Lars, mein Freund - Iben Akerlie - E-Book

Lars, mein Freund E-Book

Iben Akerlie

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Beschreibung

Verliebt, feige und doch ganz mutig Amanda liebt Adam, der in ihre Klasse geht, aber Adam liebt Amanda nicht. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, bekommt Amanda von ihrer Lehrerin eine ganz besondere Aufgabe zugeteilt: Sie soll sich ab sofort um den neuen Mitschüler Lars kümmern, der das Downsyndrom hat. Furchtbar findet Amanda das. Nicht weil Vorurteile sie quälen, nicht weil Lars ihr etwa unsympathisch wäre. Nein, sie hat Angst bei den anderen anzuecken und nicht mehr beliebt zu sein. Aber mit Lars ist es nett, vor allem nach dem Unterricht bei ihm zu Hause amüsiert sich Amanda wie Bolle. Und trotzdem schwelt ein Brand in der Klasse, der Lars betrifft. Als die Katastrophe fast unausweichlich scheint, muss Amanda Position beziehen – und stellt sich gegen Lars. Ob er ihr je verzeihen kann?

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Seitenzahl: 223

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Iben Akerlie

Lars, mein Freund

Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Ich liebe ihn

Adam.

Adam, Adam, Adam. Er sitzt zwei Reihen vor mir in dem schwülen Klassenzimmer. Warme Sonnenstrahlen tanzen durch die Fenster, die weit offen stehen, um den herrlichen Spätsommertag hereinzulassen. Es ist der erste Schultag, und ich sitze da und male mir aus, wie toll es sich anfühlen muss, die Finger durch die dunklen Locken zu ziehen, die sich um seinen Nacken kräuseln. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sogar seine dunklen Augen vor mir, die intensiv in meine blicken, auch wenn das in der Realität noch nie passiert ist. In der Realität wissen sie kaum, dass ich überhaupt existiere.

Adam und Amanda. Den ganzen Sommer über bin ich wie ein herzförmiger Luftballon durch die Gegend geschwebt und habe mich weit weg in eine Welt geträumt, in der Adam plus Amanda gleich Realität ist.

In diesen Träumen bin ich davon überzeugt, dass ich nach einem langen Sommer, in dem ich größer geworden bin, in die Schule zurückkomme und mich endlich, endlich trauen werde, ihn anzusprechen. Adam. Dann werde ich mich endlich trauen, »Hi« oder »Hallo« zu sagen und vielleicht sogar zu fragen, wie sein Sommer war. Ob er die Ferien auf einer Hütte verbracht hat.

Aber Fehlanzeige. Als ich heute in die Schule kam, den neuen Klassenraum und meine beste Freundin Sari gefunden hatte und Adam fünf Meter vor mir entdeckte, war ich wie gelähmt. Wie ein Soldat der königlichen Leibgarde stand ich stocksteif in Habachtstellung da und starrte, ohne zu blinzeln, vor mich hin. Sari knuffte mich sanft in den Rücken, aber weil meine Beine auf dem Boden wie festgewachsen waren, kippte ich geradewegs vornüber und fiel hin. Ich konnte mich in letzter Sekunde noch mit den Händen abfangen, die unsanft auf dem dreckigen Boden aufprallten.

So blieb ich einen Moment lang liegen, die Nase zwei Zentimeter über dem Linoleum, und starrte auf den Boden, während jegliches Selbstbewusstsein langsam aus meinem Körper wich, so wie die Sonnenbräune über den Herbst verblasst.

Als ich schließlich wieder aufstand und mich umsah, war Adam im Klassenzimmer verschwunden, ohne sich umzusehen oder meinen Sturz überhaupt bemerkt zu haben.

»Alles klar, Amanda?«, fragte Sari.

»Ja, schon«, antwortete ich, »ich hatte mir nur eingebildet, dass ich einen besseren Start hinlegen würde.«

Schwer zu sagen, ob sie auch erwartet hatte, dass ich einen besseren Start hinlegen würde, oder ob sie damit gerechnet hatte, dass ich am ganzen Körper erstarre und hinfalle und mich doch nicht traue. Sari kennt mich besser als alle anderen, und auch wenn wir den Sommer über viel darüber geredet haben, wie ich Adam ansprechen könnte, sobald die Schule wieder losging, würde es mich nicht überraschen, wenn Sari insgeheim geglaubt oder gewusst hätte, dass ich mich nicht trauen würde. Es ist so typisch für mich, dass ich mich nicht traue.

Ein jämmerlicher Seufzer kam aus meinem Mund. Sari sagte nichts, sondern schob ihren zierlichen Arm unter meinen und führte mich durch das Klassenzimmer in die letzte Reihe, wo wir in der Ecke zwei leere Pulte fanden.

Ich sitze da und sehe sie bewundernd an, sie ist der klügste und liebste Mensch, den ich kenne. Mir fällt auf, wie sehr ihre Haare über den Sommer gewachsen sind und sich in langen hellen Strähnen über ihren Rücken ergießen, so wie sich das Amazonasdelta in den Atlantik erstreckt. Ihr scharfer Blick wird von einem warmen Lächeln abgemildert, und ihr Näschen ist vor Sonnenbrand ganz rot. Über den Augen ruhen dichte markante Augenbrauen, die sich aus Sorge um mich zusammenziehen.

Ich versuche krampfhaft, nicht an Adam zu denken, aber er sitzt zwei Reihen vor mir und lässt einen Bleistift zwischen den Fingerspitzen rotieren. Er ist der Einzige in der Klasse, der das kann, und er hat sich über den Sommer noch verbessert. Sein Ellbogen ruht stabil auf dem Pult, und er hält den Bleistift zwischen Daumen und Zeigefinger, bevor er ihn mit dem Mittelfinger anstupst. Drei Drehungen, dann fängt er den Bleistift geschickt ab und lässt ihn wieder kreisen, als wäre es die einfachste Sache der Welt. Ich habe den ganzen Sommer über geübt, aber ich schaffe nur eine klägliche Drehung, bevor der Bleistift zu Boden fällt.

Der Bleistift in Adams Hand hypnotisiert mich regelrecht, und ich male mir im Geiste weiter aus, wie meine Hände durch seine weichen Locken fahren. Wie wäre es, wenn ich es schaffen würde, in der Kantine hinter ihm in der Essensschlange zu landen, dann könnte ich ihm unbemerkt durch die Haare streichen.

Zum Glück werde ich aus meinen Tagträumen gerissen, als Frau Nielsen, unsere Klassenlehrerin, durch die Tür spaziert.

»Hallo, alle zusammen!«, ruft sie fröhlich, fordert unsere Aufmerksamkeit aber noch nicht ein.

Wir unterhalten uns weiter miteinander, während Frau Nielsen die Sachen, die auf dem Lehrerpult herumliegen, ordnet und richtig hinlegt. Die Naturkundehefte wandern vom Fensterbrett ins Bücherregal und die neuen bunten Marker zur Tafel. Die rote Lockenpracht auf ihrem Kopf hüpft auf und ab, sobald sie sich bewegt. Ihre Haut ist von der Sonne ganz rosa und voller Sommersprossen, die sich vor allem um ihre kleine Nase drängen. Zur Feier des ersten Schultags trägt sie ein weites, flatterndes Batikkleid in Gelb und Lila, und sie wackelt hin und her wie ein glücklicher Pfau.

Sie dreht sich zur Klasse um und sagt freundlich:

»Mensch, was habe ich euch vermisst!«

Sari und ich lächeln uns an und entnehmen dem Blick der jeweils anderen, dass auch sie unsere Lehrerin vermisst hat.

»Herzlich willkommen, alle zusammen!«, fährt sie fort. »Ich erkenne euch fast nicht wieder, so wie ihr gewachsen seid.«

Sie schmunzelt, als sie das sagt.

»Es ist so schön, euch alle wiederzusehen, und ich freue mich sehr auf das neue Jahr, das wir gemeinsam verbringen werden!«

Frau Nielsen redet weiter, während ich langsam abdrifte. Es dauert nicht lange, da sind meine Gedanken wieder völlig woanders: zwei Reihen vor mir, in den dunklen Locken. Dort sitzt Adam und lässt den Bleistift kreisen, als gehörte er eigentlich ganz woandershin, an einen viel cooleren Ort. Die Schultern hat er nach vorn gezogen, und zwischen den Schulterblättern zeichnet sich auf seinem roten T-Shirt ein schmaler Streifen Schweiß ab.

»Ich liebe ihn«, flüstere ich Sari leise zu, die von ihrem Rucksack aufschaut, in den sie eingetaucht war, um nach Stift und Papier zu fahnden.

»Meinst du das wirklich?«, fragt sie mit großem Ernst in der Stimme.

»Ja. Das ist mir klar geworden, als ich ihn wiedergesehen habe. Ich liebe ihn.«

»Das ist ein starkes Wort«, merkt Sari an, »Papa sagt, man sollte von Liebe nur sprechen, wenn man es wirklich ernst meint. Das Gleiche gilt für hassen, das kann man auch nur sagen, wenn das Gefühl so stark ist, dass man es mit keinem anderen Wort beschreiben kann.«

»Aber es gibt kein anderes Wort dafür«, sage ich, »ich liebe ihn. Und es ist über den Sommer noch schlimmer geworden.«

Ein riesiger Seufzer geht durch mich hindurch und lässt mich noch mehr zusammensacken. Selbst Sari ist ratlos.

Frau Nielsens Stimme dringt zu mir durch.

»Dieses Jahr werden wir ja auch Patenkinder bekommen!«

Frau Nielsens Begeisterung ist ansteckend, und sogar ich mit all meinen Sorgen muss lächeln. Pate zu werden, darauf freut sich die ganze Klasse schon lange, vielleicht sogar seit damals, als wir selbst noch Patenkinder waren. Wir haben alle davon geträumt, wie wir einen süßen Erstklässler zugeteilt bekommen, auf den wir aufpassen und den wir verhätscheln können.

Ich richte mich auf und kann mich zum ersten Mal für heute auf etwas anderes konzentrieren als Adam.

Frau Nielsen spricht weiter:

»Die Patenkinder bekommt ihr morgen zugeteilt, und ich muss euch dazu noch allerhand praktische Dinge mit auf den Weg geben, aber das machen wir nach dem Mittagessen.«

Ein leiser Seufzer geht durch die ungeduldige Klasse, doch Frau Nielsen überhört ihn.

»Aber zuerst will ich, dass wir die Zeit nutzen, um uns wieder miteinander vertraut zu machen, uns gegenseitig zuzuhören und uns wieder an die Stimmen der anderen zu gewöhnen, wie noch vor zwei Monaten, vor den Sommerferien.«

Sich miteinander vertraut machen, sich aneinander gewöhnen bedeutet mit Frau Nielsens Worten, dass wir uns hinsetzen können, wo wir wollen, um miteinander zu reden. Ich drehe mich zu Sari um und will gerade etwas über Adams Locken sagen, als mir eine heisere Stimme hinter meinem Rücken zuvorkommt.

»Hi.« Es ist Kay, der uns großspurig abklatscht.

Sari und ich lächeln ihn freundlich an. Es ist schön, Kay wiederzusehen, er ist der Dritte im Bunde, jetzt sind wir wieder vollzählig.

»Was gibt’s Aufregendes?«, fährt er lässig fort.

»Nicht viel«, antwortet Sari für uns zwei und rutscht auf ihrem Stuhl zur Seite, damit beide mit einer halben Pobacke darauf Platz haben.

»Okay, okay«, sagt Kay scherzhaft und setzt sich, »ich habe euch den ganzen Sommer nicht gesehen, aber es gibt nichts Neues. Verstehe.«

Kay gibt sich beleidigt, aber sein Gesicht zeigt Herzlichkeit und Freundschaft pur.

»Du verstehst schon, wie ich das meine«, entschuldigt sich Sari, »gerade im Moment passiert nichts Aufregendes.«

Wir lachen alle drei, bevor uns Kay von seinen Sommerferien erzählt. Kays Vater stammt aus Gambia, daher war er in Afrika und hat seine Familie besucht. Seine Haut ist eigentlich das ganze Jahr über schon ziemlich dunkel, jetzt glüht sie regelrecht. Seine Augen sind so grün wie leere Weinflaschen, und sie leuchten, wenn er redet oder lacht. Seine Lippen sind dick und immer etwas rissig, und hinter ihnen verbirgt sich eine Reihe ziemlich schiefer Zähne.

Ich schaue verstohlen zu Adam hinüber, während Kay und Sari von ihren Sommerferien erzählen. Warum ist es nur so verflixt schwierig, verliebt zu sein? Warum brennt es die ganze Zeit in einem drin? Als wäre ich nicht eine einzige Sekunde allein, weil ich ständig einen winzigen Kobold in mir trage, der in meiner Herzkammer sitzt und ungeduldig an der Herzwand kratzt.

Wir werden von der Pausenklingel unterbrochen, und die ganze Klasse schiebt sich gleichzeitig zum Schulhof und zu den warmen Sonnenstrahlen, die draußen locken. Unterwegs erzählt Kay lauthals von seinen Onkeln, Tanten und von Straßenkatzen, und Sari und ich lachen mit ihm.

Plötzlich steigt mir ein hypnotisierender Duft in die Nase, der mich an Erdbeermilkshake oder Schokoladenkuchen erinnert. Ich blicke auf und stelle fest, dass ich direkt hinter Adam laufe. Meine Bewegungen werden sofort steif und abgehackt. Fast so, als würde ich in bewusstem Zustand in Ohnmacht fallen, und Sari, die neben mir geht, merkt es.

»Du musst was machen, Amanda, sonst wirst du zum Zombie.«

Sie hat es ganz leise gesagt, sodass Adam es nicht hört, aber Kay hat es mitbekommen.

»Worum geht’s?«, fragt er und streicht sich mit einer Hand über die kurz geschorenen Haare.

»Um Adam«, verrät Sari und geht etwas langsamer, damit Adam einen Vorsprung bekommt.

»Immer noch?« Kay ist schockiert. »Ich dachte, du wolltest im Sommer über ihn hinwegkommen? War das nicht der Plan?«

»Doch«, gebe ich zu, »aber es ist eher schlimmer geworden. Ich liebe ihn.«

»Tja, da haben wir ein Problem«, schließt Kay und schüttelt resigniert den Kopf.

Auch Sari schüttelt leise den Kopf, ich glaube aber vor allem deshalb, weil sie die ewig gleiche Leier satthat. Ich bin schließlich seit der vierten Klasse in Adam verliebt, ohne dass ich in der Sache auch nur einen Schritt weitergekommen bin.

Als Adam in der vierten Klasse zu uns kam, haben sich alle Mädchen in ihn verliebt, aber er war in niemanden verliebt und wollte nur Fußball spielen. Anfangs war es kein Problem für mich, mit ihm zu sprechen, und manchmal habe ich sogar mitgespielt, wenn er in der großen Pause Fußballspiele gegen die B-Klasse organisiert hat. Aber irgendwann kam er im Naturkundeunterricht zu mir und fragte, ob ich ihm helfen könnte. Ich dachte, es ginge um die Aufgaben, die wir ausgeteilt bekommen hatten, aber als ich mit ihm zu seinem Pult ging, stellte sich heraus, dass er mit einem Mädchen aus der B-Klasse zusammenkommen wollte. Ich brachte nicht einmal ein »Ja« oder »Nein« heraus, ich starrte ihn nur an, während mein Körper in die Knie ging wie ein Pfannkuchen. Ich erlebte zum ersten Mal, dass ich wie gelähmt war und nichts dagegen tun konnte, aber seither hat es sich ganz oft wiederholt.

Ich glaube, Sari war erleichtert, als ich vor dem Sommer beschlossen habe, ihn nicht länger zu mögen, und ich glaube, sie ist jetzt ganz enttäuscht darüber, dass ich stärker in ihn verliebt bin als je zuvor.

»Wir müssen was machen, Amanda«, sagt Kay entschieden, »je früher, desto besser.«

»Aber was?«, frage ich resigniert.

»Du musst auf ihn zugehen.«

»Nee …«, sage ich zögerlich.

»Das klappt nicht«, wirft Sari ein, »sie hat es vorhin schon probiert und ist dabei hingefallen. Und hat sich versteift, wie immer.«

»Tatsächlich?«, fragt Kay und schüttelt wieder den Kopf. »Ist es wirklich so schlimm?«

»Du Arme«, murmelt Sari vor sich hin.

»Ja«, pflichtet Kay ihr bei, »aber du musst es tun, hier und jetzt. Du musst auf ihn zugehen und Hallo sagen oder irgendwas anderes und so tun, als wenn nichts wäre. Das ist das Beste.«

Wir stoßen die schwere Tür zum Schulhof auf und werden sekundenlang von dem grellen Sonnenlicht geblendet.

»Schon …«, antworte ich und blinzle, um mein Augenlicht wiederzuerlangen.

Wir gehen über den Schulhof direkt zu den Bänken in der hinteren Ecke, wo wir immer herumhängen. Von hier können wir den ganzen Schulhof überblicken, und es dauert nicht lange, bis Kay Adam auf dem Fußballplatz ausgemacht hat. Jetzt sehe ich ihn auch, er steht an der Seitenlinie und unterhält sich mit einem Jungen aus der B-Klasse, den ich nicht kenne.

»Geh einfach zu ihm hin, sag Hallo und frag ihn, ob er einen schönen Sommer hatte.«

Leichter gesagt als getan. Trotzdem kommt es mir vor, als hätte ich seit dem letzten Mal etwas Mut gesammelt, vielleicht weil ich Kay und Sari als Mitspieler hinter mir weiß, vielleicht aber auch, weil der Kobold in meiner Herzkammer so sehr kratzt, dass es fast unerträglich ist. Es muss tatsächlich etwas passieren.

Ich stehe langsam von der Bank auf und hole tief Luft, sodass die Lungen meinen Rücken zwingen, sich aufzurichten. Ich fahre mir mit beiden Händen einmal über die widerspenstigen Haare. Versuche sie zu bändigen, auch wenn ich weiß, dass es unmöglich ist und sie sich wie immer sträuben.

»Okay«, seufze ich, und ohne mich umzusehen, laufe ich in Richtung Adam los.

Der Weg über den Schulhof bis zu ihm dauert etwa zehn Jahre. So fühlt es sich zumindest an. Es geht langsam, aber es geht voran. Mein Körper bewegt sich Schritt für Schritt über den Fußballplatz. Ich bin nervös, gehe aber mit festen Schritten, und je näher ich dem Ziel komme, desto weniger spüre ich die Angst, die sich ganz sicher irgendwo in mir aufbaut. Was mache ich da? Was soll ich sagen? Habe ich einen Plan? Vielleicht sollte ich ihm mit den Fingern jetzt vorsichtig durch die Locken fahren?

Mir geht auf, dass ich überhaupt keinen Plan habe, aber schon ziemlich nah am Ziel bin, so nah, dass ich bald »Hallo« sagen muss.

»Hi«, sage ich, als ich ein paar Meter vor ihm stehen bleibe, aber er antwortet nicht. Er sieht nicht einmal auf, spielt stattdessen weiter mit einem Ball.

Die Panik in mir wächst, aber irgendein Instinkt übernimmt jetzt das Kommando und sagt mir, dass ich nicht mehr umkehren kann, dass ich da jetzt durchmuss. Ein weiteres »Hi« kommt mit Piepsstimme aus mir heraus.

Diesmal sieht er auf und erwidert kurz meinen Blick, bevor er sich seinem Kumpel aus der B-Klasse zuwendet und ihm etwas zuflüstert. Der Kumpel nickt, dreht sich dann um und holt etwas aus seinem Rucksack, der hinter ihm auf der Bank steht.

Nach einer gefühlten Ewigkeit antwortet Adam endlich mit einem kühlen »Hi«.

»Schönen Sommer gehabt?«, schleudere ich ihm entgegen, ohne zu wanken. Gleichzeitig frage ich mich, wo das ganze Selbstvertrauen herkommt, denn innerlich fühle ich mich ganz klein.

»Ja«, antwortet er schulterzuckend.

Wir stehen einander gegenüber und bewegen uns leicht, sagen aber kein Wort. Adam wirkt etwas angespannt, verbirgt es aber gut hinter einer lässigen Körperhaltung, die Hände wie zufällig in den Taschen, den Rücken leicht vorgebeugt.

»Ähm, dann …«, stottere ich, »wir sehn uns!«

»Warte mal!«, ruft Adam plötzlich.

Ich habe mich noch nicht von der Stelle gerührt und bleibe wie festgewurzelt an dem Punkt auf dem Asphalt stehen, an dem ich während des ganzen merkwürdigen »Gesprächs« gestanden habe.

Hinter Adam taucht der Kumpel aus der Parallelklasse auf und reicht ihm eine Anderthalbliterflasche Mineralwasser, versucht, ein Grinsen zu unterdrücken. Der Kumpel entfernt sich rückwärts von Adam und behält mich dabei im Blick.

Jetzt kommt Adam plötzlich auf mich zu, und mein Herz macht einen Salto, den man mir von außen bestimmt ansehen kann. Ich hole tief Luft und versuche, Ruhe zu bewahren. Ich entdecke die Andeutung eines Lächelns, das sich über Adams Gesicht legt, und sehe, dass er nur mit Mühe ein lautes Lachen unterdrücken kann. Was passiert jetzt? Warum kommt Adam auf mich zu? Warum lächelt er?

Als er einen halben Meter vor mir stehen bleibt, sagt er nichts und sieht mich auch nicht an. Das Lächeln um seinen Mund nimmt zu und wird von dem einen oder anderen Kichern abgelöst. Ich stehe wie gelähmt vor ihm, kriege aber doch mit, dass sein Kumpel ein paar Meter hinter ihm hysterisch kichert.

»Mach schon!«, ruft er zwischen den Lachanfällen.

Adam dreht den Verschluss der Flasche auf und steckt den Daumen in die Öffnung. Jetzt schüttelt er die Sprudelflasche in seiner Hand, erst langsam, dann immer heftiger. Zehn unendliche Sekunden lang macht er das, ohne dass ich irgendwie reagieren kann. Ich stehe stocksteif da und kapiere nicht, was gerade passiert.

Plötzlich zielt Adam mit der Flasche auf mich und zieht im selben Augenblick den Daumen raus. Ein kräftiger Wasserstrahl schießt heraus und spritzt mich von oben bis unten nass. Es dauert eine Ewigkeit, bis der Strahl endlich nachlässt und ich durch das Wasser und die Tränen hindurch, die sich an meinen Augenrändern gebildet haben, blinzelnd Adams Gesicht erkennen kann.

Der Blick, dem ich begegne, ist Schadenfreude pur, aber plötzlich legt sich ein Schatten darüber, und Adams Gesicht wird zu einer ausdruckslosen steinernen Maske. Abrupt dreht er sich um und stürmt mit dem Kumpel im Schlepptau zur Jungentoilette.

Hinter mir höre ich jemanden rennen.

»Alles in Ordnung?« Kay ist außer sich.

»Verdammt!«, brüllt Sari und ist so wütend, dass fast Rauch aus ihren Ohren kommt.

»Komm mit«, sagt Kay, legt den Arm um mich und führt mich zur Eingangstür des Schulgebäudes, das sich leider auf der anderen Seite des Schulhofs befindet, wir müssen also an allen vorbei.

Wie sehr ich mich auch bemühe, den Blicken der anderen zu entgehen, es lässt sich nicht übersehen, dass der ganze Schulhof innegehalten und die Spritzaktion mitbekommen hat. Fast traue ich mich nicht, an mir herabzuschauen, um meine Befürchtung bestätigt zu bekommen: Das hellblaue Kleid, das ich gestern Abend mit Bedacht ausgewählt habe, ist vollkommen durchsichtig geworden und klebt an meinem Körper, sodass alle mein Höschen sehen können.

Im Flur finden wir unter der Treppe Schutz. Ich stehe unter Schock. Und bin triefnass. Die Tränen hören nicht auf zu fließen. Sari sieht mich ungläubig an und hat bisher noch kein Wort herausgebracht.

»Entschuldigung«, flüstert sie und zieht das Strickjäckchen aus, das sie über der Schulter trägt, hält es mir hin. »Wir hätten dich niemals dazu überreden sollen, zu ihm zu gehen.«

»Ihr … konntet … es … ja … nicht … wissen«, schluchze ich.

Kay hat Papiertücher besorgt und beginnt, mein Gesicht und meine Haare trocken zu reiben.

»Was ist denn passiert?«, fragt er. »Was hast du bloß zu ihm gesagt?«

»Nichts«, presse ich heraus. »Ich habe nur Hi gesagt … gefragt … wie sein … Sommer … war.«

Die letzten Worte enden in weiteren Tränen, die Kay mühsam abtrocknet.

»Ich verstehe das nicht«, sagt Sari nachdenklich.

»Es sei denn, er mag dich auch«, entfährt es Kay.

»Ganz bestimmt«, flüstere ich. »Niemals. Er hasst mich.«

»Ja …«, räumen Kay und Sari im Chor ein, »es sieht ganz danach aus.«

»Vielleicht schaffe ich es jetzt, über ihn hinwegzukommen«, sage ich mit einem Hauch von Optimismus in der Stimme.

»Hoffentlich«, nickt Sari, »aber leicht wird es nicht.«

Und mit diesen traurigen Worten kehren wir ins Klassenzimmer zurück wie drei Musketiere, die sich in einer Schlacht geschlagen geben mussten, aber wenigstens einander haben.

Ungewöhnlich reif für dein Alter

»Coole Klamotten, Amanda«, höre ich jemanden hinter mir sagen, als wir das Klassenzimmer betreten. Ich drehe mich um und entdecke Anna, meine Ex-Beste-Freundin. Sie hat ihre dunklen Haare in einem strengen Pferdeschwanz gesammelt, und zwei blitzblanke Perlen prangen in ihren Ohrläppchen. Sie trägt ein rosa Piqué-Shirt zu kurzen Jeans, und ihre Haut ist von der Sonne goldgelb. Sie steht breitbeinig einen Meter von mir entfernt, die Hände selbstsicher in die Hüften gestemmt, und wartet darauf, dass ich mich wehre.

»Ich wusste gar nicht, dass nass und durchsichtig der neue Trend ist …«, stimmt Christina ein, die dicht neben Anna steht, aus Angst, sie zu verlieren. Christina hat im Gegensatz zu Anna hellblonde Haare, fast weiß, hat sie aber ebenfalls zu einem Pferdeschwanz gebunden, um sich ihrer besten Freundin anzupassen. Sie steht da und inspiziert ihre Fingernägel, schielt mit einem Auge zu mir herüber.

Der schlimmste Tag meines Lebens geht also noch schlimmer weiter, mit viel Aufmerksamkeit und blöden Kommentaren. Ich versuche, mit einem Schnauben darüber hinwegzugehen, als wäre es mir egal, was Anna und Christina sagen oder überhaupt auch nur denken, aber natürlich ist es mir nicht egal. Natürlich versetzt es mir einen Stich, vor allem, weil es von Anna und Christina kommt. Worte können nicht beschreiben, wie ätzend es ist, triefnass und gedemütigt ins Klassenzimmer zurückzukommen. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist, dass mich die beliebtesten Mädchen aus der Klasse zusätzlich fertigmachen.

Sari zieht mich weg von Anna und Christina zu unseren Plätzen in der Ecke. Unterwegs fällt mein Blick auf Adam, der lässig auf seinem Pult liegt. Ein paar Kumpel stehen um ihn herum, aber er schaut etwas abwesend in die Luft. Ich lasse die Augen auf ihm ruhen. Er hebt den Kopf und begegnet meinem Blick, schlägt die Augen aber sofort nieder und starrt entschlossen auf sein Pult. Egal. Mit ihm bin ich durch.

Sari und ich lassen uns auf unsere Stühle plumpsen, und mein nasses Kleid gibt ein klatschendes Geräusch von sich, als es den Stuhl berührt.

Zum Glück spaziert Frau Nielsen jetzt ins Zimmer, und die Aufmerksamkeit wandert von mir auf sie. Sie macht sich etwas hektisch am Lehrerpult zu schaffen, bevor sie sich mit einem Lächeln an die Klasse wendet:

»Hallo! Seid jetzt bitte alle ruhig!«, ruft sie mit lauter Stimme.

Die meisten gehorchen und gehen zu ihren Plätzen, aber Anna und Christina bleiben am Fenster stehen und reden weiter, als wäre nichts passiert. Sie haben ihre Smartphones in der Hand und kichern laut. Man kann sich kaum vorstellen, dass sie so sehr mit sich und ihren Fotos beschäftigt sind, um nicht zu merken, wie alle um sie herum ihre Plätze eingenommen haben und darauf warten, dass sie es ebenfalls tun.

Frau Nielsen wirkt genervt, ist an dieses Benehmen aber gewöhnt. Sie macht kein großes Theater, sondern fordert die beiden noch einmal auf, zu ihren Plätzen zu gehen, und jetzt können sie die Lehrerin nicht länger ignorieren und setzen sich ebenfalls hin.

»Okay!«, fährt Frau Nielsen fort. »Kommen wir zu den Patenkindern.«

Ein leises Rascheln geht durch die Klasse. Der Gedanke an die Patenkinder stimmt mich fröhlich, schafft es aber leider nicht, mein Unbehagen über das nasse Kleid zu vertreiben. Es fühlt sich an, als klebten meine Oberschenkel am Stuhl fest, und ich muss den Po ein wenig anheben, um mich vom Stuhl zu lösen.

»Morgen erfahrt ihr, wer eure Patenkinder sind«, klärt Frau Nielsen uns auf, und ein klar vernehmliches Seufzen geht durch den Raum, weil wir gern heute schon Klarheit gehabt hätten, in dieser Sekunde.

»Doch, so lange könnt ihr warten …«, tröstet uns Frau Nielsen, »ich möchte, dass ihr den Rest des Tages dafür nutzt, euch in Gruppen darüber zu unterhalten, wie ihr eure Patenkinder willkommen heißen wollt, mit welcher Haltung, und dass ihr euch Dinge überlegt, die ihr gemeinsam unternehmen könntet. Am Ende des Schultags will ich von jeder Gruppe einen schriftlichen Plan sehen.«

Eine einfache Aufgabe, Peanuts im Vergleich zu dem, was mich gerade sonst belastet. Kay kommt zu uns herüber, und zusammen mit Sari bilden wir eine Gruppe. Wir fangen an zu diskutieren und reden tatsächlich über die Patenkinder anstatt über das, was uns sonst beschäftigt. Es tut gut, ein wenig von Adam und dem nassen Höschen abgelenkt zu werden.

Kay ist ganz begeistert und wirft Stichwörter in den Raum, die Sari auf einem Blatt Papier notiert.

»Ebenbürtig!«

»Fürsorglich!«

»Lieb«, werfe ich halbherzig ein.

So geht es ein paar Minuten lang weiter, bis ich plötzlich von Frau Nielsen unterbrochen werde, die mir vorsichtig auf die Schulter tippt.

»Amanda, wärst du so nett, einmal kurz mit mir vor die Tür zu gehen? Ich muss etwas mit dir besprechen.«

Kay und Sari halten inne und schauen von Frau Nielsen zu mir.

Frau Nielsen steht da und sieht mich hoffnungsvoll an, bevor sie sich selbst mit einem »Wie siehst du denn aus?« unterbricht.

»Amanda ist ein kleines Missgeschick passiert«, sagt Sari zur Erklärung.

»Mit Wasser!«, rette ich mich. »Ein Missgeschick mit Wasser.«

»Aha! Okay! Aber dann sollten wir dir vielleicht ein paar trockene Klamotten besorgen, ich kann mal in der Kiste mit den Fundsachen nachschauen …«

»Nein!«, protestiere ich, das Letzte, was ich will, ist, in der dreckigen Caprihose einer Drittklässlerin herumzurennen. »Das trocknet schnell.«

»Okay …«, antwortet Frau Nielsen und mustert mich eine halbe Sekunde lang, bevor sie wieder auf ihren Vorschlag von eben zurückkommt:

»Wenn du einmal kurz mit mir vor die Tür gehen würdest, Amanda, dann können wir uns dort unterhalten.«

Ich sehe, wie Kay die Stirn runzelt, und merke, dass ich seine Skepsis teile.

Dieses Verhalten ist für die ansonsten so direkte Frau Nielsen nicht normal. Wenn sie etwas auf dem Herzen hat, sagt sie es meistens geradeheraus, als wären die Worte Rülpser, die sie nicht unterdrücken kann. Dass sie mir vorsichtig auf die Schulter tippt und mich bescheiden um ein Gespräch bittet, ist gelinde gesagt untypisch.

Aber natürlich gehe ich mit. Als wäre alles ganz normal. Trotzdem stresst mich die Situation, weil ich heute wirklich nicht noch mehr Aufmerksamkeit haben will, auch nicht im weiteren Verlauf des Schuljahres. Das Letzte, was ich will, ist, dass die anderen in der Klasse glauben, ich würde Adam verpetzen und müsste von Frau Nielsen getröstet werden.

Während ich also hinter Frau Nielsen durch das Klassenzimmer gehe, sehe ich mich vorsichtig um, ob mich jemand beobachtet, die Augen rollt oder sich zu seinem Nachbarn hinüberbeugt, um ihm etwas zuzuflüstern. Aber es sieht tatsächlich so aus, als würde niemand merken, dass ich mit Frau Nielsen auf den Flur gehe, vielleicht weil alle so damit beschäftigt sind, sich die süßen Patenkinder vorzustellen, die uns bald zugewiesen werden.