London Underground - Oliver Harris - E-Book + Hörbuch

London Underground Hörbuch

Oliver Harris

4,7

Beschreibung

Ein atemberaubender Thriller um späte Rache vor der beeindruckenden Kulisse Londons

Bei einer Verfolgungsjagd durch die Londoner City entdeckt Detective Nick Belsey einen Bunker und ein mysteriöses Tunnellabyrinth unter den Straßen der Stadt. Der Verdächtige verschwindet darin spurlos, aber der ungewöhnliche Ort bringt Belsey auf eine Idee: Am Abend verabredet er sich dort mit einer jungen Frau zu einem ganz besonderen Rendezvous. Als er die junge Frau in der Dunkelheit des Tunnelsystems verliert, ist ihm bald klar, dass sie entführt worden ist. Weil niemand erfahren darf, dass er selbst in den Fall verwickelt ist, ermittelt Belsey fieberhaft und muss seinen Kollegen immer einen Schritt voraus sein: Er liefert sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit dem Entführer, gerät immer tiefer in die Londoner Unterwelt hinein und stößt dabei auf eine eiskalte Rachegeschichte, die bis in die Zeiten des Kalten Krieges zurückreicht.

Ein intelligenter, wendungsreicher Thriller und ein neuer Fall für Detective Nick Belsey, der den Leser mit seinen Ermittlungsmethoden hart an der Grenze zur Illegalität in Atem hält.

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Zeit:12 Std. 33 min

Sprecher:Mark Bremer

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DAS BUCH

Bei einer Verfolgungsjagd durch die Londoner City entdeckt Detective Nick Belsey einen Bunker und ein mysteriöses Tunnellabyrinth unter den Straßen der Stadt. Der Verdächtige verschwindet darin spurlos, aber der ungewöhnliche Ort bringt Belsey auf eine Idee: Am Abend verabredet er sich dort mit einer jungen Frau zu einem ganz besonderen Rendezvous. Als er die junge Frau in der Dunkelheit des Tunnelsystems verliert, ist ihm bald klar, dass sie entführt worden ist.

Weil niemand erfahren darf, dass er selbst in den Fall verwickelt ist, ermittelt Belsey fieberhaft und muss seinen Kollegen immer einen Schritt voraus sein: Er liefert sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit dem Entführer, gerät immer tiefer in die Londoner Unterwelt hinein und stößt dabei auf eine eiskalte Rachegeschichte, die bis in die Zeiten des Kalten Krieges zurückreicht.

Ein intelligenter, wendungsreicher Thriller und ein neuer Fall für den Detective Nick Belsey, der den Leser mit seinen Ermittlungsmethoden hart an der Grenze zur Illegalität in Atem hält.

Nick Belsey ist zurück: »Ein hinreißender Mistkerl von einem Helden!«   Val McDermid

DER AUTOR

OLIVER HARRIS

LONDON

UNDERGROUND

THRILLER

Aus dem Englischen

von Gunnar Kwisinski

Karl Blessing Verlag

Originaltitel: Deep Shelter

Originalverlag: Jonathan Cape, London

1. Auflage

Copyright © 2014 by Oliver Harris

Copyright © 2014 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Geviert, Michaela Kneißl,

unter Verwendung einer Fotografie von © shutterstock, albund

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN: 978-3-641-09283-2

www.blessing-verlag.de

»Alles Geheime degeneriert.«

LORD ACTON

1

Er versuchte gerade, einen Augenblick zur Ruhe zu kommen, als der Wagen auftauchte. Montag, der 10. Juni, das Ende eines heißen Tages. Schon zur Mittagszeit hatte die Stadt zu trinken angefangen, und spätestens gegen drei oder vier Uhr schien das die einzige angemessene Reaktion auf die strahlende Schönheit des Nachmittags zu sein. Belseys Schicht enthielt zwei Vierzehnjährige mit Stichwunden und einen verärgerten Gast, der den Pub in der Nachbarschaft mit einer Bohrmaschine attackiert hatte. Um Viertel vor fünf war er der Meinung, seinen Beitrag zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung geleistet zu haben. Er hatte in einer Seitenstraße der Hampstead High geparkt, einen doppelten Wodka in einen Eis-Cappuccino aus Nicaragua-Espresso gekippt und die Lehne nach hinten gestellt. In einer Stunde war Feierabend, und ein paar Stunden danach hatte er ein Date mit einer Kunststudentin, die er vor Kurzem wegen Drogenbesitzes festgenommen hatte. Jetzt musste er nur noch darauf achten, dachte er, dass er nicht noch mehr Blut auf den Anzug bekam.

Noch bevor er den ersten Schluck getrunken hatte, erschien der BMW in seinem Blickfeld. Er hörte ein Reifenquietschen und einen Schrei. Fast schon auf zwei Rädern schleuderte der Wagen aus der Heath Street um die Kurve Richtung Rosslyn Hill. Er sah aus, als wäre er auf der Flucht, wurde jedoch nicht von einem anderen Fahrzeug verfolgt. Beim Beschleunigen überfuhr der BMW eine rote Ampel. Fußgänger brachten sich mit Hechtsprüngen in Sicherheit. Ein Taxi musste ausweichen und landete im Schaufenster von Gap Kids.

Belsey schaltete die Sirene an. Er presste den Becher in den Getränkehalter, bog auf die High Street und griff nach dem Funkgerät.

»Verfolgung: Silberner BMW auf der Rosslyn Hill Richtung Süden. Mögliche Verletzte am U-Bahnhof Hampstead.«

Immer noch keine anderen Sirenen. Er seufzte, stellte die Lehne hoch und beschleunigte auf über hundert. Die Polizei besaß ein paar gute, auf hohe Geschwindigkeiten getunte Skodas, dieser gehörte jedoch nicht dazu. Per Funk versuchte die Einsatzzentrale Verstärkung zu organisieren. Die Kollegen waren mindestens zwei Kilometer entfernt. Er blieb nah hinter dem BMW, als sie sich Belsize Park näherten. Allem Anschein nach war der Fahrer allein.

Der BMW blieb auf der Hauptstraße. Das war seltsam. Es gab leerere Straßen, auf denen er entkommen könnte, aber entweder hatte der Fahrer einen Plan, oder er freute sich über die Zuschauer. Oder ihm war alles scheißegal, weil er high war und sich köstlich amüsierte: Hey, die Sonne scheint, ich klau mir ’nen Wagen. Belsey winkte, dass er ranfahren sollte. Versuchen konnte man es ja mal. Sie rasten bei Rot über die Kreuzung an der Pond Street, worauf Belsey klar wurde, dass es Tote geben könnte. Er war drauf und dran, die Verfolgungsjagd abzubrechen. Dann bremste der Fahrer scharf.

Der BMW schlidderte geradeaus über die Kreuzung. Belsey riss das Lenkrad zur Seite, streifte einen Kleinbus und kam kurz darauf zwanzig Meter weiter zum Stehen. Er griff nach den Handschellen, als die BMW-Tür aufgerissen wurde, ein Weißer mit schwarzen Handschuhen heraussprang, den Kopf unter einer Kapuze verbarg und einen schwarzen Rucksack aus dem Wagen zog.

»Verfolgung zu Fuß«, funkte Belsey. »Belsize Park.«

Der Mann drängelte sich durch die Menge. Aber offenbar kannte er sich in dieser Gegend nicht aus: Er rannte in eine Gasse neben dem Costa Coffee. Belsey wusste, dass es eine Sackgasse war. Er entfernte den Sicherungsclip von seinem Pfefferspray und rannte um die Ecke.

Etwas flog auf sein Gesicht zu. Belsey riss den Arm hoch. Kaltes Metall traf seinen Ellbogen und seine linke Wange. Er drehte sich um, ließ blind vor Schmerz das Pfefferspray fallen. Er hörte, wie der Mann weiter in die Sackgasse rannte und achtete darauf, dass er selbst weiterhin den einzigen Ausgang blockierte. Er versuchte, einen Arm auszustrecken. Es ging. Er konnte sehen. Mit vor Schmerz pulsierendem Gesicht hob er die Spraydose auf, drehte sich um und sah wieder in die Gasse.

»Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus.«

Die Gasse endete mit einer kleinen betonierten Fläche hinter dem Coffeeshop. Manchmal parkten dort drei bis vier Autos. Im Moment war sie jedoch leer. Es war auch kein Verdächtiger zu sehen, nur das Unkraut zwischen den Rissen im Beton.

»Kommen Sie langsam heraus. Ich habe Sie im Auge.«

Nichts rührte sich. Ein kleines Backsteingebäude schloss sich an den Platz an. Es hatte keinen Zugang. Eine früher vorhandene Tür war mit glatten Metallplatten bedeckt. Sie hatten weder Griffe noch Schlösser. Belsey ging hin, zog und schob, aber sie waren fest verschraubt. Fenster oder andere Öffnungen, durch die sich jemand ins Gebäude zwängen konnte, waren nicht zu sehen. Neben dem Haus begann ein hoher Zaun, dessen oberer Rand aus rostigem Stacheldraht bestand. Rüberklettern konnte man nicht. Der Zaun trennte den Parkplatz von einer vermüllten, mit Brombeersträuchern überwucherten Brachfläche. Selbst wenn man über den Zaun kletterte, kam man nicht weg – außerdem hätte Belsey das Rasseln des Maschendrahts gehört. Der Mann war einfach verschwunden.

Eine Minute später traf die Kavallerie ein. Belsey ging zurück zur Hauptstraße, wo er diverse strahlend blinkende Blaulichter und seine weniger strahlenden Kollegen sah, die sich beim Aussteigen den Schweiß von der Stirn wischten und die verunfallten Fahrzeuge ein paar Meter die Straße hinunter anstarrten.

»Er ist verschwunden«, sagte Belsey.

»Du hast den Kerl verloren?«

»Nicht mehr in Topform, was, Nick?«

»Kannst du ihn beschreiben?«

»Er hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen«, sagte Belsey. »Bin ziemlich sicher, dass er weiß ist. Trug ein dunkelgraues Kapuzenshirt. Und einen Rucksack. Und Handschuhe, glaube ich. Wurde am U-Bahnhof jemand verletzt?«

»Nicht ernsthaft. Du meinst, er hat Handschuhe angehabt?« Sie blinzelten zur Sonne hinauf. »Wo ist er hin?«

»In die Gasse neben dem Coffeeshop. Da geht’s nicht weiter.«

Seine Kollegen gingen in die Gasse und stellten die Funkgeräte leise. Belsey ließ sich den dramatischen Moment, dessen Überbleibsel auf der Straße konserviert worden waren, noch einmal durch den Kopf gehen: Sein Skoda und der BMW parkten mit offenen Fahrertüren am Ende von schwarzen Schleuderspuren auf dem Asphalt. Er dachte an die Vollbremsung. Ganz exakt. Und die Zielsicherheit, mit der sie herbeigeführt wurde. Der Fahrer hatte genau gewusst, wohin er wollte.

Belsey griff in seinen Wagen und schob die halb volle Wodkaflasche unter den Beifahrersitz. Dann rief er die Funkzentrale und ließ den BMW überprüfen. Er war vor drei Tagen vor einem Haus in Highgate gestohlen worden. Belsey betrat den Costa Coffee. Der Barista fragte, was er trinken wollte.

»Der Parkplatz hinterm Haus, gehört der Ihnen?«

»Nein.«

»Wissen Sie, wem er gehört?«

»Nein.«

Achselzuckend kehrten seine Kollegen zurück auf die Hauptstraße. Sie dachten sicher, dass er mal wieder Mist gebaut und sich irgendwie vergaloppiert hatte: Alkohol, Halluzinationen, Hitzschlag. Er ging an ihnen vorbei, zurück in die kurze Sackgasse und suchte nach einer Überwachungskamera. Nur wenige Winkel Londons wurden so wenig geschätzt, dass niemand sie filmte. Und auch hier entdeckte er eine fest installierte Kamera auf einem Zaunpfahl, die auf die Freifläche gerichtet war. Sie wirkte etwas verwittert, aber durchaus funktionstüchtig. Stronghold Objektschutz, stand auf dem Schild darunter. Dazu war eine Londoner Telefonnummer der Firma Stronghold angegeben.

Belsey wählte sie. Niemand meldete sich. Er suchte Stronghold auf seinem Smartphone im Internet. Er fand keinen Sicherheitsdienst mit diesem Namen.

Er suchte nach der Telefonnummer. Sie gehörte nicht zu Stronghold, sondern wurde auf einer gut gestalteten Webseite als Notrufnummer einer Organisation namens Property Services Agency aufgeführt. Laut der Webseite war die PSA für die Verwaltung britischer Regierungs- und Militärgebäude zuständig.

Belsey drehte sich um und betrachtete das leere Grundstück mit den ausgebleichten Getränkedosen und kaputten Möbeln zwischen Unkraut und Gebüsch, die Rückseite des Coffeeshops und schließlich das Haus, an dem die Gasse endete. Er stellte fest, dass es ein recht eigenartiges Gebäude war. Das Erdgeschoss war kreisrund. Darüber erhob sich ein quadratischer, fensterloser Turm mit Belüftungsschlitzen.

Belsey spähte seitlich durch den Maschendrahtzaun. An der Seite des Gebäudes ragte ein Backsteinanbau in die Brombeeren. An diesem Teil befand sich etwas, das aussah, als wäre es einmal ein Fenster gewesen, es war jedoch mit Brettern vernagelt. Belsey trat etwas zurück und ließ das Gebäude in seiner Gänze auf sich wirken. Es strahlte eine imposante Gelassenheit aus. In seinem Hinterkopf rührte sich etwas.

Belsey ging zurück zur Hauptstraße, an den verlassenen Fahrzeugen vorbei und dann zwei Minuten die Straße hinunter. An der Ecke zu einer Wohnstraße fand er ein fast identisches Gebäude mit rundem Fundament und einem Lüftungsturm darauf. Dieses war allerdings weiß gestrichen. Vor vielen Jahren hatte er einen der älteren Kollegen aus Hampstead gefragt, was das sei, und die Antwort praktisch sofort wieder vergessen. Seitdem war er hier tausendmal vorbeigekommen, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Das Gebäude stand hinter einem hohen Tor. Durch dieses Tor konnte Belsey einen Eingang zum Turm sehen, der mit schwarzem Maschendraht gesichert war, an dem ein gelbes Warnschild angebracht war: ACHTUNG: GEFÄHRLICHER SCHACHT.

2

Als er zurückkam, saßen die meisten Kollegen vom CID, dem Criminal Investigation Department, in der Kantine. Belsey prüfte die Schwellung in seinem Gesicht und nahm eine Paracetamol. Er holte sich eine Tasse von dem, was man hier als Kaffee bezeichnete, und setzte sich an den lautesten Tisch: Detective Constable Derek Rosen, der Älteste im Team, kämpfte konzentriert einen Teller Pommes nieder. DC Rob Trapping, der zwanzig Jahre weniger auf dem Buckel hatte, war mit Sonnenbrille und einem batteriebetriebenen Handventilator bewaffnet zur Abendschicht gekommen. Bei ihnen saßen Wendy Chan und Janice Crosby, robuste Zivilistinnen, die für den Empfang verantwortlich waren. Alle unterhielten sich über die neue Chefin im Rang eines Detective Sergeants, die offensichtlich am Vormittag eingetroffen war.

Belsey wartete und fragte sich, warum er so etwas immer als Letzter erfuhr. Als sich eine kurze Gesprächspause ergab, sagte er: »Oben in Haverstock Hill ist ein rundes, weißes Gebäude. Ecke Downside Crescent.« Die Gruppe sah ihn an.

»Der alte Bunker«, sagte Rosen.

»Bunker?« Jetzt fiel es ihm wieder ein. »Hinter dem Costa ist noch so einer«, fuhr er fort.

Die Beamten am Nebentisch drehten sich zu ihnen um. Sie hofften auf eine von Belseys unterhaltsamen Abschweifungen. DC Derek Rosen, der Elder Statesman am Tisch, hob eine fette Hand.

»Das ist nicht noch einer«, sagte er. »Es ist nur ein anderer Eingang zum selben Bunker.« Er lehnte sich zurück und wischte sich Ketchup vom Mund. Rosen mochte alles, was mit Krieg zu tun hatte. Er fing schon im September an – quasi in Vorfreude auf den Remembrance Day im November –, eine Mohnblume am Revers zu tragen. »Falls ein Eingang zerstört wird, wenn man unten drin ist«, erläuterte er.

»Dann muss er ja einen halben Kilometer lang sein«, sagte Belsey.

»Genau.«

»In Camden ist auch einer«, warf Crosby ein.

»Wo?«

»Hinter Marks & Spencer.«

»Wie viele gibt’s davon?«

»Eine ganze Menge«, sagte Rosen. »In London mindestens fünf oder sechs, wenn nicht mehr.«

»Wofür werden die jetzt gebraucht?«

»Gebraucht?«

»Irgendjemand kümmert sich darum«, sagte Belsey. »Am Bunker in Belsize steht immer noch eine Überwachungskamera. Was ist da unten drin?«

Alle schwiegen, ein paar zuckten die Achseln. Niemand wusste etwas.

»Wieso?«, fragte Rosen.

»Der Kerl, den ich verfolgt habe. Der könnte da reingegangen sein.«

Die Antwort rief sowohl Gelächter als auch nachdenkliche Skepsis hervor, weitere Informationen bekam er jedoch nicht. Das Gespräch wandte sich kaltem Bier und der möglichen Gestaltung des Abends zu.

Belsey wollte in den Bunker.

Dafür brauchte er jedoch einen Durchsuchungsbeschluss. Wenn er beweisen konnte, dass der Mann, den er verfolgt hatte – der immerhin einen Polizisten verletzt hatte und womöglich auch weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellte –, dort hineingegangen war … Ein Problem bestand darin, dass Belsey bis auf Weiteres keine Ermittlung leiten durfte. Im letzten Jahr hatte er sich danebenbenommen, hatte zeitweilig mit falscher Identität agiert, worauf man ihn auf unbestimmte Zeit suspendiert hatte: Er sollte am Schreibtisch sitzen, Routinearbeiten erledigen und so weiter – jedenfalls niemanden verfolgen. Dann fiel ihm die Unterhaltung wieder ein, die er gerade mitgehört hatte. Er könnte versuchen, von der neu angekommenen Chefin zu profitieren, indem er sich schnell eine Genehmigung besorgte, bevor sie von seinem zweifelhaften Ruf erfuhr.

»Was wisst ihr über die neue Chefin?«, fragte er.

»Fit ist sie«, sagte Trapping. Er richtete den Ventilator auf Belseys Gesicht. »Heiß wie Frittenfett, mein Freund.« Die anderen am Tisch schüttelten den Kopf. Trapping zwinkerte. Er gehörte zu den Beamten, die Belsey bewunderte: wegen seiner Unbekümmertheit. Fünfundzwanzig, einsneunzig, Detective bei der Polizei und voller Selbstvertrauen, dass das alles gut für ihn selbst und auch für die Gesellschaft sei.

»Sie soll sehr gut sein«, sagte Crosby.

»Ich dachte schon, wie kriegen niemanden mehr.«

»Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir uns einen Sergeant leisten können, wenn wir dich nicht mehr bezahlen.« Rosen ließ einen Pommes-Stab in seinen Mund fallen.

»Wie heißt sie?«

»Kirsty Craik.«

»Witzbold.«

Belsey ging hinauf zum CID. Irgendetwas hatte sich verändert. Erst nach ein paar Sekunden wurde ihm klar, was das war: Er kam sich vor wie in einem Büro. Es herrschte eine Atmosphäre ruhiger Betriebsamkeit, in der Schreibarbeiten pflichtgemäß erledigt wurden. Detective Constable Adnan Aziz zwinkerte ihm zu und deutete mit einer kurzen Kopfbewegung aufs Eckbüro. Belsey klopfte an die offen stehende Tür. Eine Frau mit blondem Pferdeschwanz blickte auf und lächelte kühl.

»Nick.«

»Kirsty.«

Kirsty Craik stand auf und strich sich den Rock glatt. Sie streckte die Hand aus, wobei ihr bewusst zu sein schien, dass dies nach ihrem letzten Körperkontakt eine seltsame Begrüßung war. Belsey versuchte, den Schub nostalgischer Lust zu ignorieren.

»Wie geht’s dir?«, fragte er.

»Gut. Ich hab schon gehört, dass du im Haus sein könntest.«

»Wird angeblich von mir erwartet. Schön, dich zu sehen.«

»Ehrlich?«

»Klar.«

Craik wirkte nicht allzu beunruhigt. Hier verschaffte sich das altbekannte Naturgesetz wieder Geltung, nach dem alle Unbedachtsamkeiten, die man hinter sich gelassen zu haben glaubte, einen zwangsläufig wieder einholten. Im Bruchteil einer Sekunde gingen sie die übliche Routine durch, überprüften die nackten Ringfinger und mögliche Schuldzuweisungen.

»Also, setz dich«, sagte sie. »Ein unglaublicher Zufall, findest du nicht?«

»Geht so, würde ich sagen. So groß ist die Polizei nicht.«

»Und sie wird Tag für Tag kleiner. Was ist mit deinem Gesicht passiert?«

»Fängst du gleich mit den Beleidigungen an?« Belsey lächelte. Craik rollte die Augen. »Ich habe jemanden verfolgt. Dem gefiel das nicht, da hat er mir eine verpasst.«

»Alles okay?«

»Ging mir nie besser.« Es war ihm schon besser gegangen. Und ihm war klar, dass er auch schon besser ausgesehen hatte. Craik hingegen sah selbst nach weiteren fünf Jahren bei der Polizei noch toll aus. Sie hatte immer noch die strahlend blauen glänzenden Augen. Damit konnte sie erstaunt aussehen, obwohl sie nur nachdachte. Das hatte er gelernt. In den düsteren Tagen nach seiner Versetzung aufs Revier in Borough war er ihr als Mentor zugeteilt gewesen. Damals war sie neu beim CID. Das war gerade einmal ein paar Wochen, bevor er beinahe mitsamt der Hälfte der Kollegen aus dem Team in den Knast gewandert wäre. Daher hatte Kirsty Craik eine etwas ungewöhnliche Einführung in die Arbeit beim CID erhalten.

»Wo bist du gewesen?«, fragte Belsey.

»Zuletzt in Kent. Beim CID Kent.« Sie führte nicht aus, was sie von Kent nach Hampstead geführt hatte. Vielleicht sahen seine Chefs sie als diensteifrige Novizin, die sie gut herumschubsen konnten. Als Belsey Craik noch einmal betrachtete, sah er das absolut nicht. Er schwor sich, dass er dieses Mal nicht versuchen würde, mit ihr zu schlafen.

»Es heißt, dass Hampstead schön ist«, sagte sie.

»Idyllisch.«

Sie zögerte.

»Ich muss hier erst einmal ankommen und so weiter. Hast du morgen Dienst?«

»Ja.«

»Lass uns dann weiterreden.« Lustlos betrachtete sie die Akten auf ihrem Schreibtisch.

»Willst du mir ein paar Fälle zuschanzen?«

»Tja, wo du schon fragst …« Craik suchte eine Akte heraus und reichte sie ihm. Der Rollentausch machte sie offenbar kaum verlegen. »Scheint hier schon eine ganze Weile zu liegen. Willst du eben reinsehen?« Belsey blätterte sie kurz durch und war enttäuscht.

»Einbruch in der St.-Pancras-Bibliothek?«, sagte er.

»Schon der dritte in diesem Monat.«

»Müssen die ersten Erfolge der Alphabetisierungskampagne sein.«

»Klingt, als würde jemand im Stadtrat etwas ärgerlich werden. Ist vielleicht so ein Nordlondoner Ding, was weiß ich. Guckst du es dir an?«

»Klar.« Er nahm die Akte. Er hatte auf etwas Spektakuläreres gehofft. Das verdarb ihm das Wiedersehen ein bisschen. »Ist schon so gut wie erledigt.«

Als er den Raum schon fast verlassen hatte, drehte er sich um.

»Kirsty, es ist vielleicht etwas weit hergeholt, aber der Kerl, der mich ins Gesicht geschlagen hat … ich habe versucht herauszubekommen, wohin er verschwunden ist. Ganz in der Nähe von der Stelle, wo ich ihn verloren habe, ist ein Tiefbunker gegen Bombenangriffe aus dem Zweiten Weltkrieg.« Er wartete einen Moment ab und versuchte, ihre Reaktion einzuschätzen. Sie blinzelte nicht einmal. »Ich glaube, er ist da reingegangen. Ich würd gern mal reingucken, selbst wenn es nur darum geht, diese Möglichkeit auszuschließen. Wäre wahrscheinlich keine große Sache. Ich bräuchte allerdings einen Durchsuchungsbeschluss.«

»Und auf welcher Grundlage soll ich den beantragen? Dass der Mann in der Nähe verschwunden ist?«

»Genau.«

»Wem gehört der Bunker?«

»Keine Ahnung. Die Überwachungskamera davor gehört einer Regierungsfirma, daher nehme ich an, dass er der Regierung oder vielleicht einer staatlichen Gesellschaft gehört.«

»Du willst einen Durchsuchungsbeschluss für Regierungsbesitz, ohne einen handfesten Hinweis, dass er in Verbindung zu einer Straftat steht?«

»Ich bin nicht sicher, wem er jetzt gehört. Sieht unbenutzt aus.«

»Okay, Nick. Ich denk drüber nach. Ich weiß nicht recht, ob wir da wirklich eine Handhabe für einen Durchsuchungsbeschluss haben.«

»Wohl eher nicht.«

Er ging zu seinem Schreibtisch, schrieb einen Bericht über die Ereignisse des Nachmittags und heftete ihn ab. Ein Ventilator rührte Hitze um. Belsey beobachtete, wie DC Aziz mit einer Papierserviette über seine dichten Augenbrauen, dann über den kahl rasierten Kopf und den Nacken wischte. Adnan Aziz war erst seit sechs Wochen im Team und hatte sich schon das fachgemäße Arbeitstempo angewöhnt, das es einem ermöglichte, langfristig durchzuhalten. Belsey lehnte höflich ab, als er ihm einen Stapel Kentucky-Fried-Chicken-Servietten anbot.

Was für ein seltsames Ende eines seltsamen Nachmittags. Belsey ordnete die Papiere auf seinem Schreibtisch. Einen Moment lang fragte er sich, was er aus seinem Leben gemacht hatte. Es war fast halb sieben abends, noch anderthalb Stunden bis zu seinem Date. Er sah sich kurz die Bibliothekseinbrüche an, legte die Akte dann zur Seite und strich mit der Hand über die Schwellungen im Gesicht. Er hatte den Mann mit dem Kapuzenpullover vor Augen, der aus dem Nichts in sein Leben gerast und sofort wieder verschwunden war. Belsey gab »PSA« in die Eingabezeile seines Browsers ein, drückte Enter und starrte die Seite an, die auf dem Monitor erschien. Er griff zum Telefon und rief ein Stockwerk tiefer an.

»Ist der Lagerraum offen?«, fragte er.

»Ich hab ihn nicht abgeschlossen.«

»Der Skoda braucht ein bisschen Öl.«

»Bedien dich.«

Belsey ging in den Keller. Er nahm ein Handbeil, einen Bolzenschneider und eine 30-cm-Maglite-Taschenlampe, packte sie in den Wagen und fuhr nach Belsize Park.

3

Um Viertel vor sieben war die High Street rappelvoll. Belsize Park gab sich gern kontinentaleuropäisch, musste diese Marotte jedoch durchschnittlich in drei Sonnenwochen im Jahr ausleben. Die Restaurants möblierten die Bürgersteige. Die Leute verdarben das Gesamtbild, indem sie sich mit verbeulten Getränkedosen auf die Bordsteine setzten. Büroarbeiter, die die Arbeit geschwänzt hatten, waren jetzt sicher und gingen fast in den Massen unter, die vor den zahlreichen Pubs saßen. Alle waren betrunken. Auf unsicheren Beinen schwankte die Stadt dem Abend entgegen.

Belsey parkte vor dem Costa Coffee, nahm sein Werkzeug und ging die Gasse hinunter. Er starrte den Lüftungs- und Eingangsturm an und hatte das Gefühl, dass der seinen Blick erwiderte. Belsey drehte sich um. Von der Hauptstraße konnte man ihn nicht sehen. Er klopfte an die Metallplatte und fragte sich, was für eine Reaktion er jetzt erwartete. Er überlegte kurz, ob er die Kamera außer Gefecht setzen sollte, aber falls dieser Ort überwacht wurde, kannte man ihn inzwischen. Ein letztes Mal versuchte er, die PSA anzurufen, eine kleine Geste, um sein Gewissen zu beruhigen. Wieder meldete sich niemand. Na ja, sie könnten ja versuchen, sich bei ihm zu melden, falls sie irgendwelche Probleme hatten.

Er durchtrennte den Maschendraht. Bald war die Lücke groß genug, um sich hindurchzuquetschen. Er entdeckte einen zerbrochenen Stuhl zwischen dem Abfall im hohen Unkraut, kippte ihn auf die Seite und erreichte so das mit Brettern vernagelte Fenster. Das verrottete Holz um die Nägel ließ sich mit dem Beil leicht weghebeln, worauf sich eine große, schwarze Öffnung auftat.

Belsey warf die verrotteten Bretter ins Unkraut und starrte in etwas, das einmal ein kleines Fenster gewesen war, ohne Glas, auf ein dünnes, rostiges Drahtgeflecht, das heruntergedrückt war. Er leuchtete mit der Taschenlampe in die Öffnung. Er sah ein paar vertrocknete Blätter, gewölbte Backsteinwände und ein altes Fahrstuhlgitter. Rechts und links davon befand sich je ein schmaler Gang. Er versteckte das Beil und den Bolzenschneider zwischen den Brombeeren, dann zog er sich zum Sims hoch und sprang durchs Fenster. Er landete hart auf nacktem Beton. Sein ganzer Körper kribbelte, als er sich aufrichtete. Es war dunkel. Viel kühler als draußen. Durch Lüftungsschlitze fielen milchige Lichtstreifen herein. Der Boden war bedeckt mit Ziegelstaub und Federn.

Durch das Fahrstuhlgitter spähte er in einen endlosen, schwarzen Schacht. Als er die Tür öffnen wollte sah er, dass sie mit einem Messingvorhängeschloss versperrt war. Es war billig, aber neu. Er suchte die Umgebung des Schlosses nach Kratzern ab – kaum etwas zu sehen. Er betastete das kalte Metall. Dann ging er um den Fahrstuhl herum zur Rückseite des Turms. Der Taschenlampenstrahl erfasste eine große weiße Ecke, die wie Watte aussah. Spinnweben waren es nicht. Er strich mit dem Finger drüber. Es war eine Art Schimmel. Er klebte an seinen Händen. Nachdem er den Schimmel entfernt hatte, entdeckte Belsey eine Holztür. Als er den Knauf drehte, ließ sie sich aufziehen. Dahinter führte zwischen den geschwärzten Backsteinen eine Wendeltreppe nach unten.

»Hallo?«, rief er.

Dann kam er sich albern vor. Er trat auf die Treppe und zog die Tür hinter sich behutsam so weit zu, dass sie angelehnt blieb. Die Treppe wand sich um den vergitterten Fahrstuhlschacht. Vom Staub pelzige Hängeseile verschwanden unten in der Dunkelheit. Belsey ging erst fünf, dann zehn Stufen hinab und beschloss, ganz hinunterzugehen. Er folgte dem Strahl der Taschenlampe und stoppte die Zeit. Der blutähnliche Geruch rostigen Eisens und feuchter Steine nahm zu. Er kam sich vor, als würde er verschluckt werden – als wäre es nicht die Neugier, die ihn immer weiter hinunter trieb, sondern als würde ihn eine aktive Muskelbewegung, wie etwa die der Speiseröhre, unaufhaltsam nach unten befördern. Vielleicht ernährte sich der Bunker von neugierigen Polizisten? Vielleicht lockte der Mann im BMW sie an?

Nach zwei Minuten blieb er auf der Treppe stehen und versuchte zu schätzen, wie tief er war. Über ihm rumpelte die Erde. Er war unter der U-Bahn. Der Tunnel zwischen Hampstead und Belsize Park lag mindestens sechzig Meter unter der Erde. Das war eine Menge Londoner Lehm über seinem Kopf. Er dachte daran, wie wichtig ihm die Möglichkeit war, sich zu bewegen, seinen Aufenthaltsort zu ändern, wenn ihm danach zumute war. Bei den beiden Gelegenheiten, als er in einer Zelle saß, hatte er eine Erkenntnis gewonnen: Er litt nur deshalb nicht unter Platzangst, weil er so selten eingesperrt war. Nachdem er eine weitere Minute weitergegangen war, traf er auf ein Stück Wellblech, das rechts und links an die Wand geschraubt gewesen war, um den Weg nach unten zu blockieren. Vor langer Zeit hatte jemand ein Schild mit der Aufschrift: GEFAHR: BETRETEN VERBOTENdaran geklebt. Doch irgendjemand hatte offenbar beschlossen, die Warnung zu ignorieren und die Zwischenwand aus der Verankerung gerissen. Nach einem kurzen Stoß fiel sie laut scheppernd um.

»Polizei!«, sagte er laut, und lachte gleich darauf forciert, um die Stille erträglicher zu machen. Hier kam ein Gesetzeshüter: Also benimm dich, Finsternis! Er stieg über das Blechstück. Die Treppe war zu Ende. Ein kurzer Gang führte zu einer Backsteinmauer. Links befand sich eine Zelle mit rostigen Geräten und Maschinen, rechts eine schwere, schlachtschiffgrau gestrichene Stahltür mit einem Handrad in der Mitte. Etwas, das man vielleicht im Tresorraum einer Bank erwarten würde. Belsey versuchte, das Rad zu drehen, dann zog er kräftig daran, worauf die Tür auf frisch geölten Angeln auf ihn zu schwang.

Zuerst begriff er nicht, was er vor sich hatte. Metallregale, lange Reihen von Gestellen, bei denen es sich, wie ihm nach einem Moment bewusst wurde, um Betten handelte. Dreistöckige Etagenbetten. Der Schlafsaal war niedrig und hatte eine Decke aus gewölbten Metallplatten. Die Wände glitzerten im Licht der Taschenlampe. Belsey ging hinein. Die Betten erstreckten sich so weit er sehen konnte auf beiden Seiten. Links war eine Tür mit einem Blechschild: Wärter. Der kleine, quadratische Wärterraum bot Platz für einen Holzstuhl und einen Schreibtisch, auf dem eine leere Sektflasche stand. Offenbar hatte der Wärter gefeiert. Belsey nahm die Flasche in die Hand: Neunzehnhundertsiebziger Krug. Champagner. Er roch daran. Der Alkoholgeruch war noch nicht verflogen. Auf der staubigen Flasche befanden sich frische Fingerabdrücke.

In einem Porzellanwaschbecken hinten im Wärterraum lagen ein paar Gipsklumpen. Darüber hing ein Schränkchen. Belsey öffnete die Spiegeltür und fand einen Haufen winziger Knochen und einen Mäuseschädel, was ihm fast wie ein Bausatz vorkam. Im obersten Fach standen zwei dunkelbraune Apothekerflaschen. Auf einer klebte ein Schild mit der Aufschrift Evipan, auf der anderen Dextroamphetamin. Sie waren leer. Kein Datum, kein Patientenname. Es waren keine normalen Medikamentenetiketten.

Er sah auf die Uhr. Es war fünf nach sieben, doch fühlte er sich hier unten, als befände er sich außerhalb von Raum und Zeit. Belsey ging zurück in den Schlafsaal. Er prüfte ein Etagenbett mit der Hand, dann legte er sich darauf. Als er sich kurz zurechtgelegt hatte, war es halbwegs bequem. Er schaltete die Taschenlampe aus. Die Dunkelheit war so dicht, dass sie fast greifbar erschien. Sie knisterte. Das Gehirn rebellierte und projizierte erst Bilder, dann Muster, bevor es versuchte, sich mit der vollkommenen Abwesenheit von etwas Sichtbarem zu arrangieren. Das ist der Tod, dachte er. Es roch nach alten Decken. Eine von den ursprünglichen Schutzsuchenden hinterlassene Welle abgestandener Angst erfasste ihn, dann folgte Langeweile, bevor beides wieder abflaute. Er verspürte eine erstaunliche Ruhe, als hätte ihm gerade jemand erklärt, dass die Welt über ihm nur ein fein ausgearbeiteter Schwindel sei.

Er setzte sich auf und schaltete die Maglite wieder an. Die Wand hatte wie Walknochen gebogene Streben. Ein ausgebleichtes Schild: Beim Verlassen alle Lichter ausschalten. Dann traf der Strahl seiner Taschenlampe auf Glas. Glänzende Flaschen auf dem Boden zwischen den Etagenbetten. Er trat näher heran. Champagnerflaschen. Jemand hatte sie wie Kegel aufgestellt. Diese waren noch verschlossen. Daneben an die Wand gestapelte Kartons: Neunzehnhundertsiebziger Krug. Sieben Kartons zu je sechs Flaschen. Dahinter standen ein paar kleinere, unbeschriftete Kartons: Belsey riss zwei auf. Taylor Vintage Portwein und Hennessy Cognac. Beide waren alt. Er kannte die Etiketten von alten Postern und Spiegeln in Pubs. Die Kartons hatten einen kleinen Aufkleber: Empfänger – Red Lion. Welchem Red Lion war die Lieferung abhandengekommen? Belsey entdeckte auch noch ein paar Stangen Embassy-Zigaretten und drei mit roten Kreuzen markierte Erste-Hilfe-Sets aus Plastik. Als er eins geöffnet hatte, stieß er einen Pfiff aus: elf Apothekerflaschen. Alle mit den gleichen ordentlichen, schnörkellosen Etiketten wie die Flaschen im Schrank. Diese waren allerdings randvoll: Hexobarbital, Modafinil, Amobarbital, Evipan, Pentothal, Benzylpiperazin. Er war auf eine Schatzkiste gestoßen.

Belsey stopfte ein paar Flaschen in die Jackentasche, dann riss er die Folie von einer Flasche Krug und öffnete sie. Der Champagner rann ihm über die Finger und tropfte zischend auf den staubigen Boden. Er nahm einen Schluck. Guter Champagner. Selbst bei Zimmertemperatur – unterirdischer Höhlentemperatur. Es gab viele Pubs mit dem Namen Red Lion, viele, die er kannte und gerne besuchte, aber nur wenige hätten das auf der Weinkarte gehabt. Die Bläschen platzten knisternd um seine Schuhe herum, dann war alles von verstohlener, stiller Freude erfüllt. Er trank noch einen Schluck. Es war friedlich. Er überlegte, wann er zum letzten Mal außerhalb der Hörweite von Sirenen gewesen war.

*

Um 19 Uhr 20 hievte Belsey sich durchs Fenster nach draußen und blinzelte im Glanz des schönen Tages. Er klopfte sich etwas Luftangriffsstaub von seinem Anzug. Der war aber überraschend sauber, was die Unbekümmertheit und damit die Möglichkeiten, die sich durch diese Entdeckung eröffneten, noch einmal hervorhob.

Auf dem Rückweg zum Revier rief er einen Kontaktmann an: Mr. Kostas, Inhaber von Diamante’s an der Seven Sisters Road. Sie kannten sich seit Jahren, und Belsey wusste, dass Kostas ein bisschen Unterstützung brauchen konnte. Er hatte schon laut darüber nachgedacht, seine Bar abzufackeln.

»Mr. K. Ich hätte da ein paar Kisten Schampus günstig abzugeben, falls du Interesse hättest.«

»Wie günstig?«

»Champagner für zwanzig. Echter Krug. Außerdem Cognac für zehn, und damit schneide ich mir ins eigene Fleisch. Ich leg noch fünf Stangen Zigaretten und eventuell die eine oder andere Flasche Portwein drauf.«

»Wie viel hast du?«

»Rund vierzig Flaschen.«

»Am Samstag hab ich hier eine große Mädelsparty, Nick. Wenn du es hinkriegst, dass das für fünfzehn pro Flasche edel aussieht, nehm ich die ganze Ladung.«

»Ich melde mich.«

Belsey überschlug es schnell: Fünfzehn pro Flasche, sechs Flaschen pro Karton, macht zwei oder drei Trips rauf und runter, plus hundert für die Zigaretten, dann die Pillen – Benzylpiperazin war ein Aufputschmittel, Dextroamphetamin auch, Modafinil kannte er nicht, Hexobarbital war vermutlich ein Barbiturat. Fünfhundert für die Drogen war also eine konservative Schätzung, dann konnte er sich auf einen Riesen freuen.

Er fuhr zurück ins Revier und setzte sich an seinen Schreibtisch. Das Büro war leer, und der Ventilator drehte sich immer noch. Nach dem Abenteuer wirkte das wahre Leben etwas enttäuschend. Er griff in die Tasche und zog eine Apothekerflasche heraus. Sie kam ihm vor wie ein Gegenstand aus einem Traum, den er nach dem Aufwachen in der Hand entdeckte. Belsey fragte sich, wann er wieder runtergehen könnte. Seine kleine Luftangriffsfantasie ausleben. Schutz suchen. Was wusste er über London im Zweiten Weltkrieg? Er hatte die Kuppel der St.-Paul’s-Kathedrale vor Augen, die sich unbeugsam der Zerstörung in der Umgebung widersetzt hatte. Er hatte gehört, dass die Schuttschicht der von Bomben zerstörten Häuser in Regents Park zum Teil drei Meter dick war. Im Sommer vertrocknete das Gras darüber schnell, weil Backstein kein Wasser hielt.

Er schaltete seinen Computer an, gab »Luftangriff« ins Suchfeld ein und klickte. Ein Schwarz-Weiß-Foto erschien. Es zeigte eine Menschengruppe neben einem frischen Bombenkrater. »Menschenauflauf an der Walbrook. 2. Mai 1941.« Im kurzen Artikel unter dem Bild wurde erläutert, dass bei den Angriffen der vorherigen Nacht rund tausendfünfhundert Menschen umgekommen waren. Belsey sah in die Gesichter der Menschen auf dem Foto. Er rechnete damit, schockierte Benommenheit zu sehen, doch einige lächelten sogar. Sie hatten eine ordentliche Schlange gebildet und warteten, bis sie an der Reihe waren, ins Loch blicken zu können. Er las den kompletten Artikel unter dem Foto. »Bürger standen Schlange, um den Mithras-Tempel zu sehen, ein Gotteshaus aus der Römerzeit, das unter der City of London in Vergessenheit geraten war und durch die nächtliche Bombardierung freigelegt wurde.«Belsey versuchte im schwarzen Krater den Tempel zu erkennen. Er druckte das Foto aus, faltete es zusammen und steckte es in die Jackentasche.

Vielleicht konnte er morgen wieder runtergehen. Er hätte eine Champagnerflasche für sein Date mitnehmen sollen. Das wäre nett gewesen. Dann kam ihm eine bessere Idee.

Er legte die Apothekerflasche in den Schreibtisch, dann nahm er sie wieder heraus. Er schluckte eine halbe Benzylpiperazin. Wenn die Wirkung im Lauf der Zeit nachgelassen hatte, würde sie ihn nicht umbringen, wenn nicht, würde sie den Nebel lichten, ihm einen strahlenden Blick und Schlagfertigkeit verleihen. Er stand auf und blickte aus dem Fenster. Die Spätschicht kam an. Ein paar Kollegen mit beeindruckenden Sonnenbränden. Keiner sah besonders glücklich aus. Aus allen Richtungen ertönten Sirenen, als sich die Abendstimmung allmählich verdichtete. London reagierte reizbar auf nicht eingelöste Versprechen.

Die Spätschicht kam, also musste es fast acht sein.

Belsey rasierte sich in der CID-Toilette. Die Schwellung war zurückgegangen, was für ein Date besser, wenn auch weniger heldenhaft aussah. Er hatte keine Zeit, zwischendurch nach Hause zu fahren, wohin es ihn aber sowieso nicht zog. Sein Zuhause war derzeit das heruntergekommene Hotel President an der Caledonian Road. Ursprünglich sollte es ein Notbehelf sein, bis Belsey eine Wohnung gefunden hatte, doch dauerte dieser Zustand inzwischen schon ein halbes Jahr an. Doch er brachte mit sich, dass er die Miete wöchentlich bezahlen konnte und sich keine Gedanken darüber machen musste, ob ihm die Seife ausging. Er verbrachte dort nicht mehr Zeit als nötig. Er rasierte sich, duschte, nahm ein paar Spritzer von Trappings Calvin-Klein-Aftershave und holte eine Packung Kondome hinten aus der Schreibtischschublade.

Auf dem Weg nach draußen sah er Kirsty Craik alleine in der Kantine sitzen. Die Rollläden waren geschlossen. Belsey stoppte. Er empfand leichte Schuldgefühle wegen des Bunkers und konnte kaum glauben, dass sie wieder in sein Leben getreten war. Noch einmal wischte er sich über den Anzug.

»Fängst du jetzt schon an, Überstunden zu machen?«

Sie blickte auf, etwas erschöpft, aber nicht so, als käme die Ablenkung ungelegen. Auf dem Tisch lagen ein paar Personalakten.

»Ich mach nur eine kurze Pause, bevor ich nach Hause fahre. Ist kühler hier unten.«

»Wo wohnst du?«

»In Kentish Town.«

»Gutes Viertel.«

Sie nickte und musterte ihn mit einer Miene, die er noch kannte: nachdenklich und unentschlossen.

»Müssen wir reden?«, fragte Craik.

»Ich denke, zwischen uns ist alles okay. Was mich betrifft, bist du der neue Detective Sergeant. Ich hab dich im Einsatz erlebt, und du bist gut. Beruflich, meine ich. Ich freu mich auf die Zusammenarbeit.«

Sie lächelte, dann wurde ihr Lächeln weicher.

»Du bist suspendiert.« Belsey nickte. Also hatte sie sich seine Akte angeguckt. Auf was für einer wilden Achterbahnfahrt würde sie ihn gesehen haben, als sie das las? »Wie kommst du damit zurecht?«, fragte sie.

»Ist schon ein bisschen langweilig.« Er fragte sich, was sie sonst noch gehört hatte, stellte sich ihr Gesicht vor, als man sie vor ihm warnte. Ach, der macht also nichts als Ärger, was? »Aber ist in Ordnung, mir geht’s schon viel besser. Wenn ich allerdings wieder voll einsteigen soll … Manchmal komme ich mir ein bisschen vor wie ein Hilfspolizist.«

»Du könntest in Schulen gehen und Vorträge halten«, sagte Craik lächelnd.

»Ich würde gern in Schulen gehen und Vorträge halten.«

»Ich halte es für unwahrscheinlich, dass dich irgendjemand in irgendeine Schule schicken würde.«

Sie beobachtete ihn eingehend, fast schon berechnend. Alte Flamme war ein eigenartiger Begriff, dachte Belsey. Vielleicht ging es darum. Und das alles verkomplizierte sich noch dadurch, dass die Erinnerung von der Fantasie angedickt wird. Sie hatten sich gemocht. Genau das war das Problem gewesen, wobei sich ihm diese Logik momentan nicht ganz erschloss.

»Muss seltsam für dich sein«, sagte sie.

»Für uns beide. Aber es gibt Seltsameres im Leben. Letzten Monat bin ich an einen Tatort gekommen, wo jemand in eine Tierchirurgie-Klinik eingebrochen ist und sich eine Überdosis Pentobarbital verpasst hat. Er lag noch ausgestreckt auf dem Operationstisch. Wir können zusammenarbeiten, das weißt du so gut wie ich. Ich hab dir doch damals schon gesagt, dass du schnell Karriere machst.«

Er machte sich bereit zu gehen, bevor das Gespräch noch tiefschürfender wurde. Dann überraschte sie ihn.

»Wo kann man denn hier um diese Zeit noch was Ordentliches essen? Brauner Rum und ohne Fett geröstete Erdnüsse – das war doch damals dein übliches Abendessen, wenn ich mich recht entsinne.«

Das Abendlicht hatte den Glanz ihrer Augen verschleiert. Gute Polizistenaugen, schwer zu entschlüsseln. Aber das Angebot war doch recht durchschaubar. Eigentlich wäre er gern mitgegangen. Dafür war aber immer noch genug Zeit, dachte er. Wenn das so lief.

»An der Hauptstraße im La Traviata. Ist besser, als es aussieht. Das Carluccio’s ist auch einen Versuch wert. Das Nights of India sollte man meiden. Glaub mir.« Er lächelte noch einmal, bot nicht an, sie zu begleiten, und ihr geschulter Polizistinnenblick glitt über seinen Anzug und das frisch rasierte Kinn. Er spürte, wie er den Duft von Calvin Klein verströmte.

»Du hast ein Date.«

»Treffe mich nur mit einer Freundin.«

»Okay, Nick. Dann lass deine Freundin nicht warten.« Sie wandte sich wieder den Akten zu, war jedoch nicht schnell genug, um ihr Erröten zu verbergen.

»Wir sehen uns morgen. Frisch und munter, damit wir den Bibliotheksräuber schnappen können.«

Er ging, leicht belustigt von dem schwachen Bedauern. Dann surrte ein Handy, und alle Gedanken verflogen: Bin unterwegs, drei Küsse.

Jemma mit J, wie sie sich in der Arrestzelle vorgestellt hatte. Eine Frau, die ihre ganze Zukunft noch vor sich hatte. Sein Anmachspruch: »Du nimmst drei Gramm Kokain auf eine politische Protestveranstaltung mit? Wie viel Spaß willst du denn haben?« Drittes Date, drei Küsse. Zeit, den Plan in die Tat umzusetzen.

Er hielt beim Blumenladen am U-Bahnhof Belsize Park und kaufte einen Strauß cremefarbene Nelken mit roten Rändern. Im Co-Op-Supermarkt gab es nur Geburtstagskerzen, aber das war besser als nichts. Er kaufte eine Zwanzigerpackung. Er kaufte noch ein paar frische Batterien für die Maglite, bezahlte zehn Pence für eine übergroße Plastiktüte, in der er alles versteckte. Er ging ins Haverstock Arms, bestellte zwei Glas spanischen Sekt, trank sie und steckte die Gläser zur Taschenlampe und den Blumen in die Plastiktüte.

Jemma mit J war zweiundzwanzig Jahre alt, Kunststudentin, Tequila-Girl und Politaktivistin. Drei noble Arten, sich die Zeit zu vertreiben. Es würde ihr Spaß machen. Sie würde ihn etwas besser kennenlernen. Außerdem würde es ihm die Peinlichkeit ersparen, seine aktuelle Wohnsituation zu erklären. Bisher war er ein paarmal in dem Club gewesen, in dem sie arbeitete, hatte sie einmal zum Essen eingeladen und hatte sie am letzten Wochenende auf ein paar Gratisdrinks bei einer Vernissage eingeladen. Miteinander geschlafen hatten sie noch nicht. Sie hatte nach einem kleinen Einblick in sein Leben gefragt, vielleicht in dem Irrglauben, dass dem Dasein eines CID-Detectives ein gewisser Glamour innewohnte. Mehr als der Glamour, den sie selbst ausstrahlte. Er würde ihr zeigen, worin seine Kunst bestand.

4

Jemma wartete vor dem U-Bahnhof Belsize Park in für die Hitze passender Kleidung: abgeschnittene Jeans, ein ärmelloses Top, Sandalen und eine große Sonnenbrille, die die langen, schwarzen Haare hielt. Sie küssten sich, und er vergaß diverse mögliche Komplikationen.

»Was ist in der Tüte?«, fragte sie.

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