Kein böser Traum - Harlan Coben - E-Book
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Harlan Coben

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Beschreibung

Grace Lawson will nur die Schnappschüsse vom letzten Familienausflug durchsehen, als plötzlich ihr ganzes bisheriges Leben aus den Fugen gerät. Denn ein Foto passt nicht zu den übrigen, es scheint vor ungefähr 20 Jahren aufgenommen worden zu sein und zeigt lauter Unbekannte – bis auf eine Person: ihren Ehemann Jack. Dann verschwindet Jack, und alle Spuren führen Grace an einen Ort, den sie nur aus ihren bösen Träumen kennt …

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Buch

»Kleine Ursache, große Wirkung«: Wie grausam wahr diese lapidare Redensart sein kann, erfährt Grace Lawson, glücklich verheiratete Mutter zweier Kinder, am eigenen Leib, als ihr ein mysteriöses Foto in die Hände fällt. Sie könnte schwören, dass auf dieser vielleicht zwanzig Jahre alten Aufnahme auch ihr Mann Jack zu sehen ist. Aber warum leugnet Jack dies, nur um kurz darauf spurlos zu verschwinden? Und warum ist das Gesicht einer jungen Frau auf dem Bild durchgestrichen? Die Minuten und Stunden verrinnen, und es wird immer deutlicher, dass die Lösung dieser Rätsel – und die Rettung ihres Mannes – ein dramatischer Wettlauf mit der Zeit ist. Graces Verzweiflung steigt, als sich herauskristallisiert, dass der Schlüssel für die Gegenwart in der Vergangenheit liegt, in einem traumatischen Erlebnis, das sich Grace aber nur in ihren Albträumen erschließt …

Autor

Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Nach seinem Studium der Politikwissenschaft arbeitete er in der Tourismusbranche, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Werke wurden bislang in über zwanzig Sprachen übersetzt. Harlan Coben wurde als erster Autor mit allen drei wichtigen amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet, dem »Edgar Award«, dem »Shamus Award« und dem »Anthony Award«. Er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in New Jersey. Weitere Titel des Autors sind bei Goldmann in Vorbereitung.

Von Harlan Coben außerdem bei Goldmann lieferbar:

Kein Lebenszeichen. Roman (45688) Kein Sterbenswort. Roman (45251) Keine zweite Chance. Roman (45689)

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorDrei Monate später
Kapitel 1Kapitel 2
Copyright

Dieses Buch ist Jack Armstrong gewidmet,denn er gehört zu den Guten.

»Babe, give me your best memory, But it don’t equal pale ink.«

Adaption eines chinesischen Sprichworts (Auch das beste Gedächtnis kann blasseste Tinte nicht ersetzen)für den Song »Pale Ink« von der Jimmy-X-Band. (Text und Copyright by James Xavier Farmington.)

Scott Duncan saß dem Killer Auge in Auge gegenüber.

In dem fensterlosen, gewitterwolkengrauen Raum lastete verlegene Stille, jenes gespannte Verharren unter Fremden, wenn keiner weiß, wie die Musik spielen wird und welcher Tanz beginnt. Scott eröffnete versuchsweise mit einem neutralen Nicken. Der Killer, ziemlich auffällig in orangeroter Anstaltskleidung, fixierte ihn ausdruckslos. Scott verschränkte die Hände und legte sie auf den Metalltisch. Der Killer – die Polizeiakte wies ihn als Monte Scanlon aus, wobei man sicher ausschließen konnte, dass dies sein richtiger Name war – hätte es ihm ohne Fußketten und Handschellen möglicherweise gleichgetan.

Warum, fragte sich Scott zum wiederholten Mal, bin ich eigentlich hier?

Als Staatsanwalt war er ausschließlich für Korruption in der Politik zuständig gewesen – eine florierende Schattenwirtschaft in seinem Heimatstaat New Jersey –, bis dann vor drei Stunden dieser Monte Scanlon, ein Henkersknecht wie kaum ein zweiter, unverhofft sein langes Schweigen gebrochen und als Erstes eine Bedingung gestellt hatte.

In der Tat: eine Bedingung.

Ein Vier-Augen-Gespräch mit dem stellvertretenden Staatsanwalt Scott Duncan.

Aus einer ganzen Reihe von Gründen ein ungewöhnlicher Vorgang. Erstens war ein Killer kaum in der Position, Bedingungen zu stellen. Zweitens war Scott ihm nie zuvor begegnet, noch hatte er von Monte Scanlon auch nur gehört.

Scott beendete das Schweigen. »Sie wollten mit mir reden?«

»Richtig.«

Scott nickte und wartete auf mehr. Es kam nichts. »Und? Was kann ich für Sie tun?«

Monte Scanlon starrte ihn weiter unverwandt an. »Wissen Sie, weshalb ich hier bin?«

Scott sah sich im Raum um. Abgesehen von Scanlon und seiner Person waren vier Leute anwesend. Linda Morgan, die Bundesstaatsanwältin, lehnte betont lässig an der Wand. Hinter dem Häftling standen zwei Muskelprotze, geklonte Schränke in Wärteruniform. Scott kannte die aufgeblasenen Typen, hatte die heitere Abgeklärtheit erlebt, mit der sie ihren Job erledigten. Heute allerdings, angesichts dieses mit Fußeisen und Handfesseln ruhig gestellten Häftlings, waren sogar sie nervös. Scanlons Anwalt, vom Typ »Wiesel«, der den Geruch billigen Eau de Colognes verströmte, vervollständigte den flotten Vierer. Alle Blicke ruhten auf Scott.

»Sie haben Leute umgebracht«, antwortete Scott. »Und zwar ’ne ganze Menge.«

»Ich war, was man landläufig einen Auftragskiller nennt. Ich war« – Scanlon legte eine Kunstpause ein – »ein Mörder, den man mieten konnte.«

»In Fällen, mit denen ich nichts zu tun hatte.«

»Richtig.«

Scotts Vormittag hatte noch leidlich normal begonnen. Er hatte eine Zeugenvorladung für einen Müllabfuhr-Unternehmer aufgesetzt, der den Bürgermeister einer Kleinstadt schmierte. Reine Routinesache. Ein alltäglicher Vorgang im Gartenstaat New Jersey. Das war – wie lange her? Eine? Eineinhalb Stunden? Jetzt saß er an einem im Fußboden fest verankerten Tisch einem Mann gegenüber, der – nach Linda Morgans grober Schätzung – etwa einhundert Mitbürger kaltblütig ins Jenseits befördert hatte.

»Warum also ich?«

Scanlon wirkte wie ein alternder Playboy, jener Männertyp, der in den Fünfzigern problemlos als Galan von einer der Gabor-Schwestern durchgegangen wäre. Er war hager, fast schon ausgezehrt. Das ergraute Haar trug er glatt zurückgekämmt, die Zähne waren nikotingelb, die Haut ledern von zu viel Sonne und allzu langen Nächten in allzu vielen zwielichtigen Etablissements. Niemand im Raum kannte seine wahre Identität. Bei seiner Verhaftung trug er einen argentinischen Pass bei sich, der auf den Namen Monte Scanlon – Alter 51, ausgestellt war. Das Einzige, was daran stimmte, war vermutlich das Alter. Seine Fingerabdrücke waren in der Datenbank des National Crime Information Centers nicht erfasst. Bei der biometrischen Gesichtserkennung hatte der Computer eine dicke, fette Null ausgespuckt.

»Wir sollten uns allein unterhalten.«

»Sie gehören gar nicht in meinen Zuständigkeitsbereich«, beharrte Scott. »Das ist Sache der Frau Bundesstaatsanwältin.«

»Hier geht es um eine Sache, die sie nicht tangiert.«

»Aber mich? Inwiefern?«

Scanlon beugte sich vor. »Was ich Ihnen zu sagen habe, stellt Ihr Leben auf den Kopf.«

Scott versuchte, weder Spott noch Skepsis zu zeigen. Die Denkweise von Kriminellen hinter Gittern war ihm nur allzu vertraut – ihre trickreichen Manöver, ihr Verlangen nach Nervenkitzel, ihre Suche nach einem Ausweg, ihr aufgeblasenes Selbstbewusstsein. Linda Morgan schien seine Gedanken zu erraten, denn sie warf ihm einen warnenden Blick zu. Monte Scanlon, so hatte sie ihm unterbreitet, hatte über einen Zeitraum von gut dreißig Jahren für einige Mafia-Familien gearbeitet. Die Kollegen vom Dezernat für das organisierte Verbrechen waren mehr als scharf auf Scanlons Kooperation. Doch seit seiner Verhaftung hatte der Mann konsequent geschwiegen. Bis heute Morgen.

Was wiederum Scott auf den Plan gebracht hatte.

»Ihr Boss«, begann Scanlon und deutete mit dem Kinn auf Linda Morgan, »hofft inständig, dass ich mich kooperativ zeige.«

»Ihnen blüht die Giftspritze«, entgegnete Morgan, die weiterhin um Lässigkeit bemüht war. »Nichts, was Sie sagen oder tun, wird daran etwas ändern.«

Scanlon grinste. »Aber nicht doch. Ihr habt doch viel mehr Muffensausen, dass euch meine Informationen durch die Lappen gehen, als ich vor dem Tod.«

»Na wunderbar. Wieder mal einer von den Kandidaten, die keine Angst vor dem Tod haben.« Sie stieß sich von der Wand ab. »Wissen Sie was, Monte? Die ganz harten Jungs sind immer die ersten, die sich in die Hose machen, sobald wir sie auf die Trage schnallen.«

Scott versagte sich jeden Kommentar in Richtung seiner Vorgesetzten. Scanlon grinste unbeeindruckt weiter, ohne den Blick von Scott zu wenden. Scott gefiel nicht, was er in diesen Augen sah. Abgesehen von dem zu erwartenden schwarzen, kalten Glitzern war da – vielleicht bildete er es sich auch nur ein – etwas jenseits der routinierten Ausdruckslosigkeit. Eine Bitte? Scott konnte sich diesem Blick nicht entziehen. Vielleicht Bedauern?

Möglicherweise gar Reue?

Scott sah zu Linda auf und nickte. Sie runzelte die Stirn. Scanlon hatte die erste Runde gewonnen. Linda berührte einen der Muskelmänner leicht an der Schulter und bedeutete den beiden, den Raum zu verlassen. Scanlons Anwalt erhob sich und brach zum ersten Mal sein Schweigen. »Alles, was er jetzt sagt, kann nicht gegen ihn verwendet werden.«

»Weichen Sie den Herrschaften nicht von der Seite«, befahl Scanlon ihm. »Möchte sicher sein, dass sie nicht mithören.«

Der Rechtsverdreher griff nach seinem Aktenkoffer und folgte Linda Morgan zur Tür. Kurz darauf waren Scott und Scanlon allein. Im Film gehört alle Macht den Killern. Im wirklichen Leben gestaltet sich das etwas differenzierter. Da sind sie keine Entfesselungskünstler, die sich mitten in einem Hochsicherheitstrakt ihrer Ketten entledigen. Außerdem wusste Scott, dass die beiden Fleischberge von Wärtern hinter der verspiegelten Glasscheibe standen und jede Bewegung verfolgten. Die Sprechanlage allerdings blieb auf Scanlons ausdrücklichen Wunsch abgeschaltet.

Scott deutete seinem Gegenüber mit einem Schulterzucken ein fragendes Also? an.

»Ich bin kein gewöhnlicher Auftragskiller.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Ich habe meine Prinzipien.«

Scott schwieg abwartend.

»Ich töte nur Männer.«

»Donnerwetter!«, bemerkte Scott. »Bin tief beeindruckt.«

Scanlon ignorierte den Sarkasmus. »Das ist Regel Nummer eins. Ich bringe nur Männer um. Keine Frauen.«

»Hm, ich hab’s schon beim ersten Mal begriffen. Verraten Sie mir eines – Ihre Regel Nummer zwei, lautet die vielleicht, dass Sie Frauen erst nach dem dritten Rendezvous abservieren?«

»Halten Sie mich für ein Monster?«

Scott zuckte die Schultern, als läge die Antwort auf der Hand.

»Sie halten nichts von meinen Regeln?«

»Was für Regeln? Sie bringen Leute um. Sie erfinden diese so genannten Regeln doch nur, um sich einen Anschein von Menschlichkeit zu geben.«

Scanlon schien zu überlegen. »Möglich«, räumte er ein. »Meine männlichen Opfer waren Abschaum. Abschaum hat mich angeheuert, Abschaum zu vernichten. Ich bin nichts weiter als ein todbringendes Werkzeug, eine Waffe.«

»Eine Waffe?«, wiederholte Scott.

»Richtig.«

»Einer Waffe ist es piepegal, wer durch sie stirbt, Monte. Männer, Frauen, Omas, kleine Kinder. Eine Waffe macht da keine Unterschiede.«

Scanlon lächelte. »Touché.«

Scott strich mit den Handflächen über seine Hosenbeine. »Sie haben mich doch nicht herbestellt, um mir einen Vortrag über Ethik zu halten, oder? Also, was wollen Sie?«

»Sie sind ein geschiedener Mann, Scott.«

Er sagte nichts.

»Keine Kinder, Trennung in beiderseitigem Einvernehmen, der Ex noch immer freundschaftlich verbunden.«

»Was soll das?«

»Ich versuche, Ihnen etwas begreiflich zu machen.«

»Was denn bitte?«

Monte senkte den Blick. Aber nur für einen Moment. »Was ich Ihnen angetan habe.«

»Ich kenne Sie nicht mal.«

»Aber ich Sie. Schon ziemlich lange.«

Scott nahm es schweigend hin. Er starrte auf die verspiegelte Glasscheibe. Linda Morgan stand mit Sicherheit dahinter und versuchte zu erraten, worüber sie sich unterhielten. Sie brauchte Informationen. Er überlegte, ob sie möglicherweise den Raum verwanzt hatten. Vermutlich. In jedem Fall lohnte es sich, Scanlon bei der Stange zu halten.

»Sie sind Scott Duncan. Alter 39. Juraexamen an der Columbia University. Sie könnten als Anwalt in der freien Wirtschaft wesentlich mehr Geld verdienen, aber das langweilt Sie. Sie arbeiten seit 6 Monaten bei der Staatsanwaltschaft des Staates New Jersey. Ihre Eltern sind vergangenes Jahr nach Miami gezogen. Sie hatten eine Schwester. Aber die ist gestorben. Als sie noch auf dem College war.«

Scott verlagerte unruhig sein Gewicht. Scanlon musterte ihn aufmerksam.

»Ist das alles?«

»Wissen Sie, wie mein Geschäft funktioniert?«

Themenwechsel. Scott wartete einen Herzschlag lang. Scanlon spielte mit ihm, versuchte ihn zu verunsichern oder irgendeinen ähnlichen Blödsinn. Scott hatte nicht die Absicht, darauf hereinzufallen. Was er über Scotts Familienverhältnisse »enthüllt« hatte, war kaum beeindruckend. Mit einigen geschickten Anrufen hätte das jeder herausfinden können.

»Nein. Aber Sie werden’s mir sicher gleich sagen!«, antwortete Scott.

»Nehmen wir mal an, Sie möchten jemanden aus dem Weg haben«, begann Scanlon.

»In Ordnung.«

»Sie rufen einen Freund an, der einen Freund kennt, der wiederum einen Freund hat, der mit mir Kontakt aufnehmen kann.«

»Und nur dieser letzte Freund weiß, wer Sie sind?«

»So ungefähr. Ich hatte immer nur einen Verbindungsmann. Aber auch was ihn betraf, war ich vorsichtig. Ich habe ihn nie persönlich getroffen. Wir haben Codenamen benutzt. Die Bezahlung erfolgte stets auf Konten in Übersee. Für jede, sagen wir, Transaktion habe ich ein neues Konto eröffnet und es wieder geschlossen, sobald die Transaktion erfolgt war. Können Sie mir folgen?«

»So schwierig ist das nicht«, antwortete Scott.

»Stimmt. Heutzutage läuft alles per E-Mail. Ich melde vorübergehend eine E-Mail-Adresse bei Hotmail oder Yahoo oder wem auch immer an. Nichts, was man zurückverfolgen könnte. Aber selbst wenn – selbst wenn jemand herausfinden sollte, wer die E-Mail geschickt hat, würde das nichts nützen. Sämtliche E-Mails wurden von Computern in öffentlichen Bibliotheken oder Internetcafés abgeschickt und auch geöffnet. Die Tarnung war perfekt.«

Scott verkniff sich die Bemerkung, dass er trotz perfekter Tarnung letztlich im Knast gelandet war. »Und was hat das alles mit mir zu tun?«

»Darauf komme ich noch.« Scanlon kam allmählich richtig in Fahrt. Offenbar hörte er sich gern reden. »In den guten alten Zeiten – und damit meine ich die Zeit vor acht bis zehn Jahren – lief das ganze Geschäft noch über öffentliche Telefonzellen. Namen habe ich nie schwarz auf weiß gesehen. Sie wurden mir am Telefon genannt. Ich habe sie nur gehört.«

Scanlon hielt inne, um sich Scotts ungeteilter Aufmerksamkeit zu versichern. Sein Ton wurde eindringlicher, emphatischer. »Das ist der Punkt, Scott. Das einzige Kommunikationsmittel war das Telefon. Namen habe ich immer nur akustisch, nie schriftlich mitgeteilt bekommen.«

Er starrte Scott erwartungsvoll an. Scott begriff noch immer nicht. Also fuhr Monte fort.

»Kapieren Sie nicht, warum ich betone, dass alles übers Telefon lief?«

»Nein.«

»Weil eine Person wie ich, ein Mann mit gewissen Prinzipien, am Telefon einem Irrtum erliegen konnte.«

Scott überlegte. »Komme trotzdem nicht drauf.«

»Ich bringe keine Frauen um. Das war Regel Nummer eins.«

»Sagten Sie bereits.«

»Angenommen, ich sollte einen gewissen Billy Smith kaltmachen, nahm ich natürlich an, dass Billy ein Mann ist. Ein Billy, der mit y am Ende geschrieben wird und nicht mit ie wie bei dem gleich klingenden Frauennamen. Fällt jetzt der Groschen?«

Scott geriet ins Grübeln. Scanlon sah es. Sein Grinsen war wie weggewischt. Seine Stimme wurde leise und sanft.

»Ihre Schwester hatte ich eingangs schon erwähnt, nicht wahr, Scott?«

Scott sagte nichts.

»Wie war doch ihr Name? Geri, oder?«

Schweigen.

»Dämmert’s, wo der Hund begraben liegt? Geri ist einer dieser irreführenden, zweideutigen Namen. Am Telefon nimmst du selbstverständlich an, dass er am Anfang mit einem J und am Ende mit einem y geschrieben wird. Vor 15 Jahren habe ich so einen Anruf bekommen. Besagter Mittelsmann …«

Scott schüttelte den Kopf.

» … gab mir eine Adresse. Ich erhielt präzise Angaben darüber, wann ›Jerry‹«, Scanlon deutete mit den Fingern Anführungszeichen an, »zu Hause sein würde.«

Die eigene Stimme schien Scott plötzlich fremd zu sein. »Es hieß, es war ein Unfall.«

»Ist bei Brandstiftung die Regel. Vorausgesetzt man versteht sein Geschäft.«

»Sie können mir viel erzählen.«

Doch dann sah Scott in diese Augen, und seine Welt geriet aus den Fugen. Bilder stürzten auf ihn ein: Geris ansteckendes Lachen, das kaum zu bändigende Haar, die Zahnklammer, die Art, wie sie ihm bei Familienfeiern die Zunge rausgestreckt hatte. Ihr erster richtiger Freund (ein Idiot namens Brad), die Katastrophe, als sie zum Abschlussball der Unterstufe keinen Begleiter gefunden hatte, ihre Aufnahme ins College.

Scott fühlte, wie seine Augen feucht wurden. »Sie war erst einundzwanzig.«

Keine Reaktion.

»Und warum?«

»Hintergründe interessieren mich nicht, Scott. Ich bin nur ein Auftrags…«

»Das meine ich nicht.« Scott sah auf. »Mich interessiert, warum Sie mir das jetzt erzählen?«

Scanlon betrachtete sich eingehend im Spiegel. Seine Stimme klang ruhig. »Kann sein, dass Sie Recht hatten.«

»Recht? Womit?«

»Mit dem, was Sie vorhin gesagt haben.« Er wandte sich erneut Scott zu. »Nachdem alles gesagt und alles getan ist, brauche ich vielleicht die Illusion, ein Mensch zu sein.«

Drei Monate später

1

Bruchstellen entstehen aus heiterem Himmel, diese tiefen Zäsuren in deinem Leben, die dir wie ein Messer ins Fleisch schneiden. Im einen Moment ist es noch dein Leben, im nächsten Augenblick findest du es wie durch den Fleischwolf gedreht, bis zur Unkenntlichkeit verändert. In seine Einzelteile zerlegt, ausgeweidet wie ein Stück Wild. Und dann gibt es noch jene Momente, in denen sich dein Leben einfach aufdröselt wie ein Strickpullover. So als habe jemand an einem losen Faden gezogen. Die Veränderung vollzieht sich anfangs nur langsam, beinahe unmerklich.

Für Grace Lawson begann alles im Fotogeschäft.

Sie hatte schon beinahe die Klinke der Ladentür in der Hand, als sie eine entfernt bekannt klingende Stimme vernahm. »Warum kaufst du dir keine Digitalkamera, Grace?«

Grace wandte sich der Frauenstimme zu. »Für diese technischen Neuheiten bin ich zu dämlich.«

»Aber ich bitte dich! Digitale Technik ist ein Kinderspiel.« Die Frau hob die Hand und schnippte mit den Fingern. »Digitalkameras sind so was von bequem. Missglückte oder überflüssige Aufnahmen löscht man einfach. Wie Computerdateien. Bei unseren Weihnachtskarten zum Beispiel. Du glaubst es nicht, wie viele Fotos Barry geschossen hat, weil Blake gerade die Augen zugekniffen oder Kyle sich weggedreht hatte. Aber je mehr du machst, sagt Barry, desto sicherer kannst du sein, ein paar brauchbare zu finden. Und wo er Recht hat, hat er Recht, oder?«

Grace nickte. Sie versuchte sich erfolglos an den Namen der Frau zu erinnern. Ihre Tochter – Blake vermutlich – ging wahrscheinlich mit Graces Sohn Max in die erste Klasse. Oder war es das letzte Jahr im Kindergarten gewesen? Sie hatte Mühe, nicht den Faden zu verlieren. Graces Lächeln gefror allmählich zur Maske. Blakes Mutter war nicht unsympathisch, ging jedoch in der Masse der anderen unter. Und Grace fragte sich in diesem Moment nicht zum ersten Mal, ob das mittlerweile nicht auch auf sie zutraf, ob sie nicht ebenfalls eingetaucht war in das Meer vorstädtischer Einförmigkeit, ob ihre einst durchaus starke Individualität auf der Strecke geblieben war.

Der Gedanke war alles andere als ein sanftes Ruhekissen.

Blakes Mutter erging sich weiterhin in Elogen auf die Wunder des digitalen Zeitalters. Graces im Lächeln erstarrte Gesichtsmuskeln schmerzten. Sie warf einen Blick auf die Uhr und hoffte, die High-Tech-Mutter würde den Wink verstehen. 14 Uhr 45. Emma hatte nach dem Unterricht Training mit dem Schwimmteam, aber den Fahrdienst hatte heute eine andere Mutter.

»Wir sollten uns mal treffen«, sagte Blakes Mutter jetzt weniger aufgeregt. »Zusammen mit Jack und Barry. Die beiden würden sich sicher verstehen.«

»Absolut.«

Grace nutzte die Atempause, um der anderen zuzuwinken, die Tür des Fotogeschäfts zu öffnen und hineinzuschlüpfen. Die Glastür schnappte mit einem »Klack« hinter ihr zu und löste einen Klingelton aus. Beißender Chemiegeruch stieg ihr in die Nase. Er erinnerte an Alleskleber. Sie fragte sich flüchtig nach den Langzeitschäden einer Arbeit in dieser Umgebung und empfand es schon ärgerlich genug, dem auch nur kurzzeitig ausgesetzt zu werden.

Der junge Mann hinter der Ladentheke, der offenbar hier arbeitete – wobei »arbeiten« in diesem Fall eine übertrieben höfliche Umschreibung war – trug einen spärlichen, weißen Kinnbart, Haare von einer Farbe, neben der jede Kinderkreide verblasste, und so viele Piercings, dass er ohne weiteres als Windorgel hätte durchgehen können. Über seinen Nacken schlängelte sich ein Kabel zu den Ohrhörern. Die Musik hämmerte so laut, dass sie noch in Graces Brust widerhallte. Seine Tätowierungen waren zahlreich. Auf der einen stand STONE. Auf der anderen KILLJOY. Grace hätte ihm gern eine dritte mit FAULENZER verpasst.

»Darf ich stören?«

Er hob nicht einmal den Kopf.

»Verzeihung!«, sagte sie etwas lauter.

Wieder keine Reaktion.

»Haben Sie was an den Ohren?«

Diesmal hatte sie seine Aufmerksamkeit erregt. Er sah sie an. Seine Augen wurden schmal. Er fühlte sich ganz offenbar gestört. Widerwillig zog er die Ohrhörer heraus. »Kontrollabschnitt?«

»Wie bitte?«

»Kontrollabschnitt.«

Ach so. Grace reichte ihm den Abschnitt. Sauerkrautbart fragte nach ihrem Namen.

Sauerkrautbart – Grace gefiel der Spitzname immer besser – blätterte einen Kasten mit Fototüten durch, bevor er eine davon herauszog. Er riss den passenden Kontrollabschnitt ab und nannte einen exorbitanten Preis. Sie reichte ihm einen Gutscheincoupon, den sie mühsam aus ihrer Geldbörse ausgegraben hatte, und beobachtete, wie sich der Preis auf ein vernünftiges Maß reduzierte.

Der junge Mann reichte ihr die Fototüte. Grace bedankte sich, doch ihr Gegenüber hatte längst die Ohrhörer wieder eingesteckt. Sie winkte ihm zu. »Danke für die zuvorkommende Bedienung«, murmelte sie. »Ich werde Sie weiterempfehlen.«

Sauerkrautbart gähnte und vertiefte sich erneut in seine Zeitschrift. Wahrscheinlich die neueste Ausgabe des Magazins für HIGH-TECH-FAULENZER.

Grace trat auf den Bürgersteig hinaus. Die Luft war kühl. Der Herbst hatte den Sommer mit einem einzigen heftigen Sturm weggefegt. Das Laub hatte sich noch kaum verfärbt, und doch lag schon ein gewisses Prickeln in der Luft. In den Schaufensterdekorationen zeigten sich zum Teil bereits Vorboten von Halloween. Ihre Tochter Emma, in der dritten Klasse der Grundschule, hatte Jack überredet, einen fast zwei Meter großen aufblasbaren »Homer-Simpson-als-Frankenstein«-Ballon zu kaufen. Er sah, das musste sie zugeben, großartig aus. Ihre Kinder liebten Die Simpsons, was zu der Annahme verleitete, dass sie und Jack trotz bester Absichten bei der Erziehung nicht allzu viel falsch gemacht hatten.

Grace hätte den Umschlag mit den Fotos am liebsten sofort geöffnet. Es war immer aufregend, die Ausbeute eines neuen Films zu begutachten. Es war ein Gefühl wie beim Öffnen einer Wundertüte, wie die gespannte Erwartung des Postboten, selbst wenn dann doch nur Rechnungen ins Haus flatterten. Digitale Fotografie konnte das trotz aller Vorzüge nicht bieten. Doch Grace musste sich gedulden. Die Schule war gleich zu Ende.

Als ihr Saab die Heights Road hinaufkletterte, machte sie einen kleinen Umweg, der sie am Aussichtspunkt über die Stadt vorbeiführte. Von der Anhöhe aus konnte man die Skyline von Manhattan überblicken. Besonders nachts, wenn sie sich wie Diamanten auf schwarzem Samt aufgereiht präsentierte, ein Erlebnis. Nostalgische Sehnsucht regte sich in ihr. Sie liebte New York City. Bis vor vier Jahren war dieses wunderbare Eiland ihr Zuhause gewesen. Sie hatten ein Loft in der Charles Street im Village besessen. Jack hatte in der Forschungsabteilung einer großen pharmazeutischen Firma gearbeitet. Sie hatte in der Wohnung ihr Atelier gehabt, gemalt und verächtlich auf ihre Geschlechtsgenossinnen in den Vorstädten herabgeblickt, auf all die Frauen mit ihren Suburbans und Kordhosen und ihren auf Kleinkinder beschränkten Gesprächen. Mittlerweile war sie eine von ihnen.

Grace parkte wie alle anderen Mütter an der Rückseite der Schule. Sie schaltete den Motor aus, griff nach dem Umschlag mit den Fotos und riss ihn auf. Der Film war vergangene Woche auf ihrem jährlichen Ausflug zur Apfelernte nach Chester aufgenommen worden. Jack hatte wie besessen fotografiert. Er sah sich gern in der Rolle des Familienfotografen, hielt es für seine Vaterpflicht, für eine Aufgabe, für die sich ein Vater zum Wohle der Familie opfern musste.

Das erste Foto zeigte Emma, ihre acht Jahre alte Tochter, und Max, ihren sechsjährigen Sohn, hoch oben auf dem Heuwagen, die Schultern hochgezogen, die Wangen vom Wind gerötet. Grace hielt inne. Starrte auf das Bild. Schauer von – ja tatsächlich von Mutterglück, primitiv und evolutionär zugleich, liefen ihr in Wellen über den Rücken. So ist das mit Kindern. Es sind die kleinen Dinge des Lebens, die unter die Haut gehen. Eigentlich war es an jenem Tag für einen Ausflug viel zu kalt gewesen. Sie hatte geahnt, dass die Obstplantage überlaufen sein würde, und eigentlich zu Haus bleiben wollen. Jetzt, angesichts dieses Fotos, verstand sie ihre dämlichen Vorbehalte selbst nicht mehr.

Die übrigen Mütter sammelten sich am Zaun, plauderten und trafen Verabredungen für ihre Kinder. Sie lebten im 21. Jahrhundert, im post-feministischen Amerika, und dennoch waren unter den gut achtzig Erwachsenen, die hier auf ihre Sprösslinge warteten, nur zwei Väter. Der eine war, soviel sie wusste, seit über einem Jahr arbeitslos. Man sah es in seinen Augen, an seinem langsamen, gebeugten Gang, der nachlässigen Rasur. Der andere arbeitete als freiberuflicher Journalist und frönte dem Zwang, die Mütter unterhalten zu müssen. Vielleicht aus Einsamkeit. Sie wusste es nicht.

Jemand klopfte an ihr Wagenfenster. Grace blickte auf. Cora Lindley, ihre beste Freundin in der Stadt, machte ihr ein Zeichen, die Türverriegelung zu lösen. Grace drückte auf den Knopf. Cora glitt auf den Beifahrersitz.

»Na wie lief’s gestern? Mit deiner Verabredung, meine ich?«

»Mies.«

»Oh, das tut mir Leid.«

»Fünftes Rendezvous. Und Schluss. Immer dieselbe Leier.«

Cora war geschieden und ein wenig zu sexy für die eifernden »Damenkränzchen« der Super-Mütter. Mit ihrer tief ausgeschnittenen Leopardenbluse, Röhrenjeans und pinkfarbenen Pumps wirkte sie in der Masse der Khakihosen und weiten Pullover wie ein fremdartiger Paradiesvogel. Die argwöhnischen Blicke der anderen sprachen Bände. Vorstadtpublikum ist sehr anfällig für spätpubertäre Anwandlungen.

»Was für eine Leier?«

»Du hast nicht viele Rendezvous, was?«

»Offen gestanden, nein«, erwiderte Grace. »Ein Ehemann und die Kinder haben meinen Lebensstil verdorben.«

»Jammerschade. Frag mich bitte nicht, weshalb … aber beim fünften Rendezvous kommen die Kerle unisono auf ein Thema … ›Menage à trois‹ … vornehm ausgedrückt.«

»Machst du Witze?«

»Wofür hältst du mich? Beim fünften Rendezvous, ich schwör’s dir. Spätestens. Wie das Amen in der Kirche. Dann wollen sie von dir wissen, was du von einer ›Menage à trois‹ hältst. Rein theoretisch, natürlich. Gerade so, als solltest du deinen Senf zum Friedensprozess im Nahen Osten dazugeben.«

»Und wie reagierst du darauf?«

»Ganz einfach. Ich sage, dass ich persönlich mich dabei glänzend amüsiere. Besonders dann, wenn die beiden Männer mir’s auf Französisch besorgen.«

Grace lachte lauthals auf. Sie stiegen aus dem Wagen. Graces schlimmes Bein schmerzte. Nach über zehn Jahren sollte sie eigentlich mit dem Thema durch sein. Trotzdem war es ihr noch immer peinlich, ein Bein für alle sichtbar nachzuziehen. Sie blieb daher beim Wagen zurück und sah Cora nach, die zum Zaun des Schulhofs ging. Kaum ertönte die Schulglocke, ergoss sich wie auf Kommando eine Horde Kinder aus dem Schultor und in den Hof. Wie alle anderen Eltern hatte Grace nur Augen für ihre eigene Brut. Der Rest war Staffage.

Max tauchte erst mit der zweiten Welle auf. Kaum erblickte Grace ihren Sohn – die Schnürsenkel eines Turnschuhs lose, der Schulranzen viel zu groß, die Mütze mit dem Emblem der New York Rangers schief auf dem Kopf –, wurde ihr wie immer warm ums Herz. Max rannte die Treppe herunter und schwang dabei den Schulranzen über die Schultern. Sie lächelte unwillkürlich. Max entdeckte sie und grinste.

Max war mit einem Satz auf dem Rücksitz des Saab. Grace schnallte ihn auf dem eingebauten Kindersitz in der Mitte fest und fragte, wie es in der Schule gewesen sei. Weiß nicht, lautete die Antwort. Sie fragte weiter, welche Fächer heute dran gewesen seien: Rechnen, Englisch, Biologie, Werken? Die Antwort war ein Achselzucken und das nächste Weiß nicht. Grace nickte stumm. Typischer Fall von Schüler-Alzheimer. Eine allzeit grassierende Seuche. Was machten die eigentlich in der Schule mit den Kindern? Medikamente? Erpressung? Einfach rätselhaft.

Erst zu Hause, nachdem Max seinen Joghurt-Snack – vergleichbar mit Joghurt aus der Zahnpastatube – vertilgt hatte, konnte Grace in Ruhe darangehen, sich den Rest der Fotos anzusehen.

Das Kontrolllämpchen am Anrufbeantworter blinkte. Grace prüfte die Nummer auf dem Display. Die Anzeige verriet nichts. Die Nummer wurde offenbar unterdrückt. Sie hörte das Tonband ab. Überraschung. Die Stimme eines … alten Freundes ertönte. Die Bezeichnung »Bekannter« wäre in diesem speziellen Fall kaum zutreffend gewesen. Eine Art »Vaterfigur« kam der Wirklichkeit schon näher. Wenn auch in einem nicht alltäglichen Sinn.

»Hallo, Grace. Carl Vespa hier.«

Diese Einleitung war überflüssig. Es war Jahre her, doch diese Stimme hätte sie immer und überall wiedererkannt.

»Bitte rufen Sie mich bei Gelegenheit zurück. Wir müssen reden.«

Dann ertönte der Piepton des Anrufbeantworters. Grace rührte sich nicht vom Fleck. Sie hatte plötzlich Herzflimmern. Vespa. Carl Vespa hatte angerufen. Das verhieß nichts Gutes. Carl Vespa war trotz all der liebevollen Fürsorge für ihre Person kein Mann überflüssiger Gesten. Sie zögerte, zum Telefonhörer zu greifen, beschloss, es auf später zu verschieben.

Grace betrat das Gästezimmer, das sie zu einem provisorischen Atelier umfunktioniert hatte. Sobald sie malte – mit ihrer Kunst allein war –, sah sie die Welt so, wie sie sie auf die Leinwand zu projizieren gedachte. Straßen, Bäume, Menschen reduzierte sie auf verschiedenartige Pinsel, Maltechniken, Farben, Licht und Schatten. Ihre Arbeit spiegelte nicht die Wirklichkeit, sondern ihre subjektiven Eindrücke wider. Was dabei herauskam, war nicht unbedingt eine schönere Welt. Sie war oft provozierender, vielleicht sogar hässlicher, ergreifender und faszinierender. Grace wollte Reaktionen hervorrufen. Möglich, dass manch einer sich an einem ihrer Sonnenuntergänge erfreute – Grace dagegen beabsichtigte, den Betrachter in ihre Sonnenuntergänge hineinzusaugen, in ihm das Gefühl der Angst vor dem Hinsehen zu wecken, ohne dass er sich losreißen konnte.

Grace hatte für einen Aufpreis von sämtlichen Fotos einen zweiten Abzug machen lassen. Ihre Finger glitten in den Umschlag und zogen die Bilder heraus. Die beiden ersten zeigten Emma und Max auf dem Heuwagen. Als Nächstes kam Max, der den Arm ausstreckte, um einen Apfel der Sorte »Gala« zu pflücken. Die Kinderhand war natürlich nur verschwommen erkennbar, da Jack mit dem Objektiv zu dicht herangegangen war. Geliebter Idiot! Es folgten mehrere Schnappschüsse von Grace und den Kindern mit den unterschiedlichsten Äpfeln, Bäumen und Körben. Ihre Augen wurden feucht wie regelmäßig, wenn sie Fotos ihrer Kinder betrachtete.

Graces Eltern waren früh gestorben. Ihre Mutter war bei einem Autounfall auf der Route 46 in Totowa ums Leben gekommen. Grace, das einzige Kind, war damals elf gewesen. Es waren keine zwei Polizeibeamten vor ihrer Haustür erschienen, wie es einem im Kino immer vorgegaukelt wurde. Ihr Vater hatte durch einen Telefonanruf davon erfahren. Grace erinnerte sich noch gut, wie der Vater in blauer Hose und grauer Strickweste mit seinem üblichen melodischen »Hallo« den Anruf entgegengenommen hatte, wie jede Farbe aus seinem Gesicht gewichen, wie er unvermittelt zu Boden gesunken war, sein Schluchzen zuerst mühsam und gequält, dann lautlos, so als bekäme er nicht genügend Luft, um seinen Schmerz zu artikulieren.

Der Vater hatte Grace großgezogen, bis sein Herz, geschwächt von einem Rheumaanfall in seiner Kindheit, aufgehört hatte zu schlagen. Grace war damals in ihrem ersten Jahr im College gewesen. Ein Onkel in Los Angeles hatte sich erboten, sie bei sich aufzunehmen. Grace, mittlerweile volljährig, hatte sich jedoch entschieden, im Osten zu bleiben und ihren eigenen Weg zu gehen.

Der Tod der Eltern, ein schmerzlicher Einschnitt, hatte in Grace den Willen geweckt, umso intensiver zu leben. Jetzt war sie bemüht, ihren Kindern ausreichend Erinnerungen für die Zeit zu geben, wenn auch sie nicht mehr da sein würde.

Und exakt in dem Augenblick der Erinnerung an die eigenen Eltern, als ihr gleichzeitig auffiel, wie erwachsener Emma und Max seit dem Apfelpflücken im Vorjahr auf den Fotos aussahen – fiel ihr das absonderliche Foto in die Finger.

Grace runzelte die Stirn.

Es lag ungefähr in der Mitte des Stapels, hatte das gleiche Format wie die anderen, so dass es sich unauffällig einfügte, auch wenn sich das Papier weicher und dünner anfühlte. Billiger, schoss es ihr durch den Kopf. Vielleicht eine Kopie aus einem der modernen Bürokopierer.

Grace griff nach dem nächsten Foto. Keine Kopie. Das war seltsam. Nur ein Abzug von diesem Foto. Sie dachte nach. Das Bild musste versehentlich in ihren Auftrag gerutscht sein.

Denn dieses Foto gehörte ihr nicht.

Es war irrtümlich in ihre Tüte gelangt. Eine nahe liegende Erklärung. Unwillkürlich fiel ihr Sauerkrautbart und seine offensichtlich laxe Arbeitseinstellung ein. Er war geradezu prädestiniert dafür, Mist zu bauen, ein falsches Foto in ihren Stapel einzusortieren, oder?

Das war es vermutlich, was passiert war.

Das Foto einer fremden Person war in ihre Tüte geraten.

Oder vielleicht …

Das Foto war irgendwie seltsam – nicht weil es schwarz-weiß oder sepiafarben gewesen wäre. Es war ein Farbabzug, wenn auch ausgeblichen. Den Farben fehlte die Frische, die man heutzutage erwartete. Auch die Personen auf dem Foto waren nicht zeitgemäß. Ihre Kleidung, ihre Frisuren, ihr Make-up … alles war seit mindestens fünfzehn Jahren aus der Mode.

Davon abgesehen war das ganze Foto reichlich unscharf. Es zeigte vier – nein, da war noch eine Frau ganz hinten in der Ecke – also fünf Personen. Zwei Männer und drei Frauen, alle um die zwanzig … zumindest die, die sie deutlicher erkennen konnte.

College-Studenten, urteilte Grace.

Sie trugen die Jeans, die Sweatshirts, die unkonventionellen Frisuren, den Gesichtsausdruck, die lässige Haltung angehender Unabhängigkeit zur Schau. Die Aufnahme wirkte, als seien die Personen nicht darauf vorbereitet gewesen, fotografiert zu werden, so als habe der Fotograf sie bereits bei den Vorbereitungen dazu abgelichtet. Einige hatten die Köpfe zur Seite gewandt, so dass sie nur im Profil festgehalten waren. Von dem dunkelhaarigen Mädchen am rechten äußeren Rand konnte man eigentlich nur den Hinterkopf und eine Jacke aus Jeansstoff erkennen. Neben ihr stand ein Mädchen mit tizianrotem Haar und weit auseinander stehenden Augen.

Das Mädchen in der Mitte war eine Blondine – Grace stockte der Atem. Ihr Gesicht war durch ein großes, dickes X beinahe unkenntlich gemacht. So als habe jemand sie ausgestrichen.

Wie war dieses Foto … ?

Während Grace auf das Bild starrte, fühlte sie plötzlich einen kleinen Stich in der Brust. Die drei Frauen waren ihr unbekannt. Die beiden Männer sahen sich irgendwie ähnlich. Die gleiche Körpergröße, dasselbe Haar, die gleiche Haltung. Der Linke sagte ihr gar nichts. Den anderen allerdings glaubte sie zu kennen. Er stand in der Mitte neben dem blonden Mädchen mit dem X im Gesicht … Aber das war absurd. Zum einen hatte er sein Gesicht halb abgewandt. Zum anderen ließ der schüttere, jugendliche Bartwuchs keine genauere Identifizierung zu …

War das ihr Ehemann?

Grace beugte sich tiefer darüber. Es war bestenfalls eine Profilaufnahme. In diesem jugendlichen Alter hatte sie Jack nicht gekannt. Sie waren sich vor dreizehn Jahren an einem Strand an der Côte d’Azur in Südfrankreich begegnet. Nach über einem Jahr operativer Eingriffe und Physiotherapien war Grace noch immer rekonvaleszent gewesen. Kopfschmerzen und Gedächtnislücken hatten sich als hartnäckige Begleiter erwiesen. Sie hatte gehinkt – wie auch jetzt noch –, doch nachdem sie an all der Publicity und Fürsorge, die ihr nach jener tragischen Nacht zuteil wurden, zu ersticken drohte, hatte sie einfach nur das Bedürfnis verspürt, alldem für eine Weile zu entfliehen. Sie hatte sich an der Pariser Universität eingeschrieben und sich ernsthaft dem Kunststudium gewidmet. Und während der Ferien an der sonnigen Côte d’Azur war ihr Jack über den Weg gelaufen.

War sie sicher? War es wirklich Jack?

Sein Äußeres sah anders aus. Kein Wunder. Er trug das Haar länger und einen Bart, der zu den noch recht jugendlichen Zügen nicht recht passen wollte. Und er trug eine Brille. Aber die Haltung, die Neigung des Kopfes, der Gesichtsausdruck …

Das war ihr Mann.

Sie blätterte hastig den Rest der Fotos durch. Heuwagen, Äpfel und in Bäume gereckte Arme wechselten sich ab. Dazwischen stieß sie auf eine Aufnahme, die sie von Jack gemacht hatte. Nur dieses eine Mal hatte er ihr die Kamera überlassen. Jack, der immer und alles unter Kontrolle haben wollte. Er reckte die Arme so hoch in den Baum, dass ihm das Hemd aus der Hose gerutscht war und den Bauch freigab. Emma hatte daraufhin gesagt, er sei fett. Was Jack natürlich als Aufforderung verstanden hatte, sich noch weiter zu entblößen. Grace hatte gelacht. »Zeig, was du hast, Baby !«, hatte sie gerufen und das nächste Foto geschossen. Zu Emmas großem Verdruss hatte Jack gehorcht und mit dem Bauch gewackelt.

»Mammi!«

Sie drehte sich um. »Was gibt’s, Max?«

»Kann ich einen Müsliriegel haben?«

»Ja, nimm dir für die Fahrt einen mit«, antwortete sie und richtete sich auf. »Wir müssen noch mal los.«

Sauerkrautbart war nicht im Fotoladen.

Max vertiefte sich umgehend in die Betrachtung der Bilderrahmen für sämtliche Gelegenheiten – Herzlichen Glückwunsch, Wir lieben dich, Mutti, und so weiter. Der Mann hinter der Theke, ausgestattet mit Polyester-Krawatte, Stifthalter und einem kurzärmeligen Oberhemd, unter dem sich ein T-Shirt mit V-Ausschnitt deutlich abzeichnete, trug ein Namensschild an der Brust, das ihn als den stellvertretenden Manager Bruce auswies.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich suche den jungen Mann, der noch vor ein paar Stunden hier bedient hat«, erwiderte Grace.

»Josh hat für heute Feierabend. Kann ich helfen?«

»Ich habe kurz vor drei Uhr einen Film abgeholt …«

»Und?«

Grace wusste nicht, wie sie sich ausdrücken sollte. »Es war ein Foto bei den Abzügen, das da nicht reingehört.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Eines der Fotos … Es ist nicht von mir.«

Er deutete auf Max. »Wie ich sehe, haben Sie kleine Kinder.«

»Was meinen Sie?«

Der stellvertretende Geschäftsführer Bruce schob seine Brille über die Stirn. »Ich wollte nur andeuten, dass Sie kleine Kinder haben. Oder zumindest eines.«

»Was hat das denn damit zu tun?«

»Gelegentlich stibitzt sich ein Kind die Kamera. Ohne dass es die Eltern merken. Sie machen ein oder zwei Fotos. Und dann legen sie sie wieder zurück.«

»Nein, das kann es nicht sein. Das Bild hat nichts mit uns zu tun.«

»Verstehe. Tut mir Leid. Haben Sie alle Fotos, die Sie aufgenommen haben, bekommen?«

»Denke schon.«

»Es fehlt keines?«

»Ich hab’s nicht überprüft, aber ich glaube, es sind alle dabei.«

Er zog eine Schublade auf. »Hier. Das ist ein Gutschein. Ihren nächsten Film entwickeln wir kostenlos. Im Kleinbildformat. Wenn Sie’s größer möchten, berechnen wir einen kleinen Aufpreis.«

Grace ignorierte seine ausgestreckte Hand. »Sie haben da ein Schild an der Tür. Darauf steht, dass alle Filme hier im Haus entwickelt werden.«

»Das ist richtig.« Er klopfte mit der Handfläche auf die Maschine hinter ihm. »Das macht die gute alte Betsy hier für uns.«

»Dann ist mein Film also hier entwickelt worden?«

»Selbstverständlich.«

Grace reichte ihm den Umschlag mit den Abzügen. »Können Sie mir sagen, wer diesen Film entwickelt hat?«

»Ich bin sicher, es war ein Versehen.«

»Was anderes habe ich auch nicht behauptet. Ich will nur wissen, wer meinen Film entwickelt hat.«

Er warf einen Blick auf den Umschlag. »Darf ich fragen, warum Sie das interessiert?«

»War es Josh?«

»Ja, aber …«

»Warum ist er nicht mehr hier?«

»Wie bitte?«

»Ich habe die Abzüge kurz vor drei Uhr abgeholt. Sie schließen um sechs. Jetzt ist es fast fünf.«

Der stellvertretende Geschäftsführer Bruce richtete sich etwas auf. »Josh hatte einen Notfall in der Familie.«

»Was für einen Notfall?«

»Hören Sie, Miss …« Er sah auf den Umschlag. »… Lawson. Ich entschuldige mich für den Irrtum und die Unannehmlichkeiten. Ich denke mal, es ist ein Foto aus einer anderen Serie in Ihren Umschlag geraten. Kann mich nicht erinnern, dass das schon mal vorgekommen ist, aber niemand ist perfekt. Oh, warten Sie!«

»Ja?«

»Darf ich das betreffende Foto mal sehen?«

Grace hatte Angst, er könnte es behalten. »Ich hab’s nicht dabei«, behauptete sie.

»Was war auf dem Foto?«

»Eine Gruppe von Leuten.«

Er nickte. »Verstehe. Und … die Personen … waren die vielleicht nackt?«

»Wie bitte? Nein. Wie kommen Sie darauf?«

»Sie wirken ziemlich aufgebracht. Dachte, das Foto sei irgendwie unanständig.«

»Nein, nichts dergleichen. Ich muss mit Josh reden. Könnten Sie mir seinen Familiennamen oder seine Telefonnummer geben?«

»Ausgeschlossen. Aber gleich morgen früh ist er wieder da. Dann können Sie mit ihm reden.«

Grace beschloss, sich damit zufrieden zu geben. Sie bedankte sich und ging. Ist vielleicht besser so, dachte sie. War eine zu spontane Entscheidung gewesen, sofort wieder herzukommen. Vermutlich hatte sie überreagiert.

In ein paar Stunden kam Jack nach Hause. Sie konnte ihn dann nach dem Foto fragen.

Grace war die Aufgabe zugefallen, die Rückfahrt der Kinder vom Schwimmtraining zu übernehmen. Vier Mädchen im Alter von acht und neun Jahren, alle herrlich lebhaft, verteilten sich auf den Rücksitz und die Notsitze im Kofferraum des Minivans. Fröhliches Gekicher mischte sich mit dem Geruch nach nassen Haaren, Chlor und Kaugummi, dem Geräusch von Schulranzen, die abgenommen wurden, und das Einschnappen der Sicherheitsgurte. Keines der Kinder saß auf einem der vorderen Sitze – neue Sicherheitsvorschriften –, doch trotz des Gefühls, nur Chauffeur zu sein, waren diese Fahrten für Grace ein Vergnügen. Sie gaben ihr Gelegenheit, ihre Tochter in der Gesellschaft von Freunden zu beobachten. Im Auto sprachen die Kinder ganz ungezwungen miteinander. Der oder die Erwachsene hinter dem Steuer hätte ebenso gut in einer anderen Zeitzone existieren können. Für Eltern äußerst informativ. Man hörte, wer »cool« war und wer nicht, wer »in« war und wer »out«, welchen Lehrer man »toll« fand, welcher Lehrer total »blöd« war. Bei aufmerksamem Zuhören erkannte man sogar, welchen Platz das eigene Kind gerade in der Rangordnung einnahm.

Ein Erlebnis ebenso unterhaltsam wie informativ.

Jack machte Überstunden. Als sie nach Hause kamen, bereitete Grace für Max und Emma ein schnelles Abendessen – vegetarische Chicken Nuggets (angeblich gesünder, und in reichlich Ketchup ersäuft konnten die Kinder den Unterschied sowieso nicht schmecken), Bratkartoffeln und Mais aus der Tiefkühltruhe. Als Nachtisch schälte Grace zwei Orangen. Emma setzte sich an ihre Hausaufgaben – viel zu viel für eine Achtjährige, dachte Grace. In der ersten freien Minute eilte sie den Korridor entlang zum Computer und schaltete ihn ein.

Grace verstand vielleicht nichts von digitaler Fotografie, aber sie war sich der Notwendigkeit, ja sogar der Vorteile von elektronischer Bildbearbeitung und Internet durchaus bewusst. Es gab eine Homepage, auf der ihre Arbeiten vorgestellt wurden, mit Ratschlägen wie man sie erwerben oder ein Portrait in Auftrag geben konnte. Zuerst hatte sie das alles als zu kommerziell abgelehnt. Doch Farley, ihr Agent, hatte sie prompt darauf hingewiesen, dass auch Michelangelo auf Auftrag gearbeitet hatte. Dasselbe galt für Da Vinci und Raphael und eigentlich jeden berühmten Künstler. Und sie sollte sich zu gut dafür sein?

Grace scannte die drei besten Fotos von der Apfelernte zur Sicherheit und beschloss dann, eher einer Laune folgend, das fremde Foto ebenfalls einzuscannen. Anschließend setzte sie die Kinder in die Badewanne. Emma kam als Erste daran. Sie stieg gerade aus der Wanne, als Grace seinen Schlüssel im Schloss der Hintertür hörte.

»Hey!«, rief Jack leise nach oben. »Irgendwelche liebestollen Mädels da oben, die auf ihren Lieblings-Hengst warten?«

»Die Kinder«, antwortete sie. »Die Kinder sind noch auf.«

»Oh!«

»Kommst du rauf?«

Jack polterte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herauf. Das Haus erbebte. Er war ein großer, kräftiger Mann. Sie liebte diese Masse Mann neben sich im Bett, liebte es, wie sich seine mächtige Brust hob und senkte, seinen männlichen Duft, die weichen Körperhaare, die Art, wie er nachts den Arm um sie schlang, das Gefühl nicht nur von Nähe, sondern auch von Sicherheit. In seiner Gegenwart fühlte sie sich klein und beschützt. Auch wenn das vielleicht altmodisch war, es gefiel ihr.

»Hi, Daddy«, sagte Emma.

»Hey, meine Kleine. Wie war’s in der Schule?«

»Gut.«

»Immer noch in diesen Tony verschossen?«

»Hm.«

Zufrieden mit ihrer Reaktion küsste Jack Grace auf die Wange. Max kam nackt aus seinem Zimmer.

»Na, bereit für die Badewanne, mein Sohn?«

»Bereit«, sagte Max.

Sie vollführten einen komplizierten Händedruck. Jack schwenkte den kichernden und gurgelnden Max in die Luft. Grace half Emma in ihren Pyjama. Lautes Lachen drang jetzt aus dem Bad. Jack sang mit Max einen Kinderreim über ein Mädchen namens Jenny Jenkins, die nicht wusste, welche Farbe sie tragen sollte. Jack begann mit der Farbe, und Max fiel mit dem Refrain ein. Im Augenblick sangen die beiden, Jenny Jenkins trüge »lila«, weil sie dann aussah wie aus »Manila«, was einen neuen Lachanfall auslöste. Diese Reimspiele der beiden fanden jeden Abend statt. Und sie lachten sich jeden Abend erneut dabei kaputt.

Jack rubbelte Max trocken, zog ihm seinen Pyjama an und brachte ihn ins Bett. Er las ihm zwei Kapitel von »Charlie und die Schokoladenfabrik« vor. Max lauschte auf jedes Wort, ging völlig in der Geschichte auf. Emma war alt genug, selbst zu lesen. Sie lag in ihrem Bett, verschlang das letzte rätselhafte Abenteuer der Waisenkinder in Lemony Snicket. Grace saß bei ihr und zeichnete eine halbe Stunde. Dies war für sie die schönste Zeit des Tages  – still am Bett ihres ältesten Kindes arbeiten zu können.

Als Jack geendet hatte, bettelte Max um ein drittes Kapitel. Jack blieb hart. Es sei spät, entgegnete er. Max fügte sich widerwillig. Sie redeten noch ein paar Minuten über Charlies bevorstehenden Besuch in Willy Wonkas Fabrik. Grace hörte zu.

Roald Dahl, da waren sich beide Männer einig, war ein Knaller.

Jack dimmte das Licht. Max mochte es nicht dunkel. Dann konnte er nicht schlafen. Schließlich kam Jack in Emmas Zimmer. Er beugte sich über sie, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben. Emma, ganz Papas Mädchen, schlang die Arme um seinen Hals und wollte ihn nicht fortlassen. Jack schmolz bei Emmas geschicktem allabendlichem Manöver dahin, mit dem sie ihm ihre Zuneigung zeigte und gleichzeitig die Zeit zum Einschlafen hinauszögerte.

»Was Neues in der Schule?«, fragte Jack.

Emma nickte. Ihr Schulranzen stand neben dem Bett. Sie griff hinein und förderte ihr Schulheft zutage. Sie schlug eine Seite auf und reichte es ihrem Vater.

»Wir schreiben Gedichte«, erklärte sie. »Ich hab heute eins gemacht.«

»Toll. Willst du’s mir vorlesen?«

Emmas Wangen glühten. Jack strahlte. Sie räusperte sich und legte los:

Basketball, Basketball,warum bist du so drall?Hüpfst so vollkommenbist braun, dass ich staun.Tennisball, Tennisball,warum bist du so filzig?Wenn dich der Schläger trifft,wird’s dir dann schwind’lig?

Grace beobachtete die Szene von der Tür aus. Jack arbeitete in letzter Zeit sehr viel. Normalerweise machte ihr das nichts aus. Ruhige Momente wurden sowieso immer seltener. Sie brauchte diese erholsamen Pausen. Einsamkeit, Vorbote der Langeweile, ist dem künstlerischen Schaffensprozess durchaus zuträglich. Langeweile erzwingt Inspiration, und sei es nur, um nicht den Verstand zu verlieren. Ein befreundeter Schriftsteller behauptete, die beste Medizin gegen Schreibblockaden wäre die Lektüre des Telefonbuchs. Langeweile zwingt die Muse durch die schlimmsten Blockaden an die Oberfläche.

Als Emma fertig war, lehnte sich Jack zurück und sagte: »Donnerwetter!«

Emma sog die Lippen zwischen die Zähne, eine Grimasse, die sie immer zog, wenn sie stolz auf etwas war, es aber nicht zeigen wollte. »Das ist das beste Gedicht, das mir je untergekommen ist. Ehrlich.«

Emma zuckte mit gesenktem Kopf die Schultern. »Waren nur die ersten beiden Strophen.«

»Dann sind das eben die tollsten beiden ersten Strophen, die mir je untergekommen sind. Ehrenwort.«

»Morgen schreibe ich eins über Hockey.«

»Da wir gerade davon reden …«

Emma setzte sich auf. »Was ist?«

Jack lächelte. »Ich habe Karten für die Rangers im Madison Square Garden Stadion. Für Samstag.«

Emma, die im Gegensatz zu anderen Mädchen sich weniger für Musik, dafür umso mehr für Sport interessierte, stieß einen Jubelschrei aus und umarmte ihren Vater erneut. Jack rollte mit den Augen und ließ es geschehen. Sie sprachen über die jüngsten Erfolge des Teams, wetteten auf seine Gewinnchancen gegen die Minnesota Wild. Wenige Minuten später löste sich Jack aus der Umarmung seiner Tochter und sagte ihr, dass er sie lieb hatte. Sie erwiderte, sie hätte ihn ebenfalls lieb. Jack ging in Richtung Tür.

»Ich muss jetzt unbedingt was essen«, flüsterte er Grace zu.

»Ist noch eine Portion Hühnchen im Kühlschrank.«

»Warum schlüpfst du inzwischen nicht in was Bequemeres?«

»Der Mensch hofft, solange er lebt.«

Jack zog die Augenbrauen hoch. »Hast du immer noch Angst, nicht genug Frau für mich zu sein?«

»Ah, dabei fällt mir ein …«

»Was?«

»Hat was mit Coras Rendezvous von gestern Abend zu tun.«

»Heiße Sache?«

»Bin gleich unten.«

Er zog auch noch die andere Augenbraue hoch und eilte mit einem leisen Pfiff die Treppe hinunter. Sie löschte das Licht und wartete einen Moment. Das war eigentlich Jacks Aufgabe. Er wanderte nachts, wenn er nicht schlafen konnte, im Haus herum und bewachte die Kinder in ihrem Schlaf. Es gab Nächte, da wachte sie auf und fand den Platz neben sich verlassen. Jack stand dann mit glasigen Augen in einer der Türen. Wenn sie zu ihm trat, sagte er: »Man liebt sie so sehr …« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Im Grunde brauchte er nicht einmal das zu sagen.

Jack hörte sie nicht näher kommen. Und aus irgendeinem Grund wollte Grace sich nicht bemerkbar machen und blieb stumm. Jack wirkte wie erstarrt, hatte ihr den Rücken zugewandt, den Kopf gesenkt. Das war ungewöhnlich. Jack war ständig in Bewegung. Normalerweise. Wie Max konnte er nie still sitzen. Er zappelte. Er wippte mit den Beinen. Er stand ständig unter Strom.

In diesem Augenblick jedoch blickte er auf die Küchentheke – oder vielmehr auf das fremde Foto, das dort lag – und war wie zur Salzsäule erstarrt.

»Jack?«

Er fuhr herum. »Was zum Teufel soll das hier?«

Sein Haar, das fiel ihr in diesem Moment auf, war etwas zu lang geworden. »Sag du es mir. Ich habe keine Ahnung.«

Er schwieg.

»Das bist doch du, oder? Der mit dem Bart?«

»Was? Nein!«

Sie musterte ihn. Er blinzelte und wandte den Blick ab.

»Ich habe heute unseren letzten Film abgeholt«, erklärte sie. »Im Fotogeschäft.«

Er sagte noch immer nichts. Sie trat näher.

»Diese Aufnahme lag mitten zwischen unseren Fotos.«

»Moment!« Er sah hastig auf. »Das lag zwischen unseren Bildern?«

»Ja.«

»Welcher Film war das?«

»Den, den wir bei der Apfelernte aufgenommen haben.«

»Das ist doch verrückt.«

Sie zuckte die Schultern. »Wer sind die anderen auf dem Bild?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Die Blondine neben dir«, begann Grace. »Die mit dem X über dem Gesicht. Wer ist sie?«

Jacks Handy klingelte. Er ließ es aufklappen wie ein Messer. Er murmelte ein »Hallo«, hörte zu, legte die Hand über die Sprechmuschel und sagte: »Es ist Dan.« Dan war sein Kollege im Forschungslabor bei Pentocol Pharmaceutics. Er senkte den Kopf und verschwand in Richtung Arbeitszimmer.

Grace ging in den ersten Stock hinauf. Sie machte sich bettfertig. Was als leiser Zweifel begonnen hatte, zerrte immer stärker an ihren Nerven. Sie dachte zurück an die Jahre in Frankreich. Jack hatte es stets vermieden, über seine Vergangenheit zu sprechen. Seine Familie war wohlhabend, und ihm gehörte ein Teil eines Treuhandfonds. Mehr wusste sie nicht. Er wollte weder mit der einen noch dem anderen etwas zu tun haben. Es gab auch noch eine Schwester, Anwältin, drüben in Los Angeles oder San Diego. Sein Vater lebte noch, war jedoch alt und gebrechlich. Grace hätte gern mehr erfahren, doch Jack weigerte sich, ins Detail zu gehen. Das wiederum machte ihr Angst und hinderte sie daran, weiter in ihn zu dringen.

Sie hatten sich ineinander verliebt. Sie malte. Er arbeitete in einem Weingut in Saint-Emilion im Bordeaux. Sie lebten in Saint-Emilion, bis Grace mit Emma schwanger wurde. Mit einem Mal bekam sie Heimweh – den Wunsch, ihre Kinder im Land der Freien und Mutigen aufzuziehen. Jack wollte bleiben, doch Grace hatte nicht nachgegeben. Jetzt fragte sich Grace, weshalb.

Eine halbe Stunde verstrich. Grace schlüpfte unter die Decke und wartete. Zehn Minuten später hörte sie, wie ein Automotor aufheulte. Sie sah aus dem Fenster.

Jacks Minivan fuhr aus der Auffahrt.

Jack fuhr gern noch abends spät zum Einkaufen. Leere Supermärkte reizten ihn. Dass er um diese Stunde noch wegfuhr, war nichts Ungewöhnliches. Nur hatte er ihr diesmal weder Bescheid gesagt noch gefragt, ob sie noch etwas Bestimmtes brauchten.

Grace rief ihn auf seinem Handy an. Die Mailbox schaltete sich ein. Sie lehnte sich zurück und wartete. Nichts. Sie versuchte zu lesen. Die Worte verschwammen vor ihren Augen, wurden bedeutungslos. Zwei Stunden später versuchte Grace erneut, ihn auf dem Handy zu erreichen. Wieder meldete sich nur die Mailbox. Sie sah nach den Kindern. Beide schliefen tief und fest, hatten offenbar nichts bemerkt.

Schließlich hielt Grace es nicht länger aus. Sie ging ins Erdgeschoss hinunter. Sie blätterte den Stapel Fotos durch.

Das fremde Foto war verschwunden.

2

Die meisten Menschen durchsuchen persönliche Daten im Internet, um einen Partner zu finden.

Eric Wu suchte Opfer.

Er unterhielt sieben verschiedene Internet-Adressen von sieben verschiedenen, fiktiven Personen – einige männlich, einige weiblich. Er versuchte, unter jeder dieser Adressen E-mail-Kontakt

Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Just One Look« bei Dutton, a member of the Penguin Group (USA) Inc., New York

Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion. Die Personen, Orte, Ereignisse und Dialoge entstammen der Fantasie des Autors. Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen, lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

1. Auflage Deutsche Erstausgabe März 2006

Copyright © der Originalausgabe 2004 by Harlan Coben

All rights reserved. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagmotiv: zefa/Schroll Redaktion: Sigrun Zühlke An · Herstellung: Str. Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-641-08438-7

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