Mein Leben in deinem - Jojo Moyes - E-Book
SONDERANGEBOT

Mein Leben in deinem E-Book

Jojo Moyes

5,0
21,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit «Ein ganzes halbes Jahr» hat Jojo Moyes Millionen Leser:innen-Herzen erobert. Ihre Romane sind unvergleichlich, lassen uns mitfühlen, bringen uns zum Weinen und zum Lachen. In ihrem neuen Roman erzählt Jojo Moyes die Geschichte zweier ungleicher Frauen, die das Schicksal zusammenführt.  Einmal in das Leben einer anderen schlüpfen, davon träumt Sam, wenn ihr der Alltag mal wieder über den Kopf wächst. Als sie im Sportstudio versehentlich die falsche Tasche mitnimmt, kann sie nicht widerstehen. Der Inhalt ist so anders als ihre schlichten Klamotten. Eine wunderschöne Chanel-Jacke und ein Paar glamouröse High Heels. Als Sam die Kleidungsstücke anzieht, fühlt sie sich für einen Moment wie eine andere Frau. Eine Frau ohne Geldsorgen, ohne Ehemann, der nur noch auf dem Sofa sitzt - sie fühlt sich unbeschwert, selbstbewusst, frei.  Nisha ist diese Frau. Von außen scheint ihr Leben perfekt. Ein erfolgreicher, wohlhabender Mann, ein Kleiderschrank voller Designerstücke. Doch Nisha war nicht immer die Frau, die sie heute ist. Und ihr sorgsam aufgebautes Leben droht gerade wie ein Kartenhaus einzustürzen. Bis ihr Sam begegnet. Denn manchmal kann ein einziger Moment alles verändern.  Jojo Moyes erzählt die Geschichte von Sam und Nisha, sie erzählt von Freundschaft, von Solidarität unter Frauen. Davon, was es auslösen kann, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Und von dem Glück einer zweiten Chance.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 631

Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jojo Moyes

Mein Leben in deinem

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Karolina Fell

 

Über dieses Buch

Von dem Glück einer zweiten Chance

 

Einmal in das Leben einer anderen schlüpfen, davon träumt Sam, wenn ihr der Alltag mal wieder über den Kopf wächst. Als sie im Sportstudio versehentlich die falsche Tasche mitnimmt, kann Sam nicht widerstehen. Der Inhalt ist so anders als ihre schlichten Klamotten. Eine wunderschöne Chanel-Jacke und ein Paar glamouröse High Heels. Als Sam die Kleidungsstücke anzieht, fühlt sie sich für einen Moment wie eine andere Frau. Eine Frau ohne Geldsorgen, ohne Ehemann, der nur noch auf dem Sofa sitzt – sie fühlt sich unbeschwert, selbstbewusst, frei.

Nisha ist diese Frau. Von außen scheint ihr Leben perfekt. Ein erfolgreicher, wohlhabender Mann, ein Kleiderschrank voller Designerstücke. Doch Nisha war nicht immer die Frau, die sie heute ist. Und ihr sorgsam aufgebautes Leben droht gerade wie ein Kartenhaus einzustürzen. Bis ihr Sam begegnet. Denn manchmal kann ein einziger Moment alles verändern.

 

Jojo Moyes erzählt die Geschichte zweier unterschiedlicher Frauen, die das Schicksal zusammenführt, sie erzählt von Freundschaft, von Solidarität unter Frauen. Davon, was es auslösen kann, die Welt mit anderen Augen zu sehen.

Vita

Jojo Moyes, geboren 1969, hat Journalistik studiert und für die «Sunday Morning Post» in Hongkong und den «Independent» in London gearbeitet. Der Roman «Ein ganzes halbes Jahr» machte sie international zur Bestsellerautorin. Zahlreiche weitere Nr.-1-Romane folgten. Jojo Moyes lebt mit ihrer Familie auf dem Land in Essex.

 

Karolina Fell hat schon viele große Autorinnen und Autoren ins Deutsche übertragen, u.a. Jojo Moyes, Bernard Cornwell und Kristin Hannah.

Impressum

Dieser Roman basiert auf der Kurzgeschichte «Krokodilschuhe» aus dem Band «Kleine Fluchten» von Jojo Moyes, Rowohlt Verlag GmbH, 2017.

 

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel «Someone Else’s Shoes» bei Penguin Random House, UK.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Someone Else’s Shoes» Copyright © 2023 by Jojo’s Mojo Ltd.

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung SO YEAH DESIGN, Gabi Braun

Coverabbildung Silke Schmidt

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01000-0

www.rowohlt.de

Für JWH

Erstes Kapitel

Sam starrt zu der langsam heller werdenden Zimmerdecke hinauf und macht ihre Atemübung, wie es ihr die Ärztin geraten hat, während sie versucht, ihre Fünf-Uhr-morgens-Gedanken daran zu hindern, sich zu einer riesigen schwarzen Wolke über ihrem Kopf zusammenzuballen.

Einatmen sechs Sekunden, drei halten, ausatmen sieben Sekunden.

Ich bin gesund, betet sie stumm herunter. Meine Familie ist gesund. Der Hund pinkelt nicht mehr in den Hausflur. Es ist was zu essen im Kühlschrank, und ich habe einen Job. Noch, fügt sie mit leichtem Bedauern hinzu, denn bei dem Gedanken an ihren Job zieht sich ihr der Magen zusammen.

Ihre Eltern leben noch. Auch wenn es ihr zugegebenermaßen schwerfällt, das ins geistige Dankbarkeitstagebuch aufzunehmen. Verdammt. Ihre Mutter wird am Sonntag garantiert eine spitze Bemerkung darüber machen, dass sie Phils Mutter viel öfter besuchen. Und zwar irgendwann zwischen dem Sherry und dem viel zu mächtigen Nachtisch, das ist so sicher wie der Tod, Steuern und diese einzelnen Kinnhaare. Sam stellt sich vor, wie sie sich mit einem höflichen Lächeln verteidigt. Na ja, Mum, Nancy hat gerade nach fünfzig Jahren Ehe ihren Mann verloren. Sie ist im Moment eben ein bisschen einsam.

Aber ihr habt sie auch ständig besucht, als er noch gelebt hat, oder nicht?, hört sie ihre Mutter zurückgeben.

Ja, aber ihr Mann lag im Sterben. Phil wollte seinen Vater so oft wie möglich sehen. Wir haben dort schließlich keine Partys gefeiert.

An diesem Punkt wird Sam bewusst, dass sie sich in ihrem Kopfkino wieder einmal einen Streit mit ihrer Mutter liefert, und sie zieht sich daraus zurück, versucht, ihn gedanklich in eine Schachtel zu legen und sie mit einem Deckel zu verschließen. Das hat sie mal in einer Zeitschrift gelesen. Aber der Deckel will einfach nicht draufbleiben. Ihr fällt auf, dass sie sich zurzeit häufig in Gedanken herumstreitet: bei der Arbeit mit ihrem Chef Simon, mit ihrer Mutter, mit dieser Frau, die sich gestern an der Kasse vorgedrängelt hat. Keine dieser Auseinandersetzungen führt sie im echten Leben. Sie beißt einfach die Zähne zusammen. Und versucht zu atmen.

Einatmen sechs Sekunden, drei halten, ausatmen sieben Sekunden.

Ich lebe nicht in einem Kriegsgebiet, denkt sie. Wenn ich den Hahn aufdrehe, fließt sauberes Wasser, und die Regale in den Supermärkten sind voll. Keine Explosionen, keine Schießereien. Kein Hunger. Das ist schließlich schon mal was. Trotzdem steigen ihr die Tränen in die Augen, wenn sie an diese armen Kinder in den Kriegsgebieten denkt. Sie muss ständig weinen. Cat sagt ihr immer wieder, sie soll eine Hormonersatztherapie machen, aber sie hat immer noch ihre Tage und Hormonpickel (das ist so was von ungerecht), und davon abgesehen bekommt man sowieso keinen Termin beim Arzt. Als sie das letzte Mal angerufen hat, hätte sie zwei Monate warten müssen. Und wenn ich inzwischen an einer tödlichen Krankheit sterbe?, hatte sie gedacht. Und sich in Gedanken mit der Sprechstundenhilfe herumgestritten.

Im echten Leben hatte sie einfach gesagt: «Oh, das dauert mir ein bisschen zu lange. Ich komme bestimmt auch so klar. Aber danke trotzdem.»

Sie wirft einen Blick nach rechts. Phil schläft, das Gesicht sogar im Traum sorgenvoll verzogen. Sie will den Arm ausstrecken und ihm übers Haar streichen, aber seit einiger Zeit wacht er sofort auf, wenn sie das macht, wirkt erschrocken und unglücklich, als hätte sie etwas Grausames getan.

Stattdessen faltet sie die Hände vor der Brust und versucht, eine entspannte Haltung einzunehmen. Ruhen ist genauso gut wie Schlaf, hat ihr mal jemand gesagt. Denk einfach an nichts und entspann deinen Körper. Lass die ganze Spannung los, die du in den Gliedern hast, von den Zehen aufwärts. Spüre die Schwere deiner Füße. Lass dieses Gefühl langsam in deine Knöchel aufsteigen, deine Knie, deine Hüften, deinen Mag…

Ach fuck, sagt eine Stimme in ihrem Kopf. Es ist Viertel vor sechs. Ich kann genauso gut aufstehen.

 

«Es ist keine Milch da», sagt Cat. Ihre Tochter starrt anklagend in den Kühlschrank, als warte sie darauf, dass durch Zauberhand welche auftaucht.

«Kannst du nicht schnell zum Laden gehen?»

«Ich hab keine Zeit», sagt Cat. «Ich muss meine Haare machen.»

«Tja, ich fürchte, ich habe auch keine Zeit.»

«Warum?»

«Weil ich zu dem Fitnessclub gehen muss, für den du mir einen Gutschein geschenkt hast. Der läuft morgen ab.»

«Aber den habe ich dir schon vor einem Jahr geschenkt! Außerdem hast du doch bestimmt eh kaum Zeit dort, wenn du hinterher noch zur Arbeit gehst, oder?»

«Ich habe ausgemacht, dass ich ein bisschen später komme. Wenigstens ist der Fitnessclub ganz nah beim Büro. Ich hatte einfach bisher keine Zeit.» Sie hat nie Zeit. Sie wiederholt das wie ein Mantra, zusammen mit «Ich bin so müde». Aber niemand hat je Zeit. Und jeder ist müde.

Cat zieht die Augenbrauen hoch. Für sie ist Selfcare eine Notwendigkeit, die vor prosaischeren Erfordernissen wie Geld, Wohnen oder Ernährung kommt.

«Ich sag’s dir immer wieder, Mum, wer rastet, der rostet», erklärt Cat, die mit kaum verhohlenem Horror das zunehmend verschwimmende Taille-Hüfte-Verhältnis ihrer Mutter beäugt. Sie schließt den Kühlschrank. «Mist. Ich versteh einfach nicht, wieso Dad nicht mal eine Packung Milch kaufen kann.»

«Schreib ihm einen Zettel», sagt Sam, während sie ihre Sachen zusammensucht. «Vielleicht fühlt er sich heute besser.»

«Und vielleicht friert heute die Hölle zu.»

Cat stolziert aus der Küche, wie es nur eine Neunzehnjährige kann. Ein paar Sekunden später hört Sam das wilde Rauschen ihres Föhns, und sie weiß, dass er in Cats Zimmer liegen bleibt, bis sie ihn zurückholt.

«Ich dachte eigentlich, du trinkst sowieso keine Kuhmilch mehr», ruft sie die Treppe hinauf.

Der Föhn wird kurz abgeschaltet. «Also jetzt nervst du einfach», kommt die Antwort. Sam macht ihren Badeanzug in der untersten Schublade der Flurkommode ausfindig und steckt ihn in ihre schwarze Sporttasche.

 

Sie schält sich gerade aus ihrem feuchten Badeanzug, als die Yummy Mummys hereinkommen. Mit schimmerndem Haar und gertenschlank nehmen sie den Raum in Besitz, reden laut durcheinander, erfüllen mit ihren Stimmen die miefige Stille der Umkleide, ohne Sam auch nur wahrzunehmen. Sie spürt, dass sich ihre kurzfristige Ausgeglichenheit, die sie durch zwanzig Bahnen im Wasser gewonnen hat, wie Nebel auflöst. Es hatte eine Stunde gedauert, bis ihr wieder eingefallen ist, dass sie diese Orte hasst; die gnadenlose Ausgrenzung, die diese sportgestählten Körper auszustrahlen scheinen, die Ecken, in die Sam und die anderen Pummeligen sich drücken, um nicht aufzufallen. Sie ist eine Million Mal an diesem Club vorbeigegangen und hat überlegt, ob sie hineingehen sollte. Ihr wird bewusst, dass sie sich nach der Begegnung mit dieser Sorte Frauen schlechter fühlt, als wenn sie überhaupt nicht hergekommen wäre.

«Hast du nachher noch Zeit für einen Kaffee, Nina? Ich dachte, wir könnten in dieses süße Café gehen. Das mit den Poke Bowls.»

«Total gern. Aber nur bis elf. Ich bringe Leonie zum Kieferorthopäden. Emma?»

«Oh Gott, unbedingt. Ich brauche ein bisschen Mädelszeit!»

Dies sind Frauen mit Designer-Sportoutfits, perfekt gestyltem Haar und Zeit für Cafébesuche. Dies sind Frauen, auf deren Sporttaschen echte Designer-Label prangen, anders als auf Sams gefakter Marc-Jacobs-Tasche, und deren Ehemänner beiläufig Umschläge mit fetten Bonuszahlungen auf glänzende Conran-Küchentische werfen. Diese Frauen fahren riesige SUVs, die niemals schmutzig werden, parken ständig in zweiter Reihe, verlangen Babyccinos von gestressten Baristas und schnalzen missbilligend mit der Zunge, wenn sie nicht genau nach ihren Wünschen zubereitet werden. Sie liegen nicht bis vier Uhr morgens wach und machen sich Sorgen wegen der Stromrechnung oder fühlen sich unbehaglich, wenn sie den neuen Chef grüßen mit seinem Anzug und seiner kaum verhohlenen Geringschätzung.

Sie haben keine Ehemänner, die bis mittags im Schlafanzug herumhängen und jedes Mal gehetzte Blicke aufsetzen, wenn ihre Frauen vorschlagen, vielleicht mal wieder eine Bewerbung zu schreiben. Sam ist in diesem gewissen Alter, in dem sich irgendwie nur das Falsche festzusetzen scheint: die Pfunde, die Furche zwischen ihren Augenbrauen, die Sorgen. Und währenddessen scheint ihr alles andere – die Sicherheit des Arbeitsplatzes, das Eheglück, ihre Träume – einfach zu entgleiten.

«Du kannst dir nicht vorstellen, wie sie dieses Jahr im Le Méridien die Preise erhöht haben», sagt eine der Frauen. Sie hat sich vorgebeugt, frottiert ihr kostspielig getöntes Haar. Sam muss sich seitwärts an ihr vorbeischlängeln, um sie nicht zu berühren.

«Doch, das weiß ich! Ich wollte für Weihnachten Mauritius buchen – unser übliches Ferienhaus ist jetzt vierzig Prozent teurer.»

«Ein echter Skandal ist das.»

Genau, es ist ein Skandal, denkt Sam. Wie schrecklich für euch alle. Sie denkt an das Wohnmobil, das Phil vor zwei Jahren gebraucht gekauft hat, um es instand zu setzen. Damit können wir übers Wochenende ans Meer fahren, hatte er fröhlich gesagt und zu dem riesenhaften Camper mit der großen Sonnenblume auf der Seite hinübergeschaut, der ihre Einfahrt versperrte. Doch dann war er nie weiter gekommen, als die Stoßstange zu reparieren. Seit seinem Katastrophenjahr steht der Wagen vor ihrem Haus, eine quälende, tägliche Erinnerung an das, was sie verloren haben.

Sam zieht ihren Slip unter dem Handtuch hoch, versucht, ihre bleiche Haut zu verbergen. Heute hat sie vier Termine mit wichtigen Kunden. In einer Dreiviertelstunde trifft sie Ted und Joel von der Druck- und Transportabteilung, und gemeinsam werden sie versuchen, diese für ihre Firma überlebenswichtigen Aufträge zu ergattern. Und sie wird versuchen, ihren Job zu retten. Vielleicht die Jobs von allen drei.

Also gar kein Druck hier.

«Ich denke, wir fahren dieses Jahr mal auf die Malediven. Bevor sie untergehen, wisst ihr?»

«Oh, gute Idee. Wir fanden es toll dort. Jammerschade, das mit den ganzen Überschwemmungen.»

Eine weitere Frau drängt sich an Sam vorbei, um ihren Spind zu öffnen. Sie ist dunkelhaarig wie Sam, vielleicht ein paar Jahre jünger, aber sie hat das durchtrainierte Aussehen eines Menschen, für den fordernde Workouts genauso an der Tagesordnung sind wie Peelings und Feuchtigkeitsmasken. Sie verbreitet einen kostspieligen Geruch, als würde er geradezu aus ihren Poren strömen.

Sam zieht ihr Handtuch enger um ihre blasse Orangenhaut und verschwindet um die Ecke zum Haartrockner. Als sie zurückkommt, sind die Frauen weg. Sie atmet erleichtert auf und lässt sich auf die feuchte Holzbank plumpsen. Sie überlegt, ob sie sich eine halbe Stunde auf eine der Wärmeliegen aus Marmor legen soll. Die Vorstellung hebt sofort ihre Laune. Eine halbe Stunde einfach in seliger Ruhe daliegen.

Im Spind hinter ihr summt ihr Handy. Sie greift in die Jackentasche und zieht es heraus.

Bist du fertig? Wir sind draußen.

 

Wieso?, tippt sie. Wir müssen erst heute Nachmittag bei Frampton sein.

 

Hat Simon dir das nicht gesagt? Termin ist auf zehn Uhr vorverlegt worden. Beeil dich – wir müssen los.

Entsetzt starrt sie ihr Handy an. Das bedeutet, dass sie in dreiundzwanzig Minuten beim ersten Termin sein muss. Sie stöhnt, windet sich in ihre Hose, schnappt sich die schwarze Sporttasche von der Bank und stürmt zum Parkplatz.

 

Der schmuddelige weiße Transporter mit dem GRAYSIDE PRINT SOLUTIONS-Schriftzug steht mit laufendem Motor an der Ausfahrt. Halb rennt, halb schlurft sie in den Flipflops des Fitnessclubs zu dem Wagen. Sie will die Latschen morgen zurückgeben, hat aber jetzt schon Schuldgefühle, als hätte sie ein Kapitalverbrechen begangen.

«Ich glaube, Simon hat’s auf dich abgesehen, Herzchen», sagt Ted, als sie in den Transporter steigt. Er rückt auf der durchgehenden Vorderbank zur Seite, damit sie Platz hat. Er riecht nach Zigarettenrauch und Old Spice.

«Wirklich?»

«Du musst ihn nur mal beobachten. Überprüft sämtliche Termine doppelt und dreifach mit Genevieve», sagt Joel und schlägt ruckhaft das Lenkrad ein. Seine Dreadlocks sind zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammengenommen, als hätte er Respekt vor dem Tag, der vor ihnen liegt.

«Es ist nicht mehr dasselbe seit der Übernahme, oder?», sagt Ted, während sie auf die Hauptstraße einbiegen. «Kommt mir vor, als würden wir jeden Tag auf Eiern laufen.»

Auf dem Armaturenbrett liegen zwei leere, mit Zuckerkrümeln übersäte Papiertüten, und Ted reicht ihr eine dritte mit einem riesigen, noch warmen Marmeladen-Donut.

«Bitte sehr», sagt er. «Frühstück für Gewinner.»

Sie sollte ihn nicht essen. Der Donut enthält mindestens doppelt so viele Kalorien, wie sie gerade beim Schwimmen verbrannt hat. Sie kann förmlich Cats missbilligendes Seufzen hören. Doch nach kurzem Zögern beißt sie hinein und schließt bei dem warmen, zuckrigen Trost die Augen. Dieser Tage genießt Sam auch noch die kleinste Freude.

«Genevieve hat ihn wieder am Telefon über Entlassungen reden hören», sagt Joel. «Sie meinte, als sie in sein Büro kam, hat er schnell das Thema gewechselt.»

Jedes Mal, wenn Sam «Entlassung» hört, ein Wort, das inzwischen wie eine gefangene Motte im Büro herumschwirrt, krampft sich ihr Magen zusammen. Sie weiß nicht, was werden soll, wenn auch noch sie ihre Arbeit verliert. Phil weigert sich, die Antidepressiva zu nehmen, die ihm der Arzt verschrieben hat. Er sagt, sie machen ihn schläfrig – als würde er nicht auch so fast immer bis elf schlafen.

«Dazu wird es nicht kommen», sagt Ted wenig überzeugend. «Sam wird uns heute den Auftrag reinbringen, oder etwa nicht?»

Ihr wird bewusst, dass beide sie anschauen. «Ja», sagt sie. Und dann, entschiedener: «Ja!»

Sie schminkt sich vor dem kleinen Spiegel in der Sonnenblende, flucht jedes Mal leise, wenn Joel über eine Unebenheit fährt, und reibt das Verschmierte mit einem angeleckten Finger weg. Sie überprüft ihr Haar, das ganz okay aussieht, angesichts der Umstände, und blättert durch den Ordner, um sicher zu sein, dass sie alle Zahlen parat hat. Sie hat noch eine vage Erinnerung an die Zeiten, in denen sie sich bei all diesen Sachen so richtig selbstsicher fühlte, als sie in einen Raum kommen konnte und wusste, dass sie gut in ihrem Job war. Komm schon, Sam, versuch einfach wieder dieser Mensch zu sein, sagt sie sich im Stillen. Und dann streift sie die Flipflops ab und greift in ihre Sporttasche, um ihre Schuhe herauszuholen.

«In fünf Minuten sind wir da», sagt Joel.

Erst in diesem Moment bemerkt Sam, dass die Tasche zwar aussieht wie ihre, aber nicht ihre ist. Diese Tasche enthält nämlich nicht ihre bequemen schwarzen Pumps, die bestens für lange Fußmärsche und Verhandlungen um Druckaufträge geeignet sind. Diese Tasche enthält ein Paar rote Kroko-Slingbacks von Christian Louboutin mit halsbrecherisch hohen Absätzen.

Sie zieht einen Schuh heraus und starrt ihn an. Sein Gewicht baumelt an einem Riemchen von ihrem Finger herab.

«Mein lieber Schwan», sagt Ted. «Ist der erste Termin im Nachtclub?»

Sam beugt sich vor, wühlt durch die Tasche, holt den zweiten Schuh hervor, eine Jeans, und dann eine säuberlich gefaltete, helle Chanel-Jacke.

«Oh mein Gott», sagt sie. «Das ist nicht meine. Ich hab die falsche Tasche mitgenommen. Wir müssen zurückfahren.»

«Keine Zeit», sagt Joel und schaut weiter geradeaus auf die Straße. «Wir sind so schon knapp dran.»

«Aber ich brauche meine Tasche.»

«Tut mir leid, Sam», sagt er. «Wir fahren später zurück. Kannst du nicht die Schuhe anziehen, die du im Fitnessclub angehabt hast?»

«Ich kann nicht in Flipflops zu einem Geschäftstermin gehen.»

«Und was ist mit den Schuhen da?»

«Das soll wohl ein Witz sein, oder?»

Ted nimmt ihr einen der Schuhe aus der Hand.

«Da hat sie recht, Joel. Diese Schuhe sehen nicht sehr … nach Sam aus.»

«Ach ja? Was sieht denn nach mir aus?»

«Na ja. Etwas Schlichtes. Du magst schlichte Sachen.» Er hält inne. «Zweckmäßige Sachen.»

«Du weißt ja, was man über solche Schuhe sagt, Ted», kommt es von Joel.

«Was denn?»

«Dass sie nicht zum Stehen gedacht sind.»

Sie kriegen sich kaum wieder ein vor Lachen.

Sam schnappt sich den Schuh aus Teds Hand. Sie schiebt ihren Fuß hinein und zieht den Riemen fest. Der Schuh ist eine halbe Nummer zu klein.

«Na großartig», sagt sie, den Blick auf ihren Fuß gerichtet. «Wenn ich bei Frampton unser Angebot anpreise, sehe ich aus wie ein Callgirl.»

«Aber zumindest wie ein teures Callgirl», sagt Ted.

«Wie bitte?»

«Du weißt schon. Es ist auf jeden Fall besser als ein Blowjob ohne Zähne für fünf Piepen …»

Sam wartet, bis Joel aufhört zu lachen.

«Vielen Dank auch, Ted», sagt sie, aus dem Fenster starrend. «Jetzt fühle ich mich wirklich viel besser.»

 

Der Termin findet nicht in einem Büro statt, wie Sam erwartet hat. Es gibt Probleme bei einer hydraulischen Anlage, und sie werden ihren Pitch in der Ladehalle präsentieren müssen, wo Michael Frampton die Abläufe überwacht. Sam versucht, auf den hohen Schuhen zu gehen, spürt die kühle Luft an ihren Füßen. Sie wünschte, sie wäre irgendwann seit 2009 bei der Pediküre gewesen. Ihre Fußknöchel wackeln, als wären sie aus Gummi, und sie fragt sich, wie um alles in der Welt von irgendjemandem erwartet werden kann, in solchem Schuhwerk normal zu laufen. Joel hat recht gehabt. Diese Schuhe sind nicht zum Stehen gedacht.

«Alles klar bei dir?», fragt Ted, als sie sich der Gruppe Männer nähern.

«Nein», murmelt sie. «Ich komme mir vor, als würde ich auf Essstäbchen laufen.»

Ein Gabelstapler mit einem Riesenballen Papier fährt dicht vor ihnen vorbei, sodass sie ausweichen müssen und Sam stolpert. Der piepende Warnton hallt ohrenbetäubend in der riesigen Halle wider. Sam beobachtet, wie die Blicke sämtlicher Männer bei dem Laster zu ihr herumfahren.

Und sich dann zu ihren Schuhen senken.

«Dachte schon, Sie kommen nicht mehr.»

Michael Frampton ist ein mürrischer Typ. Der Typ, der einen bei jedem Gespräch wissen lässt, wie schwer er es gehabt hat, anders als man selbst, wie er gleichzeitig stillschweigend unterstellt.

Sam setzt ein Lächeln auf. «Es tut mir sehr leid», sagt sie fröhlich. «Wir hatten einen anderen Termin, der …»

«Verkehr», sagt Joel gleichzeitig, und sie werfen sich einen betretenen Blick zu.

«Sam Kemp. Wir haben uns schon kennengelernt, als wir …»

«Ich erinnere mich an Sie», sagt Frampton und schaut nach unten. Dann vergehen zwei unbehagliche Minuten, in denen er mit einem jungen Mann im Overall eine Liste auf einem Clipboard durchspricht. Sam steht wie bestellt und nicht abgeholt daneben, nimmt die neugierigen Blicke der anderen Männer wahr. Die unpassenden Schuhe an ihren Füßen glühen wie radioaktive Leuchtfeuer.

«Also», sagt Frampton, nachdem er endlich sein Gespräch beendet hat. «Bevor wir anfangen, muss ich Ihnen sagen … Printex hat uns sehr konkurrenzfähige Bedingungen angeboten.»

«Nun, wir …», setzt Sam an.

«… und sie sagen, dass Sie nicht mehr flexibel agieren können, nachdem Grayside von einem größeren Unternehmen geschluckt worden ist.»

«Nun, das stimmt nicht ganz. Stattdessen bieten wir jetzt eine größere Bandbreite, noch bessere Qualität und … Verlässlichkeit.» Während sie spricht, hat sie das Gefühl, alle würden sie anstarren, so als wäre es offensichtlich, dass sie eine Frau mittleren Alters ist, die sich die Schuhe von jemand anderem angezogen hat. Sie stammelt sich durch den Termin, verhaspelt sich bei ihren Antworten, errötet, spürt die Blicke aller anderen auf ihren Füßen.

Schließlich zieht sie einen Hefter aus ihrer Umhängetasche. Er enthält das Angebot, an dem sie stundenlang getüftelt hat. Sie macht damit einen Schritt auf Michael Frampton zu, aber ein Absatz bleibt hängen, sodass sie leicht stolpert, sich den Knöchel verdreht und ein scharfer Schmerz in ihrem Bein emporschießt. Sie verwandelt ihre Grimasse in ein Lächeln und übergibt ihm den Hefter. Er senkt den Blick darauf und blättert durch die Seiten, ohne Sam ein einziges Mal anzusehen. Schließlich tritt sie zurück, langsam und bemüht, nicht zu schwanken.

Endlich schaut Frampton auf. «Wir haben es bei dieser nächsten Bestellung mit sehr hohen Auflagen zu tun. Also müssen wir sicher sein, dass wir mit einer Firma arbeiten, die definitiv liefern kann.»

«Wir haben Sie schon früher beliefert, Mr. Frampton. Und letzten Monat haben wir mit Greenlight bei einem sehr ähnlichen Katalogauftrag zusammengearbeitet, und sie waren sehr angetan von der Qualität.»

Er runzelt die Stirn. Seine ganze Miene drückt Zweifel aus. «Kann ich mir ansehen, was Sie für Greenlight gemacht haben?»

«Natürlich.»

Dann erinnert sie sich plötzlich daran, dass der Greenlight-Katalog auf dem Armaturenbrett des Transporters liegt, weil sie gedacht hat, sie würde ihn nicht brauchen. Und das wiederum bedeutet, dass sie unter den Blicken all dieser Männer aus der Ladehalle und quer über den Parkplatz gehen muss. Sie schaut Joel auffordernd an.

«Soll ich die Unterlagen schnell holen?», sagt Joel.

«Welche anderen Muster haben Sie noch im Wagen?», fragt Frampton.

«Wir hatten einen recht ähnlichen Auftrag für Clarks Office Supplies. Tatsächlich haben wir eine ganze Reihe unterschiedlicher Kataloge aus dem letzten Monat. Joel, könntest du …»

«Nicht nötig. Ich komme mit.» Frampton geht los. Das bedeutet, dass Sam ihn begleiten muss. Sie hält sich mit etwas steifen Schritten an seiner Seite.

«Was wir brauchen», sagt er und schiebt die Hände in die Hosentaschen, «ist ein Druckerei-Partner, der schnell ist, flexibel. Leichtfüßig, wenn Sie so wollen.»

Sein Gang ist zu forsch. In demselben Moment verdreht sie sich erneut den Knöchel auf dem unebenen Boden und schreit auf. Joel streckt den Arm aus, als ihre Knie einknicken, und sie muss sich an ihm festhalten, um in der Senkrechten zu bleiben. Sie lächelt verlegen, während Frampton seinen Blick mit undurchdringlicher Miene auf ihr ruhen lässt.

Später wird sie sich, die Ohren rot vor Scham, an die Worte erinnern, die er Joel zugemurmelt hat. Die letzten Worte, die er an Grayside Print richten wird.

Ist sie betrunken?

Zweites Kapitel

Nisha Cantor rennt wie wild auf einem Laufband. Musik hämmert in ihren Ohren, ihre Beine stampfen wie Maschinenkolben. Sie läuft immer wie besessen. Die erste Meile ist die schlimmste, angetrieben von einer brodelnden Mischung aus Groll und Milchsäure; die zweite Meile macht sie richtig, richtig wütend, und bei der dritten bekommt sie endlich einen klaren Kopf, fühlt sich plötzlich, als wäre ihr Körper wie geölt, als könnte sie ewig weiterlaufen. Und dann wird sie wieder wütend, weil sie in genau dem Moment, in dem sie angefangen hat, es zu genießen, aufhören muss, um etwas anderes zu tun. Sie hasst das Laufen, aber sie braucht es, um zurechnungsfähig zu bleiben. Sie hasst die Besuche in dieser verdammten Stadt, in der überall auf den Bürgersteigen Leute unterwegs sind, langsam herumschlendern, sodass der einzige Ort, an dem sie in Ruhe laufen kann, dieser beschissene Fitnessclub ist, in den das Hotel seine Gäste verfrachtet hat, weil sein eigener, besser ausgestatteter Spa-Bereich anscheinend gerade renoviert wird.

Der Laufbandcomputer informiert sie darüber, dass es Zeit für ihre Entspannungsphase ist, und sie schaltet ihn abrupt aus, hat keine Lust, sich von einer verfluchten Maschine vorschreiben zu lassen, was sie zu tun hat. Nein, ich werde mich nicht entspannen, denkt sie. Als sie die Ohrstöpsel herauszieht, nimmt sie ein Klingeln wahr. Nisha angelt sich ihr Handy. Es ist Carl.

«Darling, ich –»

«Entschuldigen Sie.»

Nisha sieht auf.

«Sie müssen Ihr Handy abschalten», sagt eine junge Frau. «Das hier ist eine Ruhezone.»

«Dann hören Sie auf, mich anzuquatschen. Sie sind sehr laut. Und bitte kommen Sie mir nicht so nah. Ich könnte sonst welche von Ihren Schweißtropfen abkriegen.»

Der Frau bleibt der Mund offen stehen, und Nisha hebt das Handy wieder ans Ohr.

«Nisha, Darling. Was machst du gerade?» Carls Stimme hat einen Schmelz wie warme Butter, das ist eins der Dinge, die sie immer an ihm geliebt hat.

«Bin nur im Fitnessclub, mein Schatz. Steht unsere Verabredung zum Lunch noch?»

«Ja, aber könnten wir uns dazu vielleicht im Hotel treffen? Ich muss zurück, um ein paar Unterlagen zu holen.»

«Natürlich», sagt Nisha automatisch. «Was soll ich für dich bestellen?»

«Oh, irgendwas.»

Sie erstarrt. Carl sagt nie «irgendwas».

«Möchtest du Michels Spezialomelett mit weißen Trüffeln? Oder den gebeizten Thunfisch?»

«Den nehm ich. Klingt sehr gut.»

Nisha schluckt. Sie versucht, ihre Stimme zu beherrschen.

«Um wie viel Uhr würde es dir passen?»

Carl hält inne, dann hört sie ihn gedämpft mit jemand anderem sprechen. Ihr Herzschlag beschleunigt sich.

«Zwölf Uhr wäre großartig. Aber ich will dich nicht hetzen.»

«Ach wo», sagt Nisha. «Ich liebe dich.»

«Ich dich auch, Darling», sagt Carl, und damit ist die Leitung tot.

Nisha steht ganz still, das Blut rauscht auf eine Art in ihren Ohren, die nichts mit dem Laufen zu tun hat. Flüchtig denkt sie, dass gleich ihr Kopf explodieren könnte. Sie atmet zweimal tief durch. Dann ruft sie eine andere Nummer auf. Sie wird direkt auf die Mailbox umgeleitet. Nisha verflucht den Zeitunterschied zu New York.

«Magda?», sagt sie, während sie sich mit der freien Hand über das verschwitzte Haar fährt. «Hier Nisha Cantor. Sie müssen Ihren Kontakt anrufen. SOFORT.»

Als sie den Blick hebt, hat sie einen Angestellten in Poloshirt und Billigshorts vor sich.

«Madam, es tut mir leid, aber Sie können hier nicht telefonieren. Das verstößt gegen unsere …»

«Verschwinden Sie einfach», sagt Nisha. «Gehen Sie den Boden wischen oder so. Dieser Ort ist die reinste Petrischale.» Sie drängt sich an ihm vorbei in Richtung Umkleide und schnappt sich im Gehen ein Handtuch von einem anderen Angestellten.

 

Der Umkleideraum ist brechend voll, aber sie hat keinen Blick für die anderen. Mit rasendem Herzschlag durchdenkt sie wieder und wieder das Telefonat mit Carl. Nun war es also so weit. Sie muss einen klaren Kopf bekommen, zu einer Gegenreaktion bereit sein, doch ihr Körper ist von einer seltsamen Dumpfheit erfasst, und nichts funktioniert, wie es soll. Sie setzt sich kurz auf eine Bank, starrt vor sich hin. Ich schaffe das, sagt sie sich, den Blick auf ihre zitternden Hände gerichtet. Ich habe schon Schlimmeres überstanden. Sie drückt ihr Gesicht ins Handtuch, atmet bewusst, bis sie sicher ist, ihr Zittern unter Kontrolle zu haben, dann richtet sie sich wieder auf und nimmt die Schultern zurück. Schließlich steht sie auf, öffnet ihren Schrank und zieht ihre Marc-Jacobs-Sporttasche heraus. Irgendwer hat seine Tasche neben ihrem Schrank auf die Bank gestellt, und Nisha schubst sie auf den Boden, um ihre eigene Tasche dort abzustellen. Duschen. Sie muss duschen, bevor sie irgendetwas anderes tut. Auftritt ist die halbe Miete. Und dann klingelt ihr Handy erneut. Ein paar Frauen sehen zu ihr herüber, aber Nisha ignoriert sie und nimmt den Anruf an. Raymond.

«Mom? Hast du das Foto von meinen Augenbrauen gesehen?»

«Wie bitte, Darling?»

«Meine Augenbrauen. Ich hab dir ein Foto geschickt. Hast du’s dir angesehen?»

Nisha senkt das Telefon und wischt durch die Nachrichten, bis sie das Foto findet.

«Du hast wunderschöne Augenbrauen, Schatz», sagt sie beruhigend, nachdem sie das Handy wieder am Ohr hat.

«Sie sind furchtbar. Ich bin richtig fertig. Ich hab so eine Sendung gesehen, was über den Handel mit Delfinen, und da waren all diese Delfine, die dazu gebracht wurden, Kunststückchen und so was vorzuführen, und da hab ich solche Schuldgefühle gekriegt, weil wir doch mal in Mexiko waren und mit ihnen geschwommen sind, weißt du noch? Und da hab ich mich so mies gefühlt, dass ich nicht aus meinem Zimmer gehen konnte, und dann hab ich gedacht, ich kümmere mich mal um meine Augenbrauen, aber das war die reinste Katastrophe, weil ich jetzt aussehe wie Madonna Mitte der Neunziger.»

Eine Frau in der Nähe hat angefangen, sich die Haare zu trocknen, und Nisha hätte ihr am liebsten den Föhn aus der Hand gerissen und sie damit erschlagen. «Schatz, ich kann dich hier drin nicht hören. Bleib dran.»

Sie geht in den Flur. Atmet tief ein.

«Sie sehen perfekt aus», sagt sie in das dumpfe Schweigen. «Fantastisch. Und Madonna Mitte der Neunziger ist ein total heißer Look.»

Sie kann sich vorstellen, wie er im Schneidersitz auf seinem Bett in Westchester sitzt, so wie er es zu Hause schon als Kleinkind gemacht hat.

«Sie sehen nicht fantastisch aus, Mom. Es ist eine Katastrophe.»

Eine Frau kommt aus dem Umkleideraum. Sie schlurft in ihren Flipflops und einer billigen Jacke mit gesenktem Kopf an ihr vorbei. Warum können sich manche Frauen nicht gerade halten? Ihre Schultern hängen nach vorn, sie hat den Kopf eingezogen wie eine Schildkröte, und das regt Nisha sofort auf. Wenn du schon aussiehst wie ein Opfer, musst du dich nicht wundern, wenn dich die Leute schlecht behandeln, denkt sie. «Dann machen wir einen Termin zum Microblading, wenn du nach Hause kommst.»

«Also sehen sie doch grässlich aus.»

«Nein! Nein, du siehst toll aus. Aber Schatz, ich muss jetzt wirklich los. Ich bin mitten in einer Sache. Ich ruf dich an.»

«Aber frühestens um drei. Ich muss schlafen, und dann haben wir Achtsamkeitstraining. Das ist dermaßen bescheuert. Sie lassen einen all dieses Zeug machen, als wäre ich nicht überhaupt erst hier gelandet, weil ich bloß noch um mich selbst gekreist bin.»

«Ich weiß, Schatz. Ich hab dich lieb.»

Nisha beendet den Anruf und wählt erneut. «Magda? Magda? Haben Sie meine Nachricht bekommen? Rufen Sie mich an, sobald Sie das hören, okay?»

Sie beendet gerade den Anruf, als die Tür aufgeht, der Angestellte herauskommt und sie mit dem Telefon in der Hand sieht.

«Madam, es tut mir leid, aber …»

«Denken. Sie. Nicht. Mal. Dran», knurrt sie, und er klappt den Mund zu. Es hat schon ein paar Vorteile, eine Amerikanerin über vierzig zu sein, der alles egal ist, und das sieht er. Es ist das Erste, was sie in der ganzen Woche gefreut hat.

 

Nisha duscht, cremt sich mit der minderwertigen Lotion des Fitnessclubs ein (sie wird den ganzen Tag riechen wie eine Zugtoilette), steckt ihre feuchten Haare zu einem Knoten zusammen, und dann, die Füße sicher auf einem Handtuch (ihr wird beinahe schlecht bei dem Gedanken an die Fußböden in Umkleideräumen – die ganzen Hautzellen! Die Warzen!), sieht sie zum achten Mal nach, ob sich Magda gemeldet hat.

Es wird langsam schwierig, den Klumpen aus Wut und Angst zu ignorieren, der sich in ihrer Brust zusammenballt. Sie nimmt ihre Seidenbluse vom Bügel, zieht sie über den Kopf und spürt, wie das fließend feine Gewebe an ihrer warmen, feuchten Haut kleben bleibt. Wann ruft Magda zurück, verdammt? Sie setzt sich, wirft erneut einen Blick auf ihr Handy und greift nebenbei in ihrer Sporttasche nach den Jeans und den Schuhen. Sie tastet herum und zieht schließlich einen sehr abgelaufenen hässlichen schwarzen Pumps mit Blockabsatz heraus. Sie fährt herum, starrt blinzelnd ihre Hand an und lässt den Schuh mit einem entsetzten Keuchen fallen. Sie wischt sich die Finger an einem Papiertuch ab, dann zieht sie langsam die Tasche damit auf und späht hinein. Es dauert einen Moment, bevor ihr klar wird, was sie da vor sich hat. Das ist nicht ihre Tasche. Das ist Lederimitat, die Plastikeinfassungen an den Rändern schälen sich schon, und was ein Marc-Jacobs-Anhänger aus Messing sein sollte, ist stumpfes, angelaufenes Blech.

Nisha schaut unter die Bank. Dann hinter sich. Die meisten der nervigen Frauen sind inzwischen weg, und nirgends sind andere Taschen, nur ein paar offen stehende, leere Spinde.

«Wer hat meine Tasche genommen?», sagt sie laut, an niemand im Speziellen gerichtet. «Wer zum Teufel hat meine Tasche genommen?» Die wenigen Frauen im Umkleideraum schauen verständnislos zu ihr herüber.

«Nein», sagt sie. «Neinneinneinnein. Nicht heute. Nicht jetzt.»

 

Die junge Frau am Empfang zuckt nicht einmal mit der Wimper.

«Wo ist die Überwachungskamera?»

«Madam, im Umkleideraum gibt es keine Überwachungskamera. Das wäre gegen das Gesetz.»

«Und wie soll ich dann meine gestohlene Tasche finden?»

«Ich glaube nicht, dass sie gestohlen wurde, Madam. Nach dem, was Sie sagen, scheint es sich um eine unabsichtliche Verwechslung zu handeln, wenn die Taschen so identisch ausgesehen haben …»

«Glauben Sie wirklich, irgendeine Frau würde ‹unabsichtlich› meine Chanel-Jacke und meine maßgefertigten Louboutins mitnehmen, wenn ihre Kleidung üblicherweise von …»

Sie späht in die Tasche und verzieht das Gesicht.

«… Primark kommt?»

Die Miene der Empfangsdame bleibt vollkommen unbewegt.

«Wir können die Aufnahmen der Überwachungskamera am Eingang durchsehen, aber dazu brauchen wir die Freigabe von der Zentrale.»

«Ich habe aber keine Zeit. Wer ist zuletzt hier rausgegangen?»

«Diese Daten haben wir nicht, Madam. Das ist alles automatisiert. Wenn Sie warten möchten, rufe ich den Geschäftsführer an.»

«Endlich! Wo ist er?»

«Er führt eine Mitarbeiterschulung in Pinner durch.»

«Oh, das darf doch alles nicht wahr sein. Geben Sie mir ein Paar Turnschuhe. Sie haben doch Turnschuhe hier, oder? Ich muss irgendwie zu meinem Auto kommen.»

Nisha schaut aus dem Fenster.

«Wo ist mein Wagen? Wo bleibt der Wagen?»

Sie wendet sich vom Empfang ab und tippt eine Nummer in ihr Handy. Keine Antwort. Die Empfangsdame zieht einen Plastikbeutel unter dem Counter heraus. Sie wirkt so gelangweilt, als hätte sie gerade ein zweistündiges Youtube-Video über den Trocknungsprozess von Wandfarbe gesehen. Sie lässt den Beutel auf den Counter fallen.

«Wir haben Flipflops.»

Nisha sieht die junge Frau an, dann die Schuhe, dann wieder die Frau. Die Tresenkraft verzieht keine Miene. Schließlich schnappt sich Nisha die Schuhe vom Counter und schlüpft mit einem frustrierten Stöhnen hinein. Als sie geht, hört sie ein gemurmeltes Amerikaner …

Drittes Kapitel

«Mach dir nichts draus. Wir haben noch drei Versuche», sagt Ted netterweise.

Sie sind schweigend zum nächsten Termin gefahren. Sam hat die letzten zwanzig Minuten im Transporter Trübsal geblasen, während ihre Schuldgefühle auch noch den letzten Rest ihres einstigen Selbstvertrauens verdrängten. Was mussten sie bloß von ihr gedacht haben! Sie spürte immer noch die ungläubigen Blicke dieser Männer, das kaum unterdrückte, dreckige Grinsen, während Sam zurück zum Transporter geschwankt war. Joel hatte ihr auf die Schulter geklopft und erklärt, Frampton sei ein Wichser und jeder wisse, dass er immer zu spät bezahlte, also wäre es so wahrscheinlich ohnehin am besten. Doch selbst während er redete, konnte Sam an nichts anderes denken als an Simons abschätzig gekräuselte Lippen, wenn sie ihm erklären muss, dass ihr ein wertvoller Auftrag durch die Lappen gegangen ist.

Einatmen sechs Sekunden, drei halten, ausatmen sieben Sekunden.

Joel biegt auf den Parkplatz ein und schaltet den Motor aus. Sie bleiben einen Moment lang sitzen und schauen auf die schimmernde Fassade vor ihnen. Sams Magen scheint irgendwo im Fußraum zu hängen.

«Wäre es sehr schlimm, in Flipflops zu diesem Termin zu gehen?», sagt sie schließlich.

«Ja», kommt es von Ted und Joel wie aus einem Mund.

«Aber …»

«Babe.» Joel lehnt sich über das Lenkrad und sieht sie an. «Wenn du diese Schuhe trägst, muss dein Auftreten dazu passen.»

«Was meinst du damit?»

«Na ja, du hast bei dem Termin vorhin … verlegen gewirkt. Du wirkst immer noch verlegen. Du musst wirken, als würden sie dir gehören.»

«Aber sie gehören mir nicht.»

«Du musst selbstbewusst wirken. Als wärst du einfach reingeschlüpft, verstehst du, während du in Gedanken bei all den Großaufträgen warst, die du heute schon eingetütet hast.»

Ted nickt mit zusammengepressten Lippen. Er stupst Sam mit seinem dicken Arm an. «Er hat recht. Komm schon, Herzchen. Kinn hoch, Titten vorstrecken, breites Lächeln. Das kannst du.»

Sam greift nach ihrer Tasche. «Das würdest du zu Simon nicht sagen.»

Ted zuckt mit den Schultern. «Würde ich, wenn er diese Schuhe anhätte.»

 

«Der niedrigste Preis, den wir Ihnen für diesen Auftrag anbieten können, wären … zweiundvierzigtausend. Aber wenn Sie die Seitenzahlen umstellen und sich für einen einfarbigen Umschlag entscheiden, könnten wir noch mal um achthundert runtergehen.»

Sie beschreibt gerade das Druckverfahren, als ihr auffällt, dass ihr der Geschäftsführer nicht zuhört. Ihr wird wieder heiß vor Befangenheit, und sie verhaspelt sich.

«Also … wie klingen diese Zahlen?»

Er sagt nichts. Er reibt sich die Stirn und gibt ein unverbindliches «Hmm» von sich, wie sie es selbst gemacht hat, als Cat noch klein war und sie ihrem endlosen Geplapper nur mit halbem Ohr zugehört hat.

Oh Gott, ich verliere seine Aufmerksamkeit. Sie schaut von ihren Notizen auf und stellt fest, dass der Geschäftsführer ihre Füße anstarrt. Vor lauter Verlegenheit verliert sie beinahe den Faden.

Doch dann sieht sie ihn noch einmal an, registriert seine glasigen Augen, und langsam wird ihr bewusst, dass er derjenige ist, der sich ablenken lässt.

«Und natürlich könnten wir das wie besprochen in einer Umlaufzeit von acht Tagen erledigen», sagt sie.

«Gut!», ruft er aus, als wäre er aus einem Tagtraum gerissen worden. «Sehr gut.»

Er starrt immer noch auf ihre Füße. Sie beobachtet ihn, dann neigt sie ihren Fuß leicht nach links und streckt ihren Knöchel. Hingerissen verfolgt er die Bewegung. Sam schaut zur anderen Seite des Tischs und sieht Joel und Ted einen Blick wechseln.

«Also wären diese Bedingungen für Sie annehmbar?»

Der Geschäftsführer legt seine Fingerspitzen zusammen und sieht ihr kurz in die Augen. Sie lächelt ermutigend.

«Mm … ja. Klingt gut.» Er kann nicht aufhören, sie anzusehen. Sein Blick gleitet von ihrem Gesicht nach unten, zurück zu dem Schuh.

Sie nimmt einen Vertrag aus ihrer Mappe. Sie neigt den Fuß und lässt das Absatzriemchen heruntergleiten. «Sollen wir uns dann auf diese Bedingungen einigen?»

«Klar», sagt er. Er nimmt den Stift und unterschreibt das Dokument, ohne es sich weiter anzusehen.

 

«Sag kein Wort», sagt sie zu Ted, den Blick starr geradeaus gerichtet, als sie durch den Empfangsbereich hinausgehen.

«Ich sag ja gar nichts. Wenn du uns noch so einen Deal an Land ziehst, kannst du meinetwegen auch mit Schwimmflossen herumlaufen.»

 

Beim nächsten Termin achtet sie darauf, dass ihre Füße die ganze Zeit zu sehen sind. Obwohl John Edgmont nicht hinstarrt, erkennt sie, dass er sie mit ganz neuen Augen sieht, nur weil sie diese Schuhe trägt. Und seltsamerweise sieht sie sich auch selbst mit neuen Augen. Sie betritt sein Büro mit hocherhobenem Kopf. Sie ist charmant. Sie besteht auf ihren Bedingungen. Sie erkämpft einen weiteren Auftrag.

«Du hast einen Lauf, Sam», sagt Joel, als sie wieder in den Transporter steigen.

Sie machen eine richtige Mittagspause – das haben sie nicht mehr gewagt, seit Simon ihr Chef geworden ist – und setzen sich vor ein Café. Die Sonne kommt raus. Joel erzählt ihnen von einem Date, das er in der Woche zuvor hatte und bei dem die Frau wissen wollte, ob ihm ein Hochzeitskleid gefiel, das sie aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte. «Sie hat gesagt ‹Ich zeige es nur Leuten, die ich wirklich mag.›»

Ted hustet seinen Kaffee heraus, und Sam lacht, bis sie Seitenstechen hat, und dabei wird ihr bewusst, dass sie sich nicht erinnern kann, wann sie das letzte Mal über irgendetwas gelacht hat.

 

Nisha geht in Flipflops und einem Bademantel über ihrer Bluse in der Kälte vor dem Fitnessclub auf und ab. Sie hat neun Nachrichten auf dem Handy ihres Fahrers hinterlassen, und er nimmt nicht ab. Das ist kein gutes Zeichen. Überhaupt kein gutes Zeichen.

«Peter? Peter? Wo bist du? Ich hab dir doch gesagt, dass du mich um Viertel nach elf abholen sollst! Du musst herkommen. Jetzt sofort!»

Als sie erneut anruft, erklärt eine blecherne Automatenstimme, dass diese Nummer nicht erreichbar ist. Sie schaut nach, wie spät es ist, und zieht mit einem lauten Fluch die Schlüsselkarte ihrer Hotelsuite aus der Tasche. Sie starrt die Karte einen Moment an, dann stapft sie zurück in den Fitnessclub.

Die Tasche steht immer noch vor ihrem Spind. Natürlich ist sie immer noch da. Wer würde die auch haben wollen? Sie wühlt durch den Inhalt, verzieht das Gesicht bei dem Gedanken, dass sie Kleidung berührt, die nicht ihre ist. Sie zieht eine Plastiktüte mit einem feuchten Badeanzug heraus, zuckt zusammen und lässt sie auf die Bank fallen. Dann greift sie zögernd in die Seitentaschen, bekommt drei zerknitterte Zehn-Pfund-Scheine zu fassen und hält sie hoch. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Bargeld in der Hand gehabt hat. Geld ist total unhygienisch, schlimmer als Toilettenbürsten, wenn das stimmt, was sie einmal in einem Artikel gelesen hat. Mit einem Schauder steckt sie die Scheine in die Tasche ihres Bademantels. Dann nimmt sie die Sporttasche und geht durch den Empfangsbereich.

«Madam, Sie können den Bademantel nicht mit…»

«Tja, aber in diesem Land ist es eiskalt, und Sie haben meine Kleidung verloren.» Nisha zieht den Bademantel enger um ihren Körper, verknotet den Gürtel und geht hinaus.

Sie können pausenlos darüber jammern, wie viel Umsatz sie Uber gekostet hat, aber wie sich herausstellt, ignorieren trotzdem nicht weniger als sechs Taxifahrer eine winkende Frau in einem Bademantel, bevor einer anhält. Er lässt sein Fenster herunter und öffnet den Mund, als wolle er etwas über ihre Bekleidung sagen, aber sie stoppt ihn mit erhobener Hand.

«Zum Bentley Hotel», sagt sie. «Und sagen Sie einfach nichts. Danke.»

Die Taxifahrt kostet neun Pfund achtzig, obwohl sie kaum fünf Minuten gedauert hat. Sie betritt das Hotel, ignoriert den fassungslosen Blick des Empfangsportiers und geht quer durch die Lobby direkt zum Aufzug, ohne das Köpfedrehen der Gäste zu beachten. Ein Paar mittleren Alters, er in Anzugjacke und Tuchhose, sie in einem schlecht geschnittenen Kleid, das an den Achseln wabbeliges Fleisch sehen lässt – wahrscheinlich Provinzler, die sich «etwas Gutes tun» wollen –, steht schon in dem Aufzug, als sie den Arm ausstreckt, damit die Türen nicht zugleiten. Sie tritt ein, steht vor ihnen, dann dreht sie sich zur Tür um. Nichts geschieht. Sie wirft einen Blick über die Schulter.

«Penthouse», sagt sie.

Als die beiden sie nur anstarren, schnippt sie mit den Fingern. Dann noch einmal.

«Penthouse. Die Taste», sagt sie, fügt schließlich noch ein «Bitte» hinzu, und die Frau streckt zögernd den Arm aus und drückt die Taste. Der Aufzug fährt nach oben, und Nisha spürt, wie sich vor Anspannung ihr Magen verkrampft. Komm schon, Nisha, sagt sie sich. Das kriegst du wieder hin. Dann bleibt der Aufzug schließlich mit einem Ruck stehen, und die Türen gleiten auf.

Sie will in die Penthouse-Suite hinaustreten, doch stattdessen stößt sie mit einer breiten Brust zusammen. Drei Männer verstellen ihr den Weg. Ungläubig tritt sie zurück. Ari, der in der Mitte steht, hält einen DIN-A5-Umschlag in der Hand.

«Was …», fängt sie an und will sich an ihm vorbeischieben, aber er macht einen Schritt seitwärts, sodass sie nicht durchkommt.

«Ich habe Anweisung, Sie nicht hereinzulassen.»

«Machen Sie sich nicht lächerlich, Ari», sagt sie und versetzt ihm einen leichten Schlag. «Ich muss meine Kleidung holen.»

Sein Gesicht hat einen Ausdruck, den sie noch nie an ihm gesehen hat. «Mr. Cantor sagt, Sie dürfen nicht hereinkommen.»

Sie versucht zu lächeln. «Seien Sie nicht albern. Ich brauche meine Sachen. Schauen Sie mich doch an.»

Er behandelt sie wie eine Fremde. Nichts in seiner Miene weist auf die Tatsache hin, dass er sie kennt und seit fünfzehn Jahren ihr Personenschützer ist. Mit diesem Mann hat sie sich Witze erzählt. Lieber Gott, sie hat sich sogar gelegentlich nach seiner Frau erkundigt.

«Es tut mir leid.»

Er beugt sich vor und legt den Umschlag hinter ihr auf den Boden des Aufzugs, dann tritt er zurück und drückt die Taste, mit der er sie wieder nach unten schickt. Einen Moment scheint sich alles um sie zu drehen, und sie fürchtet, ohnmächtig zu werden.

«Ari! Ari! Das können Sie nicht machen! Ari! Das ist doch Irrsinn! Was soll ich denn jetzt tun?»

Die Aufzugtüren beginnen sich zu schließen. Sie sieht noch, wie er sich umdreht und einen Blick mit dem Mann wechselt, der neben ihm steht. Es ist ein Blick, den er sich noch nie vor ihr erlaubt hat, ein Blick, mit dem sie schon ihr ganzes Leben lang vertraut ist. Frauen …

«Geben Sie mir wenigstens meine Handtasche … verdammt noch mal!», brüllt sie, während die Aufzugtüren ganz zugleiten.

 

«Ich komme nicht drüber weg, wie du das gedeichselt hast, Babe», sagt Joel und schlägt zur Bekräftigung aufs Lenkrad. «Und zwar perfekt. Du bist schon reingegangen wie ein Boss. Edgmont wollte unterschreiben, bevor du dich überhaupt hingesetzt hast.»

«Ich hätte schwören können, dass du gesagt hast, wir würden den Auftrag für zweiundachtzig anbieten», sagt Ted und schlürft an seiner Cola-Dose.

«Hab ich auch», sagt Sam, «aber als ich gesehen habe, wie es läuft, war mir plötzlich danach, auf neunzig zu erhöhen.»

«Und er hat einfach genickt!», ruft Joel aus. «Er hat einfach nur genickt! Ohne einen einzigen Blick aufs Kleingedruckte! Und was Simon erst für ein Gesicht machen wird, wenn er das erfährt!»

«Brenda redet schon seit Monaten von einem neuen Peugeot. Wenn wir den letzten Auftrag auch noch einsacken, mache ich eine Anzahlung.» Ted trinkt den letzten Schluck aus seiner Cola-Dose.

«Den kriegt Sam auch noch. Sie hat einen richtigen Lauf.»

«Sie ist dermaßen gut. Wen haben wir als Nächsten?» Ted wirft einen Blick in den Hefter. «Oh. Der Neue. Ein … Mr. Price. Das ist der Big Boss, Herzchen. Das ist das große Geld. Das ist Brendas neuer 205.»

Sam frischt ihr Make-up auf. Sie spitzt ihre Lippen vor dem Spiegel, dann denkt sie kurz nach, beugt sich zu der Sporttasche hinunter, nimmt behutsam die Chanel-Jacke heraus, hält sie hoch, bewundert die cremefarbene Wolle, das makellose Seidenfutter, atmet den feinen Duft eines kostspieligen Parfüms ein. Dann löst sie kurz ihren Sicherheitsgurt und streift die Jacke über. Sie sitzt ein wenig eng, aber das Tragegefühl ist fantastisch. Wer hätte gedacht, dass sich teure Kleidung so anders anfühlen kann? Sie verstellt den Rückspiegel, um zu sehen, wie die Jacke ihre Schultern umschmeichelt, wie der gut geschnittene Kragen ihren Hals einrahmt.

«Übertrieben?», fragt sie die Männer.

Joel schaut sie kurz an. «Ganz bestimmt nicht. Das ist absolut deine Jacke, verdammt. Du siehst gut aus, Sam.»

«Er wird nicht wissen, wie ihm geschieht», sagt Ted. «Mach wieder das mit dem Fersenriemchen, das runtergleitet. Sie können sich überhaupt nicht mehr konzentrieren, wenn du das machst.»

Sam schaut ihr Spiegelbild an und wirft sich ein bisschen in die Brust. Es ist ein unvertrautes Gefühl, und sie fängt an, es zu genießen. Sie erkennt sich kaum selbst wieder. Dann hört sie unvermittelt auf und dreht sich zu den anderen, während ihr Lächeln schlagartig erlischt.

«Verstoße ich … damit gegen die Frauensolidarität?»

«Was?»

«Indem du einen Haufen männliche Anzugträger bei der Verhandlung übertrumpfst?», fragt Ted.

«Indem ich … Sex als Waffe einsetze. Diese Schuhe bedeuten im Grunde Sex, oder?»

«Meine Schwester behauptet, sie hätte Regelschmerzen, wenn sie eine Teamsitzung abkürzen will, die sich zu lange hinzieht. Meint, dann können sie die Männer nicht schnell genug loswerden.»

«Meine Frau hat mal einem Türsteher ihren BH gezeigt, um in einen Club zu kommen», sagt Ted. «Ich war ehrlich gesagt richtig stolz.»

Joel zuckt mit den Schultern. «So wie ich es sehe, kannst du alle Waffen einsetzen, die dir zur Verfügung stehen.»

«Vergiss die Frauensolidarität», sagt Ted. «Denk an mein neues Auto.»

Sie sind angekommen. Sam steigt vorsichtig aus dem Transporter. Dann stellt sie sich etwas aufrechter hin. Sie ist inzwischen sicherer mit diesen Schuhen an den Füßen, hat verstanden, dass sie ihre Schritte wohlüberlegt setzen muss, damit ihre Knöchel nicht wackeln. Sie überprüft ihre Frisur im Seitenspiegel. Dann schaut sie zu ihren Füßen hinunter.

«Sehe ich okay aus?»

Die beiden Männer strahlen sie an. Ted zwinkert ihr zu. «Wie eine Oberbossin. Mr. Price hat nicht den Hauch einer Chance.»

 

Sam gefällt das helle Klicken ihrer Absätze auf dem Marmorboden, als sie zum Empfangstresen gehen. Sie registriert, wie die Empfangsdame ihre Jacke und ihre Schuhe abcheckt und leicht den Kopf neigt, als sei sie bereit, auf jedweden Wunsch Sams dieses entscheidende bisschen aufgeschlossener zu reagieren. Stell dir vor, du wärst eine Frau, die solche Schuhe jeden Tag trägt, denkt Sam. Stell dir vor, du würdest ein Leben führen, bei dem du immer nur kurze Wege über Marmorfußböden zurücklegst. Stell dir vor, du hättest keine anderen Sorgen als die Frage, ob deine Pediküre deinen teuren Schuhen entspricht.

«Hallo», sagt sie und bemerkt nebenbei, dass ihre Stimme einen neuen, zuversichtlichen und lockeren Klang hat, der zu Beginn des Tages noch nicht da war. «Grayside Print Solutions zum Termin mit Mr. Price. Danke.» Sie ist diese Frau. Sie wird das deichseln.

Die Empfangsdame schaut auf ihren Bildschirm. Sie tippt auf ihrer Tastatur, schiebt mit geübten Handgriffen drei Namensschilder in Plastikanhänger und reicht sie über den Counter.

«Wenn Sie einen Moment dort drüben warten würden, ich rufe oben an.»

«Ich danke Ihnen vielmals.»

Ich danke Ihnen vielmals. Als wäre sie ein Mitglied des Königshauses.

Sam setzt sich sorgsam auf das Sofa in der Lobby, die Füße nebeneinandergestellt, dann überprüft sie kurz ihren Lippenstift und fährt sich glättend übers Haar. Sie wird diesen Auftrag bekommen, das spürt sie.

Als sie Schritte auf dem Marmorboden hört, sieht sie auf und blickt einer kleinen, schwarzen Frau in den Fünfzigern entgegen. Ihr Haar ist zu einem akkuraten Bob geschnitten, und sie trägt einen schlichten, sehr gut geschnittenen marineblauen Hosenanzug mit einem cremefarbenen Seiden-T-Shirt und flachen Pumps. «Hallo … Grayside Print? Ich bin Miriam Price. Begleiten Sie mich nach oben?»

Es dauert einen Moment, bis Sam ihren Irrtum erkennt. Sie wirft einen Blick zu Ted und Joel, deren Mienen erstarrt sind. Dann stehen sie alle drei abrupt auf, lächelnd und eilig die Begrüßung erwidernd, und folgen Miriam Price durch die Lobby zum Aufzug.

 

Es braucht zehn Minuten, um zu erkennen, dass Miriam Price mit harten Bandagen kämpft, und eine Stunde, um zu erkennen, wie hart diese Bandagen wirklich sind. Wenn sie sich auf ihre Forderungen einlassen, sinkt ihre Gewinnspanne gegen null. Miriam ist gelassen und unerbittlich. Sam spürt, wie sich ihre Hoffnungen verflüchtigen, als Joel und Ted auf ihren Stühlen zusammensinken.

«Wenn Sie den vierzehntägigen Umlauf wollen, kann ich nicht höher als sechssechzig gehen», sagt Miriam erneut. «Unsere Transportkosten werden umso höher, je näher wir der Deadline kommen.»

«Ich sagte ja schon, warum sechssechzig sehr schwierig für uns ist. Wenn Sie das Hochglanzpapier möchten, dauert es länger, weil wir eine spezielle Druckerpresse benutzen müssen.»

«Ob Sie die Maschinen haben, die Sie brauchen, oder nicht, kann nicht mein Problem sein.»

«Das ist kein Problem, sondern nur eine logistische Frage.»

Miriam Price lächelt jedes Mal, wenn sie auf ihrer Position beharrt. Ein leichtes, nicht unfreundliches Lächeln. Aber eines, das ausdrückt, dass sie diese Verhandlung vollkommen unter Kontrolle hat. «Und wie ich schon sagte, meine Spedition verlangt mehr für den Transport aufgrund der reduzierten Zustellzeit. Hören Sie, wenn dieser Auftrag für Sie problematisch ist, würde ich das gern wissen, solange wir noch Zeit haben, alternative Anbieter zu suchen.»

«Er ist nicht problematisch. Ich versuche nur zu erklären, dass der Druckvorgang bei diesem Bestellumfang eine längere Lieferfrist erfordert.»

«Und ich erkläre nur, warum sich das für mich im Preis widerspiegeln muss.»

Eine Einigung scheint unmöglich. Die Verhandlung ist an die Wand gefahren. Sam schwitzt in der Chanel-Jacke und befürchtet, Flecken auf dem wundervollen hellen Futterstoff zu hinterlassen.

«Ich muss mich kurz mit meinem Team besprechen», sagt sie und steht vom Tisch auf.

«Lassen Sie sich Zeit», sagt Miriam und lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie lächelt.

 

Ted hat sich eine Zigarette angesteckt und raucht in kurzen, gierigen Zügen. Sam verschränkt die Arme vor der Brust, lässt sie hängen, verschränkt sie wieder und starrt dabei auf einen Renault-Lieferwagen, dessen Fahrer wiederholt und erfolglos versucht, in eine zu kleine Parklücke zu kommen.

«Wenn ich mit so geringen Gewinnspannen zurückkomme, kriegt Simon einen Tobsuchtsanfall», sagt sie.

Ted tritt seinen Zigarettenstummel mit dem Absatz aus. «Wenn du ohne Auftrag zurückkommst, kriegt Simon erst recht einen Tobsuchtsanfall.»

«Anscheinend kann ich es so oder so nur falsch machen.» Sam verlagert ihr Gewicht. «Puh. Diese Schuhe bringen mich um.»

Einen Moment lang stehen sie schweigend da. Niemand scheint zu wissen, was er sagen soll. Niemand will für die eine oder die andere Entscheidung verantwortlich sein. Der Fahrer des Renault-Lieferwagens stellt endlich den Motor ab, nur um zu erkennen, dass die Parklücke zu eng ist, um die Fahrertür zu öffnen. Schließlich sagt Sam: «Ich muss mal dringend. Wir sehen uns drin wieder.»

 

In der Kabine der Damentoilette zieht Sam ihr Handy heraus.

Hey, Schatz. Wie läuft’s bei dir heute? Warst du schon draußen?

Sie wartet, und nach einem Moment kommt die Antwort.

Noch nicht. Bisschen müde. x

Sie sieht ihn vor sich, wie er in T-Shirt und Jogginghose auf dem Sofa liegt. Es kaum schafft, sich aufzurichten, um das Telefon in die Hand zu nehmen. Manchmal, das gesteht sie sich nicht gern ein, ist es beinahe eine Erleichterung, wenn er nicht zu Hause ist, dann kommt es ihr vor, als hätte jemand plötzlich alle Vorhänge aufgezogen und das Licht hereingelassen.

Sie betätigt die Spülung und zieht ihre Kleidung zurecht, bekommt auf einmal Gewissensbisse und fühlt sich dumm, weil sie die Schuhe und die Jacke angezogen hat. Kann man dafür belangt werden, die Kleidung von jemand anderem zu tragen? Sie tritt ans Waschbecken und blickt ihr Spiegelbild an. All das Selbstvertrauen von zuvor scheint sich aufgelöst zu haben. Sie sieht eine fünfundvierzigjährige Frau, in deren Gesichtszüge die Traurigkeit, die Sorgen und die Schlaflosigkeit des letzten Jahres eingeschrieben sind. Komm schon, altes Mädchen, sagt sie sich nach einer Weile im Stillen. Halt durch. Sie fragt sich, wann sie angefangen hat, sich selbst altes Mädchen zu nennen.

Hinter ihr wird die Tür einer Toilettenkabine geöffnet, und Miriam Price tritt heraus. Sie nicken sich höflich über den Spiegel zu, während sie sich die Hände waschen, und Sam versucht, sich die unbehaglichen Gefühle nicht anmerken zu lassen, die sie mit einem Mal überkommen. Miriam Price schiebt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und Sam frischt ihren Lippenstift auf, allerdings vor allem, um etwas zu tun zu haben. Sie überlegt, was sie sagen könnte, etwas, das Miriam Price davon überzeugt, mit ihnen zu arbeiten, ein paar magische Worte, die wie nebenbei verraten, was für ein großartiges und professionelles Unternehmen sie sind, und die diese winzigen Gewinnmargen vergrößern. Miriam lächelt wieder dieses kleine, gelassene Lächeln. Sie grübelt eindeutig nicht nach, was sie sagen könnte. Sam fragt sich, ob sie sich in einer Damentoilette schon jemals so unzulänglich gefühlt hat.

Und dann senkt Miriam Price den Blick. «Oh mein Gott, Ihre Schuhe sind ja fantastisch.»

Auch Sam richtet den Blick nach unten.

«Die sind absolut hinreißend.»

«Eigentlich ist es so, dass sie n…» Sam unterbricht sich. «Sie sind toll, oder?»

«Darf ich sie mal genauer ansehen?» Miriam deutet auf die Schuhe. Dann hält sie den Schuh in der Hand, den Sam ausgezogen hat, hebt ihn ins Licht und begutachtet ihn von allen Seiten mit einer Andacht, die man einem Kunstwerk oder einer edlen Flasche Wein entgegenbringen würde. «Louboutin, stimmt’s?»

«J…ja.»

«Ist das ein Vintage-Paar? Er hat in den letzten fünf Jahren keine neuen Modelle herausgebracht. Eigentlich bin ich nicht mal sicher, ob ich solche wie die hier überhaupt schon mal gesehen habe.»

«Also … mh … ja, die sind Vintage.»

Miriam lässt ihren Finger am Absatz heruntergleiten. «Er ist ein echter Meister seines Fachs. Stellen Sie sich vor, einmal habe ich vier Stunden Schlange gestanden, um ein Paar seiner Schuhe zu kaufen. Total verrückt, oder?»

«Oh … das ist überhaupt nicht verrückt», sagt Sam. «Jedenfalls nicht, wenn Sie mich fragen.»

Miriam wiegt den Schuh in ihrer Hand, betrachtet ihn noch einen Moment lang und gibt ihn dann beinahe widerstrebend zurück. «Wissen Sie, einen guten Schuh erkennt man immer. Meine Tochter glaubt mir nicht, aber was jemand an den Füßen trägt, verrät viel über die Person. Welche Kleidung ich trage, basiert immer auf den Schuhen. Diese alten Dinger sind von Prada. Ich hatte einfach das Gefühl, ich bräuchte einen bodenständigen Tag, also trage ich flache Schuhe, aber ehrlich, wenn ich dieses Paar ansehe, werde ich auf die Absätze neidisch.»

«Ich sage meiner Tochter genau dasselbe!» Die Worte sprudeln aus Sams Mund, bevor sie überhaupt weiß, was sie sagt.

«Meine trägt die ganze Zeit nur Turnschuhe. Ich glaube, sie verstehen die totemistische Macht von Schuhen nicht.»

«Oh, meine ist auch so. Bei ihr sind es riesige Dr. Martens-Boots. Und ja, sie verstehen es wirklich nicht», sagt Sam, die nicht sicher ist, ob sie selbst weiß, was «totemistisch» bedeutet.

«Ich verrate Ihnen was, Sam. Darf ich Sie Sam nennen? Ich hasse es, auf diese Art zu verhandeln. Können wir nächste Woche noch einmal miteinander sprechen? Dann können wir uns nur zu zweit zusammensetzen, ohne die Männer, und uns etwas überlegen. Ich bin sicher, wir können uns auf Bedingungen einigen, die für uns beide funktionieren.»

«Das wäre großartig», sagt Sam. Sie zieht den Schuh wieder an und atmet tief ein. «Also … kann ich davon ausgehen, dass wir im Grunde eine Vereinbarung haben?»

«Oh, ich denke schon.» Miriams Lächeln ist herzlich, verschwörerisch. «Das muss ich jetzt noch fragen … ist diese Jacke … von Chanel?»

Viertes Kapitel

Nisha sitzt, das Handy ans Ohr gepresst, eingesunken in ein rosafarbenes Plüschsofa im Foyer des Bentley Hotel, neben sich ein hochaufragendes Strelitzien-Arrangement in einer enormen Vase.

«Carl, das ist lächerlich. Ich bin im Foyer. Komm runter und lass uns reden.»

Die Mailbox piept, weil die Aufnahmezeit überschritten ist. Sie wählt sofort noch einmal.

«Carl, ich rufe dich so lange an, bis du abnimmst. So kannst du nicht mit der Frau umgehen, mit der du seit achtzehn Jahren verheiratet bist.»

Wieder endet die Aufnahmezeit, und sie wählt erneut.

«Nisha?»

«Carl! … Charlotte? Charlotte?» Nein. Er leitet seine Anrufe um. «Ich möchte mit Carl sprechen. Bitte stellen Sie mich zu ihm durch.»

«Es tut mir wirklich leid, aber das kann ich nicht machen, Nisha.»

Charlottes Stimme ist so ruhig, als würde sie eine App mit Meditationsfilter benutzen. Außerdem hat sie einen neuen Beiklang, verströmt einen Hauch von Überlegenheit, bei dem sich alles in Nisha sträubt. Und dann fällt es ihr auf: Oh mein Gott, sie hat mich Nisha genannt.

«Mr. Cantor ist in einem Meeting und hat eindeutige Anweisung gegeben, dass er nicht gestört werden darf.»

«Nein. Sie holen ihn aus dem Meeting. Es ist mir egal, ob er nicht gestört werden will. Ich bin seine Frau. Haben Sie verstanden? Charlotte? … Charlotte?»

Die Verbindung ist tot. Diese Person hat tatsächlich aufgelegt.

Als Nisha aufblickt, sieht sie, dass die Leute sie anstarren. Sie starrt zurück, bis sie mit hochgezogenen Augenbrauen und Gemurmel die Köpfe abwenden. Plötzlich wird ihr gesamter Körper von Stresshormonen geflutet, und sie würde am liebsten jemanden umbringen oder sinnlos losrennen oder einfach anfangen zu schreien. Sie weiß nur nicht genau, was davon sie tun soll. Doch dann sieht sie an sich herunter, und ihr wird bewusst, dass sie diese Situation nicht in einem billigen Frotteebademantel und Flipflops durchstehen kann. Sie denkt an ihre Kleidung oben im Penthouse und empfindet beinahe mütterliche Sorge bei dem Gedanken, dass sie nicht an sie herankommt. An ihre Garderobe.

Sie sieht sich um und stellt fest, dass sich auf der anderen Seite des Hotelfoyers eine kleine Modeboutique befindet. Sie steckt das Handy in ihre Tasche und geht hinüber. Die Sachen sind wie zu erwarten grässlich und unfassbar überteuert. Nisha durchstöbert schnell die Kleiderständer, zieht die am wenigsten schrille Jacke heraus, die sie finden kann, dazu Schuhe, und versucht, die grauenvolle Musikberieselung zu ignorieren, die durch den winzigen Laden hallt. Sie sieht sich die Schuhe an und nimmt sich ein Paar einfache beigefarbene Pumps in Größe 37. Sie legt die Sachen auf den Kassentresen, hinter dem sie eine junge Frau mit leichtem Unbehagen ansieht.

«Stellen Sie das bitte dem Penthouse in Rechnung», sagt Nisha.

«Natürlich, Mrs. Cantor», sagt die Verkäuferin und beginnt, die Artikel einzuscannen.

«Die Schuhe muss ich noch anprobieren. Mit Probierstrümpfen. Unbenutzten.»