Leuchtfeuer - Dani Shapiro - E-Book

Leuchtfeuer E-Book

Dani Shapiro

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Beschreibung

Eine Sommernacht 1985: In einem Vorort von New York steigen drei betrunkene Teenager in ein Auto – und nichts ist mehr wie zuvor.
Die Geschwister Sarah und Theo zerbrechen fast an der Last des Geheimnisses, das sie seitdem teilen, und selbst 20 Jahre später bestimmt es ihr Leben. Auch ihr Vater Ben, ein pensionierter Arzt, hadert mit seiner Rolle in jener denkwürdigen Nacht. Doch als Bens Begegnung mit dem zehnjährigen Nachbarsjungen Waldo eine Kette von Ereignissen in Gang setzt, droht das Geheimnis zu platzen und ihrer aller Leben in ungeahnte Bahnen zu lenken.

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Seitenzahl: 342

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Das ist das Cover des Buches »Leuchtfeuer« von Dani Shapiro

Über das Buch

Eine Sommernacht 1985: In einem Vorort von New York steigen drei betrunkene Teenager in ein Auto — und nichts ist mehr wie zuvor.Die Geschwister Sarah und Theo zerbrechen fast an der Last des Geheimnisses, das sie seitdem teilen, und selbst 20 Jahre später bestimmt es ihr Leben. Auch ihr Vater Ben, ein pensionierter Arzt, hadert mit seiner Rolle in jener denkwürdigen Nacht. Doch als Bens Begegnung mit dem zehnjährigen Nachbarsjungen Waldo eine Kette von Ereignissen in Gang setzt, droht das Geheimnis zu platzen und ihrer aller Leben in ungeahnte Bahnen zu lenken.

Dani Shapiro

Leuchtfeuer

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

hanserblau

Dieses Buch ist für Jacob

Denn wenn die Erde ein Feldlager ist und das Meer

ein Beinhaus der Seelen, entzündet eure Leuchtfeuer,

wo immer ihr seid.

Wenn der Morgen kommt, stecht in See.

CAROLYN Forché, »mourning«

27. August 1985

Sarah und Theo

Und eigentlich ist es ein Klacks oder müsste ein Klacks sein oder sollte ein Klacks sein, als er den Kopf vorbeugt und die Spitze seiner Zigarette in den Zigarettenanzünder drückt. Sie knistert bei der Berührung, ein typisches Geräusch für diesen kurzen Augenblick in der Geschichte, als Autos Zigarettenanzünder hatten und Fünfzehnjährige Marlboros qualmten und die Buicks ihrer Mütter fuhren, ohne auch nur einen Lernführerschein zu besitzen. Er will einem Mädchen imponieren. Sie heißt Misty Zimmerman, und falls sie die Nacht überlebt, wird sie mal Zeitschriftenredakteurin werden oder Lehrerin an einer Highschool oder Strafverteidigerin. Sie wird dreifache Mutter werden oder kinderlos bleiben. Sie wird in jungen Jahren an Eierstockkrebs sterben oder sogar noch ihre Urenkel kennenlernen.

Aber das sind nur ein paar mögliche Bahnen eines Lebens, eine Handvoll Sternschnuppen am Nachthimmel. Änderst du ein Element, ändert sich alles. Eine Erschütterung hier verursacht ein Erdbeben dort. Eine Bruchlinie vertieft sich. Ein Schalter wird umgelegt. Sein Fuß auf dem Gaspedal. Er weiß eigentlich gar nicht genau, was er da macht, aber davon lässt er sich nicht aufhalten. Er ist total aufgekratzt, wie es nur ein Fünfzehnjähriger sein kann. Er hat etwas zu beweisen. Sich selbst. Misty. Seiner Schwester. Als würde er sich an ein Skript halten, das in Braille verfasst ist, und mit den Fingern über Zeichen gleiten, die er nicht versteht.

»Theo, nicht so schnell.« Das sagt seine Schwester Sarah von der Rückbank.

Misty sitzt vorne.

Sarah war es, die ihm den Schlüssel für das Auto ihrer Mom zugeworfen hat. Sarah, siebzehn Jahre alt. Nach dieser Nacht wird sie für ihn unergründlich werden. Der Sommerhimmel ist ein über Mond und Sterne geworfener Schleier. Die Straßen sind still, die guten Menschen von Avalon sind längst zu Bett gegangen. Ihre eigenen Eltern schlafen in ihrem Doppelbett unter dem karierten Überwurf, den eine Patientin ihres Vaters gestrickt hat. Seine Mom hat einen festen Schlaf, doch sein Dad ist durch das Leben als Arzt darauf trainiert, beim geringsten Anlass hochzuschrecken. Er ist allzeit bereit.

Die Teenager haben keine bösen Absichten. Es sind liebe Kinder — das würde jeder bestätigen. Aber sie langweilen sich. Der Sommer geht zu Ende. In einer Woche fängt die Schule wieder an. Sarah geht dann in die Abschlussklasse, und in einem Jahr wird sie fort sein. Seine Schwester ist ein Superstar. In allem immer die Beste. Vor Potenzial strotzend. Theo hat noch drei Jahre vor sich, und er hat sich kaum hervorgetan. Er ist ein pummeliger, schweigsamer Junge, der sich häufig schämt. Er wird schnell rot. Er spürt, wie seine Wangen heiß werden, während er den Zigarettenanzünder hält und inhaliert, das Knistern hört, den Rauch tief in die Lunge zieht. Sein Vater — ein Lungenfacharzt — würde ihn umbringen. Vielleicht hat Sarah ihm deshalb den Schlüssel zugeworfen. Vielleicht will sie ihm helfen, ihn dazu bringen, endlich aktiv zu werden, verdammt noch mal. Ein Risiko einzugehen. Lieber was Verbotenes zu tun als gar nichts.

Misty Zimmerman ist nur zufällig dabei. Es war Sarah, die sie eingeladen hat mitzukommen. Sarah, die für Theo tut, was er nicht für sich selbst tun kann. Änderst du ein Element, ändert sich alles. Der Buick rast die Poplar Street entlang. Misty reckt sich und gähnt auf dem Beifahrersitz. Theo biegt nach links ab, dann nach rechts. Langsam hat er den Bogen raus. Er setzt den Blinker und fährt auf die Schnellstraße. Als sie an der Mall vorbeikommen, schaut er zu Burger King hinüber, ob der noch aufhat.

»Pass auf!«, schreit Sarah.

Mit rasendem Herzen schlingert er zurück in seine Spur. Fast hätte er die Leitplanke gestreift. An der nächsten Ausfahrt verlässt er die Schnellstraße und verringert das Tempo. Das Ganze war eine schlechte Idee. Er will nach Hause. Außerdem will er noch eine Zigarette.

»Fahr rechts ran«, sagt Sarah. »Lass mich fahren.«

Theo hält Ausschau nach einer Stelle, wo er gut anhalten kann. Er hat keine Ahnung, wie man einparkt. Sarah hat recht — es war eine blöde Idee.

»Oder nein, vergiss es. Besser nicht«, sagt sie.

Sie sind fast zu Hause. Das ist wie ein Refrain in seinem Kopf: Fast zu Hause, fast zu Hause, fast zu Hause. Nur noch ein paar Blocks. Sie passieren das Haus der Hellers, das der Chertoffs.

Als Theo sich vorbeugt, rutscht ihm der Anzünder aus den Fingern und fällt in seinen offenen Hemdkragen. Er stößt einen Schrei aus und versucht, ihn zu packen, was alles nur noch schlimmer macht. Er drückt den Rücken durch, um das glühend heiße Metallding rauszuschütteln, aber es klemmt zwischen Shorts und Bauch. Der Geruch von versengtem Fleisch. Ein vollkommener glänzender Halbmond wird zurückbleiben. Jahre später wird eine Geliebte mit dem Finger über die Narbe an seinem Bauch fahren und fragen, wie er die bekommen hat, und er wird sich wegdrehen. Doch jetzt — jetzt schießen ihre Zukünfte wie Gammastrahlen aus dem fahrenden Auto. Drei Highschool-Schüler. Was, wenn Sarah stattdessen an dem Abend mit Freunden ausgegangen wäre? Was, wenn Misty Nein gesagt hätte? Was, wenn Theo sich wie fast jeden Abend ein Salami-Sandwich mit reichlich Senf geschmiert hätte und dann ins Bett gegangen wäre?

Das Lenkrad wird herumgerissen. Die Schreie von Teenagern in der Nacht. Theo nein stopp scheiße fuck oh Gott, und es sind keine quietschenden Bremsen zu hören — nichts, um die Wucht abzufangen. Der Zusammenprall von Metall und einer alten Eiche: das Geräusch zweier kollidierender Welten.

Der Kotflügel und die rechte Seite des Buick werden zerknautscht, als wäre der Wagen ein Spielzeug und alles bloß eine Illusion. Oben, im ersten Stock des Hauses von Benjamin und Mimi Wilf, geht ein Licht an. Ein Fenster wird geöffnet. Ben Wilf starrt für den Bruchteil einer Sekunde auf die Szene unten. Als er die Haustür erreicht, steht seine Tochter Sarah vor ihm — Gott sei Dank Gott sei Dank Gott sei Dank —, T-Shirt und Gesicht blutverschmiert. Theo kniet auf allen vieren auf dem Boden. Er scheint unversehrt zu sein. Gott sei Dank Gott sei Dank Gott sei Dank. Doch dann —

»Im Auto ist ein Mädchen, Dad —«

Misty Zimmerman ist bewusstlos. Sie ist nicht angeschnallt — wer schnallt sich denn schon an? —, und aus einer Platzwunde an ihrer Stirn strömt Blut. Keine Zeit, einen Krankenwagen zu rufen. Wenn sie warten, bis Rettungssanitäter eintreffen, ist das Mädchen längst tot. Also tut Ben das, was getan werden muss. Er beugt sich durch die Fahrertür, packt das Mädchen unter den Achselhöhlen und zieht es heraus.

»Dein Hemd, Theo!«, blafft er.

Theo dreht sich der Magen um. Ihm wird schlecht.

Er zieht das Hemd aus und wirft es seinem Vater zu. Ben hebt Mistys Kopf an und wickelt ihr das Hemd als Druckverband fest um den Schädel. Sein Verstand arbeitet jetzt bedächtig und ruhig. Er ist ein sehr guter Arzt. Er fühlt den Puls des Mädchens.

Mimi steht auf den Stufen vor der Haustür, und ihr Nachthemd bläht sich im Wind, der scheinbar wie aus dem Nichts aufgekommen ist.

»Was ist passiert?«, schreit Mimi. »Sarah? Theo?«

»Ich war’s, Mom«, sagt Sarah. »Ich bin gefahren.«

Theo starrt seine Schwester an.

»Das ist doch jetzt völlig egal«, sagt Ben leise.

Auf der ganzen Division Street sind die Nachbarn wach geworden. Der Unfall, die Stimmen, die Spannung in der Luft. Irgendwer muss den Notruf gewählt haben. In der Ferne das Jaulen einer Sirene. Ben weiß es, bevor er es weiß, auf eine tiefe, instinktive Art. Er konnte es im Dunkeln nicht sehen, als er das Mädchen aus dem Auto zog. Er nahm nur die Kopfverletzung wahr, die heftige Blutung. Jetzt weiß er es: Ihr Genick ist gebrochen. Und er hat das denkbar Schlimmste getan. Er hat sie bewegt. In den Tagen darauf wird er die Geschichte immer wieder erzählen: der Polizei, dem intensivmedizinischen Team, Mistys Eltern. Die Geschichte — dass Sarah gefahren ist, Misty auf dem Beifahrersitz saß und Theo auf der Rückbank — wird nicht infrage gestellt werden. Nicht in dieser Nacht und auch sonst nicht. Sie wird zum dunkelsten Familiengeheimnis werden, einem so gefährlichen Geheimnis, dass niemand es je aussprechen wird.

21. Dezember 2010

Benjamin

Der Junge ist wieder am Fenster. Es ist 22.45 Uhr, eine Zeit, zu der Jungen in seinem Alter — er wird bald elf — doch wohl in ihren Betten schlafen und ihre unruhigen, ungestümen Träume träumen sollten. Doch stattdessen ist er unweigerlich da: dunkles Haar, das im Licht des Vollmonds schimmert, kleine Hände, die sich an der Fensterbank festhalten, während er den dünnen Hals durch das offene Fenster nach oben reckt und den Himmel absucht. Der Atem des Jungen bildet in der Kälte Dampfwolken. Jetzt nimmt er dieses komische Teil, hält es wie einen Kompass mal in die eine, mal in die andere Richtung, und das unheimliche, milchig blaue Licht von dem Ding erhellt sein blasses Gesicht. Was zum Teufel macht er da? Ben muss sich beherrschen, dass er nicht sein eigenes Fenster öffnet und dem Kind über die Division Street hinweg zuruft: Sei vorsichtig! Die Worte liegen ihm auf der Zunge.

Wo sind deine Eltern?

Aber er kann auch die Eltern sehen, weil bis auf das Zimmer des Jungen das ganze Haus hell erleuchtet ist, wie eine Liebeserklärung an das örtliche Elektrizitätswerk. Die Mutter sitzt am Küchentisch über eine Zeitschrift gebeugt, ein Weinglas neben dem Ellbogen. Die Gestalt des Vaters ist in dem Fitnessraum zu erkennen, den sie über die Garage gebaut haben. Der Mann rudert wie ein Wahnsinniger, als müsste er einen Ertrinkenden erreichen.

Das Haus auf der anderen Straßenseite gehörte früher den Platts und davor den McCarthys. Damals, als er und Mimi hierherzogen, als die Division Street noch den begehrteren Teil der Stadt von den Häusern in der Nähe des Bahnhofs trennte (obwohl es als unfein galt, darüber zu reden), gab es noch keine angebauten Fitnessräume, keine Poolhäuser wie das, das scheinbar über Nacht hinter dem alten Haus der Berkelhammers aus dem Boden geschossen ist, keine Außenkamine und raffinierten Soundsysteme in moosbewachsenen Steinmauern.

Ein einsames Auto kommt die Division Street herunter und biegt ab auf die Poplar Street. In der Ferne kreischt eine Katze. Die harten Blätter des Ilexstrauchs kratzen unten am Küchenfenster. Eigentlich hatte Ben den Gärtner im letzten Herbst bitten wollen, ihn auszugraben, bevor die Pflanze die alte Holzverschalung des Hauses noch mehr angreift, aber er hatte so viel anderes um die Ohren, dass es ihm entfallen war. Jetzt wird sich bald jemand anders darum kümmern müssen. Die neuen Besitzer, ein Paar, das er nicht kennengelernt hat, ziehen aus Cleveland hierher. Zusammen mit zwei kleinen Kindern. Und einem von diesen Basset-Hunden, die immer traurig dreinblicken.

So wird er also diese letzte Nacht verbringen? In seinen Flanellbademantel gehüllt, aus dem Schlafzimmerfenster blickend, die Bilder und Geräusche dieser Gegend aufsaugend, in der er mehr Jahre verbracht hat als irgendwo sonst? Er will sich alles einprägen, als würde er zum letzten Mal den Körper einer Geliebten nachzeichnen.

Vierzig Jahre.

Mimi und er haben sich oft über die Leute lustig gemacht, die so kitschige, alberne Dinge sagten wie: Alles geht so schnell vorbei. Aber jetzt steht er hier. Vierzig Jahre nachdem er und Mimi in dieses Haus eingezogen sind. Mimi war mit Theo schwanger, und Sarah trug noch Windeln. Wahrscheinlich waren sie nicht viel anders als das Paar aus Cleveland, als sie sich ausmalten, wie das Leben sein würde. In sämtlichen Räumen unten sind Umzugskartons bis zur Decke gestapelt und mit ihrem Bestimmungsort beschriftet:

S. W. steht auf denen mit Porzellan, Mimis Silberbesteck, dem Großteil der guten Bettwäsche. Sie alle gehen an Sarah in Santa Monica, obwohl ihm schleierhaft ist, warum sie noch mehr Zeug haben will, als sie schon hat. Seine Tochter war nie der sentimentale Typ, aber vielleicht wird sie jetzt, im mittleren Alter, etwas weicher.

T. W. auf den Kartons mit Tausenden von Schallplatten — echtes Vinyl —, für die Theo in seinem Loft in Brooklyn einen Schallplattenspieler gekauft und wieder ans Laufen gebracht hat. Außerdem bekommt Theo Kartons mit der Aufschrift B. W. Akten geliefert. Sie stammen aus Bens Praxis und reichen zurück bis in seine Zeit als Assistenzarzt. Was soll er sonst damit anstellen? Verbrennen? Nein. Er wird sie in der Obhut seines Sohnes lassen.

Der Junge hat ihn bemerkt. Wie schon in den letzten Nächten hebt er die Hand und winkt — ein Kinderwinken, mit flatternden Fingern. Ben entriegelt sein Fenster und schiebt es hoch. Die kalte Luft trifft auf seine Brust.

»Hey, du!«

Er weiß genau, wie der Junge heißt. Waldo, ein einprägsamer Name — aber es kommt ihm zu vertraulich vor, ihn zu benutzen. Obwohl die Familie nun schon seit einem Jahrzehnt gegenüber wohnt, bleibt sie meist für sich. Als sie einzogen, hatte Mimi nie die Gelegenheit gehabt, wie gewohnt mit einem Teller Kekse und einem Briefchen bei ihnen vorbeizuschauen, um sie als Nachbarn willkommen zu heißen. Sie hatte immer eine Liste mit hilfreichen Tipps parat: Beim A & P auf der Grandview Street gibt es frischen Fisch von der Fulton Street; die Lehrerin der zweiten Klasse lässt zu wünschen übrig, aber Mrs Hill unterrichtet die dritte Klasse und ist eine wahre Perle. Noch immer kann Ben die Mimi von damals sehen, als junge Mutter zu einer Zeit, in der über Kindererziehung noch nicht so gesprochen wurde wie heute, als wäre es eine Leistung wie Joggen oder Bergsteigen. Ihr dunkles, welliges Haar zu einem lockeren Knoten gebunden. Die langen Beine in Skischuhen. Ihr unbeschwertes Lachen.

Die Leute von gegenüber fahren immer am frühen Morgen los, der Vater in einem nagelneuen Lexus Hybrid, die Mutter in einem Prius — geräuschlose Autos —, und in der Abenddämmerung kehren sie zurück, gleiten leise in die Garage, deren automatisches Tor sich hinter ihnen schließt. Der Junge spielt nicht auf der Straße wie Sarah und Theo früher. Keines der Nachbarskinder ist je draußen im Garten. Sie werden von ihren Eltern oder Nannys herumkutschiert, schleppen Geigen- oder Cello-Kästen, wuchten Rucksäcke, die schwerer sind als sie selbst. Sie tragen Fußballtrikots oder blütenweiße Anzüge mit bunten Karate- oder Judogürteln um die schmalen Taillen.

»Hey, du!«, ruft Ben erneut. »Was machst du da?«

Der kleine Waldo hebt das Gerät — würde es nicht leuchten, könnte man es für ein schwarzes Buch halten, etwas größer als ein Paperback — Richtung Himmel, als wollte er Gott vorschlagen, ihm eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Ben kramt in der Bademanteltasche nach seiner Fernbrille. Jetzt kann er den Schriftzug auf dem Sweatshirt des Jungen lesen. Ein Fan der Boston Red Sox. Erstaunlich, hier im Territorium der New York Yankees. Bestimmt hat er es damit nicht leicht in der Schule. Besonders dieses Jahr, wo der Schlachtruf Red Sox suck! sich als allzu wahr erwiesen hat. Der lange Pony des Jungen fällt ihm über die Augen.

»Ein Jammer, das mit Pedroia«, ruft Ben.

»Und Youkilis. Und Ellsbury.« Der Junge klingt persönlich beleidigt. Seine Stimme ist unerwartet hell und melodisch, wie eine Flöte. Noch immer hält er das schwarze Buch zum Himmel gerichtet.

»Was hast du da?«, fragt Ben.

»Star Walk«, antwortet der Junge.

»Ist das ein Spiel?«

Der Junge wirft ihm einen teils enttäuschten, teils fassungslosen Blick zu, wie Ben selbst über die Division Street hinweg erkennen kann.

»Nein. Das ist kein Spiel.«

»Okay, was dann?«

»Wollen Sie mal sehen?«

»Na ja, ich —«

Ben zögert. Obwohl er den Jungen über die Jahre hinweg im Auge behalten hat, kennt er ihn eigentlich nicht.

»Bitte, ich zeig’s Ihnen.«

Durchs Küchenfenster hebt sich die Silhouette der Mutter vor dem flimmernden Licht des Fernsehers ab. Der Vater rudert immer noch.

»Müsstest du nicht längst im Bett sein?«

»Ich bin nicht müde.«

Waldo erinnert Ben ein wenig an Theo in dem Alter. Theo war größer, kräftiger, und wenn er nicht schlafen konnte, tapste er runter in die Küche, klatschte Salamischeiben und Dijon-Senf auf eine Scheibe Brot und goss sich ein Glas Milch ein, als könnte nur das Gewicht einer vollen Mahlzeit ihm eine ruhige Nacht bescheren. Mimi schimpfte dann immer mit Theo, weil er sich doch schon die Zähne geputzt hatte, und insgeheim fürchtete sie, dass Theo zu dick wurde. Ach, wie sehr wünschte Ben, sie hätten damals auch nur einen Bruchteil von dem gewusst, was er heute weiß! Dass all die kleinen Sorgen (Karies! Ein paar Pfund Babyspeck zu viel!) doch im Grunde völlig unbedeutend waren.

»Wir treffen uns am Zauberbaum«, ruft der Junge. »In zwei Minuten!« Er zieht den Kopf ein und schließt das Fenster, verschwindet in seinem dunklen Zimmer.

Ben schließt einen Moment lang die Augen. Der Zauberbaum. Er weiß, dass diese Generation von Nachbarskindern ihn so nennt. Und warum auch nicht? Eine majestätische Eiche an der Ecke von Division und Birch Street (alle Straßen westlich der Division sind nach Bäumen benannt), der Stamm inzwischen fast anderthalb Meter dick. Um den Baum herum wachsen — je nach Jahreszeit — Dutzende Arten von Wildblumen, hohe, duftende Gräser. Jedes andere Fleckchen Grün im Viertel wird regelmäßig von Landschaftsgärtnern gepflegt und getrimmt, doch die Eiche wacht über ihren eigenen kleinen Dschungel, eine urwüchsige Parzelle. Menschen, die die Geschichte nicht kennen — Neuzugezogene —, gehen davon aus, dass die Familie, die in Division Nr. 18 wohnt, Bens Haus, sich um den Baum kümmert. Sie könnten falscher nicht liegen. Doch Ben wird sie nicht aufklären.

Er geht nach unten und durch den schmalen Korridor zwischen den deckenhoch gestapelten Kartons auf beiden Seiten der Diele. Nimmt seinen alten Daunenparka von der Garderobe neben der Tür und zieht ihn über den Bademantel. Was für einen Anblick er wohl bietet! Ein alter Mann, der auf seine Veranda tritt und allem Anschein nach einen bodenlangen Rock, flauschige Hausschuhe und eine schäbige, verschlissene Skijacke trägt.

Der Junge wartet schon an dem Baum. Von hier aus kann auch er seine Mutter sehen, die sich im Haus auf der anderen Straßenseite das nächste Glas Chardonnay eingießt, seinen rudernden Vater. Aber er achtet nicht auf das geheime Leben seiner Eltern, das sich da wie auf einem Fernsehbildschirm abspielt. Nein, er interessiert sich mehr für das Ding, wie hieß es doch gleich … irgendwas mit Sternen. Er hält es hoch Richtung Himmel.

»Hi!« Ben streckt ihm die Hand entgegen. »Wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt. Ich bin Dr. Wilf.«

»Ich weiß«, sagt der Junge. Natürlich weiß er das. Sonst hätte er nicht mitten in der Nacht sein sicheres Zuhause verlassen, um sich mit einem Wildfremden zu treffen. Oder? Ben spürt einen Anflug von Beschützerinstinkt gegenüber dem Jungen. Am liebsten würde er über die Straße marschieren und an die Haustür klopfen. Es ist elf Uhr abends. Wissen Sie, wo Ihr Sohn ist? Aus der Nähe betrachtet ist das Gesicht des Jungen so schön wie das aller Kinder in dem Alter, die Haut glatt und schimmernd. Die Wimpern sind so lang, dass sie Schatten auf die Wangen werfen. Der dünne Hals, die schmalen Schultern. Zehn, beinahe elf. Ein Junge kurz vor einer gewaltigen Veränderung. Ein Junge (dabei denkt er mit einem schmerzlichen Stich an Theo), der im Begriff ist, in ein Meer der Ungewissheit zu waten, aus dem er erst nach Jahren zurückkehren wird.

»Ich bin Waldo.«

»Hallo, Waldo!«

Ben betrachtet das Gerät. Der Bildschirm scheint den klaren, mondhellen Himmel zu spiegeln. Sterne leuchten vor einem bläulich schwarzen Hintergrund. Musik dringt aus dem Teil — fremd, außerirdisch. Jetzt erkennt Ben, dass es sich um eines dieser neuen, heiß begehrten Geräte handelt, aber ihm fällt nicht ein, wie es heißt. In den Nachrichten hat er Berichte über Leute gesehen, die die ganze Nacht vor Geschäften Schlange standen, nur weil sie zu den Ersten gehören wollten, die es kauften. Er fragt sich, ob der Vater des Jungen auch angestanden hat. Der Intensität nach zu schließen, mit der er rudert, vermutet Ben, vielleicht zu Unrecht, dass er ein Mann ist, der stets der Erste sein muss.

Als Waldo den Bildschirm neigt, bilden sich Linien, Formen erscheinen, als würde sich ihnen der Himmel öffnen. Ein Stier. Eine Schlange. Ein Krebs. Ein Kind mit einer Leier.

»Sehen Sie mal.« Waldo fährt mit dem Zeigefinger seitlich am Bildschirm hinunter. Die Bildschirm-Sterne wirbeln durch den Bildschirm-Himmel, während über ihnen, hoch über der Division Street, ein Flugzeug durch die Nacht gleitet. Die Lichter an den Tragflächen blinken gleichmäßig. Es ist höchstwahrscheinlich unterwegs zum Flughafen JFK. Die realen Sterne sind seltsam unbeweglich, weniger überzeugend als das Flugzeug oder die Sternensimulation auf Waldos Bildschirm.

»Wann ist Ihr Geburtstag?«, fragt Waldo unvermittelt.

»Sechzehnter Januar.«

»Welches Jahr?«

»Willst du wissen, wie alt ich bin?«

»Nein — darum geht’s nicht!« Der Junge wirkt immer wie kurz vor einer extremen, fast explosiven Frustration, als ob die Welt um ihn herum seinen Erwartungen nicht genügen kann oder will.

»Neunzehnhundertsechsunddreißig«, sagt Ben. »16. Januar 1936.«

»Um wie viel Uhr ungefähr?«

Ben muss nachdenken. Weiß er das überhaupt? Die letzte Person, der die Uhrzeit seiner Geburt wichtig genug war, um sich daran zu erinnern, war seine längst verstorbene Mutter. Aber dann fällt es ihm ein.

»Kurz vor neun Uhr abends.«

»Und wo?«

»In New York, Brooklyn, um genau zu sein.«

Der Junge setzt etwas in Bewegung, lässt die Galaxie kreisen, und das Datum auf dem Bildschirm läuft mit atemberaubender Geschwindigkeit rückwärts, rückwärts, rückwärts. Obwohl der Boden kalt und feucht ist, noch nicht ganz gefroren, und obwohl Ben weiß, dass er morgen mit Gliederschmerzen dafür bezahlen wird, setzt er sich zwischen zwei mächtige Wurzeln der Eiche auf die Erde. Seine mageren Altmännerbeine lugen aus dem Bademantel hervor, und er bedeckt sie mit dem weichen karierten Flanellstoff. Der Junge kniet sich in Red-Sox-Pyjama und Skijacke neben ihn. Die Daten auf dem Bildschirm rasen weiter, die Formen im Himmel verwandeln sich, gehen ineinander über. Ben kommt kaum noch mit. Ein Bär. Ein Löwe. Ein Segelboot.

Er blickt die Division Street hinunter, sieht die wenigen noch brennenden Lichter in den Häusern, deren Bewohner er nicht mehr kennt. Früher hätte er praktisch alles über die Familien, die in diesen Häusern lebten, erzählen können. Wohl oder übel — wohl und übel — wusste er von Jimmy Platts kleinem Drogenproblem, von Karen Russos Affäre mit Ken dem Golflehrer, von der Spielsucht, die schließlich zur Folge hatte, dass das Haus der Gelfmans zwangsversteigert wurde. Er wusste, dass Julie Heller regelmäßig einen Joint rauchte, wenn sie mit ihrem Königspudel spätabends Gassi ging, dass Eric Walker einen Entzug gemacht hatte, wenngleich keiner je herausgefunden hatte, wovon.

Ihre Straße war wie jede andere, mit den Geheimnissen, dem Kummer und den Lügen, den Triumphen und Augenblicken des Anstands, wie sie sich durch alle Gemeinschaften ziehen. Er hatte sich oft davon eingeengt gefühlt — und Mimi hatte es schier wahnsinnig gemacht —, aber dennoch hatte er einen gewissen Trost darin gefunden, dass es nun mal seine Straße war. Seine Nachbarn. Mit der Entscheidung, in ein bestimmtes Haus auf einer bestimmten Straße zu ziehen, hatten sie alle ihr Schicksal miteinander verknüpft. Ihre Kinder waren in den Häusern der anderen ein und aus gegangen. Hatten ihre ersten Zigaretten gemeinsam geraucht, waren beste Freunde gewesen, dann erbitterte Feinde, dann wieder Freunde. Wie die Ranken, die am Stamm der Zaubereiche emporwuchsen, hatte die Kindheit sie von innen heraus geformt. Die Eltern waren wie Zeugen, wie Zuschauer, lernten, miteinander auszukommen (den Kindern zuliebe, sagte Mimi oft), und manchmal mochten sie einander immerhin so sehr, dass sie gemeinsam Urlaub machten.

Jetzt hat die Straße die Bürgersteige hochgeklappt für die Nacht. Alarmanlagen eingeschaltet. Lipitor eingeworfen oder Fluctin oder Clonazepam. Ein paar Glückliche vielleicht Viagra. Paare, hauptsächlich Männer und Frauen Mitte dreißig oder vierzig — fast halb so alt wie er —, liegen zusammen oder getrennt im Bett, lesen oder dämmern ein, während sie noch irgendeine Arztserie gucken. Babys, Kleinkinder, Schulkinder, Teenager — alle lassen den Tag los, ergeben sich dem Morgen.

Alle außer Waldo.

»Sie sind vierundsiebzig«, sagt Waldo.

»Das hast du im Kopf ausgerechnet.«

»Gucken Sie mal.« Waldo reicht Ben das Gerät, das schwerer ist, als es aussieht. »Da ist er.«

Ben braucht ein paar Sekunden, bis er begreift, was er da sieht: den Himmel seiner Geburt. »Canis Major«, sagt Waldo. »Ein richtig cooles Sternbild. Canis Major enthält Sirius — den Hundsstern. Der hellste Stern am Nachthimmel.«

Ben berührt den Bildschirm, zeichnet den Hund mit dem Zeigefinger nach: ein Tier mit großen Pfoten, sitzend, den Kopf aufgerichtet, als wartete es auf weitere Anweisungen. Waldo beugt sich vor und tippt auf einen Kreis in der oberen linken Bildschirmecke.

»Das Sternbild Canis Major gehört zu den achtundvierzig Sternbildern, die im zweiten Jahrhundert von dem Astronomen P…Ptol…Ptolemäus beschrieben wurden«, liest Waldo vor, »und zu den achtundachtzig modernen Sternbildern. Sein lateinischer Name bedeutet ›größerer Hund‹, und meistens wird er sy…symb…«

»Symbolisch«, hilft Ben dem Jungen weiter.

»Ich weiß!«

»’tschuldige.«

»… als einer der Hunde dargestellt, die dem Jäger Orion folgen. Siehe auch Canis Minor, der ›kleinere Hund‹.«

»Da bin ich aber froh, dass ich unter einem größeren Hund geboren bin, nicht unter einem kleineren«, sagt Ben.

Waldo sieht ihn empört an.

»Sie machen sich über mich lustig.«

»Nein.«

»Dann war das ein Witz.«

»Na ja, schon.«

»Das ist aber ernst.«

Im Licht des Geräts sieht Ben, dass Waldo Tränen in den Augen stehen.

»Okay, mein Junge.« Ben tätschelt ihm unbeholfen die Hand. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht —«

»Alle denken, das ist blöd oder so.«

Der Junge versucht mit aller Kraft, nicht zu weinen, doch sein spitzes kleines Kinn bebt.

»Wer ist denn ›alle‹?«, fragt Ben.

»Weiß nicht.«

»Na komm.«

Eine lange Pause, in der Ben bemerkt, dass die Haut um die Fingernägel des Jungen wund und rissig ist, abgekaut und abgezupft.

»Mein Dad«, sagt Waldo schließlich. Zum ersten Mal blickt er über die Straße zu den Fenstern über der Garage, die jetzt dunkel sind.

»Na, ich bin sicher, das stimmt nicht«, sagt Ben, obwohl er das nicht beurteilen kann.

Waldo zuckt mit den Schultern, konzentriert sich wieder auf den Bildschirm und tippt auf ein anderes Sternbild.

»Pyxis«, sagt er mit bebender Stimme.

Die Form eines Kompasses erscheint unter dem großen Hund Canis am Himmel. »Pyxis«, liest Waldo, »Lateinisch für ›Büchse‹, ist ein kleines und schwaches Sternbild am Südhimmel. Der lateinische Name bedeutet auch ›Schiffskompass‹. Es wird leicht mit Circinus verwechselt, doch das sym…«

Ben lässt Waldo, dessen Stirn vor Konzentration gerunzelt ist, allein mit dem Wort ringen. Der Junge bricht ihm das Herz; er ist noch so klein, versucht aber trotzdem, die ganze Welt auf seinen schmalen Schultern zu tragen.

»… symbolisiert einen Zirkel«, beendet Waldo den Satz. Er weint jetzt.

Ben möchte ihn an sich ziehen, doch stattdessen schlingt er einen Arm um Waldos Schultern. Der Junge lehnt den Kopf an ihn, eine so schlichte und arglose Geste, dass Ben beinahe selbst die Fassung verliert. Der ganze Kinderkörper bebt.

»Ist ja gut, Kleiner«, flüstert Ben. »Alles wird gut.«

Unwillkürlich schwankt er hin und her, wie früher mit Theo, mit Sarah, nicht nur, als sie Babys waren, sondern bis zu diesem Alter, diesem Abgrund. Er umarmte sie fest, merkte dann, dass er schwankte, sich wiegte wie auf einer Tanzfläche, nachdem die Musik aufgehört hat.

»Mein Dad will nicht, dass ich über so was rede«, sagt Waldo. Er blickt geradeaus zu seinem Elternhaus auf der anderen Straßenseite. »Er hat gesagt« — ein tiefer, schwerer Atemzug —, »er hat gesagt, wenn ich weiter darüber rede, nimmt er mir Star Walk weg und mein Teleskop auch.«

»Was glaubst du, warum er nicht will, dass du darüber redest?«, fragt Ben.

»Er sagt, ich verschwende meine Zeit mit unwichtigem Kram. Er sagt, ich lebe in einer Traumwelt.«

Waldo neigt das Gerät von links nach rechts, und der ganze Sternenhimmel, die unzähligen Sternbilder mit den Umrissen ihrer Formen und Gestalten, dehnt sich in beide Richtungen.

»Und was meinst du, warum es dir so wichtig ist?«, fragt Ben. War er je mit seinem eigenen Sohn so geduldig? In den Jahren bevor Theo unerreichbar wurde, in diesen kostbaren Jahren, als er noch zuließ, dass er gesehen und gehört wurde, dass er verstanden wurde, hatte Ben sich da die Zeit genommen? Die Antwort ist kein einfaches Ja oder Nein — aber dennoch ist es zu schmerzhaft, über die verpassten Gelegenheiten nachzudenken. Er kann diese Zeit nicht zurückholen. Er bekommt keine zweite Chance.

»Wahrscheinlich, weil ich mich dann besser fühle«, sagt Waldo.

»Wieso?«

»Wenn ich Angst kriege … wenn ich schlechte Gedanken habe … dann denke ich, dass da draußen …« Er verstummt, als hätte ihn die schiere Anstrengung, so viele Wörter auszusprechen, erschöpft.

»Was denn für schlechte Gedanken?«, fragt Ben.

»Ach, Sie wissen schon.«

»Nein, weiß ich nicht. Sag’s mir.«

»Na ja, Gedanken an Sterben und so.«

Ben nickt. Sterben und so. Natürlich.

»Jedenfalls, das da draußen« — Waldo zeigt nicht zum Himmel über ihnen, sondern auf den Bildschirm, und Ben begreift konsterniert, dass er für ihn realer ist als die Sterne da oben — »ist so gewaltig groß, und wir hier, wir sind bloß …«

»Was?«, fragt Ben. Der Junge ist eine sonderbare Mischung aus extrovertiert und verschlossen, als läge sein Geist im Clinch mit allem, was er nach Meinung anderer sein solle.

Waldo springt auf.

»Andromeda, Antlia, Apus, Aquarius, Aquila«, rattert er herunter. »Ara, Aries, Auriga, und das sind bloß die mit A. Mit B gibt’s nur eins: Bootes. Aber jede Menge mit C. Caelum, Camelopardalis, Cancer —«

»Du hast die Sternbilder auswendig gelernt.«

»Jetzt übe ich die Sterne.«

Ein Frösteln durchläuft Ben, und er hievt sich langsam vom Boden hoch, stützt sich am Stamm des Zauberbaums ab. Wie lange sind sie schon hier draußen in der Eiseskälte? Er spürt seine Fingerspitzen kaum noch. Er ballt die Hände zu Fäusten, löst sie dann wieder. Auf der anderen Straßenseite macht die Mutter das Licht in der Küche aus.

»Waldo, ich glaube, wir sollten jetzt beide besser schlafen gehen.«

»Warte«, sagt Waldo. »Eine Sache muss ich Ihnen noch zeigen, ja? Bitte.«

Ben glaubt eigentlich nicht, dass er noch eine Sache verkraftet, aber was bleibt ihm anderes übrig? Waldo tippt auf die untere rechte Bildschirmecke, und plötzlich fliegen sie über die Krümmung der Erde hinweg, gleiten über Ozeane und Kontinente, bis der ganze Planet zurückweicht und zwei neongrüne Linien sich kreuzen, um ihre exakte Position auf dem Globus anzuzeigen. Eine kleine Neonfigur steht im Zentrum eines Kreises am äußersten Ostrand der Vereinigten Staaten, im Staat New York, in der Kleinstadt Avalon, auf der Straße … ihrer Straße. Division Street.

»Da sind wir«, sagt Waldo und zeigt auf die kleine Figur. »Das sind wir.«

Ben berührt den Bildschirm. Er bewegt den Finger ein wenig nach rechts. Die Namen von Ortschaften, Städten, Staaten schwirren vorbei: Danville, Ohio; Roseville, Michigan; Erie, Pennsylvania; Concord, North Carolina. Kontinente versinken. Lyon, Istanbul, Phuket, Taipeh, Kairo, Tel Aviv. Aus dieser Entfernung ist alles miteinander verbunden. Die Ostküste mit dem Mittleren Westen und dem Süden. Amerika mit Europa und Asien. Der Himmel von 1936 mit dem Himmel von 2010. Aus dieser Entfernung scheint es möglich, dass alles gleichzeitig geschieht: dieses Leben, jenes Leben — eine unermessliche Anzahl von Leben, die sich alle parallel abspielen. Er ist ein Neugeborenes im Brooklyn Jewish Hospital und zugleich ein Kind, das auf der Classon Avenue Baseball spielt, ein Bar-Mizwa-Junge, der sich im ungewohnten, kratzigen neuen Anzug beim Lesen seines Thora-Abschnitts verhaspelt. Er ist ein College-Student, ein übernächtigter Assistenzarzt, ein frisch verheirateter Ehemann. Er erlebt die Geburt seiner Tochter. Er zieht mit seiner jungen Familie in die Division Street. Er hört den ersten kräftigen Schrei seines Sohnes. Er blickt nach unten auf den Bildschirm und sieht Mimis Gesicht, als wäre sie selbst ein Sternbild. Mein Darling. Ich komme.

Shenkman

Er stößt sich mit den Beinen ab, gleichmäßig und kraftvoll. Denkt an das Wort seines alten Trainers: fließend. Beugt den Oberkörper und gleitet nach vorne, die Arme gestreckt. Die minimale Freilaufphase, während das Schwungrad rotiert. Zug, Freilauf. Zug, Freilauf. Er zählt. Eins, zwei. Beim Setzen einatmen, während des Zugs ausatmen. Er wirft einen kurzen Blick auf den RowPro-Monitor. Scheiße! Er hat sechstausend Meter des Rennens hinter sich und liegt an dritter Position. Darauf darf er sich nicht konzentrieren. An der Wand vor ihm zeigt der Flachbildschirm die Oberfläche eines Sees. Im Geist ist Shenkman dort, nicht hier, gleitet über den Winnipesaukee-See. Er hat es mit Musik probiert, aber festgestellt, dass er nicht gern Musik hört. Er hat es mit sämtlichen Serien probiert, die an seinem Arbeitsplatz in aller Munde sind. Aber er kann sich beim Rudern keine Serie angucken, die in einer Werbeagentur der 1960er spielt. Das macht ihn irre. Meschugge. Er hat eine Weile gebraucht, um herauszufinden, dass er genau das braucht: das tiefe dämmrige Blau des Sees, die kleinen Wellen, die die Ruderblätter in seiner Fantasie verursachen. Hier, in dem mit Kredit bezahlten Fitnessraum über der Garage, hier kann er sein sonstiges Leben vergessen.

Alice ist auf der anderen Seite des Hauses, und Shenkman weiß, dass sie einsam ist und etwas sauer — dass sie diese Stunden des Tages mit ihm verbringen und reden will. Über irgendwas. Was im Büro los ist. Seine Mutter. Ihre Pläne für die Osterferien. Waldo. Und vor allem dieses Thema will er unbedingt vermeiden.

Eins, zwei. Seine Trapezmuskeln brennen.

Es ist fast eine Stunde her, dass er Waldo ins Bett gebracht hat, aber er ist ziemlich sicher, dass sein Sohn nicht schläft. Shenkman weiß, dass Waldo aufsteht und sein Fenster öffnet — das Display der Alarmanlage zeigt ihm alle offenen Türen und Fenster des Hauses. Er hat versucht, darüber hinwegzusehen. Gehofft, dass Waldo irgendwann damit aufhört. Das Ganze grenzt an Besessenheit, und immer, wenn er und Alice darauf zu sprechen kommen, haben sie beide schlaflose Nächte. Nein, das hier ist besser. Lieber durchpflügt er das Wasser des Winnipesaukee-Sees, bis seine Arme schlappmachen.

Mindestens einmal am Tag führt Shenkman ein langes Selbstgespräch. Er nimmt sich fest vor, nachsichtiger mit Waldo zu sein. Er hört den Ton seiner Stimme, wenn er seinen Sohn kritisiert. Was er sagen will, was er eigentlich meint, ist: Ich hab dich lieb, und ich will, dass dir irgendwann die Welt offensteht. Was stattdessen herauskommt, klingt eher so: Herrje, kau nicht dauernd an deinen Fingernägeln oder Leg dir die Serviette auf den Schoß, verdammt noch mal. Sein Sohn hat etwas an sich, das Shenkman völlig unerträglich, unergründlich, unerreichbar findet. Er versucht, nicht zu viel darüber nachzudenken, aber es schleicht sich in alles hinein, jede wache Minute seines Tages. Er hat es aufgegeben, Waldo zu den typischen Vater-Sohn-Sachen überreden zu wollen, von denen Shenkman glaubt, sie sollten sie gemeinsam unternehmen. Sie spielen zum Beispiel nicht zusammen Baseball. Und das eine Mal, als er trotz aller Einwände, die Alice vorbrachte, Waldo zwang, bei den Avalon Astros mitzumachen, sollte aus den Annalen ihrer Familiengeschichte gestrichen und nie wieder erwähnt werden. Noch immer sieht er Waldo — seinen Wunderknaben — mit hängenden Armen mitten auf dem Fußballplatz stehen, völlig verloren und verwirrt, während seine Mannschaftskameraden um ihn herumdribbeln.

Shenkman hat noch zweihundert Meter bis zum Ziel. Auf seinem RowPro-Monitor ist er nur noch vier Meter hinter dem führenden Ruderer. Lindgren, wer sonst. Lindgren liegt knapp vor ihm, und acht andere sind weit abgeschlagen. Gestern hat Shenkman hart trainiert, volle vierzig Minuten lang Sprints mit eingelegten Ruhephasen gemacht. Vielleicht hat er übertrieben. Eins, zwei. Der Bildschirm zeigt immer einen perfekten Tag, der Himmel unnatürlich blau. Ein paar Bäume leuchten wie Smaragde. Sein Puls ist etwas höher, als ihm lieb ist, aber er legt noch einen Zahn zu. Zieht um Haaresbreite an Lindgren vorbei. Fick dich, Lindgren! Noch achtundfünfzig Meter. Shenkman ist wieder auf dem Winnipesaukee-See. Eins, zwei. Er stellt sich die Bojen der Ziellinie vor, neonfarben in der Ferne hinter ihm. Er hört das Klatschen seiner Ruderblätter, wenn sie parallel zur Wasseroberfläche ausholen, dann senkrecht aufdrehen und lautlos nach unten tauchen. Er zwingt sich, nicht auf den Monitor zu schauen, nur an die Ziellinie zu denken.

Er überquert sie keuchend. Schweiß strömt ihm über den Rücken. Erst dann blickt er auf und liest die endgültigen Ergebnisse auf dem RowPro. Das letzte Boot — der Typ aus Neuseeland — gleitet über die Ziellinie, und jetzt sind alle Boote säuberlich aufgereiht, wie brave kleine Soldaten. Er betupft seine brennenden Augen mit einem Handtuch, schielt dann zum unteren Rand des Monitors, um den Namen des Siegers zu lesen. Lindgren. Er war eine Achtelsekunde schneller.

Shenkman schält sich aus seinen durchschwitzten Sachen und wirft sie in den Wäschekorb des Fitnessraums. Er zieht eine frische Jogginghose an und bereut nicht zum ersten Mal, dass er beim Anbau des Fitnessraums auf ein Badezimmer verzichtet hat. Mit Sauna, Dampfbad, allem Drum und Dran. Aber es war ohnehin schon ein Luxus — ein eigener Fitnessraum, den nur er nutzen würde —, und er hätte das bei Alice niemals durchgekriegt. Anfangs hatte er versucht, sie dazu zu bringen, auch hier zu trainieren, hauptsächlich um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, doch Alice wollte nichts davon hören. Deine Männerhöhle, nannte sie den Raum. Und stellte den Wäschekorb hinein, damit er sich selbst um seine stinkenden Sportklamotten kümmern konnte. Alice setzt keinen Fuß in den Fitnessraum. Sie weiß nichts von RowPro und schon gar nichts von Lindgren.

Unten geht die Haustür auf und wieder zu. Shenkman durchquert den Durchgang zwischen Fitnessraum und Haus und sieht gerade noch das Dunkelblau eines Red-Sox-Sweatshirts die Treppe hinauf verschwinden.

»Waldo.«

Waldo erstarrt.

»Was zum Teufel machst du hier?«

»Nichts, Dad.«

»Warst du etwa draußen?«

»Nein.«

»Lüg mich nicht an.«

»Tu ich nicht!«

Shenkman versucht, sich an seinen eigenen Vorsatz zu halten, aber es ist, als würde er ins Leere greifen. Er spürt, wie er im Handumdrehen auf hundertachtzig ist. Er atmet tief durch. Schwitzt noch immer. Er beschwört sich, nicht zu streng mit Waldo zu sein. Das macht alles nur noch schlimmer. Und er will schon ein Auge zudrücken, seine Kiefermuskulatur verkrampft sich dabei vor Anstrengung, doch dann sieht er das iPad unter Waldos Arm.

»Warst du gerade —«

»Dad! Dad, es tut mir leid!«

»Jetzt reicht’s.« Shenkman stürmt immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinauf und entreißt Waldo das iPad. Er muss sich schwer beherrschen, damit er es nicht mit voller Wucht die Treppe hinunterwirft. »Schluss damit!«

»Bitte nimm’s mir nicht weg. Bitte.«

»Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Waldo sieht sogar noch kleiner und blasser aus als sonst, sein Gesicht grünlich weiß. Wie lange ist er draußen gewesen? Und wie konnte er sich aus dem Haus schleichen, ohne dass Shenkman oder Alice es mitbekommen haben? Er ist noch nicht mal elf, Herrgott noch mal! Welcher Elfjährige schleicht mitten in der Nacht aus dem Haus? Alice kommt aus dem Schlafzimmer oben an der Treppe. Sie hat ihre Lesebrille auf der Nase und hält ein paar juristische Unterlagen in der Hand.

»Was ist denn los? Waldo?«

Der Junge läuft zu ihr und drückt sich an sie, vergräbt das Gesicht an ihrer Brust.

»Mein Gott, du bist ja eiskalt!«

Sie sieht Shenkman wütend an, als wäre das seine Schuld.

»Mom, sag ihm, dass er mir Star Walk nicht wegnehmen soll.« Waldo schluchzt in die dicke Chenille von Alice’ Bademantel.

»Schätzchen, lass uns später darüber reden«, sagt sie und streichelt sein Haar. »Wenn wir uns alle wieder beruhigt haben.« Immerzu tröstet sie Waldo, versucht, die Situationen kurzfristig zu entschärfen. Aber Shenkman sieht das anders. Er ist überzeugt, dass Waldo zu sehr verwöhnt wird — nicht bloß so, wie alle Kinder heutzutage verwöhnt werden, sondern dass er regelrecht innerlich verrottet, Stück für Stück, dass seine Persönlichkeit durch das mangelnde Durchsetzungsvermögen seiner Eltern erodiert. Shenkman hält das iPad fest umklammert, ruft sich in Erinnerung, dass das Teil fast fünfhundert Dollar gekostet hat.

»Er war draußen, Alice.«

»Das kann nicht sein.«

»Frag ihn doch.«

Alice umfasst Waldo an den Schultern und schiebt ihn von ihrer Brust weg, hält ihn auf Armeslänge und blickt forschend in sein Gesicht, als könnte sie dort eine Landkarte der Wahrheit finden.

»Waldo?«

Er blinzelt Tränen weg.

»Stimmt das? Bist du nach draußen gegangen?«

Ein winziges Nicken.

Shenkman sieht Alice an, dass sie jetzt auf der langen Talfahrt in das gefährliche Terrain ist, wo er sich die meiste Zeit aufhält. Sie wird nicht so schnell zornig wie er, aber die Angst macht sie wütend, überwältigt sie. Auf ihren beiden Wangen erscheint ein hellroter Fleck.

»Was hast du da draußen gemacht?«

»Ich hab mir bloß den —«

»Was fällt dir ein?« Sie schüttelt seine Schultern, heftig, beinahe brutal. »Weißt du denn nicht, dass das gefährlich ist?«

»Es tut mir leid.«