»Liebe ist ewig, doch nicht immer beständig« - Eveline Hasler - E-Book

»Liebe ist ewig, doch nicht immer beständig« E-Book

Eveline Hasler

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Beschreibung

Waren sie nicht fast alle einmal südlich der Alpen: malende, dichtende, philosophierende Menschen? An diesen leuchtenden Seen, in den Gärten mit ihrer betörenden Pflanzenvielfalt, erlebten viele von ihnen kürzere oder längere Ewigkeiten.
Diese zwölf Geschichten aus dem Tessin, Romane in Kleinstformat, zeigen ein großes Spektrum der Liebe und werfen auf bekannte Persönlichkeiten ein neues Licht.

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Nagel & Kimche E-Book

Eveline Hasler

Liebe ist ewig

doch nicht

immer beständig

Prolog

Auch von der Liebe zu einer Landschaft kann man befallen werden. Schon eine kleine Ewigkeit wohne ich mit meinem langjährigen Ehepartner Paolo im Tessin in einem Dorf oberhalb des Lago Maggiore.

Muss ich mich für meine Recherchen anderswo aufhalten, wird jede Rückkehr zu einem kleinen Fest. Steile Kurven führen oberhalb von Losone bergauf, im Winter gilt es, mit dem VW auf vereister Straße dem schwerfälligen Bus und dem Lastenverkehr auszuweichen. Nach der dritten Biegung, im Winkel der schärfsten Kurve, stehen weder eine Lampe noch ein Polizist, durch kahles Geäst schimmert ein Madonnenmantel in leuchtendem Vanoni-Blau. Im 19. Jahrhundert von Giovanni Antonio Vanoni mit Lapislazuli gemalt, bezirzen das Stück Himmel, der Mantel. Die Madonna winkt uns durch.

Auf der Höhe dann ein magischer Wald. Er bedeckt wie ein krauses grüngraues Tierfell Flanken und Hügelrücken nordwestlich von Ascona, lässt dem Dorf Arcegno unwillig Raum für Steinhäuser und Bungalows, um gleich hinter der Siedlung seine grünen Gründe weiter zu spannen – Richtung Golino auf der einen, Richtung Ronco auf der anderen Seite.

Ungewöhnliche Menschen haben hier Zuflucht gefunden und wohl die Magie der Gegend verstärkt: Der junge Hermann Hesse hat in einem Unterstand im Wald nach sich selbst gesucht, der Kriminalschriftsteller Glauser mit dem Willen, seine Drogensucht loszuwerden, fand Refugium in der oberen schattigen Mühle, »Brüm« genannt, ein Wort, das im Dialekt »Nebel« bedeutet. In derselben Mühle rang einst der genial-verrückte Psychiater Otto Gross darum, seine letzte Patientin zu retten.

Gegen Ronco hin, nach letzten Waldbäumen, weicht der Nebel, in der Tiefe überrascht die blitzende Seefläche des Lago Maggiore, die Inseln von Brissago im Gegenlicht.

Die russische Malerin Marianne von Werefkin, lange Jahre in Ascona am See zu Hause, bekam Impulse aus dieser Farbenvielfalt, ihre expressiven Bilder im Dorfmuseum Ascona zeugen davon.

An den Abhang des Keltenhügels Balladrum gedrückt, vom Weg aus unsichtbar, eine zweite Waldmühle. In unseren ersten Tessiner-Jahren war es uns eine Freude, hier Hermann Hesses Sohn Heiner zu besuchen. Der 1909 Geborene wusste viel über die frühere Epoche und ihre Künstler. Zeit für Gespräche musste er sich abringen, beantwortete er doch handschriftlich die zahllosen Fragen, das literarische Erbe seines Vaters betreffend.

Hermann Hesse selbst ist für den Besucher dieser Gegend noch überall präsent. Dem verhaltenen Dichter kommt man näher durch seine intensive Freundschaft mit Hugo Ball und Emmy Hennings, in meinem Buch Und werde immer ihr Freund sein versuchte ich, mich diesem Dreigestirn anzunähern.

Was ist an dieser Gegend südlich der Alpen so besonders? Anderswo sitzen Verwalter der Wirklichkeit, die versuchen, Irdisches vom Himmlischen, Gegenwart von Vergangenem zu trennen. Hier im Süden lässt man Wirklichkeiten friedlich ineinander wachsen, Himmel und Erde gehören zusammen. Die aus dem Leben Gegangenen sind nicht vergangen, ihre Geschichten vernimmt man im Rauschen des Nordföhns. Als Schriftstellerin liebe ich es, von Menschen zu hören, die dieses Stück Erde schon vor mir ins Herz geschlossen haben. Suchende und Künstler, sie flohen oft vor der Traurigkeit und der Öde ihres eigenen Herzens oder versuchten, der Politik und den Kriegen in ihrem Land zu entgehen.

Oft wollten sie nur für kurze Zeit kommen und blieben dann ein Leben lang. Sie waren beeindruckt von der Rauheit der Täler, den Flüssen, die sich durch Granitbrocken ihren Weg bahnen.

Von der Einfachheit ihrer Bewohner lernten sie mit Geduld die Schlechtwetterperioden zu überstehen, denn in dieser Sonnenecke südlich der Alpen kann es ohne Weiteres drei Wochen lang auf zornige Art regnen. Zeigte sich dann wieder die Sonne, liebten sie die mildere Landschaft in der Nähe der Seen, das helle Dorf auf dem grünen Knie des Abhangs, das in der Sonne blitzende Wasser.

Dort auf dem Lago Maggiore fährt ein Schiff, eine Viertelstunde nur, und man ist in Italien!

Grenzland.

Da entsteht Durchzug, Wechselbeziehung, man ahnt die lombardische Weite.

Die hier Sesshaften suchten in dieser wunderbar reichen Gegend keinen Luxus, sie fühlten sich eins mit der südlichen Natur, lebten auch gerne unter den Einheimischen mit ihrer seltenen Bereitschaft zur Toleranz, die Fremden in ihrer Art leben zu lassen.

Ein Klima, das atmen lässt.

Türen öffnet für Freundschaft und Liebe.

Jede Zeit drückt wohl der Liebe ihre Formen auf. Und immer wieder sind Menschen auf der Suche nach neuen Formen der Beziehung.

Else Lasker-Schüler, damals die bedeutendste Lyrikerin Deutschlands, hilft der Liebespfeil, der sie in Locarno trifft, Schicksalsschläge zu überstehen. In der schlimmsten Zeit der Verfolgung wächst ihre Kreativität. Ihre Liebe, ein inwendiger Schatz, überdauert.

Die Scheue wird selbst zum Liebesgedicht.

Auch Aline Valangin und Vladimir Rosenbaum suchen, wie viele andere, neue Formen. Ihre Ehe, so bestimmt es der Jurist, soll eine offene Ehe sein, in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts verlange die Modernität das. So liebt Aline den Dichter Ignazio Silone und gleichzeitig den großzügigen Rosenbaum. Später, während des Zweiten Weltkriegs, wird Valangin in ihrem Palazzo im Onsernonetal zur Helferin der Emigranten, in meinem Buch Aline und die Erfindung der Liebe werden diese Ereignisse nachgezeichnet.

Tatsächlich wird der Mensch, der liebt, manchmal selbst zur Liebe.

Er erkennt, dass er ein Teil dieser Welt ist und schenkt seine Zuwendung den Leidenden.

So errichtet Lilly Volkart auf der Collina in Ascona ein Flüchtlingsheim für Kinder und Jugendliche, das dank ihrer mütterlichen Hingabe für viele zu einer Ersatzheimat wird.

Steigt man von Ronco hinauf in den hoch gelegenen Weiler, wo die Einheimischen der Hitze des Sommers zu entgehen versuchen, steht auf einer Mauer des Sommerhauses der Künstlerfamilie Ciseri folgendes Gedicht, das 1942 von Salvatore Quasimodo (der 1959 den Nobelpreis bekommen sollte) mit lockerer Hand geschrieben wurde:

Ognuno sta solo sul cuor della terra

trafitto da un raggio di sole

ed è subito sera.

Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde

getroffen von einem Sonnenstrahl:

und schon ist es Abend.


Zwölf Liebesgeschichten nachgespürt.


Die letzte – ein Roman in der Nussschale – entleert sich.

Vergänglichkeit bahnt sich einen Ausgang.

Bilder zucken über den erlöschenden Bildschirm.

Das Kino ist aus.

Doch ich stehe noch immer im Aufruhr dieser Begebenheiten.

Es wetterleuchtet ein Satz, es strudelt um mich,

zieht mich zum Grund einer Geschichte.

Undeutlicher geworden nun alles, Abendbilder in diffusem Wolkenrosa.

In das, was eine wirkliche Liebesgeschichte ist,

dringt man nie ein.

Der liebende Mensch bleibt sich selbst Geheimnis.

Etwas Größeres als er selbst scheint da in ihm zu wirken, Liebe als die Triebfeder der Lebendigkeit,

als Grundton allen Lebens,

Wiederschein der Schönheit und der Gesetzmäßigkeit

der Natur.

Wir sitzen im Garten, Sommerwärme auch jetzt noch am Abend.

Ed è subito sera. Paolo und ich, in die Jahre gekommen, am Tisch aus Granitstein essen wir ein Risotto mit Steinpilzen, trinken ein Glas vom Roten. Wir sehen zu, wie der Abend seine Dunkelheit webt im dürren Geäst der Azaleen, im rötlich gefärbten See ein letztes Schiff, die Insel jetzt kobaltblau verdunkelt, treibt in der Strömung davon.

»Dort!« Ich nicke.

Wir sehen den Mond aufsteigen, ein helles Segel über dem schon leicht mit Schnee bestäubten Berg.

Liebes- und Lebensmenschen.

Brauchen sie sich mit dem Alter weniger zu sagen? Kennt jeder den andern zu gut?

Nein, das ist es nicht. Man kennt sich wenig. Mittlerweile weiß man drei oder vier Dinge, gewiss, der Mensch ist starrköpfig im Alter, ja. Doch wenn der alte Mann dort am Tisch über etwas nachgrübelt, wenn er plötzlich auflacht, ein Licht in seinen Augen glimmt, vergisst man sein Alter … Was man aneinander liebt, am Ende der Liebesewigkeit?

Es bleibt ein Geheimnis.

Eveline Hasler

Ronco im Tessin, November 2020

Die EinquartierungEmmy Hennings letzte Liebe

Der Himmel über dem Luganersee war weiß vor Hitze.

Emmy kam müde von der Arbeit nach Hause, in der Besenbinderei war es heiß und staubig gewesen, ein stickiger Tag ging zu Ende.

Sie setzte sich auf die oberste Stufe ihrer Eingangstreppe, ihr Körper holte ein bisschen Kühle aus der Granitplatte heraus, die Katze, ein schnurrender Fellsack, döste auf ihrem Schoß.

Der junge, in ihrem Haus einquartierte Soldat setzte sich neben sie. Er blickte sie von der Seite an und legte dann den Arm um ihre Schultern, ihr Gesicht mit den weichen, von der Hitze leicht geschwollenen Zügen gefiel ihm, das Blonde der Pagenfrisur, die Emmy etwas Mädchenhaftes gab, obwohl sie eine gestandene Frau war, eine Witwe …

Der junge Unteroffizier war zum ersten Mal in seinem Leben südlich des Gotthards.

Zu Hause in der Innerschweiz sah er das gewaltige Bergmassiv von der andern, der Nordseite aus, es verriegelte sein karges, nach Mitternacht ausgerichtetes Tal, da drang kein warmer Hauch vom Süden herüber, das Wetter hielt sich an diese Schwelle. Im Frühling des Kriegsjahrs 1944 war er mit seinem Zug, die beladenen Maulesel voran, über die noch verschneite Passhöhe gezogen, hinunter durch das Val Tremola nach der Burgenstadt Bellinzona und von dort aus weiter südwärts bis zu diesem letzten Zipfel des Luganersees. In Magliaso wurde er einquartiert, unweit der italienischen Grenze, hinter der Krieg war.

Doch hier, auf den Treppenstufen der Emmy Hennings, seiner Zimmerwirtin, empfand er Frieden. So lau hatte er sich einen südlichen Abend nicht vorgestellt, der Hitzedunst hatte sich aufgelöst, Hügel und See nahmen Farben und Form an, umflossen von einem blaugoldenen Licht. Vom Wasser herauf brachte der Abendwind erste Kühle.

Emmy spürte noch keine Erleichterung, in ihr war ein Flattern, eine Unruhe, als ob der Wind, der in den Blättern der Büsche zu hören war, durch ihr Inneres striche.

Ein Käuzchen begann zu schreien, ein langanhaltender tremolierender Ruf.

»Was schreit da so jämmerlich?«, fragte der Soldat.

»Der Gufo.« Sie lächelte.

»Weißt du, was er da schreit? Voglio una donna! Voglio una donna!«

»Was heißt das?«

»Ich will eine Frau!«

»Kann ich ihm nachfühlen!« Der junge Soldat lachte. »Ich habe auch noch keine.«

»Du bist wohl zu scheu?«, fragte sie lächelnd.

»Vielleicht.« Er zuckte die Achseln.

Die Rufe des Käuzchens waren verstummt.

Von der Wiese her, aus den Büschen, kam die Dunkelheit.

»Wie still es hier ist«, bemerkte er. »Nur so ein Schaben. Sind das Grillen?«

»Das feine Mahlen, als rieben Stockzähne aufeinander?,« fragte sie zurück, um ein bisschen Zeit zu gewinnen, denn sie war dabei, das stoppelige Kinn des jungen Mannes zu betrachten, den Mund unter dem hellen Backenbart, den kräftigen, fast bäuerlichen Nacken, die unwahrscheinlich blauen, wie staunend geweiteten Augen. Sagte dann: »Du hörst die Zeit, sie mahlt und mahlt. Bis das letzte Korn aufgebraucht ist.«

»Und dann?«

»Sterben wir.«

»Ah, bah, wir sind noch zu jung zum Sterben«, wehrte er ab.

»Du schon. Aber ich … Ich bin neunundfünfzig«, sagte sie.

Sie blickte ihm mit spöttisch geschürzten Lippen ins Gesicht und blies die blonden Haare ihrer Stirnfransen hoch. Dann schüttelte sie ihre rechte Hand, als könnte sie die brennenden Stellen kühlen, er bemerkte die Schwielen und Blasen vom Besenbinden.

Er sagte: »Du gefällst mir, so oder so.«

Er griff nach ihrer Hand, drehte sie, betrachtete auf der Innenseite die offenen Blasen.

»Warum musst du denn in die Besenfabrik? Die Arbeit ist zu grob, sie macht deine Hände kaputt. Und wenn du nach Hause kommst, arbeitest du ganze Nächte am Schreibtisch …«

Durch die offene Tür hatte er sie über Papierbögen gebeugt an ihrem Tisch gesehen. Sie saß am Schreibtisch wie an einem Hausaltar, überall Heiligenbildchen und Fotos von diesem mönchisch hageren Mann, der ihr Ehemann gewesen war.

Ein Schriftsteller, ein Philosoph, hieß es im Dorf, als Gründer der Dada-Bewegung habe er in Zürich Furore gemacht, von seiner Performance als Papst spreche man dort immer noch. Auch in Deutschland rühme man Hugo Balls Bücher. Nun, da er tot sei, schreibe eben Signora Emmy Bücher über ihn, schreibe und schreibe, schwenke über den beschriebenen Blättern das Weihrauchfass.

»Wird das, was sie schreibt, auch gedruckt?«, hatte der Soldat den Dorflehrer gefragt und der hatte, mit einem eifrigen Nicken bestätigt: »Die katholischen Verlage in der Innerschweiz und in Süddeutschland sind scharf auf ihre Manuskripte …«

»Braucht sie Geld?« Der Lehrer bejahte. »Sie ist nach Magliaso umgezogen, weil die Mieten hier billiger sind, ihre Bücher hat sie, obwohl sie nicht mehr die Jüngste ist, in einem Handwagen mühsam hinter sich hergezogen.«

»Mühsam, ja«, sagte der Soldat, »es waren gewiss Hunderte von Büchern …«

»Allerdings«, sagte der Lehrer belustigt, »in ihrer Bibliothek steht Casanova friedlich neben Augustinus! Und haben Sie über den Regalen, vor dem schwarzen Samttuch, die Totenmaske gesehen? Sah Ball nicht wie ein Geistlicher aus mit der strengen Heiterkeit um den Mund? Wie Kirchenmäuse hat das Paar im Tessin gelebt, eifrige Konvertiten, morgens zur Frühmesse, abends zum Rosenkranz, doch mit seinen schwierigen philosophischen Büchern hat Ball nur Schulden hinterlassen. Sein Begräbnis hat Hermann Hesse bezahlt. Dann und wann schickt der Dichter aus Montagnola ein Scherflein, damit die Witwe ihren Hauszins zahlen kann …«

Der Soldat schaute die schmale Frau an, Entbehrungen und Arbeit schienen an ihr zu zehren. »Besenbinden und schreiben, du bist zu emsig, Emmy«, rügte er.

Sie lächelte und sagte: »Weißt du, dass man mich damals in Schwabing Emsi genannt hat?«

»Schwabing? Wo ist das?«

»Ein Stadtviertel von München.«

Sie dachte an ihre Tingeltangel-Zeit, an die wechselnden Liebhaber aus der Bohème und an die Freier, die sie sich zeitweise hatte zulegen müssen, um nicht zu verhungern. Wer sie zuerst Emsi genannt hatte? Wohl Erich Mühsam. Seine Emsi war ihm lieb, er begriff ihr verspieltes, schöpferisches Wesen, nur ihre Konversion zum Katholizismus und ihre frommen Anwandlungen, wie er das nannte, verstand er nicht. Trotz der frommen Übungen empfand sie es als anstrengend, enthaltsam zu leben, schaffte sie es die Woche über, so leistete sie sich wenigstens am Sonntag ihren Mühsam. Einmal, nach einer gemeinsamen Nacht, hatte sie ihm gesagt, sie wolle ins Kloster.

Und er darauf spöttisch: »Ach, und wer bestellt dann dein Gärtchen?«

Das hatte sie maßlos gegen ihn aufgebracht. Sie verstand keinen Spaß, wenn es um Dinge ging, die ihr Spaß bereiteten.

Und dann kam Hugo Ball. Die Jahre ihrer Ehe. Der Mönch und die Tingeltangel-Prinzessin. Er suche bei ihr »keine hausfrauliche Sorge, sondern die Unschuld, das Unbewusste, die Fee, das Übersinnliche«, hatte er einem Freund geschrieben. Sie lebten mal zusammen, mal getrennt, trieben zusammen das Bücherschreib-Spiel, reisten mit den letzten Ersparnissen nach Italien, sorglos wie Kinder, oder auch tief verzweifelt. Er, der Gelehrte, der Asket, wusste um Emmys Leben voller Umwege, er verstand ihre Weglaufsucht, war ihrem Kind aus einer früheren Beziehung ein zärtlicher Vater, auf seine Großzügigkeit war Verlass.

Nur seinen frühen Tod empfand sie als Verrat.

Sie blinzelte und sah den jungen Soldaten, wie er den Rauch seiner Zigarette mit spitzem Mund vor sich hertrieb, Wolken, Weihrauchwolken. An Fronleichnam schwang Hugo in der Kirche das Weihrauchfass. Die dunkel gekleideten alten Weiblein nahmen mit witternder Nase gierig den frommen Geruch auf, der, so glaubten sie, den Teufel in die Flucht treibe. Emmy wurde in der Messe übel, es sitzt halt ein Teufelchen in mir, bemerkte sie lachend, aber Hugo wusste, dass ihr Magen nach einer kräftigen Mahlzeit verlangte: Geh zum Krämer, er wird dir auf Pump Eier und Butter geben, auch ein Stück Schafkäse und Salami, Hesse wird uns nochmals einen Schein schicken.

Der Wind spielte im Nachbargarten mit den Blattfingern einer Palme, ein Geräusch, als zerreiße Seidenpapier.

Emmy gab der Katze einen Schubs und stand auf. In der Küche holte sie Gläser und die Weinflasche, die der Soldat aus dem nahen Grotto mitgebracht hatte.

Sie tranken schweigend.

Ob er dürfe? Sie ließ sich küssen, er tat es auf eine vorsichtige, unschuldige Art. Seine bäurischen, beinah quadratischen Hände glitten sanft über ihr Gesicht.

Die Dunkelheit füllte die enge Dorfgasse, die Hauswände erschienen jetzt schluchtartig, fensterlos. Ein Hund bellte.

Als der Hund schwieg und seinem Herrn ins Haus folgte, begann abermals das Käuzchen zu schreien.

»G-u-f-o«, sagte der Soldat, das fremde Wort sorgfältig wie eine Kostbarkeit aussprechend. »Was schreit er? Sag mir noch mal, was er schreit, Emmy!«

Voglio una donna! Sie lachte, leerte ihr Glas.

Der Wein hatte ihr Gesicht flaumig gemacht.

Wie gut, an diesem lauen Abend nicht schreiben zu müssen. Sie blickte zum Nachthimmel und versprach: Morgen werde ich dafür ein paar Seiten mehr schaffen, hörst du, Hugo, dabei zwinkerte sie über der Krone des Kastanienbaums einem kleinen Stern zu.

Der Soldat aus der Innerschweiz deutete das zu seinen Gunsten. Er zog sie die Treppenstufen hinunter zu dem kleinen Grasplatz bei der Kastanie.

Das mit bläulicher Dunkelheit angefüllte Männergesicht neben ihr nahm für einen kurzen Moment die Züge des sterbenden Hugo an, wie er ihr vor über fünfzehn Jahren in San Abbondio in den Armen gelegen hatte.

Sie erschrak.

War Hugo eifersüchtig? Oder hatte er, großzügig wie immer, seiner Emmy den jungen Unteroffizier in den Arm gelegt? Die Gedanken der Toten sind geheimnisvoll.

Der Soldat hatte sie sacht aufs Gras gebettet, Halme stachen ihr in den Rücken.

Sie dachte erst an den schmerzensreichen, dann an den freudenreichen, dann an den glorreichen Rosenkranz.

Als sie sich von ihm löste, stand der Stern immer noch über den Zweigen der Kastanie.

Sie ging in die Küche und brachte zwei Gläschen Grappa, von der Flasche, die Hesse aus Montagnola im Januar zu Emmys Geburtstag geschickt hatte.

An diesem Abend arbeitete sie nicht mehr an ihrem Manuskript. Sie setzte sich nur kurz unter den Fotos und Heiligenbildchen an den Schreibtisch und schrieb an Hesses Frau Ninon: »Dreimal am Tag habe ich Gott gebeten, eine Veränderung herbeizuführen, denn es ist verwirrend, sich verliebt zu spüren wie ein junges Mädchen. Doch es bleibt so: Ich habe eine Einquartierung im Herzen.«

Die Liebespfeileder Else Lasker-Schüler

Wenn du Gott verstehst, ist es nicht Gott, sagte Augustinus im fünften Jahrhundert. Wenn du Liebe verstehst, ist es nicht Liebe, soll die Dichterin Else Lasker-Schüler gesagt haben. Denn Liebe überfiel sie wie ein Naturereignis – Quell ihrer Lebensenergie, aus der sie Kraft für ihr Dichten und Malen schöpfte.

Der vielleicht unerklärlichste ihrer Liebesfälle?

Er trifft sie im Tessin, auf einem ihrer Spaziergänge an der Seepromenade in Locarno.

Es ist im letzten Kriegsjahr 1918. Sie möchte die Deutsche Heilstätte in Agra besuchen, in der Hoffnung, man könne dort ihrem lungenkranken Sohn Paul helfen und die Kosten seien für die Dichterin einigermaßen zu verkraften. Ein Gremium in Berlin hört davon und verschafft ihr eine Freikarte zu den in Locarno stattfindenden Friedensverhandlungen, sie hat zuvor einen Essay über Frieden veröffentlicht. Zu den eigentlichen Verhandlungen im Grand Hotel wird die Dichterin jedoch nicht zugelassen, und so spaziert sie mit Chiara, einer aus Locarno stammenden Sekretärin, an der Seepromenade.

Chiara bleibt plötzlich hinter Palmbüschen stehen, begrüßt einen Bekannten.

Winkt dann Else herbei: »Darf ich Dir Paolo Pedrazzini vorstellen, den Sindaco unserer Stadt Locarno!«

»Sindaco? Ach ja, ich verstehe«, lacht Else, »er ist der Doge von Locarno!«

»Genauso ist es«, sagt der Fremde, sein breites Gesicht verbreitert sich noch ein bisschen vor Vergnügen.

»Und hier, lieber Signor Pedrazzini«, sagt Chiara und schiebt Else Lasker-Schüler vor, »steht vor Ihnen die prominenteste Lyrikerin von Deutschland!«

Der interessant aussehende, etwas untersetzte Mann deutet eine kleine Verbeugung an.

Else hat Zeit, in das verblüffend exotische Gesicht dieses Mannes zu schauen: Seine Hautfarbe, selbst unter gebräunten Tessinern auffällig, ist von indianischem Rotgold. Dunkle Augen, kräftige Nase, trotziger Mund und selbstbewusstes Kinn! Die Haare nach südamerikanischer Art aus der Stirn straff nach hinten gekämmt …

Nach dieser Inspektion muss die Lasker-Schüler die Augen schließen, so sehr blendet sie die goldene Helligkeit dieses Menschen. Eine Träne rinnt ihr über die Wange, mit dem Fingerknöchel versucht sie das Nass aufzufangen, doch es geht schlecht, ihre rechte Hand steckt in einem Lederverband.

»Ich vermute, Sie stammen aus Mexiko?«, wagt sie überrascht zu fragen.

Und er, ebenfalls verblüfft: »Sie kennen Mexiko? – Ja, meine Mutter stammt aus Sinoquipe. Aus einem alten Inkageschlecht. Wissen Sie, mein Vater hat in Mexiko nicht nur eine Silbermine entdeckt, sondern auch einen Goldschatz, den er heimgebracht hat ins Tessin: Meine Mutter, seine große Liebe!«

Ein Märchen ganz nach Elses Geschmack, diese Begegnung raubt ihr die Worte.

Er spürt ihre Verlegenheit. Zeigt auf ihre rechte Hand: »Unfall gehabt?«

»Nein, zu viel gemalt.«

»Bei uns in Locarno? Was malen Sie denn?«

»Indianer.«

Ihre Leidenschaft für Indianer muss wohl ein Scherz sein, abermals stutzt Paolo, dann gesellt sich sein tiefes Lachen zu dem hellen der Frauen.

Wie soll Else ihm erklären, dass sie hier einem aus ihrem Inka-Clan begegnet? Dass auch sie sich für eine Inkafrau hält?

Sie hat kürzlich eine Meditation veröffentlicht über »Paradiese«, die sie Liebe und Freundschaft nennt.

Liebe, da nicht von dieser Welt, gedeihe im Schweigen, Freundschaft in Gespräch und Spiel. Liebe liege nicht in unserer Macht, sei nicht mit dem »Rubin des Herzens« zu erkaufen. Und – haben Leser gefragt – was hält die zweimal geschiedene Lasker-Schüler von einer unglücklichen Liebe? Sie hat überlegt: »Nun, wenn die jetzt Getrennten früher einmal ihre Liebe als Paradies erkannt haben, bleiben sie auch nach dem Erlöschen der Liebe einander verbunden.«

Ihr inneres Feuer, entfacht durch diese eine kurze Begegnung mit Pedrazzini in Locarno, erlöscht in der Dichterin auch nach Jahren nicht.

Das erfährt sie sieben Jahre später, 1925.

Sie wohnt in einem bescheidenen Hotel beim Bahnhof, drei Franken die Nacht, doch die Geräusche der Eisenbahn und das Geknatter der Autos lassen sie nicht schlafen. So ist es erholsam, die Vormittage am See zu verbringen, wo der Liebesblitz sie einst getroffen hat. Es ist Frühling, sie spaziert allein, da und dort begegnet sie freundlichen Blicken, ihre weiße, mit Blumen bestickte Bluse bringt ihr seidenfeines, nachtschwarzes Haar zur Geltung. Immer wieder bleibt sie stehen, blickt in das Dunkelgrün der Baumkronen, kann sich kaum sattsehen an dem bezaubernden Rosa, das sich dort aus harten pelzigen Schalen befreit, wie exotische Vögel sitzen die Blüten auf dem Blattwerk der riesigen kegelförmigen Magnolien.

Sie hofft ihre Liebe zu sehen, und sie hat Glück.

Zwei- oder dreimal entdeckt sie Pedrazzini auf einem der Parkwege, versunken im Gespräch, es sind ernsthafte junge Männer, die mit bärtigen, dunklen Gesichtern auf ihn einsprechen. Auch sein Gesicht zeigt eine neue Ernsthaftigkeit. Durch Chiara hat sie von seinem neuen politischen Ehrenamt erfahren: Er sitzt jetzt als Vertreter des Tessins in der schweizerischen Regierung, als Nationalrat. Sie versagt es sich, den Vielbeschäftigten zu stören. Diese Liebe, sie hat es von Anfang an gewusst, verlangt Diskretion. Eine von ihr selbst auferlegte Schweigepflicht, die sie vor sieben Jahren schlecht ertragen hat.

Damals, als der Liebespfeil sie traf, hatte sie oben im Kloster Madonna del Sasso Hilfe und Beistand gesucht. Mit dem Funikulare, einer kleinen Bahn, war sie zwischen grüner Wildnis senkrecht himmelan gefahren – bis zur Endstation an einem kahlen Felsvorsprung, nahe dem Kloster.

Sie war ausgestiegen und zu Fuß in lockeren Sandalen viele Treppenstufen hinuntergegangen, dann zwischen alten Mauern wieder hinauf bis zu der weiten Aussichtsterrasse des Klosters. Über eine Rebmauer gebeugt, hatte sie Ruhe geschöpft, über die Dächer der Stadt und auf den See geblickt, an dem sie Paolo Pedrazzini vor ein paar Stunden erstmals gesehen hatte.

Abendwind war aufgekommen, er bleichte das starke Blau der Seefläche zwischen den Berghängen aus.

Als sie sich umwandte, sah sie Licht aus der Klosterkirche dringen, in den hohen Fenstern spiegelten sich flockige flamingofarbene Wolken. Die Kirchentür stand jetzt weit geöffnet, Menschen kehrten zur Andacht ein.

Die Orgelmusik lockte auch sie, sie hatte sich vorne in eine Bank gesetzt, sah einen Mönch die Kanzel besteigen. Er ließ seinen Blick über die Zuhörer schweifen, und sein Gesicht mit den weißen Bartstoppeln hellte sich auf, als er anfing, in einem sonoren Italienisch zu predigen. Sie sitzt wie gebannt, hört zu, ohne der Sprache Dantes mächtig zu sein, glaubt sie, das Wesentliche zu verstehen. Sie fühlt den sanften Blick des Predigers oft auf sich ruhen. Worte, dunkel wie aus Ziehbrunnen steigend, erreichen das liebeswunde Herz der Dichterin.

Nach der Messe zerstreut sich die Schar der Gläubigen, auch der Prediger hat sich durch eine unsichtbare Tür im Gemäuer entfernt. Sie sucht ihn draußen, auf der gedeckten Galerie sieht sie wandelnde Mönche, im Gebet versunken. Sie fragt einen jungen Mann, der aus der Kirche kommt: »Können Sie mir sagen, wer eben gepredigt hat?«

»Pater Guardian Diego da Melano«, antwortet er und blickt besorgt in das verstörte Gesicht seines Gegenübers: »Ist Ihnen nicht gut, Signora?«

»Oh, danke, es geht schon.«

Sie hat sich den langen Namen des Predigers eingeprägt, ihr weiser Mönch predige diesen Abend noch in einer kleinen Kirche am Berg, erfährt sie. Vergeblich sehnt sie sich nach einem Gespräch mit ihm.