Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte - Michael Hugentobler - E-Book

Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte E-Book

Michael Hugentobler

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Beschreibung

»Ein fabelhafter Abenteuerroman.«  Martina Läubli in ›NZZ am Sonntag‹ Als Hans Roth wurde er 1849 in einem Bergdorf geboren, als Louis de Montesanto – Weltreisender, Bestsellerautor und Hochstapler – stirbt er 1921 in London. 13-jährig floh er in die Welt: Mit einer Schauspielerin wohnte er in Paris, in London wurde er zum Butler, mit einem Gouverneur schiffte er sich nach Perth ein. Er verliebte sich bei den Aborigines, jagte Warane, heiratete in Sydney und zog mit einem Wanderzirkus durchs Land. Zurück in London dichtete er seinem erstaunlichen Leben noch so einiges hinzu. Michael Hugentobler erzählt das Leben eines wagemutigen Exzentrikers, der stets darauf bedacht war, frei und unabhängig zu bleiben in der großen weiten Welt.

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Seitenzahl: 201

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Michael Hugentobler

Louisoder Der Ritt auf der Schildkröte

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

 

Zimmer ändern sich nicht,

Ziergegenstände bleiben, wo man sie hinstellt:

Nur das Herz verfällt.

Graham Greene

Wahrheit zeigt sich,

sobald alle Worte ausgelöscht sind.

Worte wurden nur gemacht, um damit zu lügen.

William S. Burroughs

Die historische Person, auf der diese Geschichte basiert, nannte sich Louis de Rougement. Sein Buch »The Adventures of Louis de Rougement As Told by Himself« erschien 1899 im Verlag George Newnes in London. Auszüge seiner Geschichte wurden in den Jahren 1898 und 1899 auch in »The Wide World Magazine« veröffentlicht. Aus diesen beiden Publikationen stammen die auf dem Vorsatzpapier abgebildeten Illustrationen.

 

 

 

 

Für Migma

Für Tenzin Dhangsang

Für Tenzin Pema

1

r tat, als hätte er nichts gehört. Er strich die Krawatte zurecht. Vor ihm lag eine hügelige Ebene aus Hüten, und unter diesen Hüten starrten ihn Gesichter an, Gesichter mit Schnauzbärten und seltsam schmalen Lippen.

Im Saal war es still geworden. Niemand räusperte sich, niemand hustete.

Es war der 4. November 1898, dreizehn Minuten nach neun Uhr am Morgen, und seine Zunge klebte am Gaumen. Zu allem Unglück wackelte auch noch der Boden unter seinen Füßen.

Er stand auf zwei Holzkisten, denn ohne die Kisten wäre er nicht groß genug gewesen, um über den Rand des Rednerpults zu sehen. Dass die Kisten schlecht aufeinanderpassten und wackelten, hatte er erst zu Beginn seiner Rede bemerkt, als er nach der Begrüßung des Publikums sein Gewicht leicht verlagert hatte, sich aber sofort am Pult hatte festhalten müssen, aus Furcht, von den Kisten zu stürzen. Er winkelte dann das linke Bein an, sodass sein Gewicht auf der rechten Seite der Kisten ruhte. Die rechte Seite fühlte sich etwas stabiler an. Verharrte er in dieser Position, so fühlte er sich einigermaßen sicher und konnte auch das Rednerpult wieder loslassen.

Nun jedoch, dreizehn Minuten nach diesem äußerst unangenehmen Start, hatte er bereits ganz andere Sorgen. Was sollte er sagen? Es gab nichts mehr zu sagen.

Er tastete mit den Fingerkuppen über den seidenen Stoff seiner Krawatte, er fühlte die Rippel, wo die kleinen Kängurus eingestickt waren. Er glitt über die Krawattenspange, über die Krone ihrer Majestät, über die kleine Weltkugel und die Inschrift der Royal Geographical Society.

Dann kam der Satz noch mal: »Sie sind ein verdammter Lügner.«

Der Mann, der ihn beleidigte, stand im hinteren Teil des Raums, seine Augen sprühten Funken. Er war hochgewachsen und schmal, überragte jeden um eine Kopflänge, er hatte weißblonde Haare, und sein Hemd hing vorne leicht aus der Hose, als hätte er sich in aller Eile angezogen. Über seine Lippen hing ein Schnurrbart, den er jetzt mit der Zunge ableckte. Er reckte eine Faust in die Höhe, und in dieser Faust hielt er eine zusammengerollte Zeitung wie eine Waffe.

Louis de Montesanto überkam der Drang zu husten. Er fühlte noch Kraft in den Armen, er konnte noch den Arm heben und den Finger ausstrecken gegen diesen Mann da hinten, der ihn einen Lügner nannte. Aber kein Laut würde aus seinem Mund dringen. Allenfalls ein Gurgeln. Oder ein Krächzen. Er würde sich lächerlich machen.

Er blickte auf seine Notizen hinunter: Soeben hatte er den Donnervogel erwähnt, und nun hätte er zur Anatomie dieses Tiers übergehen wollen, insbesondere zu dem kurzen Schnabel und den winzigen Flügeln, wie beim Kolibri. Als er den Kopf wieder hob, fiel ihm eine junge Frau auf, keine zwei Schritt von ihm entfernt. Sie trug einen Umhang aus perlgrauem Damast, auf ihrer Brust lag ein Netz aus Gagatperlen und Cabochons, und in ihrem Blick war nichts als Entsetzen.

Draußen vor dem Fenster sah er die Äste eines Baums, und auf den Ästen saßen Menschen. Sie waren hier, um mit eigenen Augen das menschgewordene Abenteuer zu erblicken. Er aber wusste nichts mehr weiter zu tun, als an seiner Krawatte herumzufummeln und sich davor zu fürchten, von seinen Kisten zu stürzen.

Weit entfernt hörte er Stimmen, die aus dem Saal zu ihm hochdrangen.

»Und? Sind Sie ein Lügner?«

»Was ist jetzt mit diesem Donnervogel?«

»Alles klar, alter Junge?«

»Wie war das noch mal bei den Wilden?«

Er fühlte einen warmen Hauch aus seinem Hemdkragen den Hals emporkriechen. Seine Oberlippe prickelte. Die Haare klebten an der Stirn. Schweiß rann ihm den Rücken hinunter.

Und dann rief der lange schmale Mann da hinten: »Sie heißen gar nicht Louis de Montesanto. Sie heißen Hans Roth. Ihr Name ist Hans Roth.«

Das war der Moment, als er sich hinter das Rednerpult duckte. Für eine Sekunde hatte er das Gefühl, er sei unsichtbar geworden. Langsam zog er die Knie an den Bauch und machte sich so klein wie möglich. Er drehte das linke Knie leicht zur Seite, streckte das Bein aus und tastete mit dem Fuß ins Leere. Die Kisten wackelten, aber er spürte bereits den Boden der Bühne. Er stellte den zweiten Fuß auf die Bühne. Er rannte zum Vorhang. Er riss den Vorhang zurück.

Gelächter überall.

2

er Mann, der einst die Sehnsüchte jener Menschen erschüttern sollte, die sich zivilisiert nannten, wurde in einer himmeltraurigen Nacht geboren. Als wäre diese Nacht ein Vorbote all dessen, was ihm später in der Welt abweisend und schwer durchschaubar vorkäme.

Die Wolken zogen schon auf, als der Kutscher an die Haustür der Hebamme donnerte. Sie kletterte auf einen Bock, der so eng war, dass sie die Hüften des Mannes spürte. Zwischen seinen Schenkeln klemmte eine Weinflasche. Sein Haar lag in Flechten auf einem Mantel aus Ziegenfell. Blitze zuckten auf, als sie einen schmalen Pfad emporfuhren, der in eine Felswand gehauen war.

Der Kutscher sprach nur mit seinem Pferd.

Regen tropfte aus seinem Bart.

Am Ende des Pfades klebte oberhalb einer Klippe ein Dorf, das man nur durch den Friedhof betreten und verlassen konnte. Um einen Brunnen herum drängten sich zehn Häuser. Der Kutscher führte sein Pferd am Brunnen vorbei zu einem Heuschober und rief: »Ho!«

Wind pfiff durch die Wände des Heuschobers. Als die Hebamme die Schwangere sah, sagte sie, dies sei ein Irrtum. Bei diesem Bauch handle es sich um den sechsten Monat, allenfalls den siebten, aber bestimmt nicht um den neunten.

»Den brauche ich nicht abzutasten«, sagte sie.

Sie verlangte, zurück ins Tal gefahren zu werden, aber als sie vor dem Heuschober stand, war der Kutscher, der Vater des Kindes, verschwunden. Der Wind zerrte an ihrem Mantel. Zweige zischten durch die Luft. Sie wollte nicht allein die Felswand entlang hinunter ins Tal gehen.

Die schwangere Frau stöhnte in einen Haufen Stroh. Neben ihr auf dem Boden stand ein Kochtopf, in dem drei schrumpelige Kartoffeln mit langen Dunkelkeimen lagen. Aus einer finsteren Ecke drang das Quietschen eines Ferkels. Es roch nach Pferdemist. Neben einem Herd war eine Schubkarre zu sehen, aus der eine Bügelsäge ragte, und darüber hingen ein Sattel und eine Peitsche und ein sprödes Kummet, an dem Blut trocknete. Der Boden war aus festgetretenem Lehm, und die Decke war schwarz vor Schimmel. Da war kein Stuhl, auf den man sich hätte setzen können. Die Hebamme hockte am Boden und trank einen Aufguss aus Apfelminze und Malvenblüten, dann legte sie sich neben die Schwangere ins Stroh.

Die Wehen begannen um drei Uhr morgens.

Das Erste, was die Hebamme am Kind bemerkte, war sein großer Kopf. Dann aber fiel ihr auf, dass der Kopf gar nicht besonders groß war, sondern der Rest des Körpers sehr klein. Das Kind war keine Frühgeburt, aber die Finger und die Zehen waren kürzer als alles, was sie bisher gesehen hatte, die Hände und Füße noch winziger und die Schultern so schmal, dass sie gleich einen Kuss darauf hauchte. Sie konnte nicht aufhören, die nasse Stirn zu streicheln und die schrumpeligen Füße zu kitzeln, als bestünde eine geheimnisvolle Bande zwischen den beiden.

 

Von Anfang an mochte die Mutter das Kind nicht.

Es würde nie ein Kutscher werden, denn es konnte kein Pferd aufhalten. Es würde nie eine Bauerntochter finden, denn es konnte keinen Pflug anschieben. Es konnte keine Bäume fällen und keine Kälber in die Welt zerren. Die Mutter sah keine Zukunft für diesen kleinen Hans, und da sie eine pessimistische Frau war, für die noch der sonnigste Tag bestimmt mit Schnee enden würde, ließ sie ihr Kind ständig wissen, wie überflüssig es in dieser Welt sei.

Als Hans vier Jahre alt war, stürzte der Vater mitsamt dem Pferd und dem Wagen die Felswand hinunter. Bauern fanden ihn am Grund der Schlucht, er hielt noch immer den Hals einer Weinflasche umklammert. Er wurde mitsamt dem Flaschenhals aufgebahrt, zehn Zentimeter Glas standen in der Leistengegend obszön in die Höhe, und obwohl das Glas klar als Flaschenhals erkennbar war, behaupteten am nächsten Tag die Leute, der tote Kutscher habe in der Kirche sein steifes Ding in der Hand gehalten.

Die anderen Kinder warfen Dreck und faule Zwiebeln nach Hans.

Einmal sperrten sie ihn in ein Butterfass, und er hörte sie draußen lachen. Sie trieben Nägel in den Deckel. Er hatte Angst, sie würden ihn über die Kante der Felswand rollen. Er zappelte und hustete und schrie.

Der einzige Mensch, den er mochte, war sein Bruder Heiri. Aber Heiri war kaum je im Dorf. Er war zehn Jahre älter und arbeitete unten im Tal. Für Hans war Heiri ein Mann von Welt, der dort war, wo alles schön und gut ist. In seiner Vorstellung trug der Bruder immer ein Hemd mit angeknöpftem Kragen und dazu eine Halsbinde.

Die Mutter heiratete einen reichen alten Bauern mit triefender Nase und einem Kopf wie eine Fleischtomate. Hans durfte nicht ins Haus des Bauern ziehen, er wohnte weiterhin im Heuschober. Anfangs stellte ihm die Mutter noch Gerstensuppe vor die Tür, aber die Töpfe wurden immer kleiner, und bald war da kein Topf mehr. In einer warmen Nacht im Frühling, als der Schnee auf den Dächern schmolz und Rinnsale auf die Straße klatschten, stand Hans von seinem Strohballen auf, schlüpfte in die Holzpantinen und trat aus der Tür. Er war dreizehn Jahre alt. Er ging am Dorfbrunnen vorbei zur Kirche und dann durch den Friedhof. Der Mond war voll und hell, und Hans stand an der Friedhofsmauer und schaute die Felswand hinunter ins Schwarz des Tals.

Er begann zu laufen. Er lief unter einem Kastanienbaum durch zum Bergpfad und dann den Pfad hinunter. Er spürte, wie die Steine unter seinen Füßen rollten, er spürte, wie die Luft in seine Lungen schoss. Er begann zu singen.

Idr Schwiiz, idr Schwiiz do simer dehei

ufde Bärge hei ju hei.

Do simer emol uf Basel abe cho

und hei e luschtigi Musig mitis gno.

Hei ju hei, hei ju hei do simer dehei

ufde Bärge hei ju hei.

Zum z’Vieri heimer Guguhöpfli gha

mit hundert tuusig Hosechnöpfli dra.

Hei ju hei, hei ju hei do simer dehei

ufde Bärge hei ju hei.

Er lief immer weiter hinunter ins Tal. Dann blieb er stehen und bemerkte, dass er von zu Hause weggelaufen war. Er sang jetzt ganz leise.

Es Loch im Strumpf und schüli müedi Bei

Hei ju hei, hei ju hei do simer dehei

ufde Bärge hei ju hei.

Kei Rappe im Sack und schüli müedi Bei

Hei ju hei, hei ju hei do simer dehei

ufde Bärge hei ju hei.

Sechsunddreißig Jahre später würde ein englischer Journalist diesen Pfad emporkeuchen und im Dorf nach dem Jungen fragen, und die Leute würden sagen, dieser Junge, der sei längst tot. Der Journalist würde das Foto eines zerknitterten Mannes hervorkramen, ja, würden die Leute dann sagen, das könnte er sein, die schmalen Schultern, der große Kopf, aber dass er in Australien gewesen sein soll, davon habe man nichts gehört, es erscheine doch reichlich seltsam. Ohnehin wolle man mit der ganzen Sache, was es auch immer sei, nichts zu tun haben.

 

Es war finster und traurig in der Felswand, und doch hatte Hans nie zuvor in seinem Leben größere Freude empfunden. Er hatte gehört, die Welt sei riesig, und da er sehr klein war, würde er bestimmt einen Platz darin finden. Er war sich sicher: Etwas Großes warte auf ihn.

3

ie nannte sich Old Lady Long und hatte Haare wie Stahlwolle. Sie trug ein Rüschenhemd, dessen oberster Knopf mit einer Porzellanbrosche gesichert war.

Über ihr zerrissen Wolkenschlieren an den Bergwänden, und sie machte ein Gesicht, als müsste sie zu Fuß da hoch. Sie mochte diese Berge nicht, aber sie war einen weiten Weg gekommen. Drei Tage vorher war sie in Perth ins Flugzeug gestiegen, einen Tag lang hatte sie in Singapur im Transit wässrigen Kaffee getrunken, und heute Morgen bei der Ankunft in Zürich hatte sie bemerkt, dass sie hinkte. Es war der 30. Juni 1961, um vier Minuten vor zwei Uhr am Nachmittag, sie rieb sich den Oberschenkel und beobachtete einen kleinen Punkt in den Wolken, der zu ihr herabschwebte.

Die Gondel war mit blauen und rosaroten Hortensien bemalt. Die Schiebetür rumpelte zur Seite. Der Gondelführer trug eine Schirmmütze und hatte eine Gesichtsfarbe, die an rohen Lachs erinnerte. Er saß auf einem hohen Hocker und drehte die Lautstärke an einem Radio herunter. Seine Arme waren braun gebrannt, und in alle Richtungen standen gelbe Haare ab, die im Sonnenlicht weiß schimmerten.

Old Lady Long trat ein und wandte dem Mann den Rücken zu.

Die Gondel schlenkerte, dann schrumpften die Häuser und mit ihnen die quadratischen Beete voller Primeln. Aus den Wäldern stieg Dampf empor. Hinter einem weißen Schleier erschien eine Wand aus Fels, und da oben am Ende der Wand lag das Dorf Schöndorn.

Old Lady Long würde hier einem Toten gegenübertreten. Die ersten sieben Jahre ihres Lebens hatte sie den Mann gekannt. Dann war er zu einem regelmäßigen Besucher geworden, der manchmal in ihrem Kopf saß. Sogar in ihren Träumen erschien er. Das sollte nun enden.

Sie trat aus der Seilbahnstation, Raben kreisten am Himmel, es duftete nach frisch gemähtem Heu. Unter einem Kastanienbaum saß ein alter Herr auf einer Bank und nippte an einem Glas Rotwein. Er starrte, Old Lady Long drehte sich weg.

Vor dem Friedhof blieb sie stehen und schaute einem Gärtner zu, der Unkraut aus dem Boden zog und in eine Schubkarre warf. Als sich ihre Blicke trafen, ging sie weiter, vorbei an einer Telefonkabine, vorbei am Dorfbrunnen, bis zu einem kleinen Haus auf der Ostseite des Brunnens.

Es war das Geburtshaus des berühmtesten Schöndorners, dessen vierzigster Todestag kurz bevorstand. Eine bronzene Tafel an der Außenmauer fasste sein Leben zusammen, auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch: Geboren am 12. Mai 1849, Entdecker des Stamms der Martu in Australien, Bestsellerautor, Empfang durch die Royal Geographical Society Großbritanniens, Tod in London am 9. Juli 1921.

Er hatte ihr von diesem Haus erzählt. Ein Haus auf einem Felsvorsprung, hatte er gesagt. Sie hatte nicht gewusst, was ein Haus ist, und er hatte gesagt, es sei wie das Nest eines Vogels, bloß viel größer, mit einem Dach aus Steinen obendrauf. Sie hatte gefragt, ob die Menschen dort denn Flügel hätten, und er sagte Nein, normalerweise nicht, er aber schon, er habe sich eines Tages vom Felsvorsprung abgestoßen und sei ins Tal gesegelt.

Auch so besuchte er sie in den Träumen: als Keilschwanzadler, der sich in wachsenden Ringen in den Himmel schraubt und dann zurück zur Erde schießt.

Old Lady Long schirmte die Augen ab und schaute durch die Glastür ins Haus. Hinter dem Eingang stand ein großer silberner Bilderrahmen, und daraus guckte sein Gesicht hervor. Der Rahmen war mit Ornamenten verziert, aber einige waren abgebrochen und mit schwarzem Klebestreifen geflickt worden.

Als sie die Tür aufzog, blickte sie zu Boden und reichte der Frau an der Kasse eine Münze. Dann drehte sie sich dem Bild zu. Sie sah einen weißen Bart, der über eine zugeknöpfte Weste reichte. Auch die Haare waren weiß, nach hinten gekämmt, eine Locke lag auf der linken Schulter. Das Nasenbein war zerfurcht, als sei der Mann in zu viele Raufereien geraten. Über die Stirn zogen sich Täler von Falten, und seine Schläfen erinnerten an zerknülltes Papier. Er hatte den Blick einer traurigen Kuh.

Nichts Grausames war an ihm, nur Alter.

Sie streckte die Hand aus, und da fiel ihr auf, wie groß das Bild war. Ihre Finger auf seiner Nase waren wie die Finger eines Kindes. Sie musste einst nach dieser Nase gegriffen haben, aber sie erinnerte sich nicht. Ein Gefühl sagte ihr, seine Haut sei ebenso kalt gewesen wie das Glas, das sie nun spürte.

Im nächsten Moment war ihr, als sitze sie wieder im Busch und beobachte einen Stock, der seltsame Formen in den Sand zeichnete. Ihre Augen glitten den Stock empor zu einer dürren Hand und einen knochigen Arm hinauf zu einem Bart, und aus dem Bart kamen Wörter: »Das ist ein Fisch, in den man hineinsteigen kann und der einen bis ans Ende der Welt trägt«, und sie hörte ihre Kinderstimme bei diesem absurden Gedanken laut auflachen.

Old Lady Long drehte sich abrupt vom Bild weg und rieb sich die Schläfen. Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel ihrer Strickjacke und schnäuzte sich die Nase. Sie faltete das Tuch zusammen und schloss es in die Fläche ihrer Hände. Sie befürchtete, sie würde es gleich wieder brauchen.

Jenseits einer rußschwarzen Schwelle funkelten Lampen von der Decke. An die linke Wand war ein Brett geschraubt, und darauf stand nur ein einziges Buch, aber in dutzendfacher Ausführung: The Adventures of Louis de Montesanto – As Told by Himself. Der Deckel des Buches war blau, darauf war ein weißer Mann abgebildet, der einen Pfeilbogen abschoss. Er trug einen Rock aus Bast und Hosenträger, und seine Haare waren auf eine sonderbare Weise hochgesteckt, es sah aus, als würde er einen spitzen Hut tragen. Um den Weißen standen schwarze Männer, die mit Totschlägern auf andere schwarze Männer eindroschen.

Old Lady Long warf einen Blick auf ihre Handtasche, und da fiel ihr auf, dass der Reißverschluss offen war. Man konnte den blassbraunen Umschlag eines Buches sehen, das den Titel Short Man, Tall Tale trug. Es war eine Hinrichtung auf Papier. Der Autor, ein gewisser Clark Dune, hatte alte Zeitungsartikel zusammengefügt und sie nicht hinterfragt. Die Biografie war vor zehn Jahren erschienen, 1951, aber Old Lady Long hatte sie erst kürzlich entdeckt, in dem Schaufenster eines Buchladens in Perth. Sie hätte das Buch jetzt gerne aus der Tasche gezogen und einige Daten verglichen, aber sie befürchtete, jemand könnte den Raum betreten und das Buch erkennen. Sie war sich ziemlich sicher, dass man sie dann aus dem Museum werfen würde. Sie zog den Reißverschluss ihrer Tasche fest zu.

Sie beugte sich über ein Holzkästchen voller vergilbter Autogrammkarten. Sie zog eine Karte heraus, als zupfte sie das Blatt einer weich gekochten Artischocke ab. Auf der Illustration war ein magerer Mann zu sehen, bis zu den Hüften im Wasser, zwischen seinen Beinen der glänzende Panzer einer Schildkröte, und es sah aus, als wolle der Mann auf der Schildkröte reiten.

An einem Kleiderbügel hing ein Mantel, der Staub ansetzte. Er war so schmal geschnitten, als wäre er für ein Kind gemacht. Old Lady Long fiel es leicht, sich den überproportional großen Kopf vorzustellen, der einst aus diesem Mantel geragt hatte. Sie hauchte an die Kupferknöpfe, und graue Wölkchen stiegen auf. Sie musste dem Drang widerstehen, die Knöpfe mit ihrem Taschentuch zu polieren.

Folgendes war ebenfalls ausgestellt:

Eine Seekiste mit den Initialen H.R.

Eine Vitrine, in der ein rostiges Schnappmesser lag, und daneben ein kurzes Stück Hanfseil mit zusammengeknoteten Enden.

Eine hinduistische Gottheit, aus Metall gegossen, etwa so groß wie eine Daumenkuppe. Auf den ersten Blick schien die Gottheit eine ausgesprochen lange Nase zu haben.

Ein Taucherhelm mit gläsernen Klapptüren, die mit Gittern verschweißt waren.

Old Lady Long zog einen kleinen Schreibblock mit karierten Seiten hervor und notierte sich die Objekte in Listenform. Dann bückte sie sich zu einem Paar Schuhe aus Leder. Es waren sehr kleine Schuhe. Sie waren poliert und glänzten, aber sie hatten abgetretene Sohlen und seltsame Spitzen, die geflickt worden waren, mit einem matten Material, vielleicht Fischkleister.

Im Geiste sah sie seine Füße, die aussahen wie die Füße eines Jungen. Sie waren nicht so flach und breit gewesen wie jene der anderen Männer. Sie hörte ihn sagen, dass er diese Füße ein Leben lang in Tierhäute eingepackt habe, und sie hörte sich fragen, wie es sich denn anfühle, einen Waran zu tragen, und ob es nicht sinnvoller wäre, das Tier am Leben zu lassen, da es dann das Laufen für den Menschen übernehmen könne. Er sagte, das sei natürlich vollkommen richtig und so oder ähnlich würde es dort gemacht, wo er herkomme.

So hatte sie sich also das Volk vorgestellt, von dem er abstammte: gespenstische Kreaturen, halb Mensch, halb Tier.

Über den Schuhen hing ein Glaskasten an der Wand. Der Kasten war mit schwarzer Folie ausgelegt und zeigte eine Krawatte. Sie war hellblau, verblichen und zerzaust, aber die sorgfältigen Nähte und die feinen Fäden deuteten auf ein teures Modell hin. In die Seide waren kleine silberne Kängurus gestickt, und obwohl die Kängurus so klein waren, konnte man gut ihre starken Hinterbeine erkennen und den gebogenen Schwanz, der in einer perfekten Welle zur Wirbelsäule und dem Kopf überging. An der Krawatte klemmte eine Spange aus Silber, an deren Ende eine Krone und eine Kugel hingen.

Old Lady Long betrachtete die Krawatte sehr lange.

Als sie ihr Spiegelbild im Glas entdeckte, strich sie sich mit dem Taschentuch über die Stirn.

Sie empfand eine Art von Liebe. Im nächsten Moment musste sie sich daran erinnern, warum sie hergekommen war.

Sie schrieb in ihren Notizblock:

Kalte Haut

Kindermantel

Abschied

4

n exakt derselben Stelle, wo ein Jahrhundert später die Talstation der Seilbahn stehen würde, befand sich nun erst eine steinige Brache, auf der Stechginster und Sauerampfer wucherten. Jenseits der Brache erhob sich die Kirche von Seelisdorn, und daneben kauerte demütig eine Hütte, die aussah, als würde sie nur noch von Brombeerranken zusammengehalten. Hier wohnte Pfarrer Sägesser. Nach einer Nacht voller Wolfsgeheul öffnete der Pfarrer die Tür und stolperte über den Jungen.

Hans schlug die Lider auf, und seine grünen Augen funkelten in den blauen Morgen.

»Ein Engel«, sagte Pfarrer Sägesser.

»Wo ist Heiri?«, fragte Hans und wischte sich Tränen von den Wangen.

Er schlurfte hinter dem Pfarrer ins Haus, ließ sich eine speckige Steppdecke über die Schultern legen, löffelte eine Linsensuppe und knabberte an einer Brotrinde.

Der Pfarrer war ein gebeugter Mann mit einem schiefen Lächeln. Er redete viel von Goa, wo er in jungen Jahren hingeschickt worden war, um eine Pfarrei aufzubauen. Er erzählte vom Geruch der Masalas und vom Klang der Kesseltrommeln. Oder er machte vor, wie die Inder den Kopf schüttelten, wenn sie Ja sagten, und dabei lachte er. Nur am Rande erwähnte der Pfarrer die langen Nachmittage, an denen er im Schatten eines Kaschubaums gelegen und einen jungen Mann geküsst hatte, und wenn er davon sprach, dann in rätselhaften Sätzen.

Dass er in der rechten Hosentasche eine kleine Ganesha-Statue trug, erzählte er hingegen nicht; man konnte aber sehr gut sehen, dass er im Verborgenen ständig etwas durch die Finger drehte.

Der Pfarrer sah es als seine Pflicht an, den Jungen bei sich aufzunehmen. Er versuchte, ihm das Vaterunser in Latein einzutrichtern, aber ohne Erfolg. Hans sagte, er verstehe die Bedeutung nicht, auch nicht in der Übersetzung, und deshalb wolle er das nicht aussprechen.

Was Hans liebte, war die Kunst, Wörter zu schreiben und sie zu lesen. Der alte Mann und der Junge verbrachten den Sommer unter einer Eiche sitzend, sie lehnten sich an den warmen Stamm, Sägesser rauchte seine Cannabispfeife, und Hans las aus Robinson Crusoe vor. Hans hatte sich geweigert, die Bibel zu lesen, und eines Abends, nach einer langen Diskussion, war der Pfarrer widerwillig zu einem Schrank gegangen, hatte den doppelten Boden angehoben und ein Buch in lila Leinen hervorgezogen. Es geziemte sich nicht für einen Pfarrer, diesen Schund zu lesen, aber insgeheim wünschte er sich, die Bibel wäre annähernd so spannend.

Sägesser trug die Szene der Jagd vor Saleh gern nach Sonnenuntergang bei Kerzenlicht vor, voller Inbrunst. Hans band sich ein Küchentuch um den Kopf, fuchtelte mit einer Haselrute vor des Pfarrers Nase herum und brüllte: »Ay, Käptn!« und »Nieder mit den Türken!«.