Meine Arbeit - Olga Ravn - E-Book

Meine Arbeit E-Book

Olga Ravn

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Beschreibung

Wie kann man eine fürsorgliche Mutter sein, ohne sich selbst zu verlieren? Nach der Geburt ihres Sohns verliert die Schriftstellerin Anna ihren Platz in der Welt. Noch im Schwebezustand nach der Entbindung zieht sie mit ihrem schwedischen Freund Aksel und ihrem kleinen Sohn ins verschneite Stockholm. Viel zu bald fällt das Paar gegen seinen erklärten Willen in überkommen geglaubte Geschlechterrollen. Anna ist völlig eingenommen von der Realität des neuen Lebens, das ihre komplette Aufmerksamkeit verlangt. Ihr bleibt nicht einmal Zeit für einen einzigen klaren Gedanken. Die Frustration zwischen ihr und Aksel wird so groß, dass ihre Beziehung daran zu zerbrechen droht. Um ihre immer stärker werdende Angst zu bekämpfen, beginnt Anna unzählige Online-Artikel zu lesen und teure Kleidung zu kaufen, die sie sich überhaupt nicht leisten kann. Anna ist sich sicher, dass es nur einen Weg gibt, dem drohenden Wahnsinn zu entkommen: Sie muss lesen und schreiben. Nur so kann sie wieder ein Teil der Welt werden. Meine Arbeit handelt von der einzigartigen und grundlegenden Erfahrung der Geburt eines Kindes. Prosa, Gedichte, Tagebuch, Briefe – jede literarische Form dient der Erforschung der Beziehung zwischen Mutterschaft und Schreiben. Meine Arbeit ist auch: Ein Buch über Wochenbettdepression, Haushalt und Einkaufen. Vor allem aber ist es ein großer Roman über die Frage nach der Vereinbarkeit von künstlerischem Schaffen, Alltag und Mutterschaft. Und darüber, wie man das beängstigende Leben mit einem Kind lieben lernen kann.

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MEINE ARBEIT

Olga Ravn

MEINE ARBEIT

Roman

Aus dem Dänischen vonAlexander Sitzmann und Clara Sondermann

MÄRZ

INHALT

ERSTER ANFANG

ZWEITER ANFANG

DRITTER ANFANG

VIERTER ANFANG

FÜNFTER ANFANG

SECHSTER ANFANG

SIEBTER ANFANG

ACHTER ANFANG

NEUNTER ANFANG

ZEHNTER ANFANG

ELFTER ANFANG

ZWÖLFTER ANFANG

DREIZEHNTER ANFANG

ERSTE FORTSETZUNG

ZWEITE FORTSETZUNG

DRITTE FORTSETZUNG

VIERTE FORTSETZUNG

FÜNFTE FORTSETZUNG

SECHSTE FORTSETZUNG

SIEBTE FORTSETZUNG

ACHTE FORTSETZUNG

NEUNTE FORTSETZUNG

ZEHNTE FORTSETZUNG

ELFTE FORTSETZUNG

ZWÖLFTE FORTSETZUNG

DREIZEHNTE FORTSETZUNG

VIERZEHNTE FORTSETZUNG

FÜNFZEHNTE FORTSETZUNG

SECHZEHNTE FORTSETZUNG

SIEBZEHNTE FORTSETZUNG

ACHTZEHNTE FORTSETZUNG

NEUNZEHNTE FORTSETZUNG

ZWANZIGSTE FORTSETZUNG

EINUNDZWANZIGSTE FORTSETZUNG

ZWEIUNDZWANZIGSTE FORTSETZUNG

DREIUNDZWANZIGSTE FORTSETZUNG

VIERUNDZWANZIGSTE FORTSETZUNG

FÜNFUNDZWANZIGSTE FORTSETZUNG

BEISPIEL FÜR EIN GESPRÄCH

BEISPIEL FÜR EIN GESPRÄCH

DIE STROHHALMMETHODE

GRUPPENRAUM. JANUAR. ZUNEHMENDE UNRUHE.

BEISPIEL FÜR EIN GESPRÄCH

SECHSUNDZWANZIGSTE FORTSETZUNG

SIEBENUNDZWANZIGSTE FORTSETZUNG

ACHTUNDZWANZIGSTE FORTSETZUNG

ERSTER SCHLUSS

ZWEITER SCHLUSS

DRITTER SCHLUSS

VIERTER SCHLUSS

FÜNFTER SCHLUSS

SECHSTER SCHLUSS

SIEBENTER SCHLUSS

ACHTER SCHLUSS

NEUNTER SCHLUSS

ANMERKUNGEN

DANKSAGUNG

ERSTER ANFANG

Wer hat dieses Buch geschrieben?

Ich natürlich.

Obwohl ich gern das Gegenteil behaupten würde.

Einigen wir uns für den Moment darauf, dass nicht ich es war, die es geschrieben hat. Eine andere Frau, vollkommen anders als ich. Nennen wir sie Anna. Sagen wir, dass Anna mir alle auf diese Zeilen folgenden Aufzeichnungen gegeben hat. Sagen wir, dass Anna es mir zur Aufgabe gemacht hat, diese Aufzeichnungen zu ordnen. Sagen wir, dass mich nach dem Lesen der vielen, vielen mir von Anna hinterlassenen Seiten in manchen Nächten Habgier und Hysterie ergreifen. Ich will nicht, dass außer mir noch jemand Annas Texte liest. Ich will nicht, dass außer mir noch jemand Anna kennt.

Ich habe viele Monate lang versucht, mir einen Überblick über Annas Aufzeichnungen zu verschaffen, und ich bin dabei immer wieder von etwas erfüllt worden, das ich nicht anders beschreiben kann als einen animalischen Impuls, einen verborgenen Instinkt, der mich, angetrieben von der Vorstellung, Annas Aufzeichnungen sollten nur von schwangeren Personen oder Frauen mit kleinen Kindern gelesen werden, immer wieder von meinem Schreibtisch aufspringen ließ.

Und jedes Mal musste ich mich wieder an den Tisch setzen, atemlos und verblüfft über meine eigene Torheit. Aber ich gebe zu, dass mich diese Impulse viele Male überkamen.

Vielleicht dachte ich, dass ein derart ausgewählter Leserinnenkreis dazu beitragen könnte, Anna zu schützen und ihre Erfahrungen wie ein Geheimnis zu bewahren.

Durch das Lesen dieser Aufzeichnungen, die sie in meine Obhut gegeben hatte, bekam ich das Gefühl, vertrauliche Informationen in mir zu tragen.

Die größte Herausforderung bei dieser Arbeit bestand für mich darin, Annas Verhältnis zur Zeit zu verstehen. Sie scheint sich an keine Chronologie zu halten, und ich kann nicht behaupten, das Prinzip der Zeitlichkeit durchdrungen zu haben, das ihrem Schreiben zugrunde liegt. Sie übergab mir ihre Aufzeichnungen in einem unordentlichen Stapel. In den Notizbüchern kommt es durchaus vor, dass Ereignisse auf andere Ereignisse aus viel späteren Jahren folgen, als habe sie plötzlich Zugang zu einer weiteren Zeitebene im Text gefunden und dafür Platz geschaffen.

Gleichzeitig scheint sie sich, wie alle jungen Mütter, manisch mit dem Fortschreiten der Zeit im Verhältnis zur Entwicklung des Kindes zu befassen. Mehrere Male schreibt sie das Alter des Kindes, oft sogar in Tagen, ganz oben über den Text, selbst wenn dieser nicht vom Kind handelt.

Dieser für mich schwer zu durchschauende Umgang mit Zeit wurde kürzlich durch einen seltsamen Vorfall unterstrichen.

Ich fand Annas Schwangerschaftstagebuch. Ich kann nicht genau sagen, warum, aber einer bloßen Ahnung folgend ordnete ich das Heft an späterer Stelle im Verlauf ein, nicht, wie es logisch gewesen wäre, an den Beginn.

Vielleicht spiegelte das auch nur meine eigene Erfahrung, denn das Heft war das letzte gewesen, das ich gefunden hatte. Wir hatten vor dem vierten Geburtstag des ältesten Kindes die schwarze Kommode von der Wand weggerückt, und das blaue Heft war dahinter zum Vorschein gekommen. Es hatte hinter dem Möbelstück geklemmt, in dem Annas Aufzeichnungen gelegen hatten, bevor und während ich sie las. (Danach verstaute ich die Aufzeichnungen in drei Kisten und stellte sie ins Büro. Erst nachdem das letzte Heft aufgetaucht war, fand ich in einem plötzlichen Anfall von Vernunft die Kraft, sie zu ordnen, mit dem Gedanken, dass auch andere sie lesen sollten.)

Das Schwangerschaftstagebuch musste bei einem der Male, als ich einzelne Blätter aus dem Stapel herausgezogen hatte, hinter die Kommode gefallen sein, daher weiß ich nicht, ob Anna das Heft ursprünglich ganz oben auf den Stapel gelegt hatte oder, und das ist meine Vermutung, zwischen die ganzen Zeiten.

Indem ich die Schwangerschaft in der Mitte der Komposition platzierte, brach ich zum ersten Mal mit der Chronologie, und danach fiel es mir leicht, oder zumindest leichter.

ZWEITER ANFANG

Dieses Buch nahm seinen Anfang, als das Kind sechs Tage alt war und ich mich in einer Dunkelheit befand.

Ich habe versucht, die verschiedenen Teile in die Reihenfolge zu bringen, in der ich sie vermeintlich geschrieben habe.

Ich erinnere mich nicht daran, auch nur irgendetwas davon geschrieben zu haben.

In den letzten Jahren habe ich immer mehr beschriebene Seiten gefunden.

Wäre da nicht meine eigene Handschrift, ich hätte glauben können, das alles stammte von einer Fremden.

Diese handbeschriebenen Seiten, eine Menge Dokumente auf meinem Computer, Mails, die von meiner eigenen Mailadresse an mich geschickt worden waren, sowie Notizen auf meinem Handy ergaben zusammen sehr viel Material (das ich, noch mal, mich nicht erinnern kann, geschrieben zu haben). Nachdem ich alles ins Reine geschrieben und die finale, schwindelerregende Seitenanzahl gesehen hatte, überkam mich ein Gefühl, für das es kein anderes Wort gibt als Schrecken.

Der Abschnitt »Schwangerschaftstagebuch«, ein blaues Notizbuch mit zerschlissenen Kanten, war zum Schluss aufgetaucht, vor zwei Wochen, als Aksel und ich eine Kommode von der Wand gerückt hatten, um Platz für das Topfschlagen beim Kindergeburtstag zu machen.

Das Sammeln und Ordnen dieser Aufzeichnungen und Dokumente war letztlich der Versuch, drei Jahre meines Lebens wiederherzustellen, die aus meinem Gedächtnis verschwunden waren und zu denen ich jetzt, so wie die Leserinnen und Leser, nur hier Zugang habe.

Es scheint mir, dass ich die Arbeit an den Aufzeichnungen endlich abschließen kann, weil ich wieder schwanger bin.

Ich habe das Gefühl, wie eine Zeitreisende in den Zustand der Schwangerschaft zurückgekehrt zu sein; als könnte ich vor und zurück durch die Zeit reisen.

In einer Woche werde ich am letzten Tag des ersten Trimesters angekommen sein.

Hoffentlich ist es nicht nur eine Illusion, aber es scheint mir, als hätte ich durch die bevorstehende Geburt des zweiten Kindes die Stärke erhalten, mich aus der psychischen Krise, die mit dem ersten Kind gekommen war, herauszubegeben und zugleich mitten in sie hinein.

Von allen Teilen dieses Buches verstören mich jene am meisten, in denen jemand (ich selbst?) von einer Frau mit meinem Namen erzählt. Als hätte es in diesen Jahren eine andere Instanz gegeben, die mich gnadenlos aus der Nähe studiert und Logbuch geführt hat. Jemand hielt mich für eine Sie, für hysterisch. Und beim Lesen kommt es mir beinahe so vor, als würde sich eine Hand in meinen Nacken legen und den Kopf nach unten drücken. Als würde nachts jemand aus meinem Schrank kommen, um diese Texte zu schreiben.

DRITTER ANFANG

Zeit:

Zweite Hälfte der 2010er / Phase der Schwangerschaft

Ort:

Kopenhagen und Stockholm / Dunkelheit des Stillens

Personen

Anna:

Eine schwangere Frau, 28 Jahre alt.

Schriftstellerin, später Mutter. Dänisch.

Aksel:

Ein Mann, 30 Jahre. Vater des Kindes.

Dramatiker. Schwedisch.

Das Kind:

Dessen Namen wir um des Kindes willen geheim halten. Geboren 2016.

Außerdem:

Viele Angestellte im Gesundheitssektor (Krankenschwestern, Hebammen, Ärzte, Psychologen und Therapeuten etc.).

Die Großmütter des Kindes in der Ferne.

Psychiatrie-Patienten, Menschen im öffentlichen Raum allgemein und in Krankenhäusern und dann natürlich die Erzählerin.

VIERTER ANFANG

Wenn sie darüber nachdachte, ließen sich all ihre Probleme auf die Bitch vom Geburtsvorbereitungskurs zurückführen.

Schwangere Frauen und ihre Männer saßen um den Tisch herum. Es waren nur Paare, die meisten waren ein wenig älter als Anna und Aksel. Es war der heterosexuellste Raum, in dem sie jemals gewesen war.

Die Hebamme trug ein leuchtend blaues Hemdkleid und eine lange Goldkette um den Hals. Die Übungswehen kamen mit der Angst.

»Bist du okay?«, fragte sie.

»Ich habe leichte Übungswehen«, sagte Anna, sie schwitzte.

»Sieht mir ganz danach aus. Willst du dich kurz hinlegen?«

Die Hebamme wies in Richtung einer Liege unter der Tafel, auf der die Beckenerweiterung abgebildet war.

Der Bauch spannte. Er wurde mit jeder Übungswehe härter. Anna war schwindlig, ihr war warm und schlecht, sie hatte Schmerzen im unteren Rücken und im Nacken. Sie konnte nicht zwischen Angst und Übungswehen unterscheiden. Vielleicht war es dasselbe?

Die Hebamme hielt weiter ihren Vortrag, es hatte irgendetwas mit Atmung zu tun. Aksel saß allein am Tisch und hörte aufmerksam zu. Anna sah, wie er sich Notizen machte.

Alle Paare schienen in ihren Dreißigern zu sein und ihr Leben und ihre Finanzen im Griff zu haben, sie hatten Festanstellungen, viele hatten ein Auto und Investment Pieces zu Hause, sie kannten sich aus mit Design und hatten in den letzten Jahren die Vorbereitungen für ein Kind getroffen. Anna bemerkte, dass alle Paare ihre Gesichter mit Geldscheinen massierten, sie rieben und rieben sie über das Gesicht, sie kauften naturfarbene Stoffwindeln aus 100 % Bio-Baumwolle und Babytragen und Schnuller aus Naturkautschuk und Lammwolldecken. Sie kauften handgemachte Mobiles mit Filzwolken, um sie über das Babybett zu hängen, sie kauften ätherische Öle gegen Dehnungsstreifen, um damit den Damm zu massieren, sie kauften Stilleinlagen aus Naturwolle mit Lanolin, sie kauften die Autositze, die im Test am besten abgeschnitten hatten, und sie kauften große, riesige, monströse, kastenförmige Gebilde: Kinderwagen.

Plötzlich verstand Anna ihre Mutter besser als jemals zuvor. Die Hebamme sagte: »Ihr Männer solltet nach der Geburt nicht davon ausgehen, dass das Essen wie gewohnt auf dem Tisch steht, wenn ihr von der Arbeit kommt. Es ist nämlich harte Arbeit, auf ein Neugeborenes aufzupassen. Wie lange, glaubt ihr, dauert allein das Stillen pro Tag? Was glaubt ihr?«

»Eine Stunde?«, antwortete einer der Männer mit unsicherem Lächeln.

»Nein«, rief die Hebamme triumphierend. »Was glaubst du?« Sie hatte sich Aksel zugewandt.

»Acht Stunden?«

»Jaaa, das ist richtig«, sagte sie, offenbar enttäuscht, weil er die richtige Antwort gewusst hatte. »Das ist also ein ganzer Arbeitstag.«

»Hast du Kinder?«, fragte eine der schwangeren Frauen.

»Nein«, sagte sie und klickte auf ihrer PowerPoint-Präsentation weiter zur nächsten Folie mit der gruseligen Überschrift Sex nach der Geburt.

»Sex nach der Geburt!«, rief sie. »Ihr solltet euch keine Sorgen machen, wenn sechs bis acht Monate nach der Geburt vergehen, bis ihr wieder Sex habt.« Nächste Folie. In Word-Art. Anna versank im Boden.

Die Zeichnung eines rotbärtigen Mannes in einem Fred-Feuerstein-Kostüm auf einer Insel mit Palmen. Neben ihm eine Krabbe mit Stielaugen und einem breiten Lächeln um den Mund (ein Krabbenlächeln? Ein Krabbenmund?), auf der gegenüberliegenden Seite der Folie noch eine Insel, darauf eine Frau mit einer schwarzen Pagenfrisur und einem rosa Herz in den Armen, so groß, dass sie fast dahinter verschwand. Sie lächelte verlegen und entschuldigend. Zwischen die beiden hatte man ein Bild der Golden Gate Bridge gesetzt. Die Frau und der Mann. Zwei Inseln – verbunden durch eine Brücke in San Francisco.

Die Hebamme sagte: »Es ist wichtig, dass ihr Frauen auf euch selbst und auf euren Körper hört, ihr sollt nichts tun, wozu ihr noch nicht bereit seid. Was die Männer betrifft: Ihr müsst euch ein wenig in Geduld üben. Oft kann die Mutter ihren Bedarf an Körperlichkeit allein durch die Nähe zum Baby decken. Aber ihr könnt ja versuchen, an andere Türen zu klopfen.«

Es trat eine kurze Stille ein.

»Also, bei den Nachbarn?«, fragte eine der schwangeren Frauen verwirrt.

»Nein, nein«, schüttelte die Hebamme den Kopf.

»Meinst du … Analsex?«, flüsterte eine mädchenhafte Frauengestalt, die fast hinter ihrem riesigen Bauch verschwand, genau wie die Frau hinter dem Herzen auf der Folie.

»Meistens ist das Rektum genauso mitgenommen wie die Vorderseite«, antwortete die Hebamme. »Ich meine, dass es ja auch andere Möglichkeiten gibt, zusammen zu sein.«

Stille, während ihnen allen der gleiche Gedanke durch den Kopf schoss: Blowjob.

»Nächste Folie!«, rief die Hebamme. »Es ist in Ordnung, sein Kind nicht zu lieben! Ihr Männer braucht euch keine Sorgen zu machen, wenn ihr euer Kind nicht von Anfang an liebt. Es kann schon mal ein halbes Jahr dauern, bis man etwas fühlt. Ihr wart nicht auf die gleiche Weise an der Geburt beteiligt und habt das Kind nicht so lange getragen.«

Am besten war es, wenn in der Schwangerschaft etwas passierte, das eigentlich ganz normal war, aber außerordentlich schrecklich auf Menschen ohne Erfahrung mit Schwangeren wirken konnte; weil grundsätzlich niemand über die eigene Schwangerschaft sprach, musste es nur richtig in Szene gesetzt werden.

Beckenschwäche und Ischias-Schmerzen, kurzfristige Krankenhausaufenthalte und zeitweise erhöhter Blutzucker, Zahnfleischentzündung. Es konnte dazu führen, dass Annas Mitmenschen erschraken und ein wenig zusätzliche Fürsorge und Aufmerksamkeit für sie übrighatten, vielleicht nur für die paar Minuten, die Anna brauchte, um von ihrem Unglück zu erzählen. Es konnte gut sein, dass es mitunter wirklich körperlich wehtat und dass man Schwangeren empfahl, Abstand von Schmerzmitteln zu nehmen, aber gegen die Aufmerksamkeit sprach nichts. Anna liebte Fürsorge, wollte immer noch mehr Fürsorge, noch mehr Streicheleinheiten. Anna litt an einem chronischen Mangel an Mitleid. Sie lebte für mehr Mitleid. Gebt es mir, dachte sie, während sie ihren Kollegen ihre starken Schmerzen beschrieb, ich will euer Mitleid trinken wie Sperma, schrie es in Annas Kopf.

Ungefähr im dritten Schwangerschaftsmonat konnte Anna nicht mehr schlafen. Nicht weil sie so häufig auf die Toilette musste oder das Liegen unbequem wurde. Es lag daran, dass sie die Gedanken nicht abstellen konnte, wenn sie im Bett lag. Hätte man Anna gefragt, woran sie dachte, hätte sie das nicht konkret beantworten können. Sie wusste nur, dass die Art und Weise, wie sich ihre Gedanken bewegten, sie wachhielt.

»Hast du es schon mal mit Akupunktur probiert?«, hatte ihre Hebamme sie gefragt und ihr den Namen einer anderen Hebamme gegeben, die Akupunkteurin in der Geburtsabteilung im Kopenhagener Rigshospitalet gewesen und nun eingespart worden war.

»Sie vergibt Termine in Christianshavn.«

An einem Freitag, den 13. fuhr Anna zur Akupunkteurin, und darüber hatte Anna nicht wirklich nachgedacht, die Akupunkteurin aber sehr wohl. Die Tür war verschlossen.

»Ich kann nicht anders an einem Tag wie heute«, sagte sie, nachdem sie Anna hereingelassen hatte. »Mille Sille«, sie gab Anna die Hand, ihre dichten Haare waren gekreppt und grau, und sie trug klimpernde Silberohrringe.

»Anna«, sagte Anna. »17 + 4.«

Mille Sille nickte.

Die Praxis befand sich im Erdgeschoss eines alten Fachwerkhauses neben einer grasbewachsenen Böschung am Ende eines Kanals. Ein Kübel mit verwelkten Pflanzen und ein abblätternder Gartenzwerg standen draußen, darüber hing ein Windspiel. Im Inneren war der Raum überfüllt mit Bücherregalen, Topfpflanzen, Buddhastatuen und anatomischen Figuren mit Körperteilen aus Plastik. Zwei klobige Sofas, darauf indische Decken, über dem Tisch ein riesiges Wandbild vom Kronprinzen und der Kronprinzessin Mary. Es roch merkwürdig.

»Komm rein«, sagte Mille Sille und führte Anna in einen angrenzenden kleinen Raum. Anna setzte sich auf die Liege.

»Also, was führt dich zu mir?«

»Ich kann nicht schlafen, ich bin ein wenig unruhig«, sagte Anna. »Meine Hebamme hat dich empfohlen.«

»Bei wem bist du?«

»Marianne, im Rigshospitalet.«

Mille Sille nickte. »Sie ist gut.«

»Ja.«

»Ich werde gleich anfangen, dich ein wenig abzutasten. Hattest du schon einmal eine Akupunktur-Behandlung?«

»Nein«, sagte Anna. »Ich bin aber offen für alles.«

Mille Sille nahm Annas Handgelenk zwischen zwei Finger.

»Hm«, sie runzelte die Stirn.

»Hast du eine alte Verletzung?«

Mit einem Mal bekam Anna Angst.

»Ähm … ja?«

Der merkwürdige Geruch aus dem vollgestopften Sprechzimmer drang durch Annas Nase in sie hinein.

»Du hast zu viel Feuer«, sagte Mille Sille. »Deswegen hast du auch diese roten Flecken auf den Wangen.« Der obere Part von Annas Wangen brannte, sie fühlte unwillkürlich mit den Fingerspitzen nach.

»Das bedeutet, du hast zu viel Yang. Dir fehlt Wasser«, sagte Mille Sille. »Du verhinderst den Durchfluss von Yin. Ich könnte mir vorstellen, mit Schröpfen anzufangen.«

»Könnte ich vorher noch mal ins Bad?«

»Die zweite Tür links.«

Auf der Toilette starrte Anna auf ein Stück zerknittertes Papier, das an der Tür hing. Ninas und Martins Geburtsplan stand darauf.

Keine Schmerzblocker

Ninas Rhythmus folgen

Die Geburt dauert so lange wie nötig

Gern in der Badewanne

Rebozo-Massage

Sie arbeitete also noch als Hebamme, dachte Anna.

»Ich fange mit ein paar Schröpfgläsern an, um dich für das Yin zu öffnen.«

Anna lag auf dem Bauch, mit freiem Oberkörper, und Mille platzierte Plastikgefäße auf Annas Rücken, die sich dort festsaugten. Es tat sehr weh. Anna lag mucksmäuschenstill.

»Wie lange geht das schon bei dir?«

»Ähm, die Schwangerschaft?«

»Die Unruhe.«

»Seit meiner Kindheit, glaube ich.«

»Das tut mir so leid für dich.«

Anna fühlte sich lächerlich und wie gelähmt, puppenhaft. Bin ich vollkommen verrückt? Bin ich wahnsinnig, dachte sie, wer ist Anna? War sie im Grunde ein hoffnungsloser Fall, nicht mehr zu retten?

»Jetzt versuch mal, das Wasser fließen zu lassen. Stell dir große Wassermassen vor, die einfach durch dich hindurchfließen«, sagte Mille Sille. Sie hatte die Gefäße weggenommen, Anna gebeten, sich umzudrehen, und begann mit den Nadeln. Es gab eine Nadel, bei der es ihr nicht gelingen wollte. Sie zog sie aus Annas Hand heraus und stach sie wieder und wieder hinein. Du musst jetzt versuchen, mitzugehen, dachte Anna und verfolgte aufmerksam, wo die Nadeln gesetzt wurden, im Gesicht, an den Händen und am Fußknöchel.

»Normalerweise würde ich hier auch eine setzen«, sagte Mille Sille und drückte mit dem Finger an eine Stelle hinter Annas Ohr. »Aber bei Schwangeren kann ich das nicht machen.«

»Okay«, sagte Anna.

»Ich mache jetzt Entspannungsmusik an, mit Wassersounds.«

»Okay«, sagte Anna und lag ganz still, die Nadeln zitterten.

»Ich gehe jetzt raus, aber ich stelle eine kleine Glocke neben deine Hand hier, du kannst einfach klingeln, wenn du fertig bist. Es ist individuell verschieden, wie lange man braucht. Es ist ein bisschen wie auf die Toilette gehen, wenn man fertig ist, ist man fertig.«

»Okay«, sagte Anna und sah an die Decke, während die Klänge der rauschenden Wellen aus Mille Silles Ghettoblaster aufstiegen.

Am Anfang war es schön. Es vibrierte, und Anna fühlte sich ein bisschen angetrunken. Das war sie seit Beginn der Schwangerschaft nicht mehr gewesen. Sie fühlte sich, als hätte sie ein eiskaltes Fassbier gekippt. Die Nadel in der Hand tat weh. Vorsichtig senkte Anna das Kinn Richtung Brust, um die Nadel sehen zu können. Ein wenig Blut war darunter hervorgelaufen. Dann wurde es langsam unangenehm. Anna konnte sich nicht bewegen. Sie traute sich nicht zu klingeln, sie wusste nicht, wie lange man normalerweise liegen bleiben sollte. Aus dem Vorraum draußen hörte Anna, wie Mille Sille eine andere Kundin begrüßte. Anna hatte kein Gefühl dafür, wie viel Zeit vergangen war. Es rauschte und rauschte in einer unendlichen Schleife aus dem Ghettoblaster. Sie hatte Lust, aufzustehen und die Nadeln abzuschütteln, das Wort Verletzung, sie fühlte sich schwach, als hätte sie den ganzen Tag noch nichts gegessen, ihr Hals schwoll an, ihr wurde schlecht, Anna wollte schreien. Jetzt hörte sie, wie sich Mille Sille von der anderen Frau verabschiedete, sie hatte also mindestens noch einen weiteren Raum, in dem eine andere Frau unterdessen genadelt worden war. Wie lange sollte man denn liegen bleiben? Anna traute sich nicht zu klingeln, aus Angst, nicht genügend Respekt vor dem Prozess zu zeigen.

Schließlich kam Mille Sille herein. »Liegst du immer noch hier?«, sagte sie.

»Ja«, sagte Anna.

Mille Sille nahm die Nadeln heraus.

»War es okay?«, fragte sie.

»Ja«, sagte Anna und lächelte. Sie rieb sich über ihre Hand. »Wie spät ist es?«

»Es ist Viertel vor zwei.« Sie hatte eine Stunde hier gelegen.

»Kann ich hier mit der Karte bezahlen?«

»Ja, das geht«, sagte Mille Sille. »Ich schließe dir gleich die Tür auf, man weiß ja nie an einem Freitag, den 13., ich kann nicht anders.«

Anna kramte in ihrer Tasche.

»Ich bin auch gerade erst aus New York zurückgekommen«, sagte Mille Sille. »Ich bin etwas gejetlagt.«

War das eine Entschuldigung? Wusste Mille Sille, dass die Behandlung nicht so verlaufen war wie geplant? Hatte sie es Anna angemerkt? Dass es schrecklich für sie gewesen war? Dass es unmöglich für sie gewesen war, sich darauf einzulassen – zu viel Feuer und viel zu wenig Wasser? Oder merkte sie gar nichts und machte einfach Small Talk? Was stimmte nicht mit Anna, warum wirkte Akupunktur bei ihr nicht?

»Wie viele Behandlungen braucht man normalerweise?«, fragte Anna, während Mille Sille ihr die Tür aufhielt.

»Das kommt ganz darauf an«, sagte Mille Sille. »Lass uns mal abwarten, wie sich das angefühlt hat, ob es schon geholfen hat oder ob du noch mehr brauchst.«

»Okay«, sagte Anna, und die Tür fiel hinter ihr zu, das Windspiel klimperte.

Sie ging am Kanal entlang und überquerte ihn. Sie hatte ihr Tuch vergessen, ihr Hals wurde schnell kalt, und sie bekam die Jacke wegen ihres Bauchs nicht mehr richtig zu. Sie setzte sich auf eine Bank, mit dem Rücken zu Mille Silles Haus, und rief Aksel an.

»Hej, ich bin’s«, sagte Anna. »Ich bin jetzt fertig.«

»Wie war’s?«, fragte Aksel.

»Uff, ich weiß nicht genau.«

»Es war bestimmt gut.«

»Es war teuer.«

»Wie viel?«

»800 Kronen.«

Aksel pfiff.

»Mir ist ein bisschen schlecht«, sagte Anna.

»Das geht bestimmt vorbei.«

»Ich rufe nur an, um zu sagen, dass ich dich liebe.«

»Ich liebe dich auch.«

»Manchmal habe ich Angst, dass ich außen vor bin, weißt du, irgendwie außerhalb der Familie, und jetzt bist du ja meine Familie, oder wir sind dabei, eine zu gründen. Und was, wenn ich außen vor sein werde?«

»Baby, du wirst nicht außen vor sein.«

»Nein, okay.«

»Wir sehen uns zu Hause? Dann kannst du mir mehr von deinem Akupunktur-Abenteuer erzählen.«

»Okay«, sagte Anna. »Dann bis gleich.«

»Hej hej«, sagte Aksel.

»Hej hej«, sagte Anna.

Anna ließ die Hand mit dem Telefon in den Schoß sinken. Sie sah hinüber zu den zusammengesackten Fachwerkhäusern, den Autos, die in den kleinen Straßen geparkt waren, auf dem Kopfsteinpflaster. Es war eine teure Gegend. Anna weinte.

FÜNFTER ANFANG

P0 41+2

Meldet sich in der Klinik wg. stärkerer Wehen seit 07:30 Uhr, regelmäßig und kräftig seit 10:00 Uhr, Dauer: 45 Sek.

12:00 Uhr

Überwachung der Herzfrequenz nach der Wehe 11-12-11.

Verlegung in den Kreißsaal.

Muttermund 7 cm, Kopf im Beckeneingang.

Möchte in die Badewanne, gute Wirkung.

Überwachung der Herzfrequenz nach Wehe 12-12-13.

Hält die Wehen gut aus.

12:50 Uhr

Auf der Toilette, spontaner Urinabgang.

Direkt nach der vaginalen Untersuchung erfolgt Flüssigkeitsabgang von dünnflüssigem, hellgrünem Fruchtwasser, zunächst als klar identifiziert, Einleitung der externen CTG-Überwachung.

4 Wehen innerhalb von 10 Minuten.

Anna wirkt nervös.

Bekommt Lachgas 30 % (N2O), mit leichter Wirkung.

Atmet durch die Wehen, teilweise unter der Maske.

13:15 Uhr

Anästhesistin wird gerufen, Anna möchte eine Epiduralanästhesie. Die Infusion wird gelegt. Jetzt geht viel hellgrünes Fruchtwasser ab. Deshalb wird eine Kopfelektrode angebracht, die gute, reaktive Herztöne aufzeichnet.

4 Wehen innerhalb von 10 Minuten, Dauer: 45 Sek.

13:35 Uhr

Anästhesistin wird erneut gerufen.

13:45 Uhr

Anästhesistin im Kreißsaal, beim zweiten Versuch kann die Epiduralanästhesie ohne Komplikationen gelegt werden, wirkt gut.

14:15 Uhr

Gute Wirkung der Epiduralanästhesie.

Anna zittert, bekommt Socken angezogen und eine Wärmelampe.

Hat das Gefühl, dass ihr Hals wie zugeschnürt ist und sie nur schwer schlucken kann, Wirkung der Epiduralanästhesie wird mit Alkoholtupfern getestet und als normal beurteilt.

Anna selbst sagt, dass es von der Angst kommen kann, da sie auf heftige Situationen oft mit Angst reagiert, und vorhin sei sie nervös geworden.

Besprechung mit der Anästhesistin über die Wirkung der Epiduralanästhesie.

Anw. Pumpe wird von 5,0 auf 3,0 eingestellt.

14:45 Uhr

Isst etwas Toast.

Ist guten Mutes, spricht über die nächsten Schritte, aber auch über die Schwierigkeit, einen zeitlichen Rahmen zu setzen.

1.000 ml NaCl sind durchgelaufen, das wird wegen der Blase an die Nachtschicht weitergegeben.

Hebamme: Amanda Andersen.

Geburtsbetreuung wird von der Hebamme Agnes Aaby übernommen.

Mündliche Absprache ist erfolgt mit der Stationshebamme oder Kollegin. Der Geburtsverlauf, der Zustand der Frau und des ungeborenen Babys sowie neue Risikofaktoren wurden durchgegangen.

15:15 Uhr

Anna liegt in der linken Seitenlage.

15:40 Uhr

Anna kann ihr rechtes Bein nicht bewegen und bekommt eine Bettpfanne angeboten oder das Setzen eines Einmalkatheters. Versucht die Entleerung auf Bettpfanne, erfolglos. Entleerung der Blase per Einmalkatheter, 200 ml klarer Urin.

15:50 Uhr

Seitenlage.

Die Schmerzen werden stärker, und sie spürt einen zunehmenden Druck in ihrer Vagina.

16:05 Uhr

Spürt, dass das Druckgefühl zunimmt. CTG normal.

16:20 Uhr

Zunehmende Schmerzen und Pressdrang.

Vaginale Untersuchung: Gebärmutterhals kaum verschlossen, dünner Rand auf der rechten Seite der Mutter.

Quadratische Fontanelle wird nicht mehr getastet, dafür eine glatte Naht in einem schrägen Durchmesser zwischen 11 und 13, Kopf zwischen Beckeneingang und Spinae, klares Fruchtwasser und Zeichnungsblutung. Epiduralpumpe wird auf 5.0 hochgestellt.

16:45 Uhr

Schmerzdurchbruch.

1/2 Bolusgabe, 2 ml Marcain + 2 ml NaCl.

BD: 123/66 P: 91.

Verstärkter Pressdrang.

18 Uhr

Zunehmender Pressdrang, unter der Wehe spürbar, Kopf zwei Finger über dem Beckenboden.

Etwas grünes Fruchtwasser läuft ab.

Anna ist etwas mutlos, beklagt anhaltende Schmerzen. Bekommt 40 %iges Lachgas verabreicht, mit guter Wirkung.

Wird verbal in aktive Presstechnik eingeführt, kann die Schmerzen während der Wehen damit lindern. Kleine Stöße auf dem Höhepunkt der Wehen.

Die Wehen haben etwas abgenommen an Intensität, Intervall 3–4/10 min.

19:15 Uhr

Die Wehen haben weiter an Intensität abgenommen, sind kurz und ineffektiv.

Abstimmung mit Stationshebamme Annette über die Gabe von Oxytocin.

Anna wird Oxytocin angeboten, um die Wehentätigkeit zu stimulieren. Sie stimmt zu.

19:20 Uhr

Oxytocin-Tropf wird wg. mangelnder Progression gelegt.

Patientin wurde über die Wirkung des Mittels aufgeklärt und ist einverstanden.

Anzahl Wehen/10 min: 3–4.

19:25 Uhr

Wird in Rückenlage gebracht, presst leicht am Höhepunkt der Wehe mit.

Die Wehen kommen jetzt in einem Intervall von 1,5 Minuten und dauern 30–45 Sekunden.

19:30 Uhr

Jetzt 6 Wehen innerhalb von 10 Min. Dauer: 30 Sekunden.

19:45 Uhr

Der Oxytocin-Tropf wird auf 40 ml/h erhöht.

20:05 Uhr

Der Oxytocin-Tropf wird auf 60 ml/h erhöht.

20:15 Uhr

Kopf am Beckenboden, Kopf erscheint im Scheideneingang während einer Presswehe.

Schöner Fortschritt.

Aktives Pressen in halbsitzender Position.

20:43 Uhr

Kopf wird während einer Wehe geboren, die Schultern kommen in einer Wehenpause.

Spontangeburt eines lebensfrischen Jungen aus vorderer Hinterhauptslage mit dem Rücken zur linken Seite der Mutter (SL), die Nabelschnur ist zweimal um seinen Hals gewickelt. Das Baby wird der Mutter übergeben, abgetrocknet und abgenabelt.

Anwesend unter der Geburt: Hebamme: Agnes Aaby + Stationshebamme Annette Amtoft

20:53 Uhr

Spontane Geburt der Plazenta, in der Nabelschnur sind drei Gefäße zu erkennen, Gewicht: 532 Gramm.

Bei der Untersuchung der Plazenta sieht man drei münzgroße Infarkte. Die Gebärmutter zieht sich anschließend gut zusammen, es kommt zu einer zulässigen Blutung. Blutung insgesamt: 200 ml.

21:15 Uhr

Bei der Untersuchung werden Risse festgestellt in

Labien:

Vagina: x

Perineum: x

Rektale Faszien auf der linken Seite der Mutter scheinen frei zu liegen.

Die Stationshebamme wird zur Untersuchung der Risswunde in den Kreißsaal gerufen.

Anschließend wird der Assistenzarzt Arne zur Untersuchung gerufen. Es wird eine Risswunde vom Grad 3A festgestellt, die von Arne genäht wird. Siehe seinen Vermerk zur Vernähung der Risse.

Entsprechend

Grad 1: (Labienriss auch Grad 1)

Grad 2: Abtasten des Sphincter ani

Intakt ja: nein:

Grad 3/4 ?: 3A

Der Arzt wird zur Beurteilung gerufen und dokumentiert die Nähte.

22:43 Uhr

Allgemeiner Zustand: müde, aber wohlauf.

Rückbildung der Gebärmutter: ja.

Zulässige Blutungsmenge: ja.

Urinausscheidung Patientin: wenig, ja.

Patientin kann selbst gehen:

Haut-zu-Haut-Kontakt mindestens eine Stunde innerhalb der ersten zwei Stunden: ja.

Das Kind wurde angelegt: ja, saugt aber nicht mit der richtigen Technik.

EWS wird später durchgeführt, da die Patientin auf der Station bleibt: ja.

23:30 Uhr

Hebamme Afsaneh Aliakbari und Hebammenschülerin Anni Andersson übernehmen die Betreuung von Hebamme Agnes Aaby.

Anna versucht, in Seitenlage zu stillen.

Der Junge hat die Brustwarze in den Mund genommen, aber saugt nicht richtig. Stillposition und die Anlegetechnik der Mutter scheinen korrekt zu sein. Oxytocin-Infusion abgeschlossen. Die Gebärmutter ist gut kontrahiert. Zulässige Blutungsmenge. Oxytocin-Tropf wird abgesetzt.

23:45 Uhr

Anna geht auf die Toilette und lässt Urin ab.

Ist danach unruhig und äußert Angstgefühle. Sie ist darüber besorgt, sich ihrem Sohn nicht verbunden genug zu fühlen. Spreche mit Anna darüber, dass es auch an der Müdigkeit nach der langen Geburt liegen kann, die Anna mental beeinflusst.

Das Paar bittet um einen Moment Privatsphäre.

Wird an Abteilung 4021 Zentrum für perinatale psychische Gesundheit gemeldet.

Hebamme aus 4021 kommt rüber und holt die Familie ab.

NB – Sphincter Regime, Riss: Grad 3A.

Hebamme Afsaneh Aliakbari und Hebammenschülerin Anni Andersson.

SECHSTER ANFANG

Tag 1–14 nach der Geburt

*

das atrium

im krankenhaus

mit grünen und braunen feldern

ein kind spielt in der sonne

in weiß in ekstase, sie

schlägt räder

vier gestalten in kitteln

sitzen und rauchen auf stühlen

halb versteckt hinter einer hecke

stillen

eine schwarze und schimmernde nadel

schwebt in der dunkelheit

setzt ihr eisen frei

und einen wald nass vor nacht

heavy metal

in der nacht

seven eleven beleuchtet

im erdgeschoss

auf der gegenüberliegenden seite

die roten lampen

über den tischen der cafeteria

wie unter wasser transparente zylinder

das atrium im fenster

wie ein gemälde

ich will hinein

ist da ein kind

wer hat es geboren

im fach der waschmaschine

kein separates fach für seife

sondern zwei geschwollene vulvalippen

grau und bedeckt mit

fleischsaft

stillen setzt

seine schwarze spritze frei

die schwarze erde

sie meint es weder gut

noch schlecht mit mir

ich ertrinke

ich hole keine luft

es ist mitte mai

alles ist aufgeblüht

ist da ein krankenhaus

ist da ein kind

da ist ein kind

*

ich wache auf, und die angst ist da

ich falle hinunter ins bett

die erdoberfläche verschwindet

da sind schlamm, wasser und metall

zutaten für blut

die krankenschwester nimmt das kind und bringt es weg

sein weinen hallt lange durch den flur

meine hände vermissen ihn wie eine haut

wie viel hat das kind gekostet

wie viel hat mich das kind gekostet

ich wache auf und sterbe

*

das neugeborene zu lieben

es bringt mir keine freude

zu stillen

ich bin der weißen hagebutte

blüte duftend

im angelegten park der angelegt wurde

um wild auszusehen wie wilde natur

ich rieche nach milch in der nacht

er wacht auf leise leise

im park blühen die weißen blumen der nacht

ich sehe die büsche durchs fenster

*

die liebe zum kind

ist animalisch

ist keine liebe

sondern hunger

all diese

vorbereitenden übungen

auch mit dem kind

das misstrauen meines herzens

das misstrauen meines herzens

er wacht leise auf

die nacht ist hell

ich nenne ihn liebling

*

ich verstehe

das kind durch die dinge

das kind durch seine gegenstände

den strampler

die decke

die mütze

ihre muster

was ich kaufen kann

das kaufen

ist zu einer möglichkeit

des erkennens geworden

die augen des kindes

ich habe das kind gekauft

mit meinem körper

ist es den preis wert

ist das kind den preis wert

*

ich habe das schreiben vergessen

als den ort

an dem ich mich befreien kann

ich wurde blau wie ein baby

unter der geburt kalt

vom schock

wer hat entbunden

jetzt ist der weißdorn aufgeblüht

wer hat entbunden

hatte ich vergessen

dass mich das schreiben

wieder lebendig machen kann

*

auf der geburtsstation

die verschiedenen

hebammen und

krankenschwestern

die ins zimmer

kamen

jede mit ihrem

gesicht

sie

mit restylane in den lippen

ihr herbes

parfüm

die junge

die hereinschwappte

und den raum ausfüllte

als sie um 23 uhr

nach der schicht auf dem weg in die stadt

im schwarzen kleid

den kopf zur tür hereinsteckte

und lächelnd fragte

ob die milch

denn schon gekommen sei

die über mich, über die wenigen

winzig kleinen tropfen

kolostrum

die unter anstrengung

aus meinen brüsten

gekommen waren

sagte

dass ich, dass sie

ein erfolg wären

die strenge

oberschwester

und ihre kommentare

zum besuch meiner mutter

die rothaarige

die in der nacht

nach der geburt

kam

und ihn einer

gewissen helene

übergab

deren namen wir erst später

erfahren hatten

du nanntest sie kinky

wegen ihrer

durchsichtigen strümpfe

und lila clogs mit lack

du warst schon immer

so vanilla

ich kann damit leben

jetzt werden wir

für immer zusammenleben

das gedicht

muss einfach sein

in meiner hand

bevor er aufwacht

alle hatten sie

ihre jeweilige meinung

zum stillen

zum abpumpen

der erfolgsrate

der milch

meinem körper

den schreien des kindes

der lange flur

in der nacht

im bienenstock

im inneren der laterne aus fleisch

der süße dunst aus blut

mit dem ich mich umgebe

frisch entbunden

ich blute

wenn ich aufstehe

der geruch schlägt mir entgegen

wie ein warmer atem aus

der netzunterhose

all diese hebammen

krankenschwestern

frauen

die auf wachs

stehen

das gedicht verändert sich

in der nacht

mit dem kind

*

aber wenn das hier stillen ist

dann ist es die gleiche dunkelheit

die felsen dazu bringt

sich über den waldboden zu bewegen

über tausende von jahren

*

ich weiß, die milch

ist irgendwo dort drinnen

und ich bin nicht die milch

aber sobald sie

aus der brust schießt

in dünnen

fast unsichtbaren strahlen

kommen mir zweifel

inwieweit ich existiere

*

es ist, als würde eine nacht ins gehirn gespritzt werden

es ist, als würde eine nacht

aus der zeit vor den menschen auf der erde

ins gehirn gespritzt werden

*

sein jammern erreicht mich im dunkeln

sein jammern dringt tief in mich ein wie ein

spekulum aus stahl

Für Bodil Bech

*

bodil

ich lese deine gedichte

ein buch, das man mir

auf der station gegeben hat

für manche mütter ist stillen schwierig

wir geben ihm einen namen

wir rufen ihn bei verschiedenen namen

was du geschrieben hast

blüht

mit einer solchen intensität

du willst

niemand sein

in auflösung

du bist vollkommen exaltiert

fast manisch

mit deiner stimme an der grenze

etwas nicht-menschliches

zu werden

das ist deine sehnsucht

das krankenhaus ist brutalistisch

das krankenhaus ist schwarz

in deinen gedichten ist die nacht hell

weiße ekstase

der holunder in seiner blüte

die nacht ist hell

ist die nacht hell

bodil

hattest du ein kind

ich will nichts wissen

nur die gedichte

keine biografie

nur ein kind

ein kind

in der mainacht

das aufwacht

leise

leise

*

wenn die frau

nicht länger

eine muse

in deinen gedichten ist

bodil

sondern aus sich

herauswächst

mit all ihrer kraft

gegen gott

und die moderne

bodil

was ist dann das gedicht

in der hand der stillenden

wer

ist dann die frau

die es schreibt

die sich

mit der kraft des stillens

aus sich herauszieht und

einer präzivilisatorischen dunkelheit

entgegen

ich weiß nicht, ob es dort

poesie gibt

ob es poesie

geben kann

*

hier

wo sich die gebärwanne

mit einem rauschen

im goldenen licht

des sonnenuntergangs

füllt

*

was passiert

mit dem gedicht

im inneren des stillens

laut einem forscher

im radio

sind die ersten farben

die eine zivilisation

versprachlichen

und daher auch sehen kann

rot und schwarz

viel später

als letzte farbe

blau

ich lebe

im rot

im schwarz

der roten dunkelheit

wo das stillen

entsteht

*

ich liebe

den konventionellen

ausdruck

müdigkeit

sonne auf

jedem kleinsten blatt

fußball im fernsehen

ein neuer strampler

der dem kind jetzt passen könnte

immer

wenn ich stille

wird mir mein herz gebrochen

ich bin

tot und begraben

durch die geburt

*

das stillen

durchdringt mich

wie schwermetall

ich lege das kind an

ich hole luft

ich halte ihn

ich spanne den arm an

erde wird in mir aufgeworfen

eine mattigkeit

räume im körper

in die niemand kommt

das kind hat keine sprache

hat noch nicht mal

eine körpersprache

wir klammern uns aneinander wie zwei tiere

ohne ziel

ohne persönlichkeit

daraus schließe ich

dass liebe

menschengemacht ist

denn das kind und ich

lieben einander nicht

sondern leben

in unendlicher wechselseitiger

abhängigkeit

*

ungefähr eine minute

bevor die milch

kommt

trifft mich

eine tiefe hoffnungslosigkeit

ohne ursache

danach

ein brennender stich

in jeder brustwarze

auf denen

die milch erscheint

in grauen wässrigen

tropfen zwischen den

fetten weißen

sie sprudeln hervor

unaufhaltsam

wie blut

aus einer wunde

mit einer geduld

die nur dem nicht-menschlichen

zu eigen ist

*

dieses schreiben muss

sich der zeit des kindes

anpassen

es ist hier

um mich am leben zu halten

dieses schreiben

wird mir

eine nicht-menschliche

geduld schenken

dieses schreiben

will mich

in eisen verwandeln

will mich

in erde verwandeln

in diejenige, die

alle samen

empfangen kann

in diejenige, die

ihre brust anbieten kann

jedes mal

*

immer, wenn ich durch den sommer schritt

diese jüngsten blätter, die schrien

brocken aus eisen im waldboden

aus metall geschriebene schatten

in denen sich das stillen dreht

wie ein spiegel

*

ich sehe den kreißsaal

mit seinen zwei liegen

die gebärwanne

die sich langsam mit wasser füllt

davor die drei großen fenster

zum amorpark hinaus

die sonne geht

zwischen den bäumen unter

und das zimmer ist erfüllt

von einem rötlichen

kupferfarbenen licht

es ist niemand im zimmer

nur diese wanne

die sich leise von selbst füllt

mit wasser und dem goldenen licht

der abendsonne

in der es keine zeit gibt

dieser raum

ist in mir entstanden

der schwere geruch

aus dem inneren des körpers

der mit dem kind kommt

dieser ort

ist in mir entstanden

nach der geburt

in den stunden danach

schließt sich

die tür zu dem ort

diesem ort

den ich von nun an

in mir trage

und in den ich

nie wieder gelangen kann

in der dunkelheit

die das zimmer umgibt

meine stimme

wie von

einer anderen frau

die flehend

den namen der hebamme ruft

Amanda!

SIEBTER ANFANG

Datum: 2 Jahre und 5 Monate nach der Geburt

Dieses unendliche Manuskript überwältigt mich. Ich gehe darunter in die Knie. Ich will sie nicht, diese Zerstörung. Nimm sie von mir. Ich schreibe von einem hirntoten Ort. Ohne Ziel. Ohne Verbindung. Ohne Anerkennung. Das hier ist Wahnsinn und bloßes Fleisch. Deswegen wollte auch noch nie jemand die Bücher von Müttern lesen. Niemand möchte sie kennen. Ihnen dabei zusehen, wie sie Wirklichkeit werden. Aber ohne diese Perspektive leben wir halbe, abgestumpfte Leben, jede für sich in ihrer Einsamkeit isoliert, schieben Mütter die Kinderwagen schamerfüllt über die Boulevards und durch die Straßen vorbei an Villen, um die Häuserblocks und über die Friedhöfe zwischen den Toten hindurch.

ACHTER ANFANG

Als sie Anna nach der Geburt das Kind auf die Brust legten, fühlt sie nichts.

»Gratuliere«, sagte ein Mund. Hände wurden gewaschen. Das Kind sah mit großen Augen zu ihr hoch.

Ein weißes Rauschen umgab sie, wie ein Flaum aus Wolle, und sank auf sie herab.

Obwohl sie mit dem Kind auf der Brust dalag, sah sie ihn jetzt wieder auf dem Arm der Hebamme, die schnell die Nabelschnur vom Hals wickelte.

»Warum weint er nicht?«, fragte Anna, und die Plazenta wurde geboren, noch ein Arzt hinzugerufen und noch einer und noch einer, die sich alle auf ihre Verletzungen konzentrierten.

»Warum schreit er nicht?«, fragte sie aus dem Inneren des weißen Rauschens. Die Hebamme wickelte die Nabelschnur ein. Endlich schrie er.

Anna hob eine Hand, schwarz vor Schleim, und betrachtete sie.

»Das Kindspech ist abgegangen.«

»Ist das Kacke?«, sagte Anna.

Sie nahmen ihn, und sie verlegte man auf eine Liege in der Ecke. Das große Rauschen wurde lauter. Weit entfernt wurde das Neugeborene untersucht.

»Aksel, sag mir, was sie machen, sag mir, was sie machen.«

»Sie zählen seine Finger und Zehen«, sagte Aksel beruhigend.

»Es sind jeweils zehn.«

Sie waren fertig und verschwanden.

Aksel zog seinen Pullover aus und hob das neugeborene Kind auf seine nackte Brust. Sie legten sich auf das Bett, auf dem Anna entbunden hatte. Alle Anzeichen einer Geburt schon weggewischt. Eine neue Papierauflage knisterte unter ihnen.

Es war dieser Anblick, das Kind auf dem Bauch des Mannes, die Liebe, die zwischen den beiden schon zu existieren schien, Aksels stolzer Blick, mit dem er den Jungen ansah, das Glück, das sie sah, aber nicht teilte, der das Rauschen, das Anna bisher umschlossen hatte, in sie eindringen ließ.

Aksel erhob sich vorsichtig mit dem Kind in den Armen und ging auf den Flur. Anna lag unter dem Fenster. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie dachte, man habe sie vergessen.

Eine neue Hebamme kam und versuchte, das Kind anzulegen, aber er wollte nicht trinken.

»Ich muss mit einem Psychologen sprechen«, zischte Anna.

»Wir haben einen Pfarrer«, sagte die Hebamme. Ihr Gesicht war so groß und nah bei Anna am Bett, dann war es verschwunden.

Sie wurden in ein anderes Zimmer gebracht. Aksel trug das Kind, Anna wurde von einer Hebamme und einer Krankenschwester gestützt. Ihr wurde gesagt, dass sie sich in den nächsten sechs Wochen nicht würde hinsetzen können, wegen der Risse. Das Einzige, woran Anna denken konnte, war das weiße Rauschen. Sie konnte nichts sagen.

Die Tatsache, dass das Kind ihren Körper verlassen hatte und sich nun außerhalb dieses ohrenbetäubenden Rauschens befand, das Anna war, ließ eine Nachwehe durch sie hindurchgehen. Sie wollte fragen, ob sie ihn halten dürfte, aber es kamen keine Worte.

An diesem Abend versuchten sie viele Male, das Kind anzulegen, er hatte Fruchtwasser geschluckt und konnte nicht saugen.

Nachdem die Hebamme alle Stillversuche für gescheitert erklärt hatte, nahm Aksel das Kind. Anna war so schwach, dass sie den Jungen kaum hochheben konnte. Sie konnte nicht länger als ein paar Minuten mit ihm liegen.

Dann wurde eine Milchpumpe auf einem Stativ auf Rollen hereingeschoben, und Anna legte die Pumpe alle drei Stunden an. Alles Dunkle wurde durch ein Rohr herausgesaugt, trotzdem wurde es immer mehr.

Um zwei Uhr in der Nacht ordnete die diensthabende Hebamme an, Aksel solle ein wenig Schlaf bekommen, und sie schoben ihm ein Bett ins Zimmer. Anna konnte nicht schlafen. Das Kind begann zu schreien. Sie konnte nicht aus dem Bett aufstehen. Eine neue Hebamme kam herein.

»Sollen wir ihm nicht ein bisschen Pre-Milch geben?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Anna und dachte an die Warnung ihrer Mutter, das Stillen könnte durch die Flasche zerstört werden.

»Ist schon Milch gekommen?«, fragte die Hebamme und nickte in die Richtung von Annas Brüsten.

»Noch nicht.«

Die Szene wiederholte sich im Lauf der Nacht. Die Hebamme kam herein und sagte: »Du musst schlafen, hast du seit der Geburt immer noch nicht geschlafen?«

»Nein«, sagte Anna, das Kind schrie, Aksel schlief, sie schaukelte die Wiege von ihrem Bett aus.

»Darf ich ihm etwas Pre-Milch geben?«, sagte die Hebamme.

»Nein«, sagte Anna.

»Ist schon Milch gekommen?«

»Noch nicht«, sagte Anna.

Die Nacht und die Schreie des Babys verflochten sich zu einem Seil, das durch sie hindurch gezogen wurde. Das Seil riss winzige Teile von ihr mit sich. Trotzdem schien es in ihr drin mehr zu werden. Die Tür ging auf.

»Schläfst du immer noch nicht?«

»Nein.«

Das Kind schrie.

»Darf ich ihm etwas Pre-Milch geben?«

Anna sagte nichts.

Die Hebamme näherte sich vorsichtig der Wiege. Sie sah zu Anna herüber. Ihre Blicke trafen sich. Glücklich nahm sie das Kind mit. Anna konnte ihn noch auf dem Flur schreien hören. Dann hörte er auf. Sie starrte in die Dunkelheit. Das schwache Licht im Zimmer kam aus den beleuchteten Fenstern im gegenüberliegenden Trakt. Anna zog an der Schnur über ihrem Bett und hörte, wie die Meldeanlage vor dem Schwesternzimmer im Flur zu summen begann. Sie summte lange, bis jemand kam.

»Ich kann nicht schlafen«, sagte Anna, als eine Krankenschwester hereinschaute.

»Hast du seit der Geburt immer noch nicht geschlafen?«, fragte die Krankenschwester.

»Nein«, sagte Anna, »könnte ich ein Beruhigungsmittel bekommen?«

»Bist du sicher?«

»Ja«, sagte Anna.