Libra - Sophie Dagaz - E-Book

Libra E-Book

Sophie Dagaz

0,0

Beschreibung

Der Roman handelt von Libra, einer Frau, die schon unzählige Male in verschiedenen Geschlechtern inkarniert ist und nicht besonders viel von den Menschen hält. Sie empfindet die Menschen als Schädlinge der Erde und versucht, die Welt zu verbessern, indem sie Menschen tötet und ihnen einen Samen einpflanzt, der bewirken soll, dass sie in ihrem nächsten Leben umdenken. Unterstützt wird sie von der Sphinx-Katze Nemesis, die Gedanken manipulieren kann. Libra nutzt besondere Methoden, um das zu erreichen, was sie will: Sie setzt ihre Verführungskünste ein und foltert ihre Opfer. Erschwert wird ihr jetziges Leben durch eine erneute Anwesenheit Jesus auf Erden, der ihr fürchterlich auf die Nerven geht. Dies und besonders die Tatsache, dass sie einer tiefen Liebe aus einem ihrer vorherigen Leben wiederbegegnet, bringen sie an die Grenzen ihrer eigenen Wahrheit und weichen ihre eiskalte Berechnung auf. Die Geschichte spielt hauptsächlich in der jetzigen Zeit in Norddeutschland und enthält kurze Rückblicke in andere Zeiten und Länder. Sie ist an Erwachsene gerichtet, weil sie detaillierte sexuelle Inhalte und Gewalt enthält.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 446

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Libra

unzensiert

Libra

unzensiert

Sophie Dagaz

Impressum

© 2023 Sophie Dagaz

ISBN: 9789403704418

Veröffentlicht durch Bookmundo

Delftsestraat 33

3013AE Rotterdam

Niederlande

Gedruckt in Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig.

Für meine Seele

1

Stille. Ich liebe diese wunderbare Stille nach Vollendung meiner Schöpfung, wenn ich nur noch meinen eigenen Herzschlag höre, meinen Atem und dieses leise Rauschen in den Ohren. Ich koste die Stille aus, mit jeder Faser meines Körpers schmecke ich sie, rieche sie, ertaste sie und tauche tief in sie ein. Diese Abwesenheit von jeglichen Geräuschen macht alles vollkommen. Jeglicher Lärm, der an meinen Nerven zerrte, ist verstummt und zurück bleibt nur Leere. Leere, die nicht gefüllt werden will, die zufrieden und eins mit sich, einfach nur die Abwesenheit von allem ist. Gibt es etwas Schöneres?

Es ist Nacht. Die Nacht ist ihre Zeit, nach Einbruch der Dunkelheit ruhen die meisten Orte. Dann zieht es sie in den Wald und sie verschwimmt dort mit den Schatten. Die meisten Tiere schlafen, nur ab und an hört man ein Rascheln oder den Ruf eines Kauzes. Sie mag Käuzchen, ihr Ton lässt ihr einen wohligen Schauer über den Rücken laufen, so als würde der kleine Raubvogel ihr sagen, dass sie willkommen ist und eine der Ihren. Manchmal schläft sie im Wald, vergräbt sich in die Blätter, atmet die Bäume und Pflanzen ein und ruht dort, eingebettet in die Natur, bis in die frühen Morgenstunden. Meist macht sie sich aber noch vor der Morgendämmerung wieder auf den Weg nach Hause, um dem morgendlichen Trubel zu umgehen, der entsteht, wenn die kleine Stadt erwacht, in der sie zur Zeit lebt. Auf ihrem Weg streift sie durch leere Straßen. Auch eine kleine Stadt hüllt sich dann in Stille, morgens so zwischen 3.00 und 4.00 Uhr, wenn die einen schon im Bett liegen und die anderen noch nicht aufgestanden sind. Manche Straßenlaternen sind aus, die Ampeln blinken höchstens orange und in den Fenstern brennt nur selten mal ein Licht. Die Stadt atmet auf und erholt sich vom täglichen Trubel. Gestört wird der Frieden nur von kurzen anonymen Begegnungen, mal fährt ein Auto, mal saust jemand mit einem E-Scooter an ihr vorbei. Sie fragt sich dann, was die Menschen wohl in ihr sehen: Eine Spaziergängerin, die nicht schlafen kann? Eine Frau, die nach einer langen Schicht auf dem Weg nach Hause ist? Sie lächelt - die Menschen sind so schrecklich naiv und ahnungslos. Die E-Scooter sind noch zu ertragen, sie gleiten relativ lautlos durch die Dunkelheit. Aber die Autos, besonders die, in denen der Fahrer meint, dass er die Musik aufreißen und den Motor ordentlich aufheulen lassen muss, zerreißen diese köstliche Ruhe und zersplittern alles in Licht- und Lärmscherben.

Sie denkt sich gern Geschichten über diese Menschen aus: Vielleicht sitzt in dem Auto ein muskelbepackter Mann um die 30, gegelte Haare, Goldkettchen am Hals, Klischee halt. Barbie sitzt brav zuhause und wartet auf ihn. Mit seinen Kumpeln wollte er sich treffen, wichtige Gespräche ständen an. »Das ist nur langweilig für dich, Babe. Mach es dir gemütlich und morgen hast du mich ganz für dich, Hase.«

Nur liegen seine Kumpel schon lange in ihren Betten, er lag auch bis eben in einem Bett, nur nicht in seinem. Er grinst selbstzufrieden, es geht doch nichts über Abwechslung beim Essen. Er drückt aufs Gas und vielleicht ist dort auf einmal ein Baum, den er übersehen hat oder ihm fällt die Kippe aus seinem dreckigen Maul, er verbrennt sich, kommt ab, Laternenpfahl, Ende.

Solche Geschichten erwärmen ihr Herz, befriedigt grinst sie in sich hinein und freut sich schon fast auf das nächste Auto.

Aber sie schweift schon wieder ab, es ärgert sie ein bisschen, dass sie sich nun den besten Moment verdorben hat indem sie nicht mehr ganz bei der Sache war. Aber der nächste wundervolle Augenblick wird kommen, ihre Arbeit ist unendlich, im wahrsten Sinne des Wortes, und ein kostbarer Augenblick reiht sich an den nächsten zu einer ewig langen Perlenkette von gesammelten Augenblicken der absoluten Stille.

Sie bindet sich ihre vollen dunklen Locken zusammen. Während ihrer Schöpfung trägt sie die Haare gern offen. Es erregt sie fast ein bisschen, wenn die Haare ihr über die nackte Haut und über ihre Kreation streichen, als wären sie lange feinfühlige Tentakeln, die jeden einzelnen kreativen Schritt in sich aufnehmen und alles in ihre Zellen leiten, damit sie alles aufnehmen und bewahren kann.

Aber nun ist Drecksarbeit angesagt, dabei kann sie weder störende Haare, noch Erregung gebrauchen.

2

»Damon!«, hörte er eine glockenhelle Stimme hinter sich rufen. Gott, wie er diesen Namen hasste, besonders seit vor ein paar Jahren diese kitschige Vampirserie raus gekommen war. Danke Mama, echt vielen Dank! Man sollte meinen, dass er mit seinen 42 Jahren nicht mehr zur Zielgruppe gehörte, aber die Frage nach seinen Eckzähnen kam doch erstaunlich und nervend häufig. Ja, zugegeben, der Typ war heiß - nichts was er je laut aussprechen würde - aber er hatte wenig gemein mit dem Damon aus der Serie, außer vielleicht die Haarfarbe, doch er selbst trug die Haare lang. Zudem waren seine eigenen Augen grün mit braunen Sprenkeln, nicht blau. Die Frauen sagten ihm zwar häufig, er hätte schöne Augen, er war sich aber nicht sicher, wie viel Schmeichelei in diesen Worten lag. Hilfreich war dieser Name aber durchaus. Diesen Blick, den die Frauen bekamen, wenn er ihn nannte: leicht glasig verklärt mit einem verzückten Lächeln in den Mundwinkeln. Er wusste, dass es wenig mit seiner Person zu tun hatte, aber als Türöffner war es nicht zu verachten. Er setzte ein Lächeln auf und drehte sich um.

»Fee!« Ein ähnlich bescheuerter Name, was manche Eltern sich bloß bei der Namensgebung dachten? Er war froh sich überhaupt noch an ihren Namen erinnern zu können, was sicher an dem Mitgefühl für diesen lag.

»Schön dich zu sehen, wie geht es dir?« Die kleine blonde Frau strahlte ihn an. »Hey, du warst letztens so schnell weg, ich konnte dir gar nicht mehr meine Handynummer geben und du hast wohl vergessen mir deine dazulassen.«

Vergessen, öhm, nein! »Ja sorry, ich musste mich echt sputen, ich bin auch jetzt echt in Eile, ein Kunde wartet, tut mir leid, wir sehen uns.«

Er drehte auf dem Absatz um und bremste seine Beschleunigung wieder ab, als er Fee hinter sich noch sagen hörte: »Hättest du denn demnächst mal Lust auf einen Kaffee bei mir?«

Innerlich rollte er mit den Augen. Warum zum Teufel geriet er eigentlich immer an die Kletten? War es auch dieser Name? Das ach so geheimnisvolle, das darin mitschwang, der unabhängige dunkle Mann, der gebändigt werden will, an die Ketten gelegt, mit Haus, Kindern und Labrador? Oder noch schlimmer: Katzen! Über die Schulter rief er, während er wieder beschleunigte: »Fee, sei mir nicht böse, aber zur Zeit ist echt viel los bei mir, ich muss einiges geregelt bekommen. Wir laufen uns sicher wieder über den Weg. Machs gut!« Bloß nicht mehr umdrehen!

An der nächsten Straßenecke bog er ab und wurde langsamer. Damon schaute noch mal kurz über die Schulter - die Luft war rein - und wechselte in den Schlendergang, denn Zeit hatte er eigentlich jede Menge. Keine Termine heute, wie auch in den letzten Tagen nicht. Es war eine schwierige Phase für ihn als Holzbildhauer. Seine Werke verkauften sich momentan nur schlecht, die Menschen hatten einfach kein Geld. Dazu hatte auch noch die Galerie schließen müssen, in der er gern ausstellte. All das nagte an seiner Kreativität, er fragte sich, wofür er überhaupt noch etwas vollenden sollte. Ein paar unfertige Projekte warteten in der kleinen Werkstatt, die an seine Holzhütte grenzte, darauf, dass er wieder in Schwung kam, aber ihm fehlte der Antrieb. Wofür, weswegen und warum überhaupt, waren die bestimmenden Fragen in seinem Kopf. Zum Glück hatte er noch ein zweites Standbein: Die Tischlerei. Aber auch in dem Bereich war es mau, wenn auch zumindest so weit ausreichend, dass er sich über Wasser halten konnte. Damon war dankbar, dass er die Hütte zu einem Spottpreis mieten durfte. Zum Ausgleich ging er dem Förster Patrick, dem auch der Wald gehörte, manchmal zur Hand. Zwischen den beiden hatte sich im Laufe der Jahre eine Freundschaft entwickelt. Auch wenn sie fast zwanzig Jahre auseinander waren, schwangen sie auf der gleichen Welle. Sie genossen die Abende zusammen auf seiner Terrasse, schweigend, mit einem Bier in der Hand, einfach nur den Klang der Natur genießend.

Damon war bei seinem Auto angekommen, er war heute in die Stadt gefahren, weil er einiges vom Baumarkt gebraucht hatte und dabei hatte er gleich den Wocheneinkauf erledigt. Ansonsten zog es ihn nicht so häufig hier her, einmal die Woche zum Einkaufen und ab und an für Kundentermine oder um die Galerie neu zu bestücken. Letzteres hatte sich ja nun erledigt. Er seufzte und schloss sein Auto auf. Kurz hielt er inne und überlegte, ob er sich noch ein Bier in der Kneipe gönnen sollte, die er immer dann aufsuchte, wenn er sich mal aus seiner Einsamkeit herausreißen musste. Aber er beschloss, dass sein Bedarf an menschlicher Nähe für heute gedeckt war, besonders nach dem Zusammenstoß mit Fee. Während er nach Hause fuhr, dachte Damon an die Stunden zurück, die er mit ihr verbracht hatte.

Vor ungefähr drei Monaten hatte er mal wieder in »seiner« Kneipe gesessen, auf einem Hocker am Tresen über sein Bier gebeugt. Diese kleine Kneipe hatte er vor einigen Jahren durch Zufall entdeckt. Sie wirkte wie ein Urgestein zwischen den ganzen hippen Lounchbars und Clubs mit bunten Lichtern und Wummsmusik. Hier war es so schummerig wie es sich für eine Kneipe gehörte, alles war in altem Holz gehalten, an der Decke waren Balken, es gab alte Ledersessel und Tische, die schon viel erlebt hatten über die Jahrzehnte. Ines, hinter dem Tresen, gehörte irgendwie schon zum Inventar und Künstler stellten hier im Wechsel aus. Aber nicht mit weißen Strahlern, sondern einfach eingefügt in diese heimelige Atmosphäre, als gehörten die Kunstwerke zur Einrichtung. Einige Kunstwerke schafften es scheinbar auch nicht mehr raus, denn sie staubten langsam ein und nahmen die Patina ihrer Umgebung an. Als Künstler durfte man nicht pingelig sein, wenn man hier ausstellte, denn hier durfte, und das war fast sein Highlight, noch geraucht werden. Was war er dankbar, als er rausbekam, dass es tatsächlich in seiner Umgebung noch eine Möglichkeit gab, im Sitzen, mit einem Bier in der Hand, unter Menschen, und dazu noch mit einem Dach über dem Kopf, zu rauchen. Langsam, genüsslich und ohne zu frieren. Als Raucher ist man heutzutage irgendwie schon ein Ausgestoßener, er war glücklich, hier unter Gleichgesinnten zu sein. Viele Gesichter waren ihm inzwischen schon bekannt, mit etlichen hatte er schon Worte gewechselt, von der Floskel bis zur Gefühlsduselei. Ein Kredo schien es hier zu geben: Was in der Kneipe ausgesprochen wurde, das blieb in der Kneipe. Er kam in unregelmäßigen Abständen hierher, immer wenn er das Gefühl hatte, er »müsste« mal wieder unter Menschen.

Er war kein Einzelgänger, das nicht, er hatte durchaus ein paar Kontakte, die er auch gut pflegte, damit er nicht in Einsamkeit versank. Aber regelmäßige Zusammenkünfte waren, außer mit Patrick, eher selten. Damon arbeitete oft bis tief in die Nacht. Besonders, wenn ihn die Muse geküsst hatte, konnte er schlecht aufhören. Dann versank er tagelang in seine Welt und fand danach den Ausgang nur schwer. Manchmal brauchte er dann Stimmengewirr um sich herum, viele lachende Menschen, die sich in der Lautstärke überboten und bei denen er das Gefühl hatte, irgendwie dazuzugehören.

So hatte er also am Tresen gesessen - seine Sicht und Motorik hatten durch die zahlreichen Kurzen, die die Runde gemacht hatten, schon ein wenig an Zuverlässigkeit verloren - als eine Frau sich neben ihn auf einen Hocker gleiten ließ. Er kannte sie vom Sehen, sie war ab und an hier, häufig mit Freundinnen, heute wohl alleine. Sie war die Sorte Frau, der Mann gern auch ein zweites Mal hinterher schaut: Schöne Figur mit langen blonden Haaren. Fee hatte ihn angelächelt, mit einem Lächeln, dass nicht ganz die Traurigkeit in ihren Augen überdecken konnte. Er versuchte, seine etwas geschwächte Sehschärfe einzustellen und glitt mit seinem Blick wohlwollend von ihren blonden Haaren, mit kurzem Stopp an ihrem roten Mund, weiter nach unten. Es fiel ihm ungemein schwer, nicht zu lange an ihren ausladenden Brüsten hängen zu bleiben., denn sie schienen ihn förmlich aufzufordern, nach ihnen zu greifen. Seine Hände unter Kontrolle haltend, tastete sein Blick sich weiter zur Taille, sie war ein wenig rund um die Hüfte, aber genau das mochte er, Mann brauchte schließlich etwas zum festhalten. Dann riss er sich von der Körperbegutachtung los - dass sie einen tollen Po hatte, wusste er schon von ihren zahlreichen Toilettengängen – und blickte ihr in die Augen.

Sie erzählte gerade irgendetwas von Männern und Trennung, er hatte nicht ganz zugehört, setzte aber einen mitleidigen Blick auf, in der Hoffnung damit nicht falsch zu liegen und sagte irgendetwas aus seinem Frauenversteher-Repertoire. Sie schob sich eine Haarsträhne hinter die Ohren, legte den Kopf schräg und fragte ihn nach seinem Namen. Er nannte ihn und da war er wieder: Dieser Glanz in den Augen, den Frauen bekommen, wenn sie das Wort »Damon« hören. Sie bekam eine leichte Röte auf den Wangen und flüsterte verträumt: »Damon ... «

Er witterte seine Chance. Frauen, die frisch getrennt sind, sind meist besonders schnell zu haben, sie sehnen sich nach jemandem, der ihr kaputtes Selbstbewusstsein wieder repariert und sei es nur für eine Nacht.

An den Rest des Gesprächs konnte er sich nur noch nebulös erinnern, nur an sein Mitgefühl für ihren Namen, das in ihm eine kurzes Gefühl der Solidarität auslöste. Sie wohnte nicht weit von der Kneipe entfernt und so endete sein Projekt »mal wieder unter Menschen« SEHR nah bei EINEM Menschen mit einem wunderbar weichen Körper und er genoss es.

Dummerweise machte er den Fehler und schlief ein. Er wachte erst gegen sieben wieder auf, als Fee sich für eine ausgiebige Dusche vor der Arbeit auf den Weg ins Bad machte. Ihre Aufforderung sich ihr anzuschließen, schlug er mit den Worten aus, dass er leider verschlafen hätte und nun schnellstens los müsste. Er sprang in die Klamotten und bevor sie auch nur ein Wort rausbrachte, zog er schon die Tür hinter sich zu. Verdammt, das mit dem Einschlafen muss ich noch in den Griff bekommen, dachte er, man läuft immer Gefahr sich noch irgendwelchen Gefühlsduseleien hingeben zu müssen.

Ja, das war also die Nacht mit Fee gewesen. Sie zählte durchaus zu den guten, wenn auch nicht zu den besten. Aber sie war halt nur eine Nacht unter vielen anderen und wenn er eines wirklich nicht gebrauchen konnte, dann waren es Kletten.

3

Sie erwacht durch den bohrenden Blick aus jadegrünen Augen. Ihre lackschwarze Katze Nemesis sitzt vor ihr und starrt sie missbilligend an. Grummelnd blinzelt sie, widerwillig nimmt sie ihre Umgebung wahr. Ihre Jalousien sind geschlossen, es ist schwer abzuschätzen, wie spät es ist, aber dem Verhalten von Nemesis nach, dürfte es wohl schon später Nachmittag sein.

»Ja, Nemesis, alles gut, du bekommst gleich dein Essen.« Sie räkelt sich unter der Decke und stöhnt auf bei den Schmerzen, die ihre protestierenden Muskeln von sich geben. Langsam schiebt sie sich zur Bettkante und greift nach einem Slip und einem T-Shirt. Mit knirschenden Knochen erhebt sie sich, zieht sich an und taumelt, beobachtet von Nemesis aufforderndem Blick, zum Fenster, um die Jalousien hochzuziehen.

>Du wirst alt, Libra!<, hört sie die glatte, etwas arrogante Stimme in ihrem Kopf.

»Halts Maul, Nemesis, nicht ICH WERDE alt - das bin ich schon - sondern dieses nervige Gefährt aus Knochen, Muskeln und Sehnen überschreitet langsam seinen Zenit.«

Mit ihren knapp vierzig Jahren ist Libra zwar noch weit davon entfernt als Seniorin zu gelten, aber ihr Körper zickt immer mal wieder rum, wenn sie sich zu viel aufgeladen hat.

Sie guckt aus dem Fenster in ihren Garten, der samt ihrem kleinen Häuschen in einem Innenhof liegt, eingeschlossen von hohen Häusern mit vielen Wohnungen. Sie ist froh, dieses Kleinod mitten in der Stadt gefunden zu haben, denn eigentlich würde sie lieber weit draußen leben. Aber ihre Aufgabe erfordert die Anwesenheit von Menschen, am besten vielen Menschen, und ein gewisses Maß an Anonymität. Somit sind Städte für sie wichtig und diese kleine Stadt ist ein guter Kompromiss. In Großstädten zu leben würde sie wahnsinnig machen, sie kommen nicht einmal nachts zur Ruhe. Mit diesem Häuschen hatte sie wirklich Glück, schade dass ihre Zeit hier begrenzt ist. Manchmal löst der Anblick der hohen Häuserwände bei ihr Beklemmungen aus, weil es sie an ein Gefängnis erinnert, aber es hat auch sein Gutes: Die Häuser halten den Straßenlärm ab und wenn nicht gerade jemand eine Party feiert, ist es relativ still. Nachbarn gibt es genug, um in der Masse unterzugehen und da sie selten am Tag weiter vor die Tür geht als in ihren Garten, kennt sie auch kaum jemanden hier. Um den Garten kümmert sie sich selbst, zumindest so weit ihre Kenntnis das zulässt. Im Grunde darf bei ihr vieles einfach wachsen und sie fügt nur dann und wann etwas hinzu oder buddelt etwas aus. Zur Zeit gibt es wenig zu tun, es ist gerade einmal März, aber der Frühling scheint sich anzukündigen, einige Krokusse lugen vorsichtig aus der Erde. Die Sonne scheint heute zur Abwechslung mal, dem Stand nach ist es tatsächlich schon später Nachmittag.

>Was war jetzt mit dem Essen?<, klingt Nemesis Stimme ungeduldig in ihrem Kopf.

»Boah, nerv mich nicht, ich bin schon unterwegs.« Libra geht in die Küche, füllt Nemesis Napf, die den Inhalt misstrauisch beäugt, kurz daran riecht, die Nase rümpft und dann angewidert den Kopf schüttelt.

>Schon wieder Rind, nicht mit mir, vergiss es! Mir ist heute nach Pute!<

»Geh in Zukunft selbst einkaufen du verwöhntes Katzenvieh! Pute ist aus, es gibt nur noch Rind!« Genervt stapft Libra aus der Küche und fragt sich zum tausendsten, ach was, millionsten Mal, was sie geritten hat, Miss »Ich bin das edelste Geschöpf der Erde und verdiene nur das Beste« bei sich aufzunehmen und sich dann auch noch täglich von ihr vollquatschen zu lassen.

Zum Glück gibt es Katzen von Nemesis Abstammung nur noch selten. Nemesis ist eine Nachkommin einer alten Linie der Sphinxen. Sphinxen gibt es schon tausende von Jahren, sie werden etwa drei Menschenleben alt und sehen von der Statur her aus wie Löwen, sind nur erheblich kleiner und alle lackschwarz. Sie haben die Gabe mit anderen Lebewesen telepathisch zu kommunizieren. Diese Gabe nutzten sie aber weniger für gute Dinge, als - ihrem eher hinterhältigem Wesen folgend - dafür, andere in den Wahnsinn zu treiben. Und das ist nicht sprichwörtlich gemeint!

Sphinxen machen sich einen Spaß daraus, die Stimme im Kopf eines Menschen zu spielen und können diesen dadurch zu den unglaublichsten Dingen bewegen. Ihre Überzeugungskraft hat schon so manchen armen Tropf dazu gebracht, daran zu glauben, er hätte nun Kontakt mit Engeln, Dämonen oder würde einer höheren Sache dienen. In alten Zeiten hat dies nicht selten zum Tod geführt, entweder durch die eigene Hand oder durch den Strick, heutzutage ist die Endstation eher eine Gummizelle. Dass diese armen Menschen dann auf einmal eine Wunderheilung haben, weil die Sphinx nun nicht mehr in ihrer Nähe ist, um ihnen etwas einzuflüstern, nimmt in der Klinik meist niemand mehr ernst. Mit Glück sind sie nach ein paar Jahren wieder draußen, vollgedröhnt mit Medikamenten und so weit am Boden, dass sie den Rest ihres Lebens nicht mehr auf die Beine kommen.

Dass Sphinxen heute als Statue mit Menschenkopf dargestellt werden, haben sie den alten Ägyptern zu verdanken. Einige von ihnen waren imstande, das Gebaren dieser niederen Geschöpfe zu durchschauen und wollten sich ihre Fähigkeiten aneignen. Manche Sphinxen ließen sich auf ein Geschäft ein und versuchten die Menschen zu trainieren, im Austausch für ein wahres Luxusleben. Das hat nur bedingt funktioniert und die Rechnung der Ägypter die Katzen nach Erfüllung deren Seite der Abmachung einfach zu töten, ließ sich nicht umsetzen. Da die Katzen den Menschen natürlich nur das nötigste beibrachten, waren die Ägypter weiter auf ihre Dienste angewiesen, wenn es darum ging, andere in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Ägypter hatten den Sphinxen viel an Macht und Ruhm zu verdanken, so setzten sie ihnen ein Denkmal. Nicht aber ohne ihr eigenes Ego ausreichend zu betonen, indem sie den Statuen einen Menschenkopf gaben. Eine Sphinx auf diese Statuen anzusprechen, sollte man tunlichst unterlassen. Eine Stimme im eigenen Kopf will man nicht zum Feind haben, wirklich nicht!

Libra hat gelernt, Nemesis Stimme in ihrem Kopf leiser zu drehen und überhört so absichtlich deren Litanei über schlechtes Personal. Nemesis ist eine Nervensäge, aber wenn es darauf ankam, sind sie ein gutes Team. Ohne die Sphinx würde sich Libras Arbeit mindestens verdoppeln und wesentlich mehr Nerven kosten. So erträgt sie ihr Genörgel. Vielleicht gehe ich später los und kaufe ihr frische Pute, mal sehen.

Libra geht in ihren Trainingsraum, um ihre steifen Muskeln etwas zu lockern. Ihr Häuschen hat vier Zimmer: Ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, diesen Trainingsraum und nicht zu vergessen: Einen zweckmäßig eingerichteten Kellerraum. Der Trainingsraum ist nicht groß, aber gut bestückt mit Matten, Klettergelegenheiten, Boxsack und Stöcken. Die meisten ihrer Waffen sind in einem Hohlraum unter dem Holzfußboden gelagert. Zum einen, weil sie sie selten braucht (Heutzutage mit Schwert auf dem Rücken herumzulaufen, macht sich nicht gut!) und zum anderen, weil sie nicht gleich gefunden werden sollen, sollte hier mal jemand einbrechen.

Libra stellt sich vor ihre Spiegelwand und beginnt mit leichten Chi Gong Übungen zum Aufwärmen. Die Spiegelwand dient weniger ihrem Ego als der Tatsache, dass sie ihre Bewegungen immer mal wieder korrigieren muss. Sie kann etliche Kampfkunstarten in ihrem Kopf blitzschnell abrufen, aber ihre Muskeln tun nicht immer das, was sie sollen. Menschenkörper sind lästig, ständig müssen sie trainiert und fit gehalten werden, damit sie einigermaßen in Schuss sind.

Libra betrachtet sich im Spiegel, während sie ihre Knie leicht beugt, ihre Hüfte nach rechts dreht und die Arme in die Position eines Bogenschützen bringt. Ihre schwarze Mähne ist zu einem Zopf gebunden und ihre grünen Augen - sehr ähnlich denen von Nemesis, inklusive leichter Schrägstellung - blitzen ihr leicht gereizt entgegen.

Mit ihrem Körper kann sie im Grunde zufrieden sein, andere würden sie wahrscheinlich als Schönheit bezeichnen, mit ihrem schlanken fast drahtigen Körperbau und den Rundungen an den richtigen Stellen. Leichte Bräune perfektioniert ihre Erscheinung und das Bild, wie ihre fließenden Bewegungen schneller und kraftvoller werden, während sich ein leichter Schweißfilm glänzend auf ihre Haut legt, würde sich in so manche Männerträume schleichen.

Libra ist ihr Aussehen völlig egal, sie hat schon in so vielen Körpern gewohnt, dass sie keinen als mehr betrachtet als ein Gefäß, das gepflegt und gewartet werden muss. Manchmal ist ihre Schönheit auch eher lästig, weil sie damit zu sehr auffällt. Ihr Kleidungsbestand beinhaltet daher fast nur Kapuzenpullis und Hosen, um in der Öffentlichkeit möglichst unsichtbar zu bleiben. Nur wenn es sein muss, greift sie zu einem Minirock. Sie hasst Röcke, aber bei Männern ersparen einem kurze Röcke eine Menge Vorarbeit. Bei Frauen muss sie etwas subtiler vorgehen. Frauen werden leicht stutenbissig, wenn sie Konkurrenz wittern, sei es nun physisch oder geistig. Da ist es besser ein bisschen unsicher zu wirken. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, manche Frauen stehen regelrecht auf starke Schönheiten. Um immer den richtigen Ton zu treffen, muss Libra konzentriert bleiben, sonst kann es passieren, dass sie ihr Ziel knapp verfehlt. Ja, Männer sind da um einiges unkomplizierter.

Inzwischen bekommt der Sandsack sein Fett weg und sie genießt es, sich so richtig auszutoben. Ihre Muskeln sind nun warm und können wieder abliefern und ihr Gemüt beginnt sich abzukühlen.

Endlich ausgepowert, geht sie beschwingt unter die Dusche und lässt sich danach, in ein Handtuch gehüllt, mit Müsli und Smoothie auf den Küchenstuhl fallen. »Nemesis, was hältst du davon, wenn ich morgen mal wieder etwas Arbeit mit nach Hause bringe?«

Die Katze sieht sie aus schmalen Schlitzen an. >Ohne Pute läuft hier gar nichts!<

4

Damon hatte seine Einkäufe verstaut und ging in die Werkstatt. Er nahm eines seiner momentanen Projekte in die Hand, einen dicken Eichenast, aus dem sich der Teil eines Frauenkörpers abzeichnete. Eigentlich hatte er sich vorgenommen eine Serie von Körpern zu erschaffen, die unterschiedliche Gefühle ausdrücken sollten. Aber über den wütenden Mann war er irgendwie noch nicht hinausgekommen und auch der gefiel ihm noch nicht zu hundert Prozent. Unzufrieden legte er den Ast wieder auf die Hobelbank und schaute sich in seiner Werkstatt um. Alles da, nur keine Kreativität.

Frustriert schloss er die Werkstatttür hinter sich und ging ins Haus. Die Sonne war schon untergegangen und er fröstelte. So wenig zu tun zu haben, war er nicht gewohnt und er lief ruhelos hin und her und räumte ein bisschen auf, was eindeutig bewies, dass er verzweifelt war. Um seine Verzweiflung noch zu steigern, ließ er sich auf seine Couch fallen und griff zur Fernbedienung. Lustlos und uninteressiert zappte er durch die Programme und blieb bei einer Doku über Südafrika hängen.

Es klopfte. Verwirrt schlug er die Augen auf, er war doch tatsächlich weg gedämmert. Die Doku schien vorbei zu sein, irgendeine Frau rannte auf dem Bildschirm gerade in einer dunklen Gasse vor zwei maskierten Männern davon. Es klopfte wieder. Dann hatte er sich doch nicht verhört. Er rappelte sich auf und ging zur Tür.

Draußen stand Patrick. »Tut mir leid, dass ich so spät noch störe, Damon, aber ich wurde angerufen. Hier in der Nähe gab es einen Wildunfall.«

»Oh, gibt es Verletzte?«

»Nein, zum Glück nicht, außer dem Reh wahrscheinlich.

Die Fahrerin konnte noch rechtzeitig bremsen und ist nicht von der Straße abgekommen. Leider hat sie das Reh ein wenig erwischt, es ist humpelnd geflüchtet. Ich weiß, es ist schon kurz vor Mitternacht, aber ich würde gern noch versuchen es zu finden. Würdest du mich begleiten?«

»Macht es denn im Dunkeln überhaupt Sinn?« Damons Lust sich nun noch in die Kälte zu begeben, hielt sich in Grenzen.

Patrick setzte eine verlegene Miene auf: »Es ist eines von den Weißen aus dem Sprung und die haben es eh schon nicht so leicht in der Gemeinschaft. Ich scheine auf meine alten Tage sentimental zu werden. Und ich habe vorgesorgt!« Mit diesen Worten zog er zwei Nachtsichtgeräte aus der Tasche und grinste breit.

Damon gab sich geschlagen. »Okay, was solls, warte, ich zieh mir kurz was an.« Vorm Fernseher schlafen kann er auch morgen wieder. Er zog sich einen zusätzlichen Pullover an, warf sich seine dicke Jacke über und stieg in seine Stiefel.

Draußen begrüßte ihn Molly mit wildem Gehüpfe und leisem Quietschen. Die kleine Dackeldame war bestens trainiert in Fährtensuche, auch wenn Patrick alles was mit Jagd zu tun hatte, lieber den örtlichen Jägern überließ. Aber er musste während seiner Ausbildung zum Förster auch einen Jagdschein machen und manchmal war es unausweichlich, dass er selbst zum Gewehr griff. Wenn möglich, sah er die Tiere aber lieber lebend und in Situationen wie diesen waren ihm vorschnelle Jäger mit dem Finger am Abzug nicht besonders willkommen. Mit Molly verfolgte er gern die Wege der verschiedenen Rehsprünge und kontrollierte den Bestand an Füchsen, Dachsen und anderen Tieren. In ihrem Wald kannten sich die beiden gut aus.

Die beiden Männer gingen Richtung Landstraße, nach etwa dreißig Minuten gelangten sie zu der Stelle, an der die Frau das Reh angefahren hatte. Nur schwarze Bremsspuren zeugten noch von dem Unfall. Damon und Patrick setzten die Nachtsichtgeräte auf und ließen Molly die Spur aufnehmen. Aufgeregt raste sie los, sie liebte nichts mehr als Fährtensuche und sie war sehr konzentriert dabei. Die Männer hatten Schwierigkeiten ihr zur folgen und nach ein paar Minuten beschloss Patrick, dass es besser war, sie an die Leine zu nehmen. Im Dunkeln war eine hohe Geschwindigkeit trotz Nachtsichtgeräten nicht besonders ratsam.

An einer Stelle fanden sie etwas Blut und Patricks Mut sank, das Reh noch lebend zu finden. Oft laufen die Rehe nach einem Unfall noch weg, weil ihr Körper durch den Schock unter Adrenalin steht. Aber wenn sie innere Verletzungen haben, dann gibt der Kreislauf irgendwann auf und spätestens, wenn sie zur Ruhe kommen, sterben sie. Aber sie folgten der Spur nun schon eine halbe Stunde quer durch den Wald und die Länge der Strecke, die das Reh schon lief, machte die Lage nicht hoffnungslos.

Plötzlich blieb Molly stehen und legte sich neben Patricks Beine. Das war ihr stilles Signal, dass etwas in der Nähe war. Lautes Gekläffe ist in manchen Situationen einfach wenig hilfreich. Die Männer verharrten und schauten sich um. Da, tatsächlich, knapp fünfzig Meter entfernt lag ein weißes Reh zwischen zwei Bäumen. Ob es noch lebte, ließ sich schwer erkennen. Patrick legte sein Betäubungsgewehr an. Im Zielfernrohr konnte er erkennen, dass das Reh noch atmete. Er schoss und sie warteten zwei Minuten. Äußerlich war wenig zu erkennen, außer eine Wunde an der Flanke, die aber nicht sehr tief schien.

»Ich rufe Harstbek an, er soll das Reh einmal röntgen. Wenn es nicht zu dramatisch ist, bringe ich es in die Wildtierhilfe zum Aufpäppeln. Es wäre wirklich schade um so eine schöne Weiße.« Zärtlich streichelte er dem Reh über den Kopf und wollte es dann hoch heben.

»Lass mal, Patrick, ich mach das schon.« Damon nahm das Reh vorsichtig hoch und sie wendeten sich in die ungefähre Richtung zu Damons Haus, weil Patrick sein Auto dort geparkt hatte. Patrick ging etwas schneller voraus, er wollte die Ladefläche frei machen und schon mal bei Harstbek, dem Tierarzt aus der Stadt, anrufen.

Ein Reh ist nicht gerade ein kleiner Hund und Damon geriet ins Schwitzen. Molly hüpfte um ihn herum und er musste aufpassen, nicht über sie zu stolpern.

Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen und witterte. Damon geriet ins Straucheln und konnte sich gerade noch wieder fangen. »Molly, was ist?«

Sie winselte leise und legte sich neben ihn. Das verwirrte ihn. »Du Dummkopf, ich hab das Reh doch auf dem Arm. Lauf weiter!«

Molly blieb liegen. Er schaute sich in der Gegend um, konnte aber nichts entdecken. Das Reh wurde immer schwerer in seinem Arm und ächzend setzte er sich wieder in Bewegung. Molly folgte ihm zögerlich, blieb aber immer wieder stehen und winselte. Dann sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung und fuhr herum. Fast wäre ihm das Reh aus dem Arm geglitten. Was war das? Nach einem Reh oder ähnlich großem Tier sah es nicht aus. Er blinzelte. Das ist ein Mensch, was zum Teufel macht ein Mensch hier mitten in der Nacht im Wald? Ausgenommen man trägt gerade verletzte Tiere durch die Gegend natürlich.

Molly fing an zu bellen und wollte losrennen, er konnte sie gerade noch im Befehlston stoppen. Dann sah er nochmal in die Richtung, aber die Gestalt war weg. Wenn Molly nicht so aufgeregt gewesen wäre, hätte er gedacht, das wäre eine nächtliche Fata Morgana gewesen.

Nachdenklich schleppte er das Reh die letzten Meter zum Auto und legte es stöhnend auf die Ladefläche.

»Was war da eben los? Was hatte Molly?«, fragte Patrick.

Damon zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht, es sah so aus, als ob sich dort jemand rumgetrieben hätte.«

»Was? Wie jetzt? Ein Mensch? Mitten in der Nacht? Hier? Mann oder Frau? Das darf ja wohl nicht wahr sein, jetzt treiben sich diese besoffenen Idioten schon in meinem Revier herum.«

»Patrick, ich weiß nicht, ob es eine Frau oder ein Mann war, ich habe nur kurz eine Gestalt gesehen und dann war sie auch schon wieder weg. Hilfe brauchte derjenige wohl nicht, sonst wäre er nicht so schnell verschwunden. Was aber noch lange nicht heißt, dass er oder sie betrunken war«, setzte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.

»Ja, schon gut, ich bin etwas übermüdet. Trotzdem werde ich in den nächsten Tagen wohl mal ein wenig die Augen aufhalten müssen. Ich habe keine Lust, dass sich hier Gesocks herumtreibt und den Wald voll müllt.« Grimmig schloss er die Ladefläche und ging zur Fahrertür. »Danke für deine Hilfe, Damon. Das nächste Bier geht auf mich. Ich fahr jetzt zu Harstbek, er weiß schon Bescheid.«

»Machs gut Patrick, ich werd mich dann mal hinhauen.«

Damon ging ins Haus, zog sich aus und schmiss seine Klamotten auf den Sessel. Gähnend reckte er sich und wankte dann Richtung Schlafzimmer. Er ließ sich ins Bett fallen und schlief fast augenblicklich mit der Frage ein: »Wer oder was bitte war das vorhin?«

5

An der Straße angekommen, wechselt Libra in einen langsameren Gang. Die letzten zwei Kilometer durch den Wald ist sie gelaufen, sofern der Untergrund es zuließ. Sie ärgert sich über sich selbst, dass sie so nachlässig gewesen ist. Normalerweise kundschaftet sie ein Gebiet ausgiebig aus, bevor sie sich ungeschützt dort aufhält. In den Wald nimmt sie eigentlich nie Waffen mit, weil dort ihre Zeit des Erholens ist, ihre Oase der Ruhe. Ein kleines Messer hat sie zwar immer dabei, aber das benutzt sie auch nur in Ausnahmesituationen. Und wichtiger als immer verteidigungsbereit zu sein, ist ihr, nicht aufzufallen. Zwei Männer und ein Hund sind einfach schon zu viele, die ihr Gesicht - und ihren Geruch - speichern können. Sie war schon ein paar Mal in dem Wald, nur von der anderen Seite. Er ist wunderschön, vieles ist noch naturbelassen und nicht zwangsaufgeforstet. Zum Kraft tanken genau das Richtige.

Heute Nacht wollte sie mal von der Seite der Landstraße in den Wald und ist von dort aus querfeldein abgebogen. Sie kam an einem kleinen See vorbei, den sie gleich auf ihrer inneren Karte abspeicherte für die etwas wärmeren Monate. Nachts baden war sie schon lange nicht mehr.

Nachdem sie ungefähr anderthalb Stunden durch den Wald geschlendert war – der Wald ist wirklich angenehm groß – und sich in Sicherheit wiegte, ließ jegliche Anspannung nach und sie lehnte sich an einen Baum. Sie schloss die Augen, tastete an der Rinde entlang, atmete den Geruch ein und hörte dem nächtlichen leisen Rauschen der Blätter zu. Diese Ruhe, wundervoll!

Auf einmal hörte sie Schritte und ein leises Winseln. Verdammt! Libra verharrte an dem Baum und bewegte sich nicht, allerdings nützte das bei einer feinen Hundenase und Augen mit Nachtsicht nicht viel.

Der Mann an der Seite des Hundes trug ein weißes Reh und hatte eine eher schlanke mittelgroße Statur. Sein Schnaufen aufgrund des Gewichts auf seinem Arm drang bis zu ihr herüber. Scheinbar ist der Gute nicht besonders trainiert. Sie lächelte kurz verächtlich, dann fiel ihr wieder ein, dass ihre Situation gerade nicht die beste war und sie schaute noch einmal hin und erkannte, dass der Mann ein Nachtsichtgerät auf hatte. Ach, so eine Scheiße!

Sie entschied sich dafür, Fersengeld zu geben und in die Dunkelheit einzutauchen, in der Hoffnung, dass der Abstand zwischen ihr und dem Mann groß genug war, so dass er nur eine Gestalt erkennen und nicht noch Größe und Geschlecht ausmachen konnte. Der Hund wollte ihr erst nachhetzen, aber der Mann rief ihn zurück. Gut so!

Da ihr bis hier niemand gefolgt war, kann sie nun etwas runterfahren. Sie geht gemächlich neben der Landstraße, schiebt ihren Ärger beiseite und denkt nach. Sie hatte auch noch Lichter von einem Haus gesehen und der Mann spazierte sicher nicht aus Spaß mit einem Reh auf dem Arm durch den Wald. Heißt, es wohnt jemand im Wald, das ist schlecht. Andererseits ist der Wald groß genug, um sich in anderen Teilen unbemerkt aufzuhalten. Sie würde in den nächsten Tagen mal etwas systematischer durch den Wald gehen, um auszuschließen, dass es noch andere Überraschungen gibt. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sie dort schläft und auf einmal jemand vor ihr steht.

Als Libra die Autobahnbrücke zur Stadt erreicht, sieht sie jemanden am Brückengeländer stehen und zwar auf der falschen Seite, HINTER dem Geländer.

Oh, unverhofft kommt oft! Ganz passend ist es gerade nicht, aber man muss ja nehmen was man kriegen kann. Vorsichtig geht sie näher, etwas lauter auftretend, so dass die Frau, so viel kann sie inzwischen erkennen, nicht vor Schreck loslässt.

»Gehen Sie weg!«, ruft die Frau weinerlich, während ihr ihre blonden Haare in den Mund wehen und sie versucht sie wieder loszuwerden, ohne die Hände benutzen zu müssen.

Hübsches Ding eigentlich, so viel zum Thema, die Hübschen haben es leichter im Leben. Wenn es darauf ankommt, sind es alles weinerliche Geschöpfe. »Ganz ruhig, alles ist gut.« Libra hebt beschwichtigend ihr Hände. »Ich will Ihnen nichts tun. Das besorgen Sie ja schon selbst. Ich dachte, wir reden vielleicht ein bisschen.«

»Auf den Trick falle ich nicht rein, bleiben Sie von mir fern, sonst springe ich.«

Wow, Dramaqueen, wie beeindruckend … Libra rollt innerlich mit den Augen. »Kein Problem, ich bleibe hier stehen … oder nein, ein kleines Stück komme ich noch näher, dann muss ich nicht so schreien.«

Die Frau guckt sie aus schreckgeweiteten Augen an und klammert sich so fest an das Geländer, dass ihre Knöchel weiß hervortreten. »Stopp!«, kreischt sie.

Libra bleibt stehen und wechselt ins vertrauliche Du. »Entspann dich oder spring einfach, deswegen bist du doch hier, oder nicht?«

Dem Brückenklammeraffen bleibt der Mund offen stehen. »Ähm, ja«, stammelt sie, »es geht einfach alles nicht mehr, mir ist alles zu viel.« Nun fängt es an zu sprudeln: »Scheiß Männer, immer bin ich nur Dreck für die. Erst hat mein Freund mich betrogen und dann habe ich jemanden kennengelernt, aber der schien auch nur an einer Nacht interessiert gewesen zu sein. Es ist immer das gleiche, verliebt man sich in so einen Kerl, bleibt man auf der Strecke.«

Was für eine Selbstachtung, wie tief kann man eigentlich sinken? Aber all das hatte Libra schon tausendmal erlebt und da hilft auch keine Psychologie. Menschen sind einfach verweichlicht, auch die, die meinen hart zu sein. Bis jetzt hat sie noch jeden zum Wimmern gebracht. »Schon mal mit Frauen versucht?«

»Was???« Irritiert schaut die Frau sie an.

»Schon mal mit Frauen versucht?«, wiederholt Libra.

»Ähm, hä, was, äh, nein, ich steh nicht auf Frauen!«

»Wäre vielleicht mal was, was du ausprobieren solltest, vielleicht hilft es.« Libra zuckt mit den Schultern. Das Blondchen ist inzwischen so irritiert, dass sie eine Hand lockert und fast den Halt verliert, schnell packt sie wieder zu.

»Ich will keine Frau! Ich will endlich von einem Mann geliebt werden, der romantisch und treu ist, der mich auf Händen trägt, mir Geschenke macht, mit dem ich ein Haus kaufen kann und Kinder bekomme. Das kann doch nicht so schwer sein!«, schluchzt sie auf.

Kein Wunder, dass die Männer weglaufen, denkt Libra. »Ich dachte, du willst springen? Dann ist es vorbei mit Romantik«, sagt Libra und geht noch einen Schritt auf sie zu.

Die Frau ist inzwischen von ihren eigenen Gedanken so abgelenkt, dass sie Libra näher kommen lässt.

»Und, hat die Selbstmordtäterin auch einen Namen?«, fragt sie.

»Fee«, antwortet die Frau leise.

Mit so einem Namen würde ich mich auch umbringen! »Außergewöhnlich«, sagt Libra dann laut. »Was hältst du davon, du steigst da jetzt runter und wir gehen zu mir, ich mache dir einen schönen heißen Tee, du schüttest mir dein Herz aus und dann schauen wir mal, was ich für dich tun kann.« Sie lässt ein ermunterndes Lächeln auf ihr Gesicht gleiten. Nemesis wird wenig begeistert sein, dass sie heute schon Arbeit bekommt, aber Gelegenheiten muss man nutzen.

Die Frau zögert und will dann gerade zurück klettern, als Libras Handy in der Tasche brummt. »Ach Mist, warte kurz!« Sie hebt die linke Hand und angelt mit der rechten das Handy aus der Tasche. Als sie den Anrufer auf dem Display sieht, seufzt sie genervt. »WAS IST? Ich bin beschäftigt«, blafft sie ins Telefon.

Eine Stimme antwortet: »Libra, ist bei dir schon angekommen, dass Jesus mal wieder auf der Erde weilt?«

»Ernsthaft? Schon wieder? Der gibt wohl nie auf. In den letzten 132 Jahren hat sich nichts geändert bei den Menschen, wie überhaupt in den zweitausend Jahren seit seiner Geburt. Er sollte langsam einsehen, dass Hopfen und Malz verloren ist. Der wievielte Versuch ist das jetzt? Der zehnte? Der zwanzigste? Sucht er nen Job? Dann kann er mir helfen.«

»Ich bezweifel, dass er bei dir lange durchhalten würde«, kichert die Stimme.

»Und was willst du dann von mir?« Aus den Augenwinkeln beobachtet Libra die Frau, die sich immer noch an das Geländer klammert und nicht von der Stelle gerückt ist. »Er ist in der Klapse gelandet war ja fast klar, dass das nicht lange gut geht, heutzutage wird nicht lange gefackelt mit weißen Westen. Vielleicht trifft er da auf andere Jesuse.« Die Stimme kichert wieder.

»Na, dann ist er doch in guten Händen, also was willst du dann von mir?« Die Frau macht nun Anstalten über das Geländer zurückzuklettern. Libra macht ihr mit einer Geste klar, dass sie warten soll und die Frau verharrt verwirrt.

»Ich möchte, dass du ihn raus holst, vielleicht kann er ja doch noch Gutes tun. Führ ihn ein in diese Welt, zeig ihm wie es läuft und wo er vielleicht ansetzen kann. Aber bitte nicht mit deiner Methode!«

»Das ist nicht dein Ernst, ich soll Babysitter für Jesus spielen? No way, nicht mit mir!«

»Libra, denk an unsere Abmachung! Ich lasse dir alle Freiheiten, aber du musst ab und an etwas für mich tun, so läuft das! Ein Nein gibt es nicht, es sei denn, du möchtest deine Zeit auf Erden beenden.«

Libra flucht: »Du bist zum Kotzen, ich hab keinen Bock, mit so einem Nachthemdträger und von Liebe Faselendem durch die Gegend zu ziehen. Das schädigt meinen Ruf!«

»LIBRA!«

»Ach, fick dich, ja gut, verdammte Scheiße, wo ist er?«

»In der Nähe von dir, die nächste große Stadt, ca 120 Kilometer südlich.«

»Das auch noch, Großstadt und dahin kommen müssen. Du kannst einem echt auf die Nüsse gehen!«

»Braves Mädchen! Wir hören!«, lacht die Stimme.

Libra legt auf und flucht lauthals vor sich hin.

Die Frau schaut sie aus großen Augen an. »Alles okay?«

»Nein verdammt, nichts ist okay und ich hab jetzt auch leider keine Zeit mehr. So eine Verschwendung … Springst du jetzt endlich?«

»Ich weiß nicht, ich dachte …«, bricht die Frau ab.

Libra geht mit einem großen Schritt auf sie zu und gibt ihr einen Schubs. Entscheiden können Menschen sich auch nie, nervende Kreaturen …

Kreischend verliert die Frau den Halt und fällt in die Tiefe. Der Aufprall ist recht schnell danach zu hören, ein Knacken zusammen mit diesem eigentümlichen Geräusch als würde man auf eine Melone einschlagen.

Musik in meinen Ohren!

Auf dem Weg nach Hause schimpft Libra lauthals vor sich hin: »Was für ein beschissener Tag, erst das im Wald und nun Jesus ... JESUS! Damit werde ich dann meine Pläne für heute Abend auch canceln müssen. Zumindest Nemesis wird sich über Freizeit freuen ... Nemesis … Ach Mist, die Pute …«

Zuhause angekommen begrüßt Nemesis sie mit einem eisigen Blick auf ihre leeren Hände und dreht hocherhobenen Schwanzes ab Richtung Couch. Libra versucht eine innere Explosion zu verhindern und legt den Schleimmodus auf: »Ja, ich weiß, es tut mir leid, ich hab es vergessen und nun hat nichts mehr auf. Morgen, versprochen! Heute ist einfach ganz viel große Scheiße passiert.«

Nemesis wendet ihr trampelnd auf einem Kissen den Rücken zu und täuscht Gleichgültigkeit vor. Aber es gibt kaum neugierigere Geschöpfe als Katzen - Hunde vielleicht noch - und Sphinxen sind da keine Ausnahme. Zudem gibt es fast nichts, was Nemesis mehr Freude bereitet als Schadenfreude, außer vielleicht eine edle Mahlzeit. >Was hast du angestellt, Libra?<

»Nichts, fast nichts zumindest, aber das ist egal. Viel schlimmer ist, dass Jesus wieder frei rumläuft. Naja, fast, eigentlich läuft er eher in der Klapse rum und ich soll ihn raus holen.«

>Sagt wer?<

»Ja, wer wohl??«

>Oh, na dann wirst du das wohl tun müssen!< Erfüllt von Schadenfreude rollt sie sich mit einem zufriedenen Schnurren auf dem Kissen zusammen.

»Toll, ganz toll, wir müssen besprechen, wie wir das anstellen können!«

>Wir? Pute?< Damit schließt Nemesis die Augen und überlässt Libra ihrer Wut.

Libra stapft in die Küche, reißt die Kühlschranktür auf, greift sich ein Bier und öffnet die Bodenklappe im Wohnzimmer. Eigentlich ist sie hundemüde, aber schlafen könnte sie nun eh nicht, also kann sie auch ihre weiteren Schritte planen. In dem Kellerraum, der über die ganze Fläche ihrer Wohnung geht, geht sie an den Schreibtisch und brütet vor sich hin. Im Kopf geht sie eine Liste von Dingen durch, die sie braucht, um sich erst einmal ein Bild der Klinik zu machen. Und dann braucht sie einen Platz für Jesus, er kann unter keinen Umständen hier bleiben. Libra greift zum Handy und drückt auf die Kurzwahl für Tom. Die Mailbox geht ran. »Ruf mich zurück, schnell bitte!«

Sie schleudert das Handy auf den Schreibtisch und geht in den Trainingsraum, um dort aus dem Bodenversteck einen Koffer zu nehmen. Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frauen! Sie entscheidet sich für blond … Dr. Stella Steenhus, morgen darfst du mal vor die Tür. Den Rest der Ausweise legt sie wieder zurück in den Koffer.Auf dem Rückweg greift sie sich noch ein Bier und schiebt im Keller eine der beweglichen Wände beiseite, um ein paar Sachen raus zu legen. Rastlos geht sie auf und ab, versucht nochmal Tom zu erreichen. Mailbox. Ach verdammt!

~

Libras Handy klingelt, sie greift mit geschlossenen Augen danach. »Libra? Hier ist Tom, was gibt es denn so dringendes?«

»Na endlich! Wie spät ist es?«, fragt sie verschlafen.

»Es ist acht Uhr durch, normale Menschen schlafen nachts, um vier übrigens auch schon, damit sie um diese Zeit ausgeruht im Büro sitzen können.«

»Ach Tom, du bist so ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft«, frotzelt Libra. »Ich brauche ein paar Infos über die Psychatrische Klinik in Hamburg: Chefarzt, Angestellte, Sicherheitsvorkehrungen und so weiter und das bitte bis gestern.«

»Libra, ich habe auch noch andere Dinge zu tun, wozu brauchst du das denn?«

»Geht dich nichts an, ich bezahle dich gut genug, also mach mir jetzt keinen auf überarbeitenden armen Privatdetektiv. Bis 13.00 Uhr hätte ich das Ganze gern in meinem Emailpostfach liegen.«

Sie legt auf und überlegt, sich wieder auf die andere Seite zu drehen, mehr als zwei Stunden Schlaf waren bislang nicht drin. Ach verdammt, ich brauch ja auch noch ein Auto! Sie quält sich aus dem Bett, greift sich einen Smoothie aus dem Kühlschrank und fährt im Keller ihren Laptop hoch. Bei der Autovermietung reserviert sie einen Kleinwagen für 14.30 Uhr.

Wieder oben, kommt Nemesis ihr entgegen >Musst du mitten in der Nacht so einen Lärm veranstalten?<

Ach, was liebe ich diese Katze! »Ich hole dir jetzt deine Pute, also hör auf zu nörgeln.«

Es ist nicht die ideale Zeit, um einkaufen zu gehen, zu viel los, aber sie ist den Tag über unterwegs und wer weiß was dann wieder dazwischen kommt. Und leider ist sie auf Nemesis angewiesen, sonst würde sie sie Mäuse fangen schicken. Sie nutzt die Strecke zum Supermarkt als morgendlichen Workout und befriedigt anschließend Nemesis Gelüste. Zufrieden macht sich die Katze über ihr Futter her und rollt sich dann im Bett zusammen. >Und, was liegt heute an? Betätigst du dich als Jesuserlöserin <

Libra ignoriert das Gestichel und geht unter die Dusche.

6

Damon saß am Frühstückstisch und blätterte in der Tageszeitung. Seine Kippe verglühte sich selbst überlassen im Aschenbecher. Er hing seinen Gedanken nach. So ungewöhnlich ist es ja nicht, dass es Menschen auch mal nachts in den Wald trieb, aber alleine? Draußen war es wolkenverhangen trüb und er machte seine Lampe aus Eichenholz an. Sie hatte die Gestalt von Tyr, einem nordischen Gott.

Die Szene, die Damon verewigt hatte, zeigte Tyr, wie er seine Hand im Maul von Fenrir liegen hatte, kurz bevor dieser sie abbiss. Damon hatte eine Reihe von nordischen Göttern gemacht, alle in etwa der gleichen Größe von circa fünfzig Zentimetern. Manche hatte er dann zu einem Lampenfuß weiterverarbeitet. Die Götter verkauften sich super und es war klasse gewesen, an ihnen zu arbeiten. Tyr war ihm irgendwie ans Herz gewachsen, vielleicht weil er zum einen eine Art Outlaw war, dadurch dass er durch Odin von seinem Platz des ersten Gottes vertrieben wurde. Zum anderen opferte er seine Hand für die Göttergemeinschaft. Und genau diese Szene zeigte ihn in einem sehr verletzlichen Moment, obwohl er unter anderem als Kriegsgott galt. Die Skulptur von Tyr und Fenrir war für Damon auch ein bisschen wie Schrödingers Katze. Er hatte das Maul Fenrirs so gestaltet, dass es geschlossen war und in dieser eingefrorenen Szene konnte niemand sagen, ob die Hand schon durchgebissen oder noch dran war. Damon fragte sich nicht zum ersten Mal, ob die Geschichte sich anders entwickelt hätte, wenn Fenrir die Hand nicht abgebissen hätte.

Er legte die Zeitung beiseite, weil er eh nichts aufnehmen konnte und wusch ab. Er lachte über sich selbst, dass er inzwischen jeden einzelnen Teller gleich abwusch. Ordentlichkeit war sonst nicht so seine Stärke, ihm fehlte meist auch einfach die Zeit. Aber die Stunden schienen sich momentan unendlich auszudehnen und seine Langeweile und Unzufriedenheit gleich mit.

Er rief Patrick an, um zu hören, wie es dem Reh ging. Patrick berichtete, dass es zum Glück keine inneren Verletzungen hatte und nun in der Wildtierhilfe zum Päppeln war. In etwa zwei Wochen könnte man es wieder in die Freiheit entlassen. Wenigstens eine gute Nachricht, dann hat sich die Schlepperei ja gelohnt.

Und wieder wanderten seine Gedanken zu der nächtlichen Gestalt. Er nahm sich vor, später noch in den Wald zu gehen, um zu schauen, ob er etwas finden würde. Irgendeinen Hinweis, ein fallengelassenes Stück Papier, ne Kippe, irgendwas. Damon wusste gar nicht so recht, warum ihn das so beschäftigte, vielleicht einfach, weil er Zeit hatte.

Er seufzte, zog sich seine Jacke an und ging rüber in seine Werkstatt. Die depressive Atmosphäre draußen ermunterte ihn nicht gerade, seiner Kreativität freien Lauf zu lassen. Er schaltete das Licht ein, griff sich die angefangene Frauenskulptur und setzte sich an seine Werkbank. Sinnierend betrachtete er den angedeuteten Frauenkörper. Eine Hüfte samt rechtem knienden Bein konnte man schon erkennen und die Brüste schälten sich aus dem Holz. Die Andeutung eines nach oben gestreckten Armes zeichneten sich über der groben unfertigen Form des Kopfes ab. Traurigkeit, Wehklagen, das sollte die Frau symbolisieren, wenn sie fertig war. Eigentlich passend zu seiner Stimmung. Warum also floss es nicht aus seinen Händen?

Dann durchzuckte es ihn. Eine Frau. Ja! Das gestern war eine Frau gewesen! Auf einmal war er sich ganz sicher.

Er legte das Eichenstück hastig weg, machte das Licht aus, zog die Tür hinter sich zu und ging in den Wald. Leichter Nebel lag noch auf den Lichtungen und die Sicht war auch aufgrund der dichten Wolkendecke nicht besonders, aber seine Neugier trieb ihn weiter. Hier musste es ungefähr gewesen sein, wo Molly stehen geblieben war. Er drehte sich um seine Achse und versuchte auszumachen, wo in etwa die Frau gestanden haben könnte. Da, an diesem Baum musste es gewesen sein. Er untersuchte den Baum und die Erde darunter, fand aber nichts. Dann sah er einen verschwommenen Fußabdruck etwa drei Meter entfernt. Ja, ein kleiner Fußabdruck, ich hatte recht, es war bestimmt eine Frau. Noch mehr Fußabdrücke fand er leider nicht. Damon versuchte sich auszumalen, in welche Richtung sie weiter gegangen war und folgte seiner Vorstellung - aber nichts. Der Boden war zwar recht matschig, aber so bedeckt mit braunen Blättern, das sich kein weiterer Abdruck ausmachen ließ. Als er an der Landstraße ankam, war ihm zumindest klar, dass sie wahrscheinlich diesen Weg genommen hatte. Verloren stand er an der Straße und fragte sich was das eigentlich sollte. Jagte er hier Gespenster vor lauter Langeweile?

Resigniert ging er zurück, ignorierte seine Werkstatt und setzte sich noch einen Kaffee auf.

Mit glühender Zigarette griff er erneut zur Zeitung und verdrängte den Gedanken an nächtliche Gestalten. Als er beim Ortsteil angekommen war, sprang ihm ein Artikel in die Augen.

»Mord oder Selbstmord? – Es war ein Schock für den Autofahrer in den frühen Morgenstunden. Der Pendler sah etwas auf der Straße liegen und wollte es umfahren, doch als er sah, dass es sich dabei um eine Frau handelte, fuhr er auf dem Standstreifen zurück und versuchte noch, erste Hilfe zu leisten. Als die Rettungskräfte eintrafen, konnten sie nur noch den Tod der jungen Frau feststellen. Ihre Verletzungen deuten auf einen Fall von der Brücke hin. Unklar ist noch, ob es sich dabei um Selbstmord handelte oder die Frau gestoßen wurde. Zeugen, die den Vorfall beobachtet haben könnten, werden gebeten sich bei der örtlichen Polizeidienststelle zu melden.«

Damon saß erstarrt über der Zeitung. Konnte das die Frau aus dem Wald gewesen sein? War sie vielleicht vor etwas geflohen und letztendlich so verzweifelt gewesen, dass sie sich in den Tod stürzte? Er spürte Entsetzten seinen Körper hoch kriechen. Und ich habe sie wahrscheinlich vorher noch gesehen. Ich hätte ihr noch helfen können. Ich hätte einfach nur mal den Mund aufmachen können, ihr was nachrufen ... Oh Gott, ich hätte es verhindern können. Er sackte in sich zusammen und legte den Kopf in die Hände. Oh Gott, habe ich nun ein Leben auf dem Gewissen? Ich muss irgendwas tun, irgendwas … Er griff nach seinem Handy und wählte die Nummer der Polizei. Vielleicht konnten seine Beobachtungen weiterhelfen.

7

Um Punkt 14.30 Uhr betritt Libra den Mietwagenverleih.

»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«, wird sie von einer jungen Angestellten begrüßt.

»Ich hatte vorhin telefonisch einen Kleinwagen gebucht. Nun habe ich mir überlegt, warum nicht mal was gönnen? Sie haben auf ihrer Internetseite auch einen Jaguar. Wäre er frei?« So viel zum Thema nicht auffallen, aber wenn ich schon Auto fahren muss, dann auch richtig.

»Ja, wir haben den Jaguar XJ und er ist frei. Wie lange bräuchten Sie ihn?«

»Nur bis heute Abend.« Libra füllt die Formulare aus, legt ihren Stella-Ausweis vor, zahlt und lässt sich in das Auto einweisen.