Kastanienallee - Gerd Peter Währum - E-Book

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Gerd Peter Währum

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Beschreibung

Gerd Peter Währum wurde 1935 als Sohn eines Bauingenieurs in Gießen geboren und kam schon als Zweijähriger nach Kiel, weil sein Vater bei der damaligen zivilen Kriegsmarine Arbeit fand. Der Autor ist verheiratet, hat zwei erwachsene Söhne und lebt immer noch in der Nähe der Landeshauptstadt. Der Autor beschreibt in seinem Roman eine Familie, die während des 2. Weltkrieges in unmittelbarer Nähe eines Gutes lebt. Der Gutsbesitzer behandelt nicht nur sie, sondern alle, die für ihn arbeiten, wie seine Leibeigenen. Als Mitglied der SA findet er dabei die Unterstützung der Nazis. Aber der Sohn der Familie weiß, sich gegen diesen Despoten zu wehren. Er muss dabei einen schweren Weg gehen. Fleiß und Begabung bringen ihn dabei auf eine Idee, die seinem Leben eine glückliche und erfolgreiche Wendung geben. Der Autor wuchs während des Krieges auf und hat einiges, was er selbst erlebte und was ihm sein um zehn Jahre älterer Bruder erzählte, in seinen Roman mit einfließen lassen.

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Inhaltsverzeichnis

Wie alles begann

Kastanienallee

Wie alles begann

Manaus.- Oft denke ich an Manaus. In den 60er Jahren für mich eine geheimnisvolle Stadt.

Genau wie vor über dreißig Jahren liege ich jetzt im Schaukelstuhl vor dem Kamin in meinem Haus, damals auf der Veranda von Don Alfredo.

Wie es dazu kam?

Mit 25 Jahren stand ich kurz vor meinem Examen für Anglistik und hatte außerdem einige Semester Französisch und Spanisch studiert, als ich in der Zeitung eine kleine Anzeige des überregionalen Blattes las: „Volontär gesucht.“ Sofort machte ich mich auf den Weg zur Redaktion; denn mir war das Geld ausgegangen, und ich hatte Schulden bei Karin, meiner Freundin.

Ungestüm trat ich in die Redaktion, stellte mich vor und fragte gleich nach dem Chefredakteur. Ich war sehr aufgeregt und sagte, ich hätte ihm etwas Wichtiges mitzuteilen. Man komplimentierte mich erst einmal in ein Zimmer, mit der Bitte, einen Augenblick zu warten, ich würde gleich vorgelassen. Schon nach 10 Minuten verließ ich ungeduldig den Raum und lief unbemerkt den schmalen Gang mit den zahlreichen Türen links und rechts entlang und fand endlich, was ich suchte, eine mit dem Namensschild „Dr. Manfred Schröder.“ Ich klopfte. Ein energisches „Herein“ war die Antwort. „Mein Name ist Sebastian Schneider, und ich möchte am liebsten heute noch bei ihnen als Volontär anfangen,“ sagte ich und legte ihm gleichzeitig meine Papiere auf den Schreibtisch. „Wer schickt Sie?“ „Sozusagen ich selbst,“ entgegnete ich und fuhr fort: „Ich wollte ihre Mitarbeiter nicht bei der Arbeit stören.“

Dr. Schröder schüttelte mit leicht geöffnetem Mund den Kopf und sagte kurz: „Nehmen Sie Platz.“ Er studierte eingehend meine Zeugnisse und Scheine, während ich ihm dabei meinen Lebenslauf schilderte. Ab und zu holte er mit dem Zeigefinger etwas Spucke von seiner wulstigen Lippe, um die Seiten meiner Unterlagen zu wenden. Dann telefonierte er: „Machen Sie einen Anstellungsvertrag für Herrn Sebastian Schneider fertig. Er kommt gleich zu Ihnen.“

Ich hatte während meiner Studienzeit oft Jobs annehmen müssen, jedoch so schnell ging es bei keiner Vorstellung. Später, nach Jahren, als ich mich mit Dr. Schröder anfreundete, und wir uns duzten, meinte er zu unserer ersten Begegnung: „Diese Chance, einen so stürmischen und frechen Kerl einzustellen, wollte ich mir nicht entgehen lassen.“

Schon am nächsten Morgen saß ich auf dem Sozius einer Vespa und hielt mich krampfhaft an meinem Kollegen fest, um mich auch gleichzeitig zu wärmen, denn es war für die Jahreszeit viel zu kalt. Ich trug leichte Kleidung und ahnte nicht, dass so mein erster Tag beginnen würde.

Wir fuhren über Land und erreichten nach einer halben Stunde ein in der Nacht niedergebranntes Gehöft. Zahlreiche Gaffer standen herum; und die Feuerwehr war gerade im Begriff, ihre Löschfahrzeuge abzuziehen, ließ jedoch eine Wache, bestehend aus zwei Uniformierten, zurück. Mein Partner hielt ihnen seinen Presseausweis vor die Nase und stellte zugleich den beiden Fragen. Sie gaben bereitwillig Auskunft, war es doch für die freiwillige Wehr vor Ort, so berichteten sie, seit einem Jahr ihr erster Einsatz und damit auch ihr erstes Interview. Sie fühlten sich geschmeichelt.

Nach zehn Minuten preschten wir davon und hielten an der nächsten Telefonzelle. Dort gab Walter, so hieß mein Partner, seinen Bericht an die Redaktion weiter mit dem Hinweis, die Fotos dazu würde er später vorbeibringen. Wir erhielten sofort einen neuen Auftrag und fuhren zurück in die Stadt.

Dort in einem Mietshaus, umstellt von Polizisten, fand gerade ein Familiendrama statt. Keiner durfte in das Gebäude, weder hinein noch heraus. Aber Walter kannte die Beamten, einen sogar beim Vornamen, wechselte ein paar Worte mit ihm, packte mich am Ärmel und schon stiegen wir die Treppe des verwahrlosten Hauses empor. Der Polizist rief uns noch nach: „Keine Photos!“

In der Küche der Wohnung erwartete mich zum ersten Mal die brutale Wirklichkeit eines angehenden Reporters: Eine Frau mittleren Alters lag tot mit dem Rücken auf dem schmutzigen Terrazzoboden. Ihr Gesicht war zu einer brutalen Fratze entstellt. Sie trug eine Schürze, darunter eine kurzärmlige Bluse, die ihre wohlgeformten Arme freiließen. Der Oberkörper der Toten war mit Blut getränkt. Zwei in weiß gekleidete Beamte der Spurensicherung, mit Mundschutz und Latex-Handschuhen versehen, versuchten akribisch den Tathergang zu rekonstruieren.

Auf dem Flur saß zusammengesunken eine alte Frau, vielleicht die Mutter der Toten, wortlos und still, das Gesicht hinter den Händen verborgen und hielt, wie mir schien, die Totenwache. Ich trat einige Schritte zurück.

Als meine Großmutter starb, erinnerte ich mich in diesem Moment, lag sie friedlich wie eine Schlafende in ihrem Bett. So ein Anblick wie jetzt, so grauenvoll, war mir bisher in meinem jungen Leben erspart geblieben. Während sich Walter eifrig Notizen machte, zu denen ich nicht fähig gewesen wäre, ging ich langsam ins Treppenhaus.

Vier Wochen lang fuhr ich nun schon mit Walter durch die Gegend, von Ereignis zu Ereignis, von Sensation zu Sensation und kam mir vor wie Egon Erwin Kisch, dem rasenden Reporter. Walter erhielt von unserem Chef die Order, mich überall mitzunehmen: etwa zur Hochzeit eines Prominenten, oder wir hörten uns die Rede eines Politikers an - stets begleitete ich ihn. So war es nicht verwunderlich, wenn ich auch nachts das näselnde Gehupe seines Motorrollers hörte. Reagierte ich nicht sogleich und schaltete das Licht nicht an, klopfte er ans Fenster meines Zimmers, das im Erdgeschoss auf der Rückseite der Straße lag. Ich zog mich schnell an und kletterte durch das geöffnete Fenster auf den Garagenhof. Wir fuhren durch die Einfahrt davon.

Walter, kaum zehn Jahre älter als ich, musste heiraten, wie er mir vertraulich sagte, denn damals bezeichnete man das Zusammenleben eines Paares ohne Trauschein als „wilde Ehe,“ außerdem war ein Kind unterwegs. „Drei Kinder, alles Mädchen, in nur drei Jahren, das mach' mir mal nach!“, rief er mir stolz während der Fahrt zum nächsten Termin zu.

In dieser Zeit war es nicht leicht für einen Lokalreporter, finanziell über die Runden zu kommen. Ich wusste, er erhielt außer einem kleinen Fixum pro veröffentlichte Zeile nur sechs Pfennige. Hinzu kam, dass seine Berichte oft gekürzt gedruckt wurden. Da half ihm auch kein Fluchen. Enttäuscht nahm er sich für zwei Tage eine Auszeit und widmete sich ganz seiner Familie. Er überließ mir seinen Motorroller und Photoapparat, und ich versuchte, das von ihm Erlernte in die Praxis umzusetzen.

Aus meiner jetzigen Sicht recht stümperhaft. Trotzdem geschah etwas, womit ich damals nicht rechnete: Karin lud mich zu einer Opernaufführung ein, und in der Pause begegnete uns plötzlich mein Chefredakteur mit seiner Frau. Nachdem wir uns begrüßt, uns vorgestellt und ein paar belanglose Worte gewechselten hatten, sagte er zu mir: „Kommen Sie morgen früh in mein Büro, ich habe eine neue Aufgabe für Sie.“

„Ich wusste gar nicht, dass Sie sich für klassische Musik begeistern.“ Mit diesen Worten empfing er mich am nächsten Tag. Bei meiner Vorstellung hatte ich nämlich als Hobby den Jazz angegeben. „Ich interessiere mich für alle Musikrichtungen und ganz besonders natürlich für den Jazz,“ entgegnete ich und setzte mich unaufgefordert auf einen Stuhl. Karin hatte ich es zu verdanken, dass er mich für einen Schöngeist hielt, denn meine Ambitionen für die Klassik waren in meinen jungen Jahren sehr gering, noch nicht ausgereift.

„Sie wissen sicherlich von der Gefangenenmeuterei in einem Gefängnis in der Hafenstadt Marseille,“ fuhr er fort, „da unser Korrespondent in Paris erkrankt ist, und Sie die französische Sprache beherrschen, dachte ich sofort an Sie. Wir benötigen für die Wochenendausgabe einen Knüller, einen Aufhänger. Dort im Gefängnis sollen besonders viele Algerier inhaftiert sein. Da Sie im lokalen Bereich schon gute Arbeit leisteten - ich registriere täglich alles genau - bin ich überzeugt, Sie werden auch in diesem Fall mich nicht enttäuschen.“

Ich sagte daraufhin dreimal ja vor Begeisterung, obwohl ich bisher noch nichts von diesem Fall gehört hatte

„Dass Sie klamm bei Kasse sind, kann ich verstehen. Lassen Sie sich einen Vorschuss geben, und nehmen Sie das nächste Flugzeug.“ So verabschiedete er mich.

Nach einem Zwischenstopp in Paris landete ich zwei Tage später auf dem Marseiller Flughafen und stieg sofort in ein Taxi. „ Bitte zum Gefängnis,“ sagte ich etwas unsicher, denn bis dahin wusste ich nicht einmal den Namen der Haftanstalt. “O, Monsieur, da wollen Sie hin!“ Dann murmelte er leise vor sich hin: „Im Gefängnis Les Baumettes gab es vor einigen Tagen viele Tote. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen.“

Vor einer haushohen, aus Natursteinen erbauten Gefängnismauer stieg ich aus. Oberhalb dieser Mauer glotzten mich aus Stein gehauene Fratzen an. Sie stellten die sieben Todsünden dar: Habgier, Neid, Völlerei, Hochmut, Jähzorn, Wollust und Trägheit. Ich schritt die mir endlos erscheinende Mauer ab. Was verbarg sich dahinter? Erstaunt und etwas ängstlich erreichte ich nach etwa zehn Minuten das Eingangstor.

Der Taxifahrer war mir langsam mit seinem Wagen gefolgt. Ich erzählte ihm nämlich während der Fahrt, ich beabsichtige, Gefangene und deren Wärter zu interviewen. Offenbar ahnte er, dass das wohl so kurz nach den Krawallen nicht möglich wäre, deshalb hoffte er, mich wieder in die Stadt bringen zu können.

Ich klopfte an die Tür, die im Gefängnistor eingelassen war. Ein kleiner Sehschlitz öffnete sich, und nachdem man offensichtlich festgestellt hatte, dass nur ein harmloser Passant vor der Tür stand, knarrte die Tür einen Spalt auf. Ein Mann, zwei Köpfe größer als ich, starrte mich an. Ich hielt ihm meinen Presseausweis vor die Nase und sagte ihm gleichzeitig, ich wünschte eine Unterredung mit der Gefängnisleitung und einigen Inhaftierten. Er schüttelte den Kopf und wollte gleichzeitig die Tür wieder schließen, aber ich drückte mit der Hand gegen diese, und verlangte seinen Vorgesetzten zu sprechen. Er schloss die Tür, und ich wartete. Dann nach zehn Minuten öffnete sich wieder für einen Moment der Sehschlitz. Es geschah jedoch nichts. Fünf Minuten vergingen, dann endlich trat ein älterer Mann aus der Tür, der offensichtlich der Leiter der Wache war, und erklärte mir beschwichtigend, dass wegen der vorangegangenen Ereignisse zurzeit keiner Zutritt erhielte.

Welch eine Blamage! Sollte ich unverrichtet ohne Reportage wieder nach Hause fahren? Enttäuscht begab ich mich zum Taxi.

Gerade wollte ich einsteigen, da sah ich eine alte Frau langsam in Richtung Gefängnistor gehen. Sie trug in der Hand einen Henkelkorb, klopfte an die Tür, die sich sofort öffnete. Eine Hand kam zum Vorschein, packte den Korb, und nachdem er verschwand, schlug die Tür heftig zu. Ich bat den Taxifahrer, noch einen Augenblick zu warten und ging rasch auf die Alte zu. Nachdem ich sie nach ihrem Tun fragte, erklärte sie mir mit brüchiger Stimme: „Meinen jüngster Sohn, Jean, sperrten sie vor über einem Monat hier ein. Er ist unschuldig, und weil ich ihn nicht besuchen darf, brachte ich ihm etwas Essen. Ich hoffe, er bekommt es auch, denn alle sind hier korrupt, eine schlimme Bande..........“

Sie hörte gar nicht mehr auf, mir ihr Leid zu klagen. Dabei sprach sie Französisch mit arabischem Akzent und war kaum zu verstehen. Ich sagte ihr, ich sei Reporter, würde für eine Zeitung schreiben und mich für alles, was im Gefängnis passiert, interessierten.

Sie stammte aus Algerien und lebte jetzt mit ihrem älteren Sohn Paul in einem vom Gefängnis weit entlegenen Quartier. Auffällig, sie war von Kopf bis Fuß trotz der hier schon sommerlichen Hitze schwarz gekleidet. Wie ich später erfuhr, war ihr Mann, ein gebürtiger Franzose, erst kürzlich verstorben.

Sie hatte einen weiten Fußmarsch hinter sich, und daher bot ich ihr an, sie mit dem Taxi nach Hause zu fahren, was sie gerne annahm. Während der Fahrt hoffte ich, Näheres über Les Baumettes zu erfahren. Aber sie verwies mich an ihren Sohn Paul, der zur Zeit arbeitslos, im vergangenen Jahr auch inhaftiert war, und die Zustände bestens kannte.

Der Fahrer hielt vor einem armseligen, zweistöckigen Haus; und Paul, der vor der Tür stand, während ich den Taxifahrer entlohnte, umarmte herzlich seine Mutter. Wir machten uns bekannt, und ich sagte ihm, ich würde für eine deutsche Zeitung schreiben, und es vielleicht nützlich sein könnte, wenn alle von den Zuständen im Gefängnis erführen. Deshalb bat ich ihn zu berichten, was er dort erlebte. Er schilderte mir Einzelheiten, während ich alles zu Papier brachte. Ich muss sagen, die Grausamkeiten gingen weit über meine Vorstellungen hinaus: Er sprach von überbelegten Zellen, schweren Misshandlungen von Seiten der Wärter und auch zwischen den einzelnen Inhaftierten, denn es bildeten sich Gangs, die sich bekriegten. Es galt das Faustrecht, und die schon unzureichende Verpflegung nahm man den Schwächeren ab. Die mangelhaften hygienischen Verhältnisse trugen dazu bei, dass die Krankheitsrate sehr hoch war. Selbstmorde oder solche, die so ausgelegt wurden und in Wirklichkeit von Kämpfen der rivalisierenden Gruppen herrührten, konnten oder wollten die Wärter nicht verhindern.

Paul, ausgezehrt, barfuß, nur mit einem verschwitzten T-Shirt und kaputten Jeans bekleidet, führte mich in einen Raum, der sowohl als Küche als auch Schlafraum diente und bat mich, auf einem Hocker Platz zu nehmen. Ganz willkürlich, nach seiner Aussage, hielt man ihn gefangen, und ohne dass es überhaupt zu einer Anklage kam, hatte man ihn in der vergangenen Woche wieder freigelassen. Aus diesem Grund hofften auch die beiden täglich auf Jeans Entlassung.

Die Mutter schenkte mir ein Glas Rotwein ein, und nachdem ich es ausgetrunken hatte, fragte ich Paul, ob ich mit ihm ein paar Fotos vor der Gefängnismauer machen könnte. Er war jedoch nicht dazu zubewegen, aus Angst, sie würden ihn ein zweites Mal einsperren.

Darauf lud ich sie zum Mittagessen in ein Bistro ein. Die Mutter, ich fühlte es, wollte lieber auf ihren Sohn Jean warten. Sie schlug die Einladung aus, aber Paul nahm sie freudig an. Er führte mich durch verwinkelte Gassen, und ich verlor vollends die Orientierung. Endlich erreichten wir eine kleine, gepflegte Gaststätte mit typisch französischer Küche. Lange saßen wir zusammen, er erzählte aus seinem Leben. Auch ich berichtete ihm von meiner Tätigkeit in Deutschland, und wie sehr ich mir in meinem Beruf wünschte, in Zukunft erfolgreich zu sein. Dann sagte ich: „Für mich ist es ein Glücksfall, über dein Schicksal zu schreiben, und ich hoffe, dass die Leser wachgerüttelt werden, wenn sie von den Zuständen im Gefängnis und von der willkürlichen Justiz erfahren.“

Nach einigen Gläsern Calvados erklärte sich Paul endlich doch bereit, mit mir zum Gefängnis zu fahren. Wir stellten uns vor die Gefängnismauer. Während ich unbefangen versuchte, Paul in ein Gespräch zu verwickeln, blickte er ängstlich nach allen Seiten, als fürchtete er wieder eingesperrt zu werden. Trotz seiner Unruhe gelangen mir zehn Aufnahmen vom gleichen Motiv. Ich hatte meinen Photoapparat auf das Stativ befestigt und jeweils den Selbstauslöser gedrückt.

Danach stiegen wir wieder ins Taxi. Ich brachte ihn nach Hause, verabschiedete mich und fuhr dann direkt zum Flughafen, wo ich sofort eine Maschine nach Paris bekam. Dort musste ich allerdings mehrere Stunden warten, bis der nächste Flieger nach Deutschland startete. Während des Fluges schrieb ich meinen Bericht, den ich dann, zu Hause weit nach Mitternacht angekommen, mit dem Film sofort in der Redaktion abgab. Erschöpft von dem Erlebten und der Reise legte ich mich sogleich ins Bett und schlief ohne Unterbrechung bis zum frühen Nachmittag.

Das folgende Wochenende widmete ich ausschließlich meiner Freundin Karin, die mir die Sonnabendausgabe der Zeitung mitbrachte. In der Rubrik „Auslandsjournal“ fand ich den Erlebnisbericht, zu meinem Erstaunen in ungekürzter Form, wieder. Abgebildet auch eines meiner Photos und darunter las ich: „Unser Korrespondent im Gespräch mit einem Inhaftierten an der Gefängnismauer der gefürchteten Justizanstalt Les Baumettes in Marseille.“ Meine Story trug den Titel: „Lieber tot als eingesperrt in Marseille.“ Ich schrieb von einem ehemaligen Häftling. Um das Ganze spektakulärer auf die Leser wirken zu lassen, wurde das Wort „ehemalig“ von der Redaktion weggelassen.

Endlich wollte ich einmal richtig ausschlafen, und deshalb nahm ich mir vor, zum Wochenbeginn den Vormittag im Bett zu verbringen. Nach meinem strapaziösen Auslandseinsatz müsste auch meine Redaktion dafür Verständnis zeigen.

Im Unterbewusstsein vernahm ich ein Klopfen an der Tür zu meinem Zimmer, erst zaghaft, dann immer schneller und lauter. Ich drehte mich auf die andere Seite und wollte schon weiter schlafen, als ich unsanft von meiner Wirtin an der Schulter gänzlich wachgerüttelt wurde. „Ein Herr Dr. Schröder ist am Apparat und will Sie unbedingt sprechen. Es ist dringend,“ fügte sie noch hinzu, während ich schon längst auf dem Weg zum Telefon war. Nachdem ich mich meldete, hörte ich nur einen Satz: „Ich habe für Sie einen Knüller, kommen Sie sofort, denn ich muss in einer Stunde das Haus verlassen.“

Schnell zog ich mich an und eilte ohne Frühstück, ungewaschen und unrasiert zur nächsten Trambahnhaltestelle. Dr. Schröder empfing mich mit einem strahlenden Lächeln. „Sie haben meine Erwartungen bei weitem übertroffen und eine ausgezeichnete Reportage abgeliefert. Gratuliere!“ Ohne, dass ich zu Wort kam, wechselte er zugleich das Thema: „Ehe es noch weiter publik wird, möchte ich, dass Sie so schnell wie möglich in Erfahrung bringen, was es mit der Umweltkatastrophe in Brasilien auf sich hat. Dort sind nämlich in einem Nebenfluss des Rio Negro Fischschwärme verendet. Dadurch wurde die Lebensgrundlage der Fischer, angeblich durch ein in Deutschland hergestelltes Pestizid, vernichtet. Sie fliegen also morgen mit dem nächsten Flugzeug nach Rio de Janeiro. Holen Sie sich jetzt gleich das Flugticket und ihr Visum bei meiner Sekretärin ab. Es ist alles vorbereitet. Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen dieser Mission.“ Dann stand er auf, gab mir die Hand und drehte sich zur Tür.

Während ich für einen Augenblick wie versteinert vor seinem Schreibtisch sitzen blieb, verließ er fluchtartig sein Arbeitszimmer. Er hatte mich derart überrumpelt, dass ich in seiner Gegenwart zu keinem Gedanken, geschweige Wort fähig war. Und plötzlich sein schneller Abgang, keine weitere Erklärung von ihm, keine Frage meinerseits konnte ich stellen! Jetzt fielen mir Fragen über Fragen ein, denn es war ja keine Reise zu meiner Großmutter ins nächste Dorf.

Bisher hatte ich von diesem Unglück noch nichts gehört. Daher beschloss ich einige Zeitungen zu kaufen, um Näheres zu erfahren. Als ich meine Reiseunterlagen abholte, fragte ich die Sekretärin, warum sie nicht gleich ein Flugticket nach Manaus geordert habe, denn das war der Ort, welcher der Umweltkatastrophe am nächsten lag, sie sagte mir, dass Manaus keinen Flughafen besitze. In der Tat verfügte die Stadt ihn damals noch nicht, aber dafür schon einen imposanten Hafen, in dem die größten Schiffe anlegten.

Zu Hause angekommen packte ich sogleich wieder den Koffer und stellte danach in meinem Schulatlas fest, dass die Entfernung zwischen Rio de Janeiro und Manaus ca. 2500km Luftlinie betrug. Auf welchem Weg sollte ich dorthin gelangen?

Am nächsten Morgen durchblätterte ich vor dem Abflug noch einige Zeitungen und las in einer - fast hätte ich es übersehen - ein paar Zeilen über das Unglück, dem man anscheinend in Europa keine große Bedeutung beimaß. Zu weit entfernt lag Brasilien.

Als ich in Rio de Janeiro landete, hatte ich mit Zwischenstopp in London eine angenehme Flugreise ohne Turbolenzen hinter mir. Geschäftiges Treiben empfing mich, alle waren laut, das Abfertigungspersonal am Terminal, die Polizisten an den Einund Ausgängen, die Passanten und Taxifahrer und vor allen Dingen die zahlreichen Händler, die mich umringten und mir aufdringlich irgendwelchen Tand verkaufen wollten. Auf den Straßen und Plätzen herrschte überall trotz der späten Stunde ein quirliges Treiben. Es wurde vorwiegend portugiesisch mit einem brasilianischen Akzent und so schnell und undeutlich gesprochen, dass ich kein Wort verstand und eingestand, dass meine Spanisch - Kenntnisse mir nicht viel nutzten.

An einem Taxistand, an dem sich mehrere Fahrer lebhaft unterhielten, versuchte ich mein Glück. Sie begriffen schnell, ich wollte nach Manaus, und einer führte mich darauf in eine gegenüberliegende Kneipe. Dort saß allein an einem Tisch ein Mann mittleren Alters. Ich stellte mich vor, und er entgegnete kurz: „David.“ Er sprach seinen Namen auf Englisch aus. Danach forderte er mich auf, Platz zu nehmen, indem er einen Stuhl mit dem Fuß zu mir schob. Bei einem Bier, vielleicht waren es auch mehrere, kamen wir ins Gespräch. Zunächst blieb er allerdings sehr wortkarg und antwortete auf meine Fragen nur mit yes oder no. Doch bald löste der Alkohol seine Zunge, das heißt, er wurde gesprächiger. Er betrieb mit seinem eigenen Flugzeug einen Kurierdienst und bot mir an, gegen nach meiner Ansicht geringem Preis, schon am nächsten Morgen mich nach Manaus mitzunehmen. Allerdings auf meine Frage, was er mit dem Flugzeug transportierte, wich er aus und lächelte nur verschmitzt, als wolle er sagen, du Greenhorn, du bist mir viel zu neugierig. Von der Umweltkatastrophe hatte er bisher noch nichts gehört, was ich ihm auch glaubte. Allerdings gab er mir einen wertvollen Tipp: „Wenn du was wissen willst, wende dich an Don Alfredo, ein einflussreicher und wohlhabender Mann in der Stadt.“ „Und wo finde ich ihn?“ „Frage irgendeinen in Manaus, und er wird dich zu ihm führen,“ antwortete David. Zum Schluss unseres Gespräches verließ er für kurze Zeit unseren Tisch, um angeblich mit dem Wetterdienst zu telefonieren. „Morgen herrscht gutes Flugwetter,“ sagte er, als er zurückkam. „Wir werden pünktlich um 6 Uhr starten. Übrigens, der Wirt vermietet Zimmer, du kannst hier in der ersten Etage übernachten. Ich werde dich um fünf wecken.“ Dann drehte er sich um und ging ohne ein Wort des Abschieds. Ich rief ihm noch „gute Nacht“ hinterher, ehe er verschwand. Mir war nicht entgangen, dass er, bevor er telefonierte, ein paar Worte mit dem Wirt wechselte. Dabei musste es sich um ein ernstes Problem handeln, das jedenfalls verrieten ihre finsteren Mienen.

Heftig klopfte es am nächsten Morgen an meine Zimmertür und danach entfernten sich polternde Schritte. Das konnte nur David sein. Ich hatte mir seine schwere Gangart gemerkt.

Im Gastraum traf ich ihn mit dem Wirt, der damit beschäftigt war, etliche Pakete in verschiedenen Größen, alle mit dem selben Nachnamen, aber verschiedenen Vornamen versehen, was mich verwunderte, draußen auf einen Leiterwagen zu packen. Er schob ihn vor sich her, als wir zu dritt zum Flughafen marschierten. Dort angekommen, kaufte ich mir schnell noch etwas zu essen, denn ein Frühstück blieb mir in der Kneipe versagt, weil David mich zur Eile antrieb. Etwas abseits vom eigentlichen Flughafen befand sich ein kleiner Hangar, der ausschließlich Sportflugzeugen vorbehalten war, mit einem riesigen Rolltor, das sich auf Knopfdruck Davids öffnete. Er bestieg sogleich eines der Flugzeuge und öffnete die Kanzel. Der Wirt reichte ihm die Pakete, die David sorgfältig verstaute und dann mich aufforderte, auf einem der zwei Sitze Platz zu nehmen. Danach fuhren wir aus der Halle, und David begann damit, die Maschine zu checken. Es musste wohl alles in Ordnung sein, denn danach rollten wir Richtung Startbahn. Problemlos verlief der Start. Ich saß, wie ich später vom wortkargen David erfuhr, in einer „Cessna 172“, Baujahr 1958 mit einer Reisegeschwindigkeit von ca. 160km/h. Er wollte bis zum späten Abend eine Roll- und Landebahn, mitten im Mato Grosso gelegen, anfliegen, um dort zu tanken und zu übernachten.

David fand den Weg nur nach dem Stand der Sonne und der Landschaft. Er brauchte keinen Kompass. Auch als wir das grüne Meer des Urwaldes erreichten, und es für mich keinerlei Orientierungshilfe gab, die Sonne schon fast unterging, grenzte es für mich wie an ein Wunder, als plötzlich ein schmaler, brauner Streifen vor uns auftauchte. Immer näher kommend, entpuppte er sich als Landebahn. Oh, diese Enge! Die Tragflächen unseres Flugzeuges drohten die Zweige der Urwaldriesen zu berühren. Wie eine von einem Auto auf der Straße aufgescheuchte Krähe hüpfte die „Cessna“ auf die Piste und drohte jeden Augenblick kopfüber auf dem holperigen Boden aufzuschlagen. Ich zitterte am ganzen Körper und war erlöst, als David die Maschine endlich zum Stehen brachte und den Motor abstellte. Er wandte kurz mit einem flüchtigen Lächeln sein Gesicht zu mir, als wollte er sagen: „Hab` ich doch ganz gut gemacht, oder?“ Da bemerkte ich beim Schein der fast schon untergegangenen Sonne ein paar Schweißperlen auf seiner Stirn. So emotionslos war er denn doch nicht, wie ich zunächst angenommen hatte.

Wir verbrachten die Nacht in einer winzigen Holzhütte. Vorher suchte David mit einer Taschenlampe den Boden, die Ecken und die Strohballen, auf denen wir schliefen, nach Schlangen ab. Erst als er keine fand, setzten wir uns auf eine Holzbank und aßen das vom Wirt zubereitete und mitgebrachte Abendessen.

Am frühen Morgen wurde ich geweckt, als David zwei Benzinkanister aus der Hütte zum Flieger trug. Jetzt, bei den ersten Sonnenstrahlen erkannte ich, auf welchem Boden wir gestern Abend landeten. Es war ein Acker, der teilweise knöcheltief mit Schlamm bedeckt war, und David befürchtete, dass er nicht die nötige Anfangsgeschwindigkeit bekäme, um abzuheben. Nicht außergewöhnlich, denn zu dieser Jahreszeit, Anfang Mai, endete gerade die Regenzeit. David steuerte das Flugzeug bis an eines der Pistenenden, und die Maschine begann, Fahrt aufzunehmen. Wir hatten Glück, im letzten Drittel der Bahn hob sich die Nase des Fliegers und schraubte sich, für mich unendlich langsam, allmählich in den Himmel, und ich meinte, die Blätter der Urwaldriesen mit der Hand berühren zu können, so knapp entkamen wir diesem für mich dramatischem Abenteuer. Wir durchstießen eine plötzlich auftauchende Nebelbank; und einige Turbolenzen erinnerten mich daran, dass die Gefahr noch nicht überstanden war. Dann jedoch flogen wir ruhig, die Sonne zunächst schräg von vorn, unserem Ziel entgegen.

Etwas außerhalb von Manaus befand sich die Landepiste, die Mitte der siebziger Jahre zu einem Flughafen ausgebaut wurde. Sie erwies sich sicherer und besser als die im Urwald, länger und breiter, so dass links und rechts etliche Flugzeuge parkten, deren Tragflächen uns aber bei der Landung gefährlich nahe kamen.

Als David die Maschine ohne Zwischenfall zum Stehen brachte, atmete ich erleichtert auf. Es begann zu dunkeln, und ich half ihm beim Abladen der Pakete. Eigentlich sollten sie in einen Schuppen verstaut werden, der jedoch verschlossen war. Wir stapelten sie daneben, und als wir die Arbeit beendeten, holte er einen Brief aus seiner Jackentasche und legte ihn auf die Fracht. Danach deckten wir sie mit einer Plane ab, denn so versicherte David, es würden vielleicht noch einige Schauer vom zurzeit sternenklaren Himmel kommen, obwohl laut Kalender die Regenzeit längst vorbei sein musste.

Um in die Stadt zu gelangen, tasteten wir uns förmlich bei jetzt völliger Dunkelheit durch ein unwegsames Gelände, das endlich in einen schmalen Weg endete, der uns zur Stadt führte. Dabei forderte ich David mehrmals auf, etwas über die Pakete, mit unterschiedlicher Größe und Gewicht, zu erzählen, die wir zurückließen. Natürlich war ich neugierig, denn ich hörte ganz leise aber deutlich eine Melodie wie etwa, “üb` immer Treu` und Redlichkeit....“ aus einem der Behältnisse, als ich es beim Hantieren vielleicht zu sehr gedrückt hatte. Handelte es sich etwa um eine Spieluhr, ein Geschenk für ein kleines Kind? Man hatte die Pakete mit sehr viel Liebe gepackt. Sie trugen bunte Aufkleber und waren außerdem mit farbigen Schleifen verziert.

„Das ist eine lange Geschichte,“ begann David, und ich merkte ihm an, dass es diesem wortkargen Mann schwer fiel, mir als Fremden darüber zu berichten.

„Bis vor ca. einem Jahr lebten in Rio de Janeiro zwei Familien Haus an Haus. Sie verkehrten zunächst freundschaftlich miteinander und luden sich gegenseitig zu aufwendigen Festen ein. Es waren prächtige Villen, in denen sie wohnten, die vom Reichtum der Besitzer zeugten. Fürwahr, sie besaßen außerdem Ländereien, die jedoch unglücklicherweise aneinander grenzten. So kam es zu Streitigkeiten. Sie vermochten sich nicht zu einigen, wem ein unbedeutender, schmaler Streifen Land gehören sollte. Immer heftiger steigerten sie untereinander die Auseinandersetzungen mit bösartigen Verleumdungen und Androhungen von Gewalt. Um Schlimmeres zu vermeiden, ergriff ein Sohn die Initiative und führte heimlich Gespräche mit der Tochter der anderen Familie. Sie stellten gemeinsam fest, dass ihre Väter die Hauptstreithähne waren und bemühten sich um eine friedliche Lösung. Da kam ihnen der Zufall zur Hilfe. Der Vater der Tochter starb, und sie riet ihrer Mutter, mit dem Sohn der anderen Familie abgesprochen, um weiterem Ärger aus dem Wege zu gehen, nach Manaus zu ziehen. Dort besaßen sie nämlich ein Handelshaus und natürlich ein großzügiges Wohnhaus, in dem die ganze Sippe, sechzehn an der Zahl, Platz finden würde. So geschah es denn auch.

Es lag auf der Hand, dass bei den zahlreichen Gesprächen, welche das Mädchen von der einen und der Junge von der anderen Partei führten, sie sich auch persönlich näher kamen, sie verliebten sich. Trotz der räumlichen Trennung hält die Liebe bis heute, und in der Tat, sie vertiefte sich noch. Es blieb natürlich nicht aus, dass alle Familienmitglieder davon erfuhren, und es der Vater, zwar zähneknirschend, hinnahm. Jetzt, da sie brieflich verkehren, sich gegenseitig mit Geschenken förmlich überhäufen und ein Wiedersehen planen, kann man davon ausgehen, dass Friede eingekehrt ist.“

„So wie bei Romeo und Julia, nur mit einem glücklichen Ende“, erwiderte ich kurz. Seine Reaktion darauf blieb aus. Er sagte kein Wort. Stattdessen stapfte er auf dem Pfad wie ein schwerfälliger Bär vor mir her und summte einige Melodien, die ich auch während des Rückfluges von ihm hörte, und die über Jahre in meinem Gedächtnis hafteten. Erst viel später, ich war mit Karin schon lange verheiratet, als wir Sergej Prokofjews Ballett „Romeo und Julia“ sahen und hörten, erkannte ich, welche Musik mir damals von David dargeboten wurde. Hinter der Fassade dieses grobschlächtigen Menschen verbarg sich ein Schöngeist. Das zu erkennen, war mir damals in meinen jungen Jahren nicht möglich gewesen.

Dort führte mich David hin: An den imposanten Hafen, der gleichzeitig, obwohl, natürlich nicht im Zentrum von Manaus gelegen, Mittelpunkt des kulturellen und geschäftigen Treibens war. Zu dieser späten Stunde ruhte die Arbeit keineswegs; denn riesige Schiffe, die an bis zu 300m langen schwimmenden Docks festgemacht hatten, wurden be- und entladen. Die enorme Tide von über 10m zwischen Regen- und Trockenzeit verhinderte ein direktes Anlegen am Ufer.

Zielstrebig steuerte David zu einem Hotel, das am Wasser lag, und nur von der breiten Uferpromenade getrennt war. Nicht nur die Wirtsleute, sondern auch die wenigen Gäste, die zu dieser späten Stunde ihr Bier tranken, begrüßten David mit einem lauten Hallo, und er gesellte sich sogleich an einen ihrer Tische. Ich dagegen begab mich, nachdem der Wirt mir die Schlüssel aushändigte, sofort auf mein Zimmer. Vorher jedoch vereinbarte ich mit David den Rückreisetermin. Zwei Tage verblieben mir, um meinen Auftrag zu erledigen, zu dem ich zunächst keine Lust verspürte; ich wollte mir erst einmal die Stadt ansehen. Trotz des Lärms, mein Fenster lag auf der Wasserseite, schlief ich sofort ein. Nach dem überstandenen Abenteuer während des Fluges mit den waghalsigen Starts und Landungen war mein Nervenkostüm arg strapaziert worden, und ich benötigte viel Schlaf, um meine innere Ruhe wiederzufinden.

Von der Sonne, die am nächsten Tag durchs Fenster auf mein Bett schien, und der für mich ungewohnten Hitze wurde ich wach. Die enge Holztreppe führte zum Speiseraum. Kein Frühstück, die Zeit war längst dafür vorbei, man servierte bereits das Mittagessen. Fast überall sah ich das brasilianische Nationalgericht „Feijoada“, Bohneneintopf mit Fleisch, Reis und Maniok, alles scharf gewürzt, auf den Tellern. Ich bestellte es ebenfalls. Wie es mir schmeckte? Ausgezeichnet. Musste aber danach zwei Glas Bier trinken; denn ich war das scharfe und salzige Essen nicht gewöhnt. Dabei fragte ich die Bedienung nach Don Alfredo. „Oh, ja, ein respektabler Mann.“ Sie führte mich nach draußen und zeigte mir ein etwa zwei Kilometer an der Küste gelegenes grell gelbes, gerade von der Sonne beschienenes, Haus. „Wenn Sie dort angekommen sind, fragen Sie noch einmal nach ihm, es ist dann nicht mehr weit.“

Filipe, der Wirt gesellte sich zu uns und bot mir an, mich telefonisch für heute Nachmittag bei ihm anzumelden. Jedoch Don Alfredo war nicht zu Hause, aber morgen hätte er Zeit für mich. Das kam mir gut zupass, ich sah mir jetzt die Stadt näher an. Manaus, die Stadt mit damals 160.000 Einwohner, heute sind es bereits 1,7 Millionen, vom Dschungel regelrecht eingekesselt, faszinierte mich brennend.