Lüste und Leichen - Svend Åge Madsen - E-Book

Lüste und Leichen E-Book

Svend Åge Madsen

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Beschreibung

Madsen erzählt eine durchgehende Geschichte, die vier Stilebenen hat, wobei eine Stilebene unmerklich zur anderen wechselt: Vom Kriminalroman zum Liebesroman, vom Pornoroman zum Science-Fiction-Roman. Die Trivialstruktur dieses Bandes ist bis in die Adjektivumkehrungen der Sätze durchgeführt. Auswechslung von Subjekt und Objekt, die Verselbstständigung der Teile und ein jeweils um ein Haar Danebentreffen von Verb und Adjektiv kennzeichnen diesen brillanten Roman, der nach anfänglichen Leseschwierigkeiten zu einem grotesk spannenden Buch wird.

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Svend Åge Madsen

Lüste & Leichen

Aus dem Dänischen von Horst Schröder

Herausgegeben von Barbara Kalender

MÄRZ

Inhalt

Lüste und Leichen

Die Sonnen scheinen auf B. R., als er aus der Tür tritt, und veranlassen ihn, nach ihnen hochzublicken, erst nach der einen, die offenbar nicht die Absicht hat, sich zu verbergen, dann nach der anderen, die mit der ersten um die Wette scheint, darauf lässt B. R. seine Blicke von den Sonnen zum Nachbarhaus gleiten, welches sich nicht sonderlich verändert hat, seit er es zuletzt sah, und vom Nachbarhaus die Straße hinauf, sodass der Blick über verschiedene Hindernisse fast den Platz erreicht, während B. R. mit einer nur durch langjähriges Training erreichbaren Selbstverständlichkeit seine Tür abschließt, indem die eine Hand sich zum Schlüsselloch vortastet, die andere den Schlüssel hineinsteckt, ohne dass er dem besondere Aufmerksamkeit schenken muss. Worauf B. R. die Straße überquert, weil ihn die Sonnen dort leichter erreichen können, auf der Höhe von Chabis Haus abbiegt und die schwach abfallende Straße hinaufgeht, parallel, wenn auch in einigem Abstand von der einen Häuserreihe. Sodass Haus an Haus an ihm vorbei nach hinten abgeht, während er sich dem Marktplatz nähert, überzeugt, dass alles wie normal vor sich gehen wird, oder ziemlich normal, mit den geringfügigen Abweichungen, die unausbleiblich von Mal zu Mal eintreffen, ohne dass sie jedoch zu einer Abweichung im eigentlichen Sinne führen, überzeugt, dass alles normal vor sich gehen wird, ohne die geringste Ahnung, was ihm heute bevorsteht. Weshalb B. R., als er den Platz erreicht hat, ihn gelassen wie gewöhnlich überquert, in Richtung dessen grünen Teils, in Richtung des großen Baums, an dem der zerrissene Papierfetzen schlaff herabhängt, ohne dass der Wind stark genug wäre, ihn in Bewegung zu versetzen, in Richtung der leeren Bank, deren eines Ende von den Sonnen beschienen wird, während das andere sich in dem tiefen Schatten befindet, den der große Baumstamm wirft, ohne dass B. R. jedoch die Einladung der Bank annimmt, sondern sich in dem dunkelsten Schatten anbringt, den der große Baum wirft, den Rücken dessen Stamm zugewandt, all dies, während er sein Taschenmesser aus seiner Jackentasche genommen hat, und damit beschäftigt ist, es zu öffnen, die Nägel der einen Hand in der Klingenrille vergraben, und seine Augen über den Platz wandern, wo sie an einem Ende an der Melonenfrau vorübergehen, die unermüdlich an ihrem Stand steht, und an ihrem Kunden, und wieder zurück über das holprige Pflaster des Platzes, bis sie vor seinen Füßen innehalten, und er will sich gerade bücken, das Messer, das jetzt offen ist, in der Hand, als er die schon begonnene Bewegung plötzlich abbremst, vielleicht hat er doch eine Ahnung von etwas Ungewöhnlichem, vielleicht sah er auch, als er vorher den Platz überquerte, ohne genauer darauf zu achten, einen Schimmer von etwas Weißem unter der Bank, das dort nichts zu suchen hat, sodass diese Ahnung oder vielleicht auch jener flüchtige Schimmer ihm jetzt erst richtig zu Bewusstsein gekommen ist, darum wird die schon begonnene Bewegung abgebremst, und er bleibt stehen, auch das in dieser Situation befremdlich unnütze Messer in der Hand, bleibt einen Augenblick stehen, bevor er sich zur Lostbank unter dem zerfetzten Plakat hindreht und einen Schritt nähertritt, und sich darauf herabbückt, und sofort eines Armes ansichtig wird, der unter dieser ungewöhnlichen Stelle hervorschaut. Und überrascht bemerkt, als er die fremde Hand in die Hand nimmt, um den dazugehörigen Menschen aus dessen Versteck zu ziehen, dass die Hand sich kalt und starr anfühlt, und vor Verblüffung über diese unerwartete Wahrnehmung loslässt, sich dann aber noch entschließt, sie zu ergreifen, und mit beiden Händen den Körper von etwas losreißt, was Widerstand leistet, und den schweren, unhandlichen Körper heraushievt in sein Tageslicht, nur dadurch, dass er an der Hand zieht, die sich zuerst darbot. Und während er gleichzeitig feststellt, dass der Körper, der nun verkrümmt daliegt, dass der Körper ein Mann gewesen war, den er kannte, und sich gleichzeitig nach einer Fortsetzung dieses Geschehens umblickt, weil er sich in einem Handlungsvakuum befindet, in dem nichts weiter geschehen will und nur von Weitem der Frau am Stand ansichtig wird, deren Aufmerksamkeit nicht dieser Richtung zugewandt ist, und auf seine Hände schaut, die noch immer, nutzlos, den leblosen Arm umklammern, der mit einem unnatürlichen Laut herunterfällt, als seine Hände loslassen, weil er sich entschließt, die wenigen Schritte bis zum nächsten Haus zu gehen, in dem Finder wohnt, um ihn hinzuziehen, damit sie gemeinsam einen Beschluss fassen können, überzeugt, dass der Körper in ein paar Sekunden, die jene Handlung beanspruchen wird, nicht den Platz verlassen wird und auch nicht irgendwie rascher wiederbelebt werden kann, wenn er überhaupt noch wiederbelebt werden kann, denn ihm fällt im Augenblick keine brauchbare Behandlungsmethode ein, weshalb er mit der einen Hand an Finders Tür hämmert, und mit der anderen ausdauernd auf die Klingel drückt.

Hanne Schäfer hat eine gute Erziehung genossen, etwas streng, aber immer gerecht. Regelmäßigkeit war dabei eines der Grundprinzipien. Deshalb will sie in diesem Augenblick spazieren gehen, so wie sie es sich zur Gewohnheit gemacht hat. Sie hat sich zurechtgemacht und das Haus ein bisschen in Ordnung gebracht. Es ist nicht nett, etwas zu verlassen, wenn man keine Lust hat, wieder dahin zurückzukehren. Sie schaut sich noch einmal um und überzeugt sich, dass sie ihr Haus mit gutem Gewissen verlassen kann. Das Haus ist nicht groß, aber gut eingerichtet, und daher für Hannes Bedürfnisse ausreichend. Es hat ein gemütliches Wohnzimmer, das einen warmen und anheimelnden Eindruck macht, sobald man es betritt. Die Küche ist ein bisschen eng, aber doch groß genug für die einfachen Mahlzeiten, die sie sich selbst zubereitet. Es muss zugegeben werden, dass das Schlafzimmer auch nicht besonders geräumig ist, aber für die paar Handlungen, die man in diesem Raum ausführt, reicht es dennoch völlig aus. Sie hat darin Platz sowohl für ihr Bett als auch für einen Kleiderschrank, sowie für einen kleinen Toilettentisch in einer Ecke, so praktisch angebracht, dass sie sich genau vor dessen Spiegel befindet, wenn sie am Fußende des Bettes sitzt.

Es wird offenbar warm. Schon jetzt kann sie bequem mit dem dünnen Mantel auskommen, den sie über dem warmen Kleid trägt, das sie kürzlich selbst genäht hat. Bei jedem Schritt, den sie macht, spürt sie, dass ihre Schenkel aneinanderreiben, nur durch die dünnen Strümpfe voneinander getrennt, weil sie diesmal ausnahmsweise keine wollenen Unterhosen unter dem Kleid anzog. Ihr Weg mündet geradewegs in den großen Platz. Als sie ihn erreicht, sieht sie, dass er fast völlig leer ist. Zu ihrer Rechten errichtet die Melonenfrau ihren Stand für den bevorstehenden Verkauf. Drüben, am anderen Ende, sieht sie, dass Finder vergessen hat, seine Haustür zu schließen.

Als ihr Weg sie jedoch näher an den großen Baum führt, entdeckt sie, dass ihre Annahme, jener Teil des Platzes sei völlig leer, falsch war, denn auf der Lostbank liegt ein Mann und schläft.

Sie macht noch ein paar Schritte, bleibt dann aber stehen, aus Furcht, sie könne sich wieder getäuscht haben, als sie annahm, der Mann schlafe, denn seine Lage ist für einen Schläfer recht ungewöhnlich.

Deshalb wendet sie sich ein wenig nach links und strebt nun direkt auf den Mann vor der Bank zu. Ihr fällt auf, dass dies außerdem eine recht merkwürdige Stelle ist, um sich schlafen zu legen.

Als sie sich erneut umblickt, wird ihr klar, dass Finder offensichtlich nicht vergessen hat, seine Haustür zu schließen, sondern sie geöffnet hat, um durch sie hinauszugehen, denn gerade in diesem Augenblick kommt er mit großer Geschwindigkeit die Treppe herunter. Und hinter ihm B. R., der es anscheinend ebenfalls sehr eilig hat.

Sie sieht, dass die beiden Männer auf den Schläfer zustreben, genau wie sie selbst es tut. Ein paar Schritte, bevor sie den Körper erreicht, bleibt sie stehen und sieht, dass dies Tolb ist, der da auf der Erde liegt, und dass er nicht schläft, denn sein Hemd ist von etwas gefärbt, was nur Blut sein kann.

Finder hat seinen Krug genommen und ist dabei, seine Treppe herunterzukommen.

Er macht sich Mut, damit ihn der Anblick, dem er entgegengeht, nicht erschrecken wird.

Das, was er zuerst zur Ansicht auswählt, kann niemanden erschrecken. Kurz vor der Lostbank trippelt und starrt Hanne Schäfer mit den Augen und auf die Beine.

Hinter Finder kommt B. R. laut und vernehmlich die Treppe herunter, außer Atem.

Finders Haus ist an diesem Tag praktisch am Platz angebracht, dergestalt, dass sich nur ein paar Schritte zwischen ihm und der Bank befinden.

Als sie die Bank erreichen, liegt ein Mann davor. Der Mann ist Tolb, der genau am anderen Ende des Platzes wohnte, solange er lebte. Denn er hat sich vor die Bank gelegt, weil er tot ist, weshalb Blut aus ihm herausgelaufen ist und sein Hemd gefärbt hat, grünlich.

– Er ist tot, sagt Hanne.

Sie kann spüren, wie der Wind in ihrem kurzen Nackenhaar spielt, aber hoffentlich richtet er kein Unheil an.

– Er lag unter der Bank, als ich hierherkam, sagt B. R.

Hanne Schäfer nickt. Finder stellt seinen Krug auf die Bank, beugt sich über Tolb und nickt.

– Und streckte nur eine Hand heraus, damit ich ihn sehen konnte und daran herausziehen, obwohl sie ganz starr war, und er festhing.

Finders Hände und Augen untersuchen von Weitem Tolbs Körper, der sich tot und unbeweglich verhält.

Als seine Hand über die tote Brust streicht, wo sich das meiste Blut angesammelt hat, hält er inne und blickt nach oben und nach unten und nach oben.

– Hier in der Brust fehlt ein Messer, sagt er.

B. R. bückt sich herab und nimmt den Körper vor ihm in Augenschein, um selbst festzustellen, dass des Toten Blut, das sich über dessen Hemd ausgebreitet hat, von dem Loch herrührt, auf das Finder deutet, unter dem Hemd des Toten, das Finder anhebt, um deutlich das Loch in des Toten Brust vorweisen zu können, welches er behauptet gefunden zu haben und von dem offensichtlich das Blut herausgeströmt ist und große Teile vom Hemd des Toten gefärbt hat.

– Das sieht fast so aus, als ob man ein Messer oder etwas Ähnliches in den da gestochen hat, sagt B. R.

– Hat jemand ein Messer aus ihm herausgezogen?, sagt Hanne.

Sie blieb aufrecht stehen, obwohl die beiden Männer sich herabgebeugt hatten. Sie hat sich nie etwas aus Gewalt gemacht, sondern friedlichere Beschäftigungen vorgezogen, ihren Garten und ihr Nähzeug. Die beiden Männer blicken sich an, schauen wieder unter Tolbs Hemd, dessen Knöpfe am Hals offen sind.

– Das gibt eine Menge Ärger, wenn das herauskommt, sagt B. R.

– Ja, wenn es herauskommt, sagt Finder.

– Obwohl es eigentlich nicht viele gibt, die ihn vermissen werden, sagt B. R. Er war ja nicht gerade der angenehmste Zeitgenosse.

Finder sieht, dass B. R.s letzte Worte Hannes Wangen färben, leicht gelblich.

Hanne fängt Finders Blick auf, sie spürt, wie ihre Wangen heiß werden.

– Nein, es gibt sicher viele, die allen Grund haben, mit dem was passiert ist, zufrieden zu sein, sagt sie.

Finder ist inzwischen damit beschäftigt, den übrigen Körper zu untersuchen. Offenbar entdeckt er nichts Weiteres.

– Wenn es herauskommt, sagt er.

– Aber so gesehen ist es ja herausgekommen, sagt B. R., ich habe den Arm ergriffen, der hervorschaute und das hervorgezogen, was versteckt unter der Bank gelegen hatte.

Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, die Sonnen wärmen und kein Wind rührt sich, die Luftbewegung ist so gering, dass das Reglement an dem großen Baum schlaff herunterhängt, ohne zu flattern. Er richtet sich auf und sieht, dass die Melonenfrau in eine andere Richtung sieht, sie hat offensichtlich nichts außergewöhnliches bemerkt, ansonsten liegt der große Platz verlassen da, bis auf die Frau, die herumsteht und bleich aussieht und den alten Tolb betrachtet, den man für schlafend halten könnte, wenn nur das Hemd nicht so blutig gewesen wäre, und den Mann, der gerade dabei ist, sich wieder aufzurichten, nachdem er das Hemd wieder in Ordnung gebracht hat, und der über dieses oder jenes redet.

– Wenn wir ihn nur einfach irgendwo unterbringen, wo er niemandem im Weg ist, dann sparen wir vielen eine Menge Ärger, sagt Finder.

Er hat seinen Krug ergriffen, den er vorher auf die Lostbank gestellt hatte, zu der er bald hätte gehen müssen, um sich mit Chabi zu treffen.

Er schaut sich um. Drüben in Karens Haus war vielleicht gerade ein Schatten gewesen, der sie gesehen haben könnte. Das könnte der Hausgeist gewesen sein, der oft dasitzt und herausschaut, als hätte er Lust, sich in der Welt umzusehen.

Die Frau am Stand packt offensichtlich gerade zusammen, sie kann also auch nichts gesehen haben. Sodass sich B. R. plötzlich dabei ertappt, wie er sich, schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit, mit Tolbs kalten Armen abmüht, diesmal jedoch mit sicherem Griff um beide, Tolb, auf dessen Bauch Finders Krug angebracht ist, denn als er zunächst versuchte, Tolbs Beine mit seinem Krug in der Hand anzuheben, entglitt ihm das eine Bein und fiel mit dem gleichen unnatürlichen Laut zur Erde, den B. R. hörte, als er den Arm losließ, nachdem er den Körper aus dessen Versteck gezerrt hatte, sodass Finder daraufhin den Krug ein wenig respektlos auf dem Bauch des Toten anbrachte, woraufhin er wieder dessen Beine anhob, diesmal jedoch ohne sie wieder loszulassen, sodass sie nun vorwärtsgehen, er zuerst, Finder zuletzt und der Tote dazwischen, und etwas vorneweg Hanne Schäfer, die sie warnen soll, falls jemand auftaucht, der diesen merkwürdigen Umzug besser nicht sehen sollte, zu Hannes Haus, weil es sich sicher nicht vermeiden ließe, dass sie jemand sähe, falls sie den Toten in dessen eigenes Haus trügen, und weil Finders Haus als zu unsicher und unberechenbar angesehen werden musste, als dass sie es wagen könnten, dort eine Leiche unterzubringen, sodass die einzig verbleibende Möglichkeit Hannes Haus war, das nur ein kleines Stück oberhalb der engen Gasse liegt.

Finder bemerkt, dass die Beine schon eine Zeit lang drohen, aus seinen Händen zu gleiten. Der Krug schaukelt, bringt aber nicht den Mut auf, mit einem fürchterlichen Getöse herunterzufallen. Hanne hat die Ecke erreicht, welche ihre Straße mit dem Marktplatz verbindet. Er wählt festzustellen, dass der Schatten in Karens Haus nicht von einer Person herrührt, die infolgedessen auch nicht damit beschäftigt sein kann, ihren und Tolbs gemeinsamen Abgang zu beobachten.

Plötzlich muss er B. R. zum Stehen bringen, weil Hanne nicht weitergeht, als sie die Ecke ihrer Straße erreicht hat. Und darauf ihre Schritte, die zu ihnen zurückkehren, und zu B. R., der vorne geht.

– Wartet einen Moment, da sitzt jemand an der Straße, sagt sie. Sie streicht über ihren Mantel, um das unbehagliche Gefühl loszuwerden, es klebe Blut an ihr. Sie überzeugt sich, dass die beiden Träger ihr Flüstern verstanden haben und geht zur Straße zurück.

Es ist schon wieder viel wärmer geworden. Sie verspürt ein wenig Schweiß auf der Stirn. Das kommt durch die Anspannung, in die sie dieses Erlebnis versetzt.

Sie überlegt, wo in ihrem Haus die Leiche am wenigsten zur Last fallen würde. Sie macht sich klar, dass sie am besten aufgehoben wäre, falls es den Männern gelänge, sie durch die Dachbodenluke zu schieben. Sie ist nicht sonderlich daran interessiert, die Leiche unter ihrem Bett zu haben.

Chabi Oguno hat das, was er ist, auf etwas angebracht, das im Augenblick flach und hart wie eine Treppenstufe ist. Er sitzt und betrachtet das, was gerade dabei ist sich aus einigen langen, dürren Hölzchen in dünne hellgrüne Flächen zu verwandeln, durch die sich die Sonnenstrahlen hindurchbewegen, während immer mehr Zweige zu immer mehr hellgrünen, zarten Blättern werden.

Und auf die gleiche Weise entfaltet sich etwas innen in Chabi, was vorher ausgetrocknet und verdorrt war, und wird zu etwas Warmem und Grünem.

Die Wärme und die Luft umfließen ihn. Und das Rote ihm gegenüber, in dem sich Hanne Schäfer aufzuhalten pflegt, verändert sich nur ganz langsam vor seinen Augen. Und der Stein, auf dem er sitzt, wird langsam wärmer und wärmer, bleibt aber immer noch angenehm. Die warme Luft lässt die Straße und die Häuser flimmern und viele ihrer verschiedenen Formen annehmen.

Als er die Außensicht abschaltet, um stattdessen nach innen zu sehen, spürt er alle inneren Regungen seines Körpers, alles was hart und starr war weicher und runder werden. Und der Körper verlangt nach etwas Weichem und Nachgiebigem, nicht nach so etwas wie dem Stein, der immerfort versucht, seine harte Oberfläche zu erhalten, ohne dass dies völlig gelänge, aber auch ohne dass der Stein sich schon völlig entgegenkommend gezeigt hätte.

Als er wieder nach außen blickt, hat sich das Grüne noch weiter ausgebreitet, und das Rote, worin Hanne wohnt, ist schon teilweise vom Grünen verdeckt, das sich von oben nach unten ausdehnt, und sich von unten nach oben ausdehnt. Und der Weg, der sich ständig vor Wärme krümmt, wurde um eine Gestalt erweitert, die im Begriff ist, heller und heller zu werden.

Die Gestalt, die größer wird und einen hellblauen Mantel erhält, der sich von dem Hellgrünen abhebt, und der über dem unruhigen Weg hin- und herschwingt. Und das Gesicht mit dem kurzen braunen Haar, das für eine Weile zu Hanne Schäfer wird. Und das Gesicht, das sich öffnet und zu einem sanften, weißen Lächeln wird, das sich auf ihn zubewegt.

Chabi lässt sein Gesicht lächeln, und wendet es der Gestalt zu, die ihren Weg fortsetzt. Die Gestalt wird für einen Augenblick zur Seitenansicht Hannes. Das Gesicht erhält eine kleine Nase, die ein wenig nach oben weist, und die Farbe des Gesichtes wird etwas brauner. Und dann wird die Gestalt zur Rückseite.

Hannes, mit den vielen braunen Haaren, die sich nach innen auf den Nacken zubewegen, und sich dann nach außen in einer weichen Kurve vom Nacken wegbewegen. Und die Gestalt beginnt langsam, kleiner zu werden, die Farben beginnen sich mit dem Grau der Straße zu verbinden, und mit dem Hellgrün der Bäume.

Chabi Oguno lässt seinen Kopf rasch hin- und herpendeln, um das, was darin zu festsitzt, zu lösen. Er erhebt sich und lässt sich den Weg entgegenkommen, sich von ihm überholen, ihn hinter sich weggleiten und sich doch ständig erneuern, sodass sich ihm beständig neue Bäume nähern, an ihm vorübergleiten und hinter ihm verschwinden.

Die Gestalt hat aufgehört, kleiner zu werden, sie bewegt sich gleichmäßig in Bezug auf die Sträucher am Wegesrand, und das braune Haar wippt auf den Nacken zu und wieder vom Nacken fort, aber die Gestalt behält ihre Größe bei, und verändert nur ganz leicht ihre Farbe, wenn sie an einem Baum vorübergeht, der einige von den Strahlen der Sonnen aufhält, wenn sie an einem Haus vorbeigeht, das seine rote Farbe über die Gestalt wirft.

Hanne Schäfer lächelte, als sie an Chabi Oguno vorüberging, und er lächelte freundlich zurück. Dennoch ging sie, ohne zu zögern, an ihm vorüber, wie sie es abgemacht hatten, und erweckte den Eindruck, als habe sie etwas am anderen Ende des Weges zu erledigen.

Wäre es etwas kälter gewesen, hätte sie den roten Mantel angezogen. Der wirkt irgendwie etwas vornehmer. Dieser hier knittert so leicht.

Sie denkt an Chabi, der auf einer Treppenstufe saß und ins Leere blickte. Sie ist nun schon ein ganzes Stück an ihm vorüber, sicher hat er sich nun erhoben und schlendert hinter ihr her.

Sie überlegt, wohin sie sich wenden soll, sobald sie das Ende der Gasse erreicht hat. Geht sie nach links, dann muss sie durch ein Stück Wald. Chabi wird sicher nicht glauben, dass sie etwas in dieser Richtung zu erledigen habe, selbst wenn dies für sie der schnellste Weg nach Hause ist.

Sie glaubt zu spüren, dass Chabis Blick auf ihren Beinen ruht und diese erwärmt, aber das ist sicher nur Einbildung. Und gleich darauf scheint es als berührten seine Augen ihr Haar, sodass ihr bei dem Gedanken ganz warm im Nacken wird.

Sie schämt sich beinahe, als sie bemerkt, wie sich bei jedem Schritt, den sie macht, die Oberteile ihrer Beine aneinander reiben. Das hat seine Ursache darin, dass sie heute keine wollenen Unterhosen über die Höschen gezogen hat wie sonst.

Schnell denkt sie daran, wie rasch die Sonnen warm geworden sind. Vor allem auf der einen Wange kann sie es spüren.

Dieses Gefühl, dass Chabi in einigem Abstand hinter ihr herschlendert, ist angenehm und gleichzeitig ein wenig unbehaglich. Sie ist sicher nervös geworden, weil sie dabei war, als Tolb auf dem Platz gefunden wurde, und weil leicht irgendjemand Finder und B. R. beobachten kann, während sie dabei sind, Tolb zu entfernen und in ihr Haus zu tragen.

Finder sieht, dass Chabi Oguno, der Hanne nachgeht, verschwunden ist, als er sich an der Ecke nach rechts wandte. Er geht zu B. R. zurück, der wartet und aufpasst, dass die Leiche nicht gesehen wird.

– Er ist fort, sagt er.

Sie fassen Arme und Beine und die Prozession bewegt sich weiter die enge Gasse hinauf.

Die Melonenfrau packt gerade zusammen, und sie gehen so dicht an Karens Haus vorbei, dass niemand imstande wäre, sie von innen zu sehen.

Er blickt auf B. R., der vorne geht, dicht gefolgt von Tolbs Körper, auf dessen Bauch immer noch der Krug schaukelt.

Als B. R. den Eingang zu Hannes Haus erreicht, wendet er sich um und legt dann die Leiche auf den Boden, und Finder macht es ebenso, und fischt in seiner Tasche nach den Schlüsseln, die ihm Hanne Schäfer gab, bevor sie ging, um Chabi fortzulocken, um zu vermeiden, dass auch er in die Geschichte mit hineingezogen würde, damit sie selbst aufschließen und sich mit der Leiche hineinschmuggeln können, von der er jetzt bald genug hat, und erwischt zuerst seine eigenen Schlüssel, die er in die Tasche zurückfallen lässt, während Finder herumsteht und ungeduldig und nervös aussieht, obwohl er selbst diesen beschwerlichen Einfall hatte, und erst dann Hannes Schlüsselbund, der kleiner als sein eigener ist, weil er nur zwei Schlüssel enthält, einen großen, der sicher für die Haustüre ist, den sie also jetzt anwenden müssen, und einen kleinen, der für alles Mögliche sein kann. B. R. versucht, den großen Schlüssel in das Schlüsselloch zu stecken, und er passt, und er wischt sich mit dem Arm einige Schweißtropfen von der Stirn, bevor sie ihm in die Augen rinnen, was sich darauf zurückführen lässt, dass die Sonnen pausenlos herunterbrennen, und der Körper des Alten schwerer war, als man zunächst glauben mochte, während sich die Tür mühelos öffnet, ohne Knarren, und der Flur ist klein, mit vier Fotografien an der Wand, eine neben der anderen, und einem großen Spiegel, und einem eigentümlichen Geruch, der süßlich und durchdringend ist, wahrscheinlich eben der Geruch, der in den Häusern von Damen herrscht, der Geruch, der ihm die beiden Treppenstufen herunter entgegenkommt, so als ob es ihn drängte, das Haus zu verlassen, und in seine Nase dringt während er sich herunterbeugt und noch einmal die Arme ergreift, die Arme, die er jetzt schon überhaupt nicht mehr als Arme auffasst, und die daher auch nicht länger so unangenehm bei der Berührung wirken, selbst wenn sie auch weiterhin genauso kalt und starr sind, und er fragt sich, ob die Beine, die Finder anhebt, ob die Beine sich ebenso anfühlen, denn wenn er auch jetzt schon recht oft die Hände der Leiche angefasst hat, hat er nicht die Beine berührt, die Finder nun anhebt, ohne dass es notwendig ist, dass der eine oder andere von ihnen ein Wort darüber verliert.

Als Finder den Körper anhebt, sieht er, dass das, was einmal Tolb war, etwas verliert. Er sagt B. R., dass er warten soll, und lässt auch selbst die Last los. Gleichzeitig sieht er einen Bleistift und einen Kugelschreiber auf der Erde, die Tolbs Körper verloren hat, und hebt sie auf, und legt sie in die Tasche, auf Tolb.

Tolbs Körper passt gerade in den Flur, während sie die Tür schließen und selbst auch dort sind. Finder nimmt seinen Krug von dem Bauch der Leiche und stellt ihn an der Haustür ab, nachdem sie geschlossen wurde.

Sie stellen eine Stehleiter unter die Bodenluke, und klappen sie auseinander, und bringen sich beide auf ihr an, ein jeder auf seiner Seite. Sie fassen die Leiche, als sei noch Leben drin. Was aber nicht zutrifft.

Mit einer extra Anstrengung bewegen sie sich mit einem Ruck nach oben, und stecken den Kopf durch das von der Luke gelassene Loch. Aber der stößt plötzlich offensichtlich mit einem dumpfen Laut an. Auch der nächste Versuch zeitigt den gleichen Laut.

Sie müssen den Körper wieder auf dem Fußboden anbringen, wo kaum noch Platz dafür ist, weil schließlich die Stiege dasteht. Der Laut stammt von einer alten Kiste Bücher, die sie gemeinsam auf dem Fußboden anbringen, wo überhaupt kein Platz mehr ist. Der Krug muss auf der Kiste stehen.

Diesmal geht die Leiche ohne Anstrengung durch die Öffnung, und legt sich so günstig, dass die Füße hineingeschoben werden können, und die Luke zugezogen werden kann.

Hanne Schäfer geht an einer Reihe einsamer Häuser vorbei. Zunächst jenes, in dem der Maler wohnt, danach jenes, in dem der wohnt, der sich aufschneidet. Sie blickt öfter auf die Bäume am Straßenrand und auf die Felder als auf die Häuser. Das letzte der langen Reihe ist jenes, in dem der Verfasser wohnt.

Jetzt ist sie schon so weit gegangen, dass die andern Tolb von dem Wege geschafft haben müssen. Als sie eine Bank erreicht, kommt sie deshalb darauf, dass sie sitzen und ein wenig ausruhen kann.

Der Rücken vor Chabi wird zu Hannes Seite, die sich auf einer Sitzgelegenheit anbringt. Ihre Gestalt wird nun langsam größer und deutlicher. Ihr Gesicht erhält zwei Augen die froh aussehen, und ihr Mund, der aus zwei roten Bogen besteht, wird breiter und weiß.

Chabi spürt etwas von dem, was vorhin in ihm hellgrün und warm wurde, in das Gesicht hinausfließen und es verändern. Ihre Augen und ihr Lächeln werden wieder zu einem Profil, und darauf zu dem kurzen braunen Haar, das sich dem Nacken nähert und sich von ihm entfernt, und wieder zum Profil, das in der Zwischenzeit größer geworden ist.

Als er sich bei dem Stück Holz befindet, das zurechtgeschnitten wurde, um darauf zu sitzen, mit dem Hanne Schäfers Körper schon Kontakt aufgenommen hat, entschließt er sich selbst darauf anzubringen, anstatt den Weg weiterhin an sich vorbeigleiten zu lassen.

– Guten Tag, sagt Hanne und lächelt.

– Guten Tag, sagt Chabi und lächelt.

Hanne denkt ein bisschen nach. Er sitzt am anderen Ende der Bank. Durch ihren dünnen Mantel spürt sie die Bank, die noch nicht richtig warm geworden ist.

– Das Wetter ist herrlich, sagt sie.

Chabi hört das Summen der Felder zu einigen leichten Flötentönen werden, die wieder zu geschäftigem Summen werden. Die Töne entstehen und hören auf zu bestehen, unablässig, mit vielfarbigem Klang.

– Ja, sagt er. Die Vögel sind froh.

Hanne streicht über ihren Mantel. Darauf lässt sie ihre Hand nach unten fallen und lässt sie auf der Bank zwischen ihnen liegen bleiben. Sie kann sehen, dass in den einsamen Häusern da drüben Verschiedenes vor sich geht, aber sie ist zu weit entfernt, als dass sie erkennen könnte, womit die Menschen sich dort beschäftigen.

Sie nickt, und zeigt, dass sie den Vögeln lauscht.

– Ich erkenne deinen Nacken wieder, einen ähnlichen hattest du in der Schule, sagt Chabi und lächelt ein bisschen.

Er kann einen zarten Nacken mit einigen hellen, losen Haaren sehen, der sich schließlich in diesen braunen Nacken verwandelt hat, der fast von dem losen braunen Haar verborgen wird.

– So, sagt Hanne, und versucht zu lächeln. Ich saß ja auch direkt vor dir.