystischen Lehrstoff aufgewendet. So blieb dabei die Karriere in der Welt auf der Strecke. Und auch eine Familie konnte ich nicht gründen, denn ich habe immer gehofft, eine Frau zu finden, die ebenfalls diesen Weg der Weißen Magie geht. Dieser Wunsch hat sich bisher nicht erfüllt. Aber darüber beklage ich mich nicht.

Ich bin 40 und noch immer darf ich nicht wirken! Ich bin im Institut noch immer bloß ein Schüler! Wann werde ich als Dozent selber Schüler unterrichten dürfen? Oder wann erhalte ich von der Loge der Weißen Magie einen Auftrag, um in der Welt zu wirken, um als Heiler oder Künstler oder Politiker ein Licht anzuzünden? Soll ich mein ganzes Leben Schüler sein?“

Die Trauer und Verzweiflung stand Karol ins Gesicht geschrieben. Er bemühte sich, nicht mit seinem Leben zu hadern, und doch tat er es. Es ließ sich nicht mehr unterdrücken.

„Karol, du bist einer meiner besten Schüler“, antwortete Mikhael sanft und liebevoll, „du hast immer treu gelernt und deine Lernaufgaben mit Auszeichnung gemeistert. Hast du nicht jede Minute deines Lebens gut genutzt, um zu lernen? Was ist im Leben wichtiger: zu wirken oder zu lernen?“

„Beides!“, rief es mit gebrochener Stimme aus Karol heraus, „ist es nicht der Sinn des Lernens auch einmal zu wirken?“

„Das Lernen trägt seinen Sinn in sich selbst. Aber es ist richtig, du sollst auch einmal wirken. Nur vergesse eines nicht: Wenn du wirken willst, musst du selber den Weg gehen.“

Das ließ Karol verstummen. Natürlich, er wusste nur zu gut um die Punkte in seinem Leben, wo er noch nicht den Weg ging, noch nicht konsequent genug.

Mit erloschener Stimme sagte er nur, „natürlich, Meister. Ich werde weiter an mir arbeiten.“

„Das ist der Weg“, fuhr Mikhael mit fester Stimme fort, „doch bedenke auch eines: Es gibt keine Schwelle zwischen Lernen und Wirken. Wenn du nicht nur mit dem Kopf lernst, sondern das Gelernte in dein ganzes Leben mit einbeziehst, in alle deine täglichen Verrichtungen, in alle deine Begegnungen mit den Mitmenschen, so wird das Lernen dich von ganz alleine zum Wirken führen.“

Abends saß Karol beim Gebet. Er war wie seine Freunde zur Arbeit gegangen und hatte normal seinen Dienst getan. Die Anhänger der Weißen Magie waren nicht gerade Meister im Feiern – jedenfalls nicht, wenn es um weltliche Feste wie Geburtstage ging.

Karol hatte dank seiner Anwendung des positiven Denkens und Visualisierens einen ganz guten Job als Mitarbeiter einer Versandabteilung in einer Werkzeugfirma gefunden. Er hatte ein gutes Auskommen und konnte sich seinen Arbeitstag selber gestalten und verwalten. Es machte nichts, wenn er etwas später kam, solange er bis zum Abend alles abgearbeitet hatte. Dort war er mitten unter den Weltmenschen, die von seinem Weg nichts wussten. Karol war es wichtig, gut geerdet zu sein. Es hatte lange gedauert, bis er zu dieser Haltung gefunden hatte. In seiner Jugend hatte er große Schwierigkeiten in der Berufssuche gehabt, weil er seine geistige Berufung am liebsten gleich zum Brotberuf hatte machen wollen. Aber das war überwunden. Heute dachte er umgekehrt: Je profaner eine Arbeit war, desto lieber war sie ihm. Denn er sah den geistigen Weg und das weltliche Leben nicht mehr als getrennt. Er arbeitete ständig mit dem Geist. Die Jobsuche war ein Weg der Verbindung mit dem Schutzengel und der positiven Visualisierung der gesuchten Stelle. Die Arbeit war ein Weg der Verbindung mit den positiven Kräften in allen Dingen und mit dem Geist, den er durch sich fließen ließ. Jede Arbeit wurde ihm zu einer Schulung, zu einem Werkzeug des Geistes zu werden. Und jede Begegnung mit den Mitmenschen wurde ihm zu einem Spiegel, der ihm auf dem Weg der Selbsterkenntnis weiterhalf.

Ihm war es lieb, wenn seine Umwelt von diesem geistigen Weg gar nichts mitbekam. Was zählte war das Gelingen. Was zählte war die Anwendung des Wissens, das er im Institut empfangen durfte. Was zählte waren die Früchte, die zeigten, ob der geistige Weg wirklich funktionierte, und die zeigten, inwieweit Karol auf diesem Weg vorangeschritten war. Er redete in der Welt nicht darüber, außer wenn er gefragt wurde.

Und Karol fiel nicht immer nur durch gute Früchte auf. Er konnte genau so genervt und gestresst sein wie seine Arbeitskollegen. Er konnte sich genauso ärgern über Anweisungen von Vorgesetzten, die er als unsinnig empfand, und über Kollegen, die schlechte Zuarbeit ablieferten. Manchmal konnte er aber Schlichter sein in Konflikten, oder er konnte in großem Arbeitsaufkommen in völliger Seelenruhe leicht und flink alles abarbeiten, ohne zu ermüden. Da wunderten sich schon seine Kollegen, woher Karol die Kraft nahm, dass ihm alles so gut gelang. Er sprach nicht über seinen geistigen Weg, er lächelte nur. Das waren seine Sternstunden. Er hatte sich eine Vertrauensstellung erworben und nahm im Versandprozess eine Schlüsselposition ein, wo alle fertig verpackten Pakete zusammenliefen, die er am Computer für den Versand fertigzumachen hatte. Das war gut und schön. Doch Karol wusste nur zu gut, das war nicht die Mission, für die er auf der Erde war. Wann würde seine ‚eigentliche‘ Mission endlich beginnen?

Karol war an diesem Abend zeitig fertig gewesen. Es war Wochenende. Es passte ihm sehr gut, dass es Freitag war, denn sein 40. Geburtstag war schon ein Anlass, der ihn zur Bilanz und zur Einkehr aufforderte. Karol hatte nur ein leichtes Abendbrot eingenommen, denn er hatte das dringende Bedürfnis zum Gebet. So betete er um Demut, dass es ihm nicht um Ämter und Würden gehen möge und dass er sich die Haltung des Dienens bewahren könne. Er betete darum, dass es ihm in Demut gelingen möge, seine Lebenssituation anzunehmen. Er gedachte der Worte des Meisters, dass es keine Schwelle zwischen Lernen und Wirken gebe. Ja, so konnte gerade sein derzeitiger Job der Beginn seiner ‚eigentlichen‘ Mission sein. Wusste er denn, ob er nicht gerade dort jemandem begegnen würde, der zu seinem ersten Schüler werden würde? Wusste er denn, ob er nicht gerade durch diesen Job mit dem Menschen zusammengeführt werden sollte, an dem ihm durch die Gnade des Geistes seine erste geistige Heilung gelingen sollte? Er kannte seine Mission noch nicht, weil er sein inliegendes Potential noch nicht kannte. Alles war möglich. Doch es konnte nur möglich werden, wenn er seine Lebenssituation voll annahm, wenn er sich in jeder Begegnung in voller Offenheit vom Geist führen lassen konnte, um für die darin liegende Frucht aufmerksam zu sein.

Das Klingeln des Telefons schreckte Karol aus seinen Betrachtungen auf.

„Hallo, hier ist Juri.“

Juri war ein besonders sensitiver und sensibler Mitschüler im Institut von Meister Mikhael. Nach außen hin gesellig und voller Humor, nach innen aber voller Selbstzweifel. Seitdem er in der Aura der Menschen lesen konnte, hatte er mehr Schwierigkeiten als Nutzen davon. Er konnte den Menschen auf der Straße ihre Krankheiten ansehen, auch die noch nicht ausgebrochenen. Er musste sich regelmäßig auf die Zunge beißen, um seinen Mitmenschen nicht Dinge zu sagen, die sie gar nicht hören wollten und durften. Auf Friedhöfen hängten sich die erdgebundenen Seelen von Verstorbenen an ihn ran, und er fühlte nur, dass er ohne dieses reale Horrorkino besser gelebt hatte. Die Gaben von Juri traten offen hervor, und die hilfsbedürftigen Menschen kamen bereits auf ihn zu. Er spürte den Auftrag des Helfens in sich. Aber Juri haderte mit seinen Gaben und seinem Auftrag. Er wollte lieber noch das Leben ein wenig genießen. Auch Juri war noch nicht ganz in seiner Mission angelangt. Karol, der in seiner Jugend ein Träumer und Dichter gewesen war, war nun der Pragmatischere von den beiden.

„Weißt du noch, dass Vadim morgen seine Erste Einweihung hat?“, fragte Juri.

Natürlich hatte Karol das nicht vergessen. Vadim war ein Schüler im Institut von Meister Boguslav, das außerhalb der Millionenmetropole Baluga lag. Das Institut von Meister Mikhael dagegen lag mitten in der Stadt, am großen Prachtboulevard, dem Makarenkoprospekt. Die Institute der Weißen Magie waren nichts Geheimes und standen sogar im Telefonbuch. Doch in dieser Gesellschaft, wo die esoterischen Angebote die Menschen zuhauf überschütteten, fielen sie nicht weiter auf. Die meisten Menschen glaubten nicht ernsthaft an die Weiße Magie, was in einer solchen der Esoterik und den östlichen Lehren aufgeschlossenen Gesellschaft ein merkwürdiges Paradoxon war. Deshalb erhielten die Institute keine besondere Aufmerksamkeit und waren weitgehend unbekannt. Der weißmagischen Loge war das ganz recht.

Die beiden Institute arbeiteten eng zusammen, und die Einweihung sollte am Samstagnachmittag im Haus von Meister Mikhael stattfinden.

„Meister Mikhael lässt fragen, ob du einen Part in der Zeremonie übernehmen möchtest.“

Natürlich sagte Karol zu. Er hatte zwar für den Samstagvormittag einen beschaulichen Spaziergang vorgesehen, aber dann würde er ihn eben auf die Vorbereitung für seine Rede verwenden.

Karol und Juri plauderten noch ein wenig am Telefon. Sie pflegten sich gegenseitig über den neuesten Stand in Liebesdingen auszufragen. Sie neckten sich, indem sie den anderen zum Reden brachten. Denn meistens ging es ihnen so, dass es in diesen Angelegenheiten nicht viel zu berichten gab und sie eigentlich froh waren, wenn sie nicht gefragt wurden.

Zum Abschluss klagte Juri noch, wie in letzter Zeit eigentlich immer, über all die kranken Menschen, die auf ihn zukamen. Er hatte nicht die Geduld, ihre Geschichten anzuhören und damit zu warten, ihnen ihre seelischen Fehlhaltungen auf den Kopf zuzusagen, die er ohnehin von vornherein sah. Er durfte es nicht, sofern die Menschen es noch nicht wollten und noch nicht zu einer ernsthaften Arbeit an sich selbst bereit waren. Die meisten Menschen waren dazu noch nicht bereit. Sie erwarteten von Juri Heilung frei Haus, wie sie von einem Arzt Heilung frei Haus erwarteten. Nur dass sie in Juri einen Wunderheiler sahen, der ihnen den Heilungsprozess noch viel leichter als jeder Arzt machen sollte. Wenn er ihnen dann erläuterte, dass es nur mit ihrer Mitarbeit ginge, konnten es die meisten nicht fassen. Und von denen, die sich auf Juris Unterweisungen einlassen konnten, gab es wiederum wenige, die in Juri nicht einen omnipotenten Guru sahen. Sie nahmen dann alle seine Hinweise so ernst, dass sie sie buchstäblich befolgten und nicht mehr selber nachdachten. Auch das war ja nicht der Weg der Selbsterkenntnis, um den es ging. Die Jünger der Weißen Magie wussten, sie konnten nur dann zu einem echten Wirken gelangen, wenn sie von ihren Mitmenschen als das gesehen wurden, was sie waren: Menschen wie sie auch.

Karol war dankbar, dass sich Juri mit seinen Nöten an ihn wandte, obwohl er sich noch längst nicht so weit fühlte wie er. Aber Karol war immerhin jemand, der diese Nöte verstehen und mitfühlen konnte. Es war ja sinnlos, jemandem ‚in der Welt‘ davon zu erzählen. Und Karol gelang es immer wieder, Juri darin zu bestärken, seine Aufgabe aufs Neue anzunehmen.

Als er den Hörer eingehängt hatte, war Karol im Großen und Ganzen doch dankbar für diesen Tag. War Mikhaels Auftrag nun eine Reaktion auf seine Klage am Morgen gewesen? Oder hätte er ohnehin diesen Auftrag erhalten? Er schmunzelte, denn er wusste, dieses war eines von den Geheimnissen auf dem weißmagischen Weg, die sich niemals lüften würden…

Karol suchte noch sein erstes Lehrbuch heraus, „Einführung in die Weiße Magie“. Denn dieses enthielt den Stoff, über den er am nächsten Tag referieren sollte: Was denn die Weiße Magie sei und ausmache und sie von anderen Wegen unterscheide. So war es mit allem Lehrstoff der Weißen Magie: Er wurde immer wieder zu neuen Gelegenheiten hervorgeholt und wiederholt. Es gab nichts in diesem Studiengang, was an Aktualität verlor und als ‚begriffen und voll erfasst‘ in der Schublade ‚erledigt‘ abgelegt werden konnte. Denn es ging ja nicht um ein lediglich intellektuelles Studium. Es ging um das Erfassen der geistigen Wirklichkeiten. Jeder Text konnte gemäß der eigenen Entwicklung in einem völlig neuen Licht gesehen werden und einem bis dahin nicht aufgegangene Geheimnisse der Schöpfung offenbaren, auch wenn man ihn früher schon hundertmal gelesen hatte.

So freute sich Karol, mit diesem Auftrag gerade heute an den Anfang seiner Ausbildung zurückgeführt zu werden und sich seine Grundlagen ins Gedächtnis zu rufen. Es passte wieder einmal genau mit seiner inneren Situation zusammen, wie alles, was auf diesem Ausbildungsweg von außen auf ihn zukam.

Karol machte sich noch ein Lesezeichen bei den Seiten über „Die spirituelle Farbenlehre“ und legte sich schlafen.

Vadims Prüfung

Das Haus von Meister Mikhael war ein höchst auffälliges und außergewöhnliches Gebäude. Es handelte sich um eine vierkantige schwarzglänzende Pyramide von nicht weniger als vierzig Metern Höhe. Die Wohnung des Meisters lag in der Spitze. Ungefähr vier Meter unter dem Scheitelpunkt begann das Band von Fenstern, das sich rings um die Spitze zog. Hier wohnte der Meister mit einer spektakulären Panoramasicht über Baluga. Der obere Teil, der ohne Fenster war, beinhaltete noch einen Raum, der zum Gebet diente. Die unteren Bereiche der Pyramide, ebenfalls ohne Fenster, beinhalteten verschiedene Räume und Gänge für verschiedene Rituale und Einweihungen und geheime Treffen mit hochrangigen Magiern und Vertretern von Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Religion. Diese Räume bekamen Besucher normalerweise nicht zu sehen. Auch für Karol und seine Mitschüler sollte es an diesem Tag die erste Gelegenheit sein, einen dieser Räume einmal von innen zu sehen.

In der Wohnung des Meisters waren sie schon oft gewesen. Es war ein amüsanter Gegensatz zwischen dem abweisenden bombastischen Gebäude und der schlichten Einfachheit, mit der Meister Mikhael seinen Schülern jederzeit die Tür öffnete. Sofern er da war. Oft war nur sein Diener Lazlo da, der aber ebenso offen und schlicht den Schülern die Tür öffnete und Auskunft gab. Oft schon hatten die Schüler unangemeldet im Hause des Meisters geklingelt, um über den Dächern von Baluga bei Tee und Gebäck zu plaudern und einen geselligen Abend zu verbringen. Sie waren gerne zusammen und lachten gerne. Wie sollte man sonst mit all den ernsten Anforderungen des geistigen Weges zurechtkommen?

Es gab Gerüchte hinter vorgehaltener Hand, dass Meister Mikhael nicht nur mit den Großen dieser Welt verkehrte. Dass die obere Spitze der Pyramide dazu diente, mit den Außerirdischen zu kommunizieren und dass das Gängesystem der Pyramide bis tief unter die Erde reichte, und es von dort sogar einen direkten Zugang gab zu den Gängen, die durch die Erdkruste hindurch zum Erdinnern führen, zum sagenumwobenen Kontinent Agarthi.

Man hielt alles für möglich, aber keiner wusste etwas Genaues. Auch Lazlo gab nichts preis. Lazlo war überhaupt ein sehr schweigsamer Mensch. Er musste mehr wissen als die anderen, der er doch ständig im Hause des Meisters wohnte und sein ständiger nächster Diener war. Nur, von dem, was er wusste, erfuhr man nichts. Er schwieg. Vielleicht wusste er auch gar nichts. Man versuchte ihn scherzhaft mit einem anklopfenden Ellbogen zum Reden zu bringen, aber im Grunde wusste man, dass er nichts sagen würde, und so ließ man es dabei bewenden. Man hatte ihn gern in seiner Schlichtheit und Bescheidenheit. Lazlo war der perfekte Diener, stets im Hintergrund, immer diensteifrig. Er war relativ groß, aber schmal und unauffällig, hatte einen schmalen Mund und eine gebogene Nase. Eine mächtige Stirn unter dem korrekten Seitenscheitel verriet seine tiefen Gedanken. Große, aber meist demütig nach unten gewendete Augen verrieten seine tiefe Empfindsamkeit. Durch seine Position stand er etwas außerhalb der Schülerschar, war aber hochgeachtet, ohne jeden Neid. Denn Lazlo schien keine eigenen Ideen zu verwirklichen oder überhaupt zu haben. Er ermöglichte lediglich die Arbeit des Meisters und half so auch den Schülern auf dem Weg der Weißen Magie zu ihrer eigenen Mission zu finden. Alle waren sich dessen in Dankbarkeit bewusst.

Der Meister selber war ebenso ein sehr hagerer und drahtiger Typ, aber kleiner, eher noch etwas unter mittelgroß, schmal und flink in seinen Bewegungen wie ein junger Mann. Nur dass sein nach hinten gekämmtes dichtes Haar bereits schneeweiß war. Meist trug er einen korrekten silbergrauen Anzug mit rotem Schlips. Das war seine Arbeitskleidung, in der er sich am besten auf der Ebene seiner außerordentlichen Kontakte bewegen konnte. In seiner Jugend hatte er sein Geld mit technischen Patenten gemacht und war dann ins Immobiliengeschäft eingestiegen. Seine vielfältigen Erfindungen und geschäftlichen Kontakte waren legendär, aber was er derzeit außer der Leitung des Instituts eigentlich genau machte, wusste keiner. Brauchte ja auch keiner zu wissen.

Vielleicht Meister Boguslav. Vielleicht wusste er mehr. Er war ein ganz anderer Typ, ein kräftiger, rundlicher Mann mit einem mehr rundlichen Gesicht und vollen Lippen und einer nicht so spitzen, mehr fleischigen Nase. Meister Boguslav führte das Institut außerhalb der Stadt, nordwestlich von ihr. Das war der Stützpunkt, von dem aus es zu Exkursionen in die Natur ging, in das nahe gelegene bewaldete Mittelgebirge. Auch Karol war mit seiner Gruppe schon oft dort gewesen.

Unten vor Mikhaels Haus sammelten sich beide Gruppen, um gemeinsam um Einlass zu bitten. Lazlo begrüßte sie an der Gegensprechanlage und öffnete das Tor. Um zur Wohnung des Meisters zu gelangen, gab es zwei Wege: eine Treppe wie an einer Maya-Pyramide, oder ein daneben entlanglaufender gläserner Fahrstuhl. Normalerweise nahm Karol den Fahrstuhl. Da es aber so viele Schüler auf einmal waren, ging er mit denen, die die Treppe benutzten. Svetlana war mit in den Fahrstuhl eingestiegen. Svetlana war eine junge Schülerin aus der Gruppe von Meister Boguslav. Karol hatte sich schon sehr auf diesen Anlass gefreut, wo er sie einmal wiedersehen durfte. Nur Juri wusste bisher von seinen Gefühlen. Obwohl, wenn man auf den schmachtenden Blick achtete, den Karol dem Fahrstuhl hinterhersandte, musste einem eigentlich schon klar sein, dass er nicht der bequemen Fahrgelegenheit galt…

Karol hatte schon aufgeregt darauf hingefiebert, vor allen eine Rede halten zu dürfen. Auch Meister Mikhael würde unter seinen Zuhörern sein. Und Svetlana! Vor allem für sie hatte er sich an diesem Vormittag die Mühe gemacht, an seiner Rede zu arbeiten und an ihr endlos zu feilen, bis er zufrieden war. Svetlana war ein zierliches, stets heiteres Mädchen mit braunem gewellten Haar, lieblichen Gesichtszügen und dem glänzenden Rehblick aus großen Augen, der, wenn er Karol traf, ihn sofort verunsicherte, erröten ließ, erhitzte, verzauberte, so dass er alles andere vergaß. Seine verlorene Jugend würde ihn nicht mehr bekümmern, wenn ihre Liebe ihn erlöste.

Auf der Seite der Tür hatte die Schräge der Pyramide eine rechtwinklige Einkerbung, so dass ein Vorplatz entstand. Lazlo ließ alle hinein, und sie standen erst einmal abwartend im Salon mit der wunderbaren Panoramaaussicht auf die Stadt. Doch diesmal setzten sie sich nicht auf die weiße Sitzgarnitur oder nahmen Lazlo augenzwinkernd in der Küche die Teezubereitung ab, wie es Karol und Juri sonst gerne zu tun pflegten. Diesmal stand alles im Zeichen der bevorstehenden Zeremonie, und man stand etwas deplatziert herum, ohne viel zu sagen, wartend auf Meister Mikhael, der sie in den entsprechenden Saal im Innern der Pyramide geleiten würde.

Die Anspannung stand Vadim ins Gesicht geschrieben. Er war gefasst, aber deutlich ruhiger als sonst und konzentrierte sich offenbar auf seine bevorstehende Prüfung. Er war ein ganzes Stück größer und kräftiger als Karol, der noch ein kleines bisschen kleiner als Meister Mikhael war, wenn auch nicht ganz so hager wie dieser. Der dunkelhaarige Karol war der Typ zierlicher Magier, der nur mit seinen Geisteskräften wirkte, der Typ intellektuelle graue Maus, eine Leseratte, zwar durchtrainiert, aber körperlich völlig unauffällig und in den meisten Fällen unterlegen. Seine Stärken lagen auf dem Gebiet des Wissens und der philosophisch stringenten Denkweise. Der rotblonde Vadim dagegen war mehr der Abenteurer-Typ, einer, der zupacken konnte, einer, den man sich in einem Piratenfilm als Anführer vorstellen konnte. Er lebte draußen im Institut von Meister Boguslav mehr das naturverbundene Leben und studierte mehr die naturverbundenen Formen der Weißen Magie. Karol war mehr der Schöngeist und Philosoph.

Mikhael kam herein, wie Boguslav zu diesem Anlass in rituellem Ornat gewandet, fragte, ob alle bereit wären, und schob einen Vorhang beiseite, hinter dem eine Tür zum Vorschein kam, halb so breit wie eine gewöhnliche Tür, aber breit genug, um einen asketisch-schlanken Magier hindurch zu lassen. Nur Boguslav tat aus Schabernack so, als ob er nicht durch den Türrahmen passe, aber natürlich war das kein Problem. Direkt hinter dieser Tür führte eine schmale Treppe hinab, beleuchtet von Lampen, die aus türkisgrünen und rosa Kristallen bestanden. Die Treppe führte immer weiter abwärts, immer in die gleiche Richtung. Nur hin und wieder war sie von einem Podest unterbrochen, an dem zur linken Seite eine Tür abging, hinter der Stimmen zu hören waren. Offenbar tagten hier etliche Versammlungen.

Mehr als eine halbe Stunde schon waren sie so gegangen, sie mussten schon weit unter der Erdoberfläche sein, da kam wieder so ein Podest mit einer Tür, wo es jedoch vollkommen still war. Mikhael entriegelte das komplizierte Code-Schloss an der mächtigen verzierten Eichenholz-Tür und öffnete sie. Mit dem Eintreten der Gruppen gingen automatisch etliche in die Wand eingelassene Kristalllampen in dem großen Saal an. Es eröffnete sich ihnen eine Art Hörsaal oder Amphitheater.

In aufsteigenden Halbkreisen waren die Bänke mit Tischen angeordnet rings um eine Bühne mit einem fantastischen Aufbau. Es handelte sich um einen Parcours aus einem schmalen gewundenen Bretterpfad aus Stelzen, etwa 1½ Meter über dem Boden. Rings um den Bretterpfad gab es einzelne Felder mit nach oben gerichteten Messern oder scharfen Bambusspießen und auch auf dem Bretterpfad gab es solche Abschnitte. Es gab dort Abschnitte mit Glasscherben, es stand ein Terrarium mit einem Skorpion und eines mit giftigen Schlangen mitten auf dem Pfad, und der Pfad war an einer Stelle einfach unterbrochen, es fehlte mittendrin ein guter Meter.

Alle wussten, was das bedeutete. Vadim hatte sich als Abschlussprüfung etwas ganz besonders Schweres und Gefährliches ausgewählt: mit verbundenen Augen, barfuß, allein mit den Gaben seiner Intuition und seiner astralen Wahrnehmungen diesen Parcours zu bewältigen. Karol war froh, nicht in Vadims Haut zu stecken. Er empfand diese Aufgabe als viel zu verwegen und hoffte ehrlich für Vadim, dass er sie sich nicht ausgewählt hatte, um vor den anderen zu glänzen. Denn diese Motivation, das war klar, war diejenige, die am sichersten zum Scheitern führen musste. Nur mit einer nach innen gerichteten Aufmerksamkeit, voll auf die feinen Impulse des Geistes konzentriert, war es möglich, in jeder Situation seine Schritte sicher zu lenken.

Vadim hatte sich bereits draußen die Augen verbinden lassen, um den Parcours nicht vorher zu sehen, und betrat von zwei Schülern geleitet den Saal. Die Gruppe von Meister Boguslav hatte nahe an der Bühne Platz genommen, die andere weiter oben. Es fiel dem ganz oben sitzenden Karol schwer, den Blick von Svetlana zu wenden. Boguslav übernahm die Begrüßung, fragte Vadim, ob er bereit sei, und bat um absolute Stille. Die guten unterstützenden Gedanken aller Anwesenden waren ein wichtiger Beitrag zum Gelingen.

Karol konnte es nicht fassen. Ja, er wollte wirken, aber so weit wie Vadim, der ja bis dahin auch nur ein Schüler war, fühlte er sich nicht. Vadim ließ sich ruhig und gefasst zum Anfang des Parcours führen, aber Karols Reaktion im Innern war ‚Halt!‘ zu rufen, bevor es zu spät war! Wäre er an Vadims Stelle gewesen, hätte er abgebrochen. Vadim lief in sein Verderben! Und alle sahen zu! Karols positives Denken wurde auf eine harte Probe gestellt. Er rief sich in Erinnerung, dass es ja seine Aufgabe war, ein glückliches Gelingen zu visualisieren, und beherrschte sich. Aber als Vadim mit mehrfach verbundenen Augen völlig blind begann, vermochte er kaum hinzuschauen.

Vadim streckte die offenen Handflächen nach vorne wie Antennen. Seine Schritte lenkte er traumwandlerisch sicher über den mehrfach geschlungenen schmalen Pfad. Als er mit seinen Zehen die Lücke ertastete, hielt er inne. Er richtete seine Aufmerksamkeit nach unten, wo nach oben gerichtete Messer standen. Dann lenkte er seine Aufmerksamkeit nach vorne. Die Fortsetzung des Pfades stand im rechten Winkel zum bisherigen Weg. Das heißt, er durfte weder zu kurz noch zu weit springen, sonst würde er ein Opfer der Messer werden. Vorsichtig tastend ging er ein paar Schritte zurück, hielt einen Moment inne, nahm Anlauf und sprang. Er landete tief gebückt, mit weit abgespreizten balancierenden Armen, aber völlig sicher auf dem schmalen Brett.

Über eine präzise intuitive Wahrnehmung zu verfügen, war das eine, aber diese auch in höchst dynamische Bewegung umzusetzen, überstieg Karols Vorstellungsvermögen. Von da an empfand er tiefe Ehrfurcht vor Vadims Fähigkeiten.

Vadim gelangte zu dem Terrarium mit dem Skorpion, das auf dem Bretterpfad stand. Er sondierte die Lage und ging wieder ein paar Schritte zurück, um Anlauf zu nehmen. Das Publikum erstarrte vor Entsetzen, denn direkt hinter dem Terrarium waren auf dem Pfad nach oben gerichtete Bambusspieße. Würde er springen, würde es in einer Katastrophe enden. Keiner vermochte einen Laut hervorzubringen, vielleicht auch, weil Vadim zu schnell reagierte. Er spannte sich kurz an, um Anlauf zu nehmen, aber im gleichen Atemzug stutzte er und entspannte seinen Körper wieder. Er richtete sich auf, näherte sich abermals dem nach oben offenen Glaskasten, blieb vor ihm stehen, und war sich offenbar unschlüssig, was er tun sollte. Er bewegte seine nach vorn gerichteten Handflächen und blieb mehrere Minuten so stehen. Dann faltete er seine Hände zusammen und schien im stillen Gebet versunken. Mit einem tiefen Einatmen löste er sich schließlich wieder aus seiner Gebetshaltung und setzte seinen nackten Fuß vorsichtig in den Sand im Glaskasten, neben dem Skorpion. Er balancierte, stützte sich mit dem anderen Fuß am Terrariumrand ab und führte ihn dann hinter das Terrarium, wo er die Bambusspitzen ertastete. Vorsichtig setzte er seinen Fuß zwischen sie, wo gerade genug Platz zum Auftreten war.

So meisterte Vadim alle Schwierigkeiten. Am Ende des Parcours erfasste er die Situation ebenso souverän, indem er sich rückwärts mit ausgebreiteten Armen auf einen bereitliegenden Matratzenstapel fallen ließ. Die Versammlung jubelte und klatschte. „Vadim!“, rief Svetlana in diesem Augenblick, stürmte auf die Bühne, half ihm, sich von der Augenbinde zu befreien, umarmte ihn und gab ihm einen innigen Kuss. Karol fiel augenblicklich die Farbe aus dem Gesicht, nur Juri konnte es sehen.

Boguslav trat nach vorne und verkündete, „Die Prüfung ist bestanden!“. Er kündigte den Vortrag von Karol über das Wesen der Weißen Magie an, der Vadims Einweihungszeremonie einleiten sollte, und rief eine Pause aus.

Karol war nicht in der Lage, mit irgendjemandem ein Gespräch anzufangen. Zuviel war zu verarbeiten. Wie erloschen blieb er im Halbdunkel der oberen Ränge sitzen. Juri legte ihm kurz die Hand auf die Schulter und schenkte ihm einen warmen, freundschaftlichen Blick, ließ ihn aber sogleich in Ruhe. Karol musste versuchen, Ordnung in seine Gefühle zu bringen. Er freute sich zwar für Vadim, seinen Bruder auf dem Weg, doch seine Gefühle des Neides und der Eifersucht konnte er nicht unterdrücken. Warum musste es immer und immer im Leben so sein, dass er das Gefühl hatte ‚Die Post geht woanders ab‘? Entweder waren es die Weltmenschen, die den Glanz fanden, nach dem er sich sehnte, oder es waren sogar seine Brüder auf dem geistigen Weg! Es war der Glanz von Erfolg und Liebe, den er doch auch einmal in seinem Leben verspüren wollte. Er wusste, dieser Glanz war nicht das Ziel des Weges der Weißen Magie, aber diese Gefühle ließen sich nicht abstellen. Er wusste, die geistigen Erlebnisse und feinen Erkenntnisse, die er auf seinem Weg gefunden hatte, wollte er um nichts in der Welt eintauschen. Aber dennoch fehlte ihm der Glanz, der auf anderen Wegen scheinbar zu finden war. Erfolg und Liebe, das war es.

Ja, war es nicht der Kurs von Meister Boguslav, wo viel mehr die Post abging? Wo viel mehr Gemeinschaftsgefühl war? Nicht all diese verstiegenen Sonderlinge und verkrachten Existenzen wie im Kurs von Meister Mikhael! Nur langweilige Intellektuelle waren sie doch! Immer hatte Karol einen Widerwillen dagegen empfunden, wenn die magischen Fähigkeiten zur Schau gestellt wurden. Nun empfand er, dass es richtig war, dass es etwas Wunderbares war, wenn die zähe Arbeit an sich selbst auch einmal Form annahm, sich manifestierte, Früchte hervorbrachte, die sichtbar wurden! Und der Held des Tages war eindeutig Vadim! Vadim! Nicht er! Vadim! In jeder Hinsicht!

Er sollte nun diese schlaue Rede halten. Ja, er wusste, es war richtig, dass diese Rede gehalten wurde, es war wichtig, dass an diesem Markstein für Vadims Weg der Weißen Magie an ihr Wesen erinnert wurde – was sie sei und was sie nicht sei, was sie sein sollte und was sie nicht sein sollte, ihre Grundlagen. Es war ein Vertrauensbeweis von Meister Mikhael, dass er diese Rede nicht selbst hielt, sondern sie Karol übertragen hatte. Er fühlte sich dadurch in die Nähe der Meister gerückt. Aber er empfand all diese Weisheit plötzlich als so moralisch und staubtrocken. Der Held des Tages war eindeutig Vadim. Er hatte alles gewagt und alles gewonnen. Und Mikhael hatte Karol diesen staubtrockenen intellektuellen Auftrag gegeben. Lief seine Schule denn so gut wie die von Meister Boguslav? War sie nicht nur ein Auffangbecken für Versager wie ihn?

„Karol!“

Die sanfte Stimme von Meister Mikhael schreckte ihn aus seinen Überlegungen auf. Er stand direkt neben ihm.

„Bitte komm doch noch nach der Zeremonie zu mir, ich möchte mit dir sprechen.“

„Natürlich, Meister.“

„Und, mit dem Vortrag alles klar?“

„Selbstverständlich, Meister, ich habe mich gründlich vorbereitet.“

„Gut“, sagte Mikhael knapp und schritt schon wieder die Stufen hinunter. Karol sah ihm nach und schämte sich augenblicklich für seine abwertenden Empfindungen. Hatte ihn Meister Mikhael nicht immer auf seinem Weg begleitet? Hatte er nicht immer zu ihm gestanden, trotz seiner Schwächen und Fehler?

Er fühlte auf einmal eine Liebe, die er als viel, viel größer empfand als alle äußere Meisterschaft der Weißen Magie, als alle Kenntnisse und Fähigkeiten, die er je erworben hatte oder noch erwerben konnte. Er fühlte sich von Meister Mikhael bedingungslos angenommen, so wie er war. In dem Moment wurde es ihm bewusst, worin Meisterschaft wirklich bestand, und was Meister Mikhael eigentlich zu einem Meister machte. Es waren nicht sein Wissen und seine Fähigkeiten, nicht seine Errungenschaften und Kontakte, nicht seine Verdienste, die er sich im Himmel oder bei den Menschen erworben hatte: Es war seine bedingungslose Liebe.

Die kurze banale Begegnung mit Meister Mikhael hatte auf einen Schlag seine Gefühlswelt vollkommen verändert. Das Thema ‚Erfolg und Liebe einer Frau‘ war auf einmal kein wesentliches Problem mehr. Er hatte das tiefe Wissen wiedererlangt, dass das auch für ihn einmal bereitstünde, sobald es gut für seine Seele wäre. Aber jetzt konnte er Vadim den Glanz voll und ganz gönnen. Jetzt erst freute er sich wahrhaft mit ihm. Er wusste, dieser Rausch der bedingungslosen Liebe würde sicher nicht anhalten. Es würden sicher all die ichbezogenen Gedanken einmal wiederkommen, all die Sehnsüchte, all der Neid. Aber jetzt, jetzt hatte er keinen Wunsch, als dieser bedingungslosen Liebe in völliger Selbstverleugnung zu folgen. Ja, diese bedingungslose Liebe war das eigentliche Wesen der Weißen Magie. Er wusste es, nur würde er nicht darüber sprechen. Er würde sie mit keiner Silbe in seinem Vortrag erwähnen. Doch dieses Gefühl war es, das ihn durch diesen Vortrag tragen und ihm die Kraft dazu geben würde.

Er hatte ihn vor allem für Svetlana halten wollen. Nun hielt er ihn vor allem für Meister Mikhael. In tiefem Dank dafür, dass er in diesem Moment eine tiefe Einweihung erfahren hatte. Eine Einweihung, die völlig im Verborgenen lag, die aber der glanzvollen Einweihung Vadims in nichts nachstand.

Er fühlte sich in bedingungsloser Liebe angenommen.

Er hatte zum Frieden des Einheitsbewusstseins zurückgefunden.

Deshalb war es gut, wer er war.

Deshalb war es gut, was er war.

Deshalb war es gut, wo er stand.