Mit dir falle ich - Inka Lindberg - E-Book
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Mit dir falle ich E-Book

Inka Lindberg

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Beschreibung

SPIEGEL-Bestseller Robyn weiß genau, was sie will – beim Dating und im Leben. Nach ihrem Maschinenbaustudium wird sie die Karriereleiter erklimmen und sich nie wieder Sorgen um Geld machen müssen. Von diesem Plan wird sie sich durch nichts und niemanden abbringen lassen. Erst recht nicht durch Finn, ihren unverschämt gutaussehenden Kommilitonen, der sein Bad-Boy-Image mehr als verdient hat – und der ganz offensichtlich auf sie steht. Aber kann eine Beziehung mit dem reichen Schönling wirklich gutgehen? Der erste New-Adult-Roman von »einfach inka«, der Social-Media-Expertin für Sex Education, Dating und Female Empowerment, für Fans von Mona Kasten, Laura Kneidl und Bianca Iosivoni.

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Seitenzahl: 490

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Inka Lindberg

Mit dir falle ich

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Inhalt

[Widmung]Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48EpilogDanksagung

Für alle, die Angst haben und sich trotzdem trauen.

Kapitel 1

»Das macht dann 19,20 €.« Abwartend fixierte die Kellnerin des kleinen Cafés erst mein Date, dann mich. Als weder Tim noch ich nach dem Portemonnaie griffen, rutschte mir das Herz in die Hose. Erwartete er etwa, dass ich bezahlte? Nein, das wäre doch komisch. Oder? Tim gehörte mit seinen karierten Hemden und gestriegelten straßenköterblonden Haaren eigentlich eher der alten Schule an, hielt einem die Tür auf und machte Komplimente für die neuen Schuhe, und das hier war unser erstes Date.

Er hatte mich wochenlang genervt, ob wir nicht mal miteinander ausgehen wollten. Eigentlich hielt ich mich von BWL-Schnöseln wie ihm fern, aber irgendwie hatte er es geschafft, mich mit seiner zuvorkommenden Art und den süßen Grübchen zu umgarnen. Nachdem die gefühlt Dutzend Tinder-Dates, die ich in der letzten Zeit gehabt hatte, allesamt eine Katastrophe gewesen waren, hatte ich mich nach ein wenig Stabilität gesehnt. Plötzlich schien die Aussicht darauf, einen rationalen Karriere-Typen zu daten, gar nicht mehr so schlimm. Vor allem, da die letzten Wochen wirklich hart gewesen waren und ich nun dringend ein Erfolgserlebnis brauchte.

Der Secondhandladen, in dem ich noch bis vor einem Monat gearbeitet hatte, war pleitegegangen, und ich hatte meinen Job verloren. Na, vielen Dank für nichts. Der Aushilfsjob war mir gegen Ende ohnehin mächtig gegen den Strich gegangen. Die unzähligen verwöhnten Mädchen, die nach der Schule mit ihren naserümpfenden Müttern die von mir sorgfältig sortierten T-Shirt-Stapel durcheinanderbrachten, hatten mir den letzten Nerv geraubt. »Aber Mom, das ist cool! Das trägt man jetzt so!«, war die Antwort auf den entsetzten Blick der besorgten Eltern, die ihren Kindern auf einmal muffig riechende Oversize-Pullover aus den Neunzigern kaufen sollten. Dass es Menschen gab, die auf diese Art Läden angewiesen waren, weil Secondhandmode das Einzige war, was neben dem Studium ins Budget passte, kam solchen Menschen gar nicht erst in den Sinn. Nein, Karen, ich bin kein Hipster, ich bin einfach nur pleite. Und jetzt hör bitte auf, alles durcheinanderzubringen, danke.

Ich blinzelte, versuchte krampfhaft, einen gelassenen Gesichtsausdruck zu wahren, als ich nun doch zögernd nach meiner mit Nieten dekorierten Gürteltasche griff, um wenigstens so zu tun, als würde ich nach meiner Geldbörse kramen.

Es war nicht so, dass ich der Überzeugung war, dass ein wahrer Gentleman die Rechnung übernahm. Oder dass ich mich gerne einladen ließ. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil, mir wäre in diesem Moment nichts lieber gewesen, als für uns beide zu zahlen oder wenigstens in der Lage zu sein, die Rechnung zwischen uns beiden aufzuteilen. Gleichbehandlung der Geschlechter und nieder mit den Stereotypen, dies, das.

Nur leider war das unmöglich, da sich auf meinem Girokonto nur noch 4,80 € befanden, also exakt 20 Cent zu wenig, um Geld abheben zu können. Aber selbst wenn man diesen Kleinbetrag abheben könnte, wäre das natürlich zu wenig, um die Rechnung auch nur annähernd zu bezahlen. Ich hatte mir in einem Anfall von Leichtsinn ein gebrauchtes Fahrrad gekauft. In dem Moment war mir das wie eine grandiose Idee vorgekommen, weil ich damit nicht mehr auf den unzuverlässigen Kölner Nahverkehr angewiesen war. Jetzt bereute ich die Entscheidung, das Geld für einen solchen Luxus ausgegeben zu haben.

Doch davon, dass ich pleite war, wusste Tim natürlich nichts. Warum hätte ich ihm das auch sagen sollen? Bis eben war ich der festen Überzeugung gewesen, dass sein Stolz es niemals zuließe, mich die Rechnung selbst bezahlen zu lassen.

Mist. Nervös knabberte ich an meiner Unterlippe, wühlte alibimäßig in meiner Tasche herum und registrierte aus dem Augenwinkel, wie Tim endlich ein Portemonnaie aus seiner Hosentasche zog und die verwirrt dreinblickende Kellnerin anlächelte. »Ich würde gerne für uns beide mit Karte zahlen.«

Ein Stein fiel mir vom Herzen. Ach was, ein ganzes Gebirge fiel von mir ab. Ich bedachte Tim mit einem Lächeln, von dem ich mir erhoffte, dass es mich kokett, schüchtern und gleichzeitig reizend wirken ließ. All das war ich normalerweise ganz und gar nicht, aber das musste er ja nicht unbedingt wissen.

Die Bedienung sah Tim bedauernd an. »Kartenzahlung geht hier leider nicht. Aber es gibt einen Geldautomaten, der ist nur eine Straße weiter.«

Noch während sie sprach, zog sich mein Date bereits seine Jeansjacke an und machte Anstalten zu gehen. »Alles klar. Ich bin gleich wieder da, Robyn.« Er drückte mir einen Kuss auf die Wange, lächelte der Kellnerin noch einmal freundlich zu und verschwand durch die bimmelnde Glastür.

Uff, das war knapp. Alle Anspannung wich von mir, und ich sackte ein wenig in mich zusammen. Gierig atmete ich ein. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte. Diese Situation gefiel mir gar nicht. Eigentlich wusste ich, dass man im Leben nichts geschenkt bekam. Wenn etwas zu einfach lief, konnte man davon ausgehen, dass irgendwas faul war. Das Leben war ein Kampf, der nie aufhörte. Und diese Woche war Tim eben Teil meines Kampfes geworden. Im Prinzip war es eine Win-Win-Situation: Er bekam endlich sein lang ersehntes Date mit mir, und ich konnte zur Abwechslung mal etwas anderes als Nudeln mit Pesto essen. Und die Pancakes hier waren echt lecker.

Ich ließ meinen Blick durch das Café wandern. Es war eins dieser neumodischen Dinger, deren Charme daraus bestand, zusammengewürfelte Möbel als stylish auszugeben. Am Tresen stand ein Schild, auf dem dick und fett deklariert wurde, dass es hier kein Wi-Fi gäbe und man gefälligst miteinander reden sollte. Wie unfassbar kontrovers! Ein leises Schnauben entwich mir.

Das Café war gut gefüllt, nur ein einziger Tisch war noch frei. Außer mir saßen in dem kleinen Laden noch eine gackernde Mädelsgruppe, ein zeitungslesender Herr mittleren Alters und zwei Pärchen.

Am hinteren Pärchen blieb ich hängen. Mit dem Rücken zu mir saß eine Blondine, die anscheinend in ein wahnsinnig aufregendes Thema vertieft war. Sie gestikulierte lebhaft mit ihren Händen, wobei ihre korallfarbenen Acrylnägel aufblitzten. Das jedoch schien den Typen, der ihr gegenübersaß, vollkommen kalt zu lassen. Absolut ausdruckslos und träge geisterte sein Blick durch das Café. Es war offensichtlich, dass seine Aufmerksamkeit überall war, nur nicht bei seinem wild gestikulierenden Date.

Schließlich sahen wir einander in die Augen. Mein Magen machte für den Bruchteil einer Sekunde einen kleinen Salto, als ob ich beim Treppensteigen eine Stufe verfehlt hätte. Ich kam mir auf seltsame Weise vor, als hätte ich etwas Illegales getan. Doch soweit ich mich erinnern konnte, war gucken nicht verboten.

Ich schaute ihn provokativ an. Angriff war schon immer die beste Verteidigung. Auf keinen Fall durfte er mir ansehen, wie unangenehm es mir war, dass er mich beim Starren erwischt hatte. Seine dunklen Augen blieben kalt, die tiefsitzenden, buschigen Brauen schienen sich noch weiter zu senken. Fasziniert beobachtete ich, wie er sich eine Locke, die ihm zu weit ins Gesicht hing, aus dem Gesicht pustete, bevor sich sein Blick langsam von mir löste und er sich wieder der Blondine widmete.

Warum wurde der Begriff »Resting Bitch Face« eigentlich fast nur im Zusammenhang mit Frauen benutzt? Dieser Typ hatte definitiv eins. Entweder sein Date war furchtbar oder er ein Misanthrop.

Ich war gerade dabei zu überlegen, ob ich ihn irgendwoher kannte oder ihn zumindest schon einmal flüchtig gesehen hatte, als sich die Bedienung in mein Gesichtsfeld schob. Ups, die hatte ich bei unserem kurzen Wer-zuerst-wegguckt-hat-verloren-Duell fast vergessen. Hitze stieg mir ins Gesicht. Tim war immer noch nicht wieder zurück. Wie lange war er schon weg? Fünf Minuten? Zehn? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Vielleicht war er unterwegs von Aliens entführt worden.

»Es kann nicht mehr lange dauern, er muss jeden Moment zurück sein«, erklärte ich und setzte mein lieblichstes Lächeln auf. Die Frau nickte nur und räumte demonstrativ den Tisch bis auf die letzte Tasse leer. Deutlicher hätte sie nicht machen können, dass sie ihn gerne neu decken wollte, falls neue Gäste kämen.

Unruhe machte sich in mir breit, und ich kramte mein Handy aus der Gürteltasche, um mich abzulenken. 16:12 Uhr. Ein absurder Gedanke kam mir in den Sinn. Was, wenn Tim gar nicht gegangen war, um Geld abzuheben? Was, wenn er mich einfach mit der Rechnung sitzengelassen hatte? Eigentlich konnte ich mir das bei ihm nicht vorstellen. Zugegeben, unser Date hatte mich jetzt nicht von den Socken gehauen. Aber es war auch nicht zum Davonlaufen gewesen, oder? Ich hatte weder über Traumata aus meiner Kindheit geredet noch über meine Exfreunde gelästert. Alles in allem war das Date einfach sehr nett gewesen.

Andererseits: Nett war der kleine Bruder von scheiße. Ich seufzte. Was hatte es nur auf sich, dass ich scheinbar bodenständige Typen so unfassbar langweilig fand? Tim hatte nichts falsch gemacht. Im Gegenteil, er hatte sich sehr viel Mühe gegeben, ein besonders prachtvolles Exemplar seiner Karo-Hemden angezogen und mich mit einem Strauß gelber Tulpen begrüßt. Wann hatte ich zuvor das letzte Mal Blumen geschenkt bekommen? Ich wusste es nicht. Auch unser Gespräch war durchweg »nett« gewesen. Wir unterhielten uns über die Uni, sein Hobby, das Gärtnern, und über Bücher, die wir gut fanden.

Aber vielleicht hatte Tim das anders wahrgenommen als ich und mich deswegen auf einer Rechnung sitzengelassen, die ich nicht bezahlen konnte. Ich runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Nein, eigentlich unmöglich. Das hätte ich doch sicher gemerkt. Außerdem hatte ER mich ja schließlich wochenlang wegen eines Dates bearbeitet. ER wollte doch unbedingt mit mir ausgehen. Nüchtern betrachtet war ein Treffen mit mir, Robyn Kaminski, ein verdammter Hauptgewinn für Tim. Zumindest redete ich mir das ein.

Erneut schielte ich auf mein Handy. 16:15 Uhr. Ich setzte mich aufrechter hin und strich imaginäre Krümel vom Tisch. Vielleicht stand eine riesige Schlange vor dem Geldautomaten. So war das doch manchmal. Also gab es keinen Grund zur Sorge.

Ich wischte das Benachrichtigungsfeld meines Handys nach unten und sah, dass ich zwei ungelesene Nachrichten hatte. Beide waren von Mia, meiner besten Freundin. Eventuell war sie auch meine einzige Freundin, aber wer nahm das schon so genau. Fremden gegenüber war ich meist sehr skeptisch eingestellt. Außerdem: Wer brauchte mehr als eine Freundin? So viel Zeit hatte doch niemand!

Wir kannten uns seit dem Kindergarten und waren seit dem Tag unzertrennlich, an dem sie einem Jungen, der sich über meine uncoolen Klamotten lustig gemacht hatte, mit der Plastikschaufel auf den Kopf gehauen hatte. Seither war sie wie ein Parasit, der einfach nicht lockerließ, egal, wie sehr ich mich von der Außenwelt abschottete.

Wie läuft dein Date? 16:08 Uhr

 

OMG, Niklas hat mein neues Insta-Bild geliked! 16:10 Uhr

Der Anflug eines Lächelns umspielte meine Lippen. Mia und ich hätten nicht gegensätzlicher sein können. Mit ihren strahlend blauen Augen, den von Natur aus hellblonden Haaren und Beinen, die verboten lang waren, zog sie die Männer an wie Motten das Licht. Während man bei mir erst mal gegen meinen tiefsitzenden Argwohn ankämpfen musste, bis ich mich Fremden öffnete, kannte Mia kein Schamgefühl. Es war nicht so, dass ich neben ihr unattraktiv aussah, doch während sie eine offene, freundliche Ausstrahlung hatte, wirkte mein oft abweisender Gesichtsausdruck nicht besonders einladend. Meistens war ich ganz froh darüber, so meine Ruhe zu haben. Aber natürlich konnte ich mich auch zusammenreißen und mit Charme Männer bezirzen, so wie ich es heute hoffentlich getan hatte. Doch im Gegensatz zu Mia breitete ich nicht jedes Mal direkt mein ganzes Privatleben vor jemandem aus. Kurzum: Sie war der wandelnde Sonnenschein, everybody’s darling eben, und die Männer lagen ihr zu Füßen. Doch so unschuldig sie wirkte, so federleicht wickelte sie ihre Beute um den Finger und wechselte die Verehrer öfter als ich meine Schuhe.

Sag Niklas, er kann sich in deine Warteliste eintragen. Bei mir läuft’s gar nicht gut. Tim ist verschwunden und hat mich mit der Rechnung sitzengelassen. 16:17

Mia ignorierte meine Stichelei bezüglich der Warteliste und antwortete prompt.

Waaaas? Was hast du gemacht? 16:18

Ich schnaubte.

Ich hab gar nichts gemacht. Habe die Vermutung, dass Tim von Aliens entführt wurde. 16:19

Soll ich dich retten kommen? 16:20

Ich zögerte. Es war inzwischen zwanzig nach vier. Allmählich war ich mir ziemlich sicher, dass mein Date mich wirklich sitzengelassen hatte. Um diese Wartezeit zu rechtfertigen, musste die halbe Stadt vor ihm in der Schlange anstehen.

Nee, lass mal. Melde mich später. 16:21

Mia hatte mir in der Vergangenheit schon öfter Geld »geliehen«, als mir lieb war. Nur in den seltensten Fällen war ich wirklich in der Lage gewesen, ihr das Geld zurückzuzahlen. Meiner Freundin machte das nichts aus, im Gegenteil, sie bestand regelmäßig darauf, mich zu Dingen einzuladen, da »Daddy das ja eh bezahlte«, aber eigentlich passte mir so was gar nicht in den Kram. Ich stand nicht gerne in der Schuld anderer.

Ich schaute mich im Café um. Soweit ich mitbekommen hatte, war die Bedienung heute allein. Mehr Servicekräfte brauchte es auch nicht, der Laden war winzig. Sie war gerade dabei, die Abrechnung der Blondine und des Lockenkopfs zu machen, und kehrte mir den Rücken zu.

Das Flattern in meinem Bauch verstärkte sich immer mehr, und meine Handflächen wurden feucht. Was würde passieren, wenn ich ihr gestand, dass ich die Rechnung nicht bezahlen konnte? Musste sie dann die Polizei rufen? Einen Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis konnte ich mir echt nicht leisten. Danach wäre die Jobsuche quasi unmöglich.

Meine Finger vergruben sich in meiner Gürteltasche. Ich atmete tief ein und aus und versuchte, mich zu beruhigen, dann fasste ich einen Entschluss. Ich packte mein Handy, stopfte es in die Tasche und warf mir meine Lederjacke über.

Jetzt oder nie. Ein letztes Mal huschte mein Blick zur Kellnerin, die gerade das Portemonnaie einpackte und sich bei dem Pärchen bedankte.

Ruckartig sprang ich auf und hastete auf den Ausgang zu. Ich rempelte aus Versehen den Stuhl eines Gasts an, drehte mich jedoch nicht um und sah nur mein Ziel vor Augen. Nur noch wenige Schritte, dann hätte ich es geschafft.

Ich streckte die Hand nach der Türklinke aus. Hinter mir hörte ich die Bedienung rufen. Egal. Einfach schnell weg hier. Meine Fingerspitzen berührten gerade die Klinke, als die Tür bereits aufgerissen wurde. Vor mir stand eine Gruppe von fünf Studierenden, die das Café betreten wollten und damit den Ausgang blockierten. Ich erstarrte. Hier war kein schnelles Durchkommen.

Hinter mir machte sich eine empörte Stimme bemerkbar. »Entschuldigung? Was soll das denn werden?«

Langsam drehte ich mich wieder um und starrte in die wutentbrannten Augen der Kellnerin. Es war zwecklos. Meine Flucht war gescheitert.

»Ich … ich wollte auf Toilette gehen. Was denken Sie denn? Darf man das jetzt nicht mehr?«, presste ich hervor und blieb bei meiner Strategie. Dabei war es ganz offensichtlich, dass das nur ein billiger Vorwand war. Ich stand vor dem Ausgang, und das WC befand sich am anderen Ende des Raumes. Fuck.

Inzwischen war das gesamte Café verstummt, und ich spürte das neugierige Starren der anderen Gäste auf meiner Haut. Die Neuankömmlinge drängten sich immer noch verdutzt an der Tür, und das Pärchen, das vorhin gezahlt hatte, stand unschlüssig hinter der Bedienung. Vermutlich hätte man in diesem Moment auch eine Stecknadel fallen hören können.

»Ach, ist das so! Geht man neuerdings mit Jacke und Tasche aufs Klo?« Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich spürte, wie mir langsam schlecht wurde. Meine Kehle wurde eng, aber jetzt Unsicherheit zu zeigen, wäre mein sicherer Untergang. Ich reckte das Kinn. »Also ich schon! Es war ja niemand da, der darauf aufpassen würde. Wer sagt mir denn, dass ich nicht beklaut werde, wenn ich hier einfach alles unbeaufsichtigt liegen lasse?«, fauchte ich genauso giftig wie mein Gegenüber.

»Gut, dann können Sie ja jetzt zahlen!«

Ich hielt dem stechenden Blick der Bedienung stand und gab mir alle Mühe, meine Panik zu verbergen. Scheiße, scheiße, scheiße. Das flaue Gefühl in meinem Magen verwandelte sich in einen waschechten Knoten. Zu allem Überfluss spürte ich, wie sich verräterische Tränen in meine Augen stahlen. Das durfte einfach nicht wahr sein.

Nicht weinen, nicht weinen, nicht weinen, wiederholte ich wie ein stilles Mantra immer wieder in meinem Kopf. Nur Schwächlinge weinten. Ich konnte spüren, dass die Blicke des ganzen Cafés immer noch auf uns lasteten, als folgten die Gäste gebannt einem Schauspiel im Theater.

Ein Räuspern durchbrach die angespannte Stille. »Ich übernehme das.« Eine tiefe, ruhige Stimme erklang hinter der Kellnerin. Verwundert drehte sie sich um. Mister Resting Bitch Face drückte ihr einen 50-Euro-Schein in die Hand. »Stimmt so.«

In diesem Moment war ich mir nicht sicher, wer irritierter dreinschaute: ich, die verärgerte Bedienung oder das Date des Lockenkopfs. Warum tat er das? Er kannte mich doch gar nicht! Hielt er sich für das männliche Gegenstück zu Mutter Teresa? Den heiligen Samariter?

Die Bedienung musterte den Schein einige Sekunden lang, bevor sie schließlich danach griff. Die Aussicht auf mehr als 30 € Trinkgeld schien sie wohl milde zu stimmen. »Na, da hast du noch mal Glück gehabt! An deiner Stelle würde ich mich hier so schnell nicht mehr sehen lassen!«, schnauzte sie mich an, bevor sie sich den wartenden Gästen in der Tür zuwandte und sie zum Tisch führte.

Der mürrische Gesichtsausdruck des Typen verzog sich bei meinem Anblick zu einem verschmitzten Grinsen. Erstaunlich. Irgendwie hatte ich nicht damit gerechnet, dass er so freundlich, fast schon spitzbübisch aussehen konnte.

»Gern geschehen«, sagte er, als er sich an mir vorbeischieben wollte. Im letzten Moment hielt er jedoch inne. Er war mir nun ganz nahe, und sein unverschämtes Lächeln zog sich noch mehr in die Breite. »Oh, eins noch«, raunte er mir zu. »Mund zu, es zieht.« So viel zum Thema freundlich. Dann griff er nach der Hand der Blondine, die mich im Vorbeigehen mit ihren Blicken erdolchte, und drängte sich durch die Tür.

Was zur Hölle war das denn gewesen? Hastig schloss ich den Mund und schluckte. Was für ein arroganter Schnösel!

Kapitel 2

Wie vertraut man

in einer Welt,

in der doppelt

so viele Gesichter

wie Menschen leben?

Ich klemmte mir den Tesaroller zwischen die Knie und klebte den frisch ausgedruckten Zettel an das schwarze Brett. Fast hätte ich ihn zwischen den Seiten meines vollgekritzelten Collegeblocks nicht mehr wiedergefunden. In dem Block befanden sich keine wichtigen Unterlagen. Diese hatte ich alle bereits fein säuberlich in die passenden Ordner abgeheftet. Stattdessen zierten eine Seite nach der anderen kleine Gedichte oder Gedankenfürze, wie ich sie gerne nannte. Bei allem, was mit der Uni zu tun hatte, herrschte Ordnung. In meinem Kopf gab es davon jedoch oft zu wenig, was jeder Hobby-Psychologe anhand meiner zu Papier gebrachten Gedanken hätte erkennen können.

Zufrieden betrachtete ich den Zettel, auf dem ich Nachhilfe anbot, bevor ich mir meinen überfüllten Secondhand-Lederrucksack über die Schulter warf und Richtung Mensa lief. Gestern hatte ich beschlossen, dass es so nicht weitergehen konnte. Zwar war das Geld vom BAföG endlich auf meinem Konto angekommen, doch spätestens seit der peinlichen Nummer im Café war mir schmerzhaft klargeworden, dass ich nie wieder so etwas Degradierendes erleben wollte. Nie wieder wollte ich unfähig sein, meine eigenen Rechnungen zu begleichen.

Ich hatte mich also bei diversen Geschäften als studentische Aushilfe beworben und soeben eine Ausschreibung ans schwarze Brett geklemmt, die mir hoffentlich schnell aus meiner Misere helfen würde. Schließlich gab es doch immer irgendwelche Erstis, die der Überzeugung waren, eines Tages das große Geld mit Maschinenbau zu verdienen, obwohl sie keinen Funken von der Materie verstanden. Bis es bei ihnen so weit wäre, würde ich eben selbst das große Geld mit ihnen machen.

Wenn ich eins konnte, dann war es pauken. In der Schule hatte es regelmäßig dumme Kommentare gegeben, wie unfair es wäre, dass manchen die Begabung für Naturwissenschaften einfach in den Schoß fiele. Zugegeben, die komplexen Zusammenhänge waren für mich recht schnell zu verstehen. Aber Tatsache war auch, dass ich dafür jeden Tag nach der Schule etliche Stunden am Schreibtisch verbracht hatte. Mir waren die guten Noten nicht einfach so in den Schoß gefallen. Es rechnete nur niemand damit, dass jemand wie ich sich wirklich Mühe in Sachen Bildung gab. Aber ich war nie zur Schule gegangen, um Spaß zu haben. Spätestens seit der sechsten Klasse war mir bewusst, wie wichtig meine Bildung für eine Zukunft war, die mich weit, weit weg aus meiner Heimatstadt und meiner dysfunktionalen Familie brachte. Ich musste ungefähr dreizehn gewesen sein, als ich verstand, dass man einen guten Job brauchte, um auch wirklich alle Rechnungen bezahlen zu können. Und für einen guten Job brauchte man einen guten Abschluss.

Ja, mit meinen zerschlissenen Klamotten, den tätowierten Armen und den langen, ungebändigten braunen Haaren, die an ein Bandmitglied der Guns N’ Roses erinnerten, sah ich nicht wirklich wie eine Streberin aus. Ehrlich gesagt wäre das auch das Letzte gewesen, was ich laut zugegeben hätte. Nur Mia wusste, wie wichtig mir meine Ausbildung war, wie verzweifelt ich daran arbeitete, nicht wie meine Mutter zu enden. Mein Ziel war es, durch meinen zukünftigen Job nie wieder von anderen abhängig zu sein und mir alles kaufen zu können, worauf ich Lust hatte. Ich wollte nie wieder das Gefühl aushalten müssen, an einer Kasse zu stehen und zu bangen, ob das Geld auf meinem Konto für den Wocheneinkauf reichte. Alles, was ich wollte, war frei zu sein.

 

Es war 13 Uhr, also genau die Zeit, in der die halbe Uni essen wollte. Als ich die Mensa betrat, reichte die Schlange für die Essensausgabe bereits bis um die Ecke. Relativ weit hinten konnte ich Mia erkennen, die wild auf ihrem Handy herumtippte.

»Hey.« Ich stupste meine Freundin mit dem Ellenbogen. »Wer hat dir denn diese unverschämt gute Laune verpasst? Schreibst du immer noch mit Nico?«

»Niklas!«, lachte Mia. »Er heißt Niklas!« Theatralisch verdrehte sie ihre blauen Augen und lächelte mich schelmisch an. »Robyn, ich glaube, dieses Mal ist es wirklich ernst! So verliebt habe ich mich noch nie gefühlt! Wirklich!«

Ich grinste. »Ach! Ist das so? Und was ist mit Kevin? Ich dachte, er wäre der Richtige?«

Mia presste die Lippen aufeinander. Es war offensichtlich, dass sie sich ein Lachen verkniff und sich bemühte, ein beleidigtes Gesicht aufzusetzen. »Du meinst wohl Levin.« Sie seufzte. »Ach, ich weiß auch nicht. Levin hat mich einfach nicht … gefühlt!«

Ich war mir nicht sicher, wie man jemanden fühlen konnte, aber nickte gespielt verständnisvoll. Die Schlange bewegte sich langsam weiter, und ich entschied mich für eine Portion Kartoffelgratin. Mia griff nach einem der fertigen Salate.

»Alles klar. Dann kommt Levin also auf die lange Liste der armen Männerherzen, die du gebrochen hast«, neckte ich meine beste Freundin, während wir uns Richtung Kasse bewegten.

»Du siehst das vollkommen falsch. Ihr alle seht das falsch. Ich breche gar keine Männerherzen, ich bin einfach so! Ich kann ja auch nichts dafür, wenn die ganze Menschheit völlig normale Gespräche mit Flirten verwechselt.« Mia schob sich eine Strähne hinters Ohr und setzte eine betont unschuldige Miene auf.

»Jetzt rück endlich mit der Sprache raus. Was ist überhaupt passiert?«, fragte ich sie, als wir uns mit unseren Tabletts an einen freien Tisch setzten.

»Also.« Ich konnte förmlich spüren, wie sehr Mia sich freute, mir endlich alle Einzelheiten über ihre neueste Männergeschichte zu erzählen. »Ich habe ein Selfie gepostet, und Niklas hat es geliked!« Aufgeregt spießte Mia so viele Salatblätter mit ihrer Gabel auf, wie sie nur konnte. »Dann bin ich auf sein Profil gegangen und habe sein neustes Foto geliked.« Sie hielt einen Moment inne und grinste mich an, als hätte sie mir gerade etwas furchtbar Unanständiges gestanden. »Ich glaube, er hat darauf gewartet, weil es nicht lange gedauert hat, bis er noch ein Foto von mir geliked hat!« Sie schob sich die volle Gabel in den Mund. »Auf jeden Fall ging das dann eine Weile hin und her, bis er in meine DMs geslidet ist.«

»Bis er was?« Ich verstand gar nichts mehr. Abgesehen davon, dass der Salat in ihrem Mund eindeutig die Artikulation negativ beeinflusste, hatte ich auch inhaltlich keine Ahnung, von was sie sprach. Von Social Media hielt ich mich so weit es ging fern. Zugegeben, es sah manchmal ganz unterhaltsam aus. Doch der Quatsch war nur eine weitere Ablenkung, die ich neben der Uni wirklich nicht gebrauchen konnte.

»Na, er hat mir eine private Nachricht auf Instagram geschickt! Wirklich, in welchem Jahrhundert bist du eigentlich steckengeblieben?« Sie sah mich fast vorwurfsvoll an, fummelte an ihrem Handy rum und las dann vom Display: »›Du musst wirklich aufhören, deine Haare so zu tragen.‹ Und ich so: ›Hä? Warum? Was ist daran falsch?‹ Und er so: ›Ich weiß nicht, wie lange ich mich sonst noch zusammenreißen kann, wenn ich jeden Mittwoch deinen umwerfenden Hals im Proseminar sehe.‹«

Mir fiel auf, dass sich Mia auch heute die blonden, langen Haare hochgesteckt hatte, wodurch ihr Nacken entblößt war. Ein Schelm, der da Böses dachte! »Hat er nicht geschrieben?«

»Doch!« Mia strahlte mich an. »Er hat mich sogar nach einem Date gefragt. Ich wusste gar nicht, dass er mich gut findet! Stille Wasser sind eben doch tief.«

Meiner Meinung nach war dieser Niklas alles andere als ein stilles Wasser, aber diese Bemerkung verkniff ich mir. Ich wollte ihr nicht die Freude verderben und wusste außerdem, dass er zu 99,99 % keine Gefahr darstellte, da sie spätestens in zwei Monaten einen neuen Typ am Start haben würde. Ob er ein guter Kerl war oder nicht, spielte also keine große Rolle. Er würde gar nicht die Zeit bekommen, meine Freundin ernsthaft zu verletzen.

Mia schmatzte eine Weile zufrieden, bis sie auf einmal innehielt. »Du hast mir noch gar nicht erzählt, was genau mit Tim passiert ist! Hast du noch mal von ihm gehört?«

Tim. Dieser Mistkerl hatte es echt auf die Liste der top drei schlimmsten Dates geschafft. Ich schob die Reste meines Kartoffelgratins auf meinem Teller hin und her. »Nein. Eventuell habe ich ihn direkt danach auch blockiert.« Eigentlich hatte ich keine Lust mehr, über das Geschehene zu reden, doch Mia schaute mich erwartungsvoll an. Sie schien es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, einen Partner für mich zu finden, dabei wusste sie, wie ich zu Gefühlsduselei stand. Ich stöhnte genervt. »Ich verstehe gar nicht, warum ich so dringend einen Freund brauchen soll. Überhaupt frage ich mich schon länger, warum Menschen soziale Kontakte brauchen. Es wäre viel einfacher, wenn man nicht von anderen abhängig wäre. Ich meine, ich hab dich, Sir Lancelot, die Uni und bald hoffentlich auch wieder einen Job. Da bleibt doch gar keine Zeit!«

»Sir Lancelot ist ein Hamster, und ich glaube nicht, dass die als soziale Kontakte zählen. Wusstest du, dass Babys sterben, wenn sie in den ersten Wochen ohne die Zuneigung einer Bezugsperson aufwachsen? Hab ich in Sozi gelernt!«

»Zum Glück bin ich kein Neugeborenes«, murrte ich. »Und Sir Lancelot ist der menschlichste Hamster, den ich je gesehen habe. Er ist quasi … mein Freund! Wir kuscheln jeden Abend und gucken Filme zusammen. Wenn das nicht boyfriend material ist …« Selbstverständlich wusste ich, dass ein Hamster keinen menschlichen Kontakt ersetzen konnte. Aber dieses kleine Wesen war wirklich mein treuer Begleiter.

Mia schnalzte mit der Zunge. »Du willst doch nicht ernsthaft aufgeben, nur weil so ein dahergelaufener BWL-Justus dich versetzt hat!«

Natürlich traf sie mit ihren Worten genau den Teil in mir, der so etwas nicht auf sich sitzen lassen konnte. Ich blähte die Nasenflügel und schüttelte den Kopf. Als ob mich irgendein Mann nach nur einem Date verletzen könnte.

»Weißt du was!«, motzte ich. »Ab jetzt lebe ich abstinent. Wofür gibt es denn Sexspielzeug? So gut kann das eh kein Mann.« Demonstrativ schob ich meinen Teller von mir weg und imitierte mit dem Zeigefinger die rabiaten Bewegungen eines Mannes auf der Suche nach der Klitoris.

Mia brach in schallendes Gelächter aus, was uns einige neugierige Blicke vom Nachbartisch einbrachte. Hastig trat ich meiner Freundin gegen das Schienbein, als ich erkannte, wer dort saß.

»Aua! Bist du verrückt! Das hat voll –«

»Pscht!«, unterbrach ich meine Freundin eilig und begutachtete meinen Teller, als ob ich noch nie zuvor in meinem Leben Kartoffelgratin gesehen hätte. »Nicht hingucken. Auf 13 Uhr sitzt der Fußfetischist.«

»Was?« Mia drehte sich erst in die eine und dann in die andere Richtung. »Ach da!«, rief sie aus und winkte dem Nachbartisch fröhlich zu. Dort saß ein Typ, den ich nicht kannte, und Manuel, der mit seinen langen hellbraunen Haaren ein wenig an Jesus erinnerte. Er sah einige Momente zwischen Mia und mir hin und her, dann drehte er sich ohne den Gruß zu erwidern wieder um und widmete sich seiner Suppe.

»Ich weiß gar nicht, was du hast. Also in meiner Gegenwart hat Manuel noch nie mit seinen Füßen gespielt. Der ist echt korrekt!«

Der Gedanke an meine letzte Begegnung mit Manuel verstärkte den Wunsch in mir, ein abstinentes Leben zu führen. Mia hatte ein Blind Date zwischen mir und dem Typen organisiert. Natürlich hatte sie mir nicht verraten, dass Manuel zu der Fraktion Barfußläufer ab zehn Grad Celsius gehörte. Auch jetzt konnte ich sowohl Manuels nackte Zehen als auch die seiner Begleitung unter dem Tisch wackeln sehen. Ein Schauer lief mir über den Rücken.

Wobei die Barfußsache an sich auch nicht der Weltuntergang gewesen wäre. Letztendlich sollte jeder tun und lassen, was er wollte. Kritisch wurde es jedoch, als er mitten im Restaurant anfing, seine Füße zu massieren. Bei den Blicken, die er mir dabei zugeworfen hatte, hätte man meinen können, dass er stattdessen etwas anderes massierte. So oder so: Mein Appetit war damit vergangen. Ich hatte das Restaurant ohne Zögern verlassen und war nach Hause geflohen, um mit Wasser angerührten Haferbrei zu essen. In keinem Leben würde ich mich freiwillig sexuell belästigen lassen, nur weil mein Date dachte, es sei okay, wenn er mich zum Essen einlud.

»Warum gehst du dann nicht mit ihm auf ein Date?«, zischte ich Mia an.

Sie ließ die Gabel sinken und zog die Augenbrauen hoch. »Puh. Gute Frage. Ich glaube, ich mag Füße nicht so gerne.«

»No shit, Sherlock! Ich auch nicht!«

»Hmm.« Mia sah mich nachdenklich an. »Das kann ich verstehen. Vielleicht hat Niklas ja einen Freund, der single ist, den –«

»Auf gar keinen Fall!«, schnitt ich ihr das Wort ab. »Ich habe erst mal genug von deinen Kuppelversuchen.«

Mia musterte mich noch einen Moment lang mit ihren riesigen Augen. Sie faltete ihre Serviette, dann kicherte sie leicht beschämt. »Ja, na gut, okay. Ich kann es dir nicht übelnehmen.«

Jetzt musste auch ich schmunzeln. »Ich weiß gar nicht, warum ich mich da jedes Mal drauf einlasse!« Sofort erschienen Bilder verpatzter Kuppel-Versuche in meinem Kopf.

»Wieso?« Sie schob die Unterlippe vor. »Die Dates mit Marcel zum Beispiel waren doch total super!«

»Ja, total. Bis zum dritten Treffen, als er mir gestanden hat, dass er eigentlich nur an dich rankommen wollte.«

»Quatsch, du übertreibst.« Mias Kopf lief hochrot an. Tatsächlich hatte ich es dem Kerl nicht mal übelnehmen können, dass er mich nur benutzt hatte, um an meine Freundin ranzukommen. Er war so unfassbar in sie verschossen, dass er mich als letzten Ausweg gesehen hatte.

»Okay, und was ist mit Andi?«, stichelte ich weiter. »Der wollte mich beim ersten Date seiner Mutter vorstellen! Seiner Mutter!«

Mias kläglicher Versuch, ernst zu bleiben, missglückte. Laut prustend schlug sie mit der Hand auf den Tisch. Eine Studentin ein paar Sitzplätze weiter zuckte zusammen, und ich spürte erneut die Blicke von Manuel und seinem Barfuß-Freund. Doch ich war viel zu sehr damit beschäftigt, nicht selbst hysterisch loszulachen, als dass es mich in diesem Moment gekümmert hätte.

»Vielleicht solltest du wirklich meine Date-Vorschläge in Zukunft ablehnen.«

Kapitel 3

Heute war ein guter Tag. Ich war mir sicher: Heute musste das Glück auf meiner Seite sein, denn ich gab meine erste Nachhilfestunde. Und das bedeutete, dass ich irgendeinem Trottel eine Stunde lang erklären durfte, wie man Flächenträgheitsmomente berechnete. Pro Nachhilfestunde bekam ich 17 €, und von 17 € konnte man sich sehr viel kaufen. Für das Geld konnte ich etwa sechs Mal in der Mensa essen, auf ein Konzert gehen oder im Discounter einkaufen.

Zufrieden ging ich auf eine Gruppe von Tischen zu, an denen bereits einige Studierende saßen, sich unterhielten oder arbeiteten. Finn, der Typ, der meine Hilfe benötigte, war wohl im zweiten Semester und bei der ersten Prüfung in »Technische Mechanik 2« durchgefallen. Dieses Mal wollte er unbedingt bestehen und hatte mir auf meinen Aushang am Schwarzen Brett hin eine Nachricht auf WhatsApp gesendet.

Es war 9:55 Uhr, um 10 Uhr waren wir verabredet. Ich setzte mich schon mal an einen der noch freien Tische und zog die Arbeitsblätter, die ich vorbereitet hatte, aus meinem Lederrucksack, um sie noch ein letztes Mal durchzugehen. Nichts war peinlicher, als die Antworten selbst nicht zu wissen, wenn man anderen etwas beibringen sollte. Nach dem kurzen Scan blickte ich wieder auf und fuhr mir durch die wirren Haare. Vielleicht war er ja schon da. Ich rief auf meinem Handy unseren Chatverlauf auf. Bei WhatsApp hatte er nur ein Foto von einem Auto statt eines Profilbilds eingestellt. Ich sah mich um. Nein, an den Tischen saß keiner, der so statusversessen aussah, als dass er das Bild eines Autos als Profilfoto nutzen würde. Wobei, konnte man so etwas jemandem wirklich ansehen?

10 Uhr war mittlerweile durch. Langsam wurde ich ungeduldig.

Wo bist du? 10:03

Gleich da. 10:03

Mir sollte es eigentlich egal sein. Wenn der Typ zu spät kam, war das sein Problem, nicht meins. Um Punkt 11 Uhr wäre ich hier weg, es sei denn, er zahlte gleich für zwei Nachhilfestunden. Ich seufzte, stützte mein Kinn auf meiner Hand ab und beobachtete die vorbeihastenden Kommilitonen. Mein neuer Schüler hatte auf jeden Fall eine interessante Definition von »gleich«. Wo blieb der Kerl nur? Ich malte mir gerade detailliert aus, was ich wohl zu Mittag essen könnte, als mein Handy vibrierte.

Bin da, wo bist du? 10:11

Mit dem Handy in der Hand stand ich auf und sah mich um. Ein paar Meter weiter stand ein großer Typ mit dem Rücken zu mir. Er trug eine Lederjacke, verwaschene Jeans und diese merkwürdigen, spitz zulaufenden Schuhe, die ich immer mit britischen Businessmännern in Verbindung brachte. War er das? Von hinten sah er zumindest nicht wie ein Autofanatiker aus. Aber außer ihm stand niemand so verloren in der Gegend herum, also verfasste ich auf gut Glück eine weitere Nachricht.

Hinter dir. 10:12

Eine Sekunde später schaute der Typ auf sein Handy, dann drehte er sich um.

Das war der Moment, in dem die Welt für den Bruchteil einer Sekunde stillstand. Das Herz rutschte mir in die Hose, und vor Scham wurde mir ganz heiß. Das durfte einfach nicht wahr sein. Wollte mich das Universum für irgendetwas bestrafen? Entgeistert starrte ich den Kerl an und betrachtete ihn ganz genau, um mir sicher zu sein. Doch es gab keinen Zweifel: Mir gegenüber stand der Lockenkopf mit dem Resting Bitch Face aus dem Café letztens. Der Typ, der meine Rechnung bezahlt hatte. Der Typ, der sich mit dem dreisten Kommentar verabschiedet hatte, dass ich doch bitte den Mund schließen sollte. Der Typ, dem ich theoretisch 50 € schuldete, weil er der Meinung gewesen war, mit Trinkgeld um sich schmeißen zu müssen. Ich schluckte.

Sofort korrigierte ich meinen Gesichtsausdruck. Er durfte mir auf keinen Fall ansehen, dass mir die Situation unangenehm war. Ich zwang mich, ihm ein aufmunterndes Lächeln zuzuwerfen. Letztendlich hatte ich zwei Möglichkeiten. Option A bestand darin abzuhauen, mein Studium abzubrechen und in ein fernes Land auszuwandern. Da das leider eine Nummer zu abwegig war, musste ich mich auf Option B einlassen: Ich stellte mich der Situation und tat so, als würde ich ihn nicht kennen. Ganz einfach.

Doch mein Nachhilfeschüler machte keine Anstalten, mein Lächeln zu erwidern, geschweige denn sich auf mich zu zubewegen. Sein Blick blieb nur kurz an mir hängen. Er runzelte die Stirn, drehte sich suchend einmal im Kreis und tippte dann auf seinem Handy rum. Keine Sekunde später vibrierte meines in meiner Hand.

Ich kann dich nicht sehen. 10:13

War der Junge dumm? Oder wollte er mich auf die Schippe nehmen? War das seine Art von Rache, weil ich nicht gebührend auf seine Rettungsaktion im Café reagiert hatte, oder war ihm das alles selbst peinlich, und dies war seine Art, sich aus der Situation retten zu wollen?

Ich schluckte und befeuchtete meine Lippen. Egal. 17 € waren 17 €. Wobei ich ihm streng genommen 50 € für die Caférechnung schuldete, aber ganz ehrlich, darum hatte ihn niemand gebeten. Außerdem: Welcher annähernd normale Mensch gab über 30 € Trinkgeld, und das auch noch bei einer Rechnungssumme, die weit darunter lag? Entweder der heilige Samariter schiss Geld, oder er hatte das unersättliche Bedürfnis, mit seinem Reichtum anzugeben. Ich gab mir einen Ruck und bewegte mich auf den Typen zu, den ich für meinen Nachhilfeschüler hielt. Dieser starrte immer noch mit zusammengezogenen Brauen auf sein Handy.

»Finn?«, fragte ich. Langsam löste sich sein Blick vom Smartphone und wanderte zu mir. Ich musste leicht nach oben schauen, um in seine dunklen Augen sehen zu können. Eine kleine, steile Falte hatte sich auf seiner Stirn gebildet, und eine der dunklen Locken hing ihm zu weit ins Gesicht. Es war merkwürdig, so weit hochschauen zu müssen. Normalerweise war ich mit meinen 1,80 m nicht viel kleiner als die Männer in meinem Leben.

»Ja? Und du bist?«

Einen Moment lang zögerte ich. Entweder dieser Mann hatte einen bedenkenswert niedrigen IQ, und das mit der Nachhilfe würde schwieriger werden, als ich gedacht hatte, oder er hatte sich seine Nachhilfelehrerin anders vorgestellt. Langsam wurde ich grantig. Er war doch derjenige, der Nachhilfe brauchte, nicht ich!

»Robyn«, sagte ich. »Wir hatten uns hier verabredet? Zum Lernen?«

Mit gerunzelter Stirn sah mein Gegenüber von mir zu seinem Handy und wieder zurück. »Aber … Du bist eine Frau.«

Oje. Vielleicht war er wirklich dumm. Wie hatte er es an diese Uni geschafft? »Herzlichen Glückwunsch. Deine Augen funktionieren!«, patzte ich ihn an. Das Lächeln, das ich mir anfangs noch aufgezwungen hatte, war längst verschwunden.

»Aber Robyn ist ein Männername.«

Ein tiefer Seufzer entwich meiner Brust. Wie oft hatte ich diese Diskussion schon führen müssen? Es war ja nicht so, dass ich mir meinen Namen selbst ausgesucht hatte. Die Idee dafür stammte von meinem tollen irischen Vater, bevor er sich ein halbes Jahr nach meiner Geburt aus dem Staub gemacht und meine Mutter mit einem Baby sitzengelassen hatte.

»Und jetzt? Lässt du dir von einer Frau keine Nachhilfe geben?«

»Kannst du das denn überhaupt?« Er begutachtete mich kritisch.

Jetzt war ich auch noch an einen Sexisten geraten. »Ich dachte, du bräuchtest Nachhilfe in technischer Mechanik? Wenn ich dir so zuhöre, klingt es mehr so, als solltest du lieber Nachhilfe in Gender Studies in Betracht ziehen«, konterte ich.

Das war der Moment, in dem Erkenntnis Finn erleuchtete. »Moment mal! Du bist die Kleine, die letztens die Zeche prellen wollte!«

Fuck. Eine erneute Hitzewelle durchzuckte meinen Körper. Ich hätte einfach gehen sollen, als ich noch die Möglichkeit gehabt hatte. 17 € hin oder her. »Also klein bin ich bestimmt nicht. Aber wenn dein Verständnis für Zahlen genauso furchtbar ist wie deine Einschätzung bezüglich meiner Körpergröße, dann weiß ich, warum du Nachhilfe brauchst.« Ich klimperte übertrieben mit den Wimpern und setzte ein zauberhaftes Lächeln auf.

Finn lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. »An was für eine charmante Prinzessin bin ich denn da geraten?« Er musterte mich intensiv und machte einen Schritt auf mich zu, wodurch ich den Kopf noch weiter anheben musste, um ihm in die Augen sehen zu können. »Eigentlich schuldest du mir drei Mal Nachhilfe umsonst. Immerhin habe ich deine Rechnung bezahlt.«

Ich schluckte und überschlug die Beträge hastig im Kopf. »2,94 Mal Nachhilfe, wenn überhaupt!« Kurz überlegte ich, ob ich ihm noch an den Kopf werfen sollte, dass ihn niemand darum gebeten hatte, Mutter Teresa zu spielen, doch das verkniff ich mir im letzten Moment. »Also, was ist? Brauchst du jetzt Nachhilfe? Oder stellt mein Name ein unüberwindbares Hindernis für dich dar?«

Einen kurzen Moment zögerte Finn wirklich und sah mich abschätzend an. Sein Blick glitt von meinem Kopf zu dem Rest meines Körpers, wobei er sich viel Zeit ließ. Mit einer Dreistigkeit, die mir die Röte ins Gesicht schießen ließ, inspizierte er mein übergroßes Ramones-Bandshirt, was ich anstelle eines Kleides trug und mit verschlissenen No-Name-Boots aus dem Secondhandladen kombiniert hatte. Plötzlich kam ich mir viel zu nackt vor und empfand mein Outfit als unpassend, obwohl ich es zuvor genau so schon unzählige Male getragen hatte. Als er endlich wieder bei meinem Gesicht ankam, schenkte er mir ein breites Grinsen. »Bist du dir sicher, dass du mir nicht lieber Nachhilfe in etwas anderem geben willst?«

»Bist du dir sicher, dass du angekotzt werden willst, weil du ein ekelhaftes Schwein bist?« Diesem Mann hatten eindeutig zu viele Frauen mitgeteilt, was für ein toller Hecht er doch sei. Dabei war absolut gar nichts an ihm besonders. Außer vielleicht seine Körpergröße, aber ansonsten war an ihm kein Funken Außergewöhnlichkeit. Stinknormale braune Augen, stinknormale Lippen und ein stinknormales unverschämtes Grinsen, was danach verlangte, ihm aus dem Gesicht gewischt zu werden.

»Merkwürdiger Kink, aber hey: Für dich würde ich mich drauf einlassen, Baby!« Finn machte Anstalten, sich nach vorne zu beugen, um eine Haarsträhne aus meinem Gesicht zu streichen, doch ich schlug seine Hand weg. Sollte mich jemals wieder jemand fragen, weshalb ich single sei, würde ich genau diesen Moment zitieren. Es gab eindeutig keine Hoffnung mehr für die männliche Spezies.

In mir brodelte die Wut. Ich trat ganz nah an ihn heran. »Fahr zur Hölle!«, flüsterte ich ihm ins Ohr. Dann ging ich einen Schritt zurück und beobachtete mit Genugtuung, wie es in ihm arbeitete. Was würde er darauf antworten? Doch ich wollte ihm nicht den Raum für noch mehr Dreistigkeiten geben. Also drehte ich mich um und marschierte schnellen Schrittes Richtung Ausgang.

Ich konnte noch hören, wie Finn mir hinterherrief, doch ich streckte im Laufen nur beide Mittelfinger in die Höhe. Ein bisschen leid tat es mir um die 17 €, die ich wirklich gut hätte gebrauchen können, doch ich würde schon einen anderen Weg finden, um an etwas Geld zu kommen.

Kapitel 4

Mit einem lauten Knall schmiss ich die Tür hinter mir zu, ließ meinen Lederrucksack an Ort und Stelle fallen und pellte mich aus meinen Klamotten, bis ich nur noch in T-Shirt-Kleid und Unterwäsche dastand. Auf meiner grauen linken Socke stand in schwarzen Lettern »Monday«, die rechte war hellrosa. Vor langer Zeit musste sie mal weiß gewesen sein, doch die Angewohnheit, mein ganzes Hab und Gut im Waschsalon auf einmal zu waschen, schonte zwar meinen Geldbeutel, nicht jedoch meine armen Socken.

Ich seufzte. Eines Tages würde ich eine eigene Waschmaschine besitzen und nicht nervös im Salon herumlungern müssen, bis die Wäsche fertig war, aus Angst, dass jemand meine Secondhandklamotten klaute, sollte ich den Raum auch nur für wenige Minuten verlassen. Köln-Ehrenfeld war ein hartes Pflaster, zumindest, was Wäschediebe anging.

Abwesend tastete ich nach meinem Plattenspieler und legte Appetite for Destruction von den Guns N’ Roses auf. Die Anlage hatte ihre besten Tage schon hinter sich, und manchmal wollte die Nadel nicht ganz so, wie sie sollte, aber das Baby war ein Glücksgriff vom Flohmarkt und mein ganzer Stolz. Bis heute war ich mir nicht sicher, ob der ältere Herr, der sie mir verkauft hatte, sie mir aus Mitleid so günstig überlassen hatte oder ob er nicht wusste, wie hoch die Teile gehandelt wurden. Fast hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich mir sicher war, dass er ohne große Probleme das Zehnfache dafür hätte verlangen können. Es machte eben doch einen riesigen Unterschied, ob man Vinyl oder digital hörte.

Als die ersten Töne von Welcome to the Jungle erklangen, entwich mir ein leises Seufzen. Das war genau das, was ich jetzt brauchte. Ich drehte die Musik lauter, schloss die Augen und bewegte mich erst langsam zum Takt, dann immer schneller. Vor meinem inneren Auge hampelte immer noch Finn herum. Sein unverschämtes Grinsen und die musternden Blicke hatten sich in mein Gehirn gebrannt. Ich war es gewohnt, dass mich männliche Kommilitonen mal länger anstarrten, als sie sollten. So ging es aber vermutlich jeder Frau in meinem Studiengang. Rein statistisch gesehen, gab es einfach wesentlich weniger von uns, und da konnte Mann schon mal aufmerken. Vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, dass ich mit meinen 1,80 m einige meiner Kommilitonen überragte und sie es nicht gewohnt waren, dass eine Frau größer ist.

Trotzdem, in der Regel waren die Nerds alle sehr nett und respektvoll, wenn sie merkten, dass man was auf dem Kasten hatte. Ich hatte mir deswegen angewöhnt, gleich zu Beginn einer fachlichen Konversation mein Wissen einzubauen. Ich nannte diese Technik liebevoll »Penis-Fechterei«. Das Phänomen konnte ich bei den Herren der Gesellschaft regelmäßig beobachten. Im Prinzip ging es darum, wer der Alpha in einer neuen Begegnung war, und das wurde mit gegenseitigem Übertrumpfen ausdiskutiert.

Es ärgerte mich, dass mir der Nachhilfe-Typ keine Chance gelassen hatte, mich zu beweisen. Er war doch derjenige gewesen, der Hilfe brauchte. Ich schnaubte und konzentrierte mich auf meinen Atem. Tief ein, tief aus. Langsam erfüllte die Musik meinen Körper, und all der Ärger und Stress des Tages lösten sich allmählich von mir. Manche Menschen meditierten, um wieder klarzukommen, ich hörte Hard Rock aus den Achtzigern.

Ich wippte mit dem Kopf, streckte die Arme aus und veranstaltete etwas, was von außen sicherlich nach einer merkwürdigen Art Paarungstanz aussah. Aber das war mir herzlich egal, schließlich konnte mich niemand sehen.

Angespornt von der Musik hechtete ich auf mein Bett, schmiss mich auf die Knie und bearbeitete eine unsichtbare Gitarre, als ob mein Leben davon abhinge.

»Watch it bring you to your shun n-n-n-n-n-n-n-n knees, knees …«

Leider konnte ich überhaupt nicht singen. Selbst auf Konzerten sang ich immer nur ganz leise mit, für den unwahrscheinlichen Fall, dass mich jemand über die ohrenbetäubenden Verstärker hören sollte. Heute grölte ich trotzdem schief mit und versuchte, mich der schrillen und doch melodischen Stimme des Lead Singers anzupassen. Ich scheiterte jedoch kläglich und klang mehr wie ein sterbender Schwan als wie ein Rockstar.

Der nächste Song auf der Platte begann:

»I see your sister in her Sunday dress

She’s out to please

She pouts her best …«

Ich wackelte mit den Hüften und wippte auf dem Bett herum. Am anderen Ende meines Zimmers konnte ich erkennen, dass mein Hamster, Sir Lancelot, aufgewacht war und mich verstört aus seinem Käfig heraus beobachtete.

Plötzlich hämmerte jemand gegen meine Tür. Das energische Klopfen wurde von einer wütenden Stimme begleitet, doch die Musik war so laut, dass ich keine Worte ausmachen konnte. Ich erstarrte. Sofort löste sich das leichte Gefühl in meiner Brust in Luft auf. Eilig kletterte ich vom Bett, warf einen Schal von meinem Schreibtischstuhl über den Hamsterkäfig und schaltete die Musik aus. Das Hämmern dauerte an. Nun konnte ich die Stimme erkennen. Vor meiner Haustür stand Frau Insetto, der alte Drache, und spie ihr Feuer: »Machen Sie sofort auf! Ich weiß, dass Sie zu Hause sind!«

Langsam bewegte ich mich auf die Tür zu. Der Drache war wie eine tickende Zeitbombe. Eine falsche Bewegung und er explodierte. Ich straffte meine Schultern, legte mein Liebes-Mädchen-Lächeln auf und öffnete die Tür.

Vor mir stand das personifizierte Böse. Frau Insetto war meine Nachbarin und die Verwalterin des Gebäudes. Ihre kurze, feuerrote Dauerwelle stand in alle Himmelsrichtungen ab. Sie starrte mich wutentbrannt von ihren geschätzten 1,60 m aus an, und ich überlegte ernsthaft, ob man an bösen Blicken sterben konnte.

»Sie wissen, weshalb ich hier bin, nehme ich an?«, fauchte sie.

»Einen wunderschönen guten Tag, Frau Insetto! Es tut mir leid, da habe ich die Musik wohl etwas zu laut aufgedreht. Es kommt nicht wieder vor!« Meine Nachbarin hatte in der Vergangenheit schon aus allen möglichen Gründen vor der Tür gestanden. Sie wohnte ein Stockwerk unter mir und musste viel Langeweile haben, denn sie besuchte mich etwa einmal die Woche, um sich über diverse Dinge zu beschweren. Einmal hatte sie mir sogar gedroht, mich aus der Wohnung zu werfen, weil der Hund eines Kommilitonen, den ich eine Zeitlang gedatet hatte, zu laut über die Dielen getapst war. Tiere seien in den Wohnungen hier verboten und das tapsende Geräusch mache sie verrückt. Seitdem versteckte ich Sir Lancelot jedes Mal, wenn sie mich besuchte.

»Wenn es nur das wäre! Sie können froh sein, dass ich so verständnisvoll bin. Jeder andere hätte Sie schon längst rausgeschmissen!« Sie wedelte mit einer Handvoll Briefe vor meiner Nase herum. »Wann haben Sie das letzte Mal Ihre Post kontrolliert? Das waren nur die Briefe, die aus dem Briefkasten herausgeguckt haben!« Der Vorwurf schwang deutlich in ihrer Stimme mit.

Mein Hals fühlte sich mit einem Mal ganz trocken an, und ich räusperte mich. So gut organisiert ich eigentlich war: Das war ein Teil meines Lebens, den ich am liebsten in eine Schublade sperrte und vergaß, so lange ich konnte. Auf Anhieb erkannte ich, dass ein guter Anteil der Briefe aus Rechnungen bestand. Rechnungen, die ich nicht bezahlen konnte. Rechnungen, die ich mental in die hinterste Ecke meines Bewusstseins geschoben hatte, als ob sie verschwinden würden, wenn ich sie einfach nur nicht öffnete. In meiner Brust machte sich ein gefährlicher Gefühlscocktail aus Panik und Wut breit. Was fiel dieser Frau eigentlich ein, in meinem Briefkasten rumzuwühlen?

»Oh, ach herrje. Das habe ich ganz vergessen. Keine Ahnung, wie das passieren konnte!« Ich schenkte meiner Nachbarin ein entschuldigendes Lächeln.

»Das frage ich mich allerdings auch. Ist Ihnen bewusst, dass Sie drei Monatsmieten hinterherhängen? Und ich möchte gar nicht wissen, was das hier noch für Rechnungen sind!«

Sie drückte mir den Stapel Briefe in die Hand. Ich konnte ihr ganz genau sagen, welche Rechnungen das waren. Sicher handelte es sich um meine Handyrechnung und die Rechnungen der Stadtwerke, bei denen ich mich wunderte, dass mir durch den Verzug der Zahlung noch nicht der Hahn zugedreht worden war.

»Wie seltsam. Wann haben Sie das letzte Mal überprüft, ob eine Zahlung eingegangen ist? Eigentlich habe ich einen Dauerauftrag für die Miete eingerichtet …« Lügen in Bezug auf Geld hatte ich als Kind schon gelernt. Leider sah meine Nachbarin nicht so aus, als nähme sie mir die Ausrede ab.

»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, junges Fräulein! Ich habe Ihre Ausreden satt. Ich gebe Ihnen noch bis zum Ende des Monats Zeit. Wenn Sie Ihre Schulden bis dahin nicht beglichen haben, werde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen und Sie aus dieser Wohnung schmeißen lassen! Das können Sie mir glauben!« Theatralisch drehte sich der Drache erhobenen Hauptes um und stampfte davon.

Ich stieß einen Schwall Luft aus und ließ die angespannten Schultern hängen. Leise schloss ich die Tür hinter ihr, allerdings nicht, ohne ihrem Rücken den Stinkefinger zu zeigen, und ließ mich auf mein Bett fallen. Ich war geliefert. Wenn ich nicht wie durch ein Wunder im Lotto gewann oder schleunigst einen Job fand, würde ich bald auf der Straße sitzen.

Kapitel 5

»2000 €?« Mia verschluckte sich fast an ihrem Eiskaffee. »Du hast 2000 € Schulden und weniger als drei Wochen Zeit, sie zu begleichen?« Meine beste Freundin sah mich entsetzt an. Wir hatten uns auf die schattige Treppe vor dem Uni-Gebäude gesetzt. Es war erst Anfang Mai, doch die Sonne knallte unbarmherzig herab und röstete jeden, der es wagte, sich mit nackter Haut auf den viel zu heißen Asphalt zu setzen.

»Ja. Zusammen mit den Monatsmieten und sonstigen Rechnungen …« Ich fuhr mir übers Gesicht. »Ich bin am Arsch.«

Mia war keine gute Schauspielerin. Es war offensichtlich, dass sie dasselbe dachte. Eine Sekunde zu spät antwortete sie: »Nein, so ein Quatsch! Das schaffen wir schon. Ich kann meine Eltern fragen, ob sie –«

»Auf gar keinen Fall! Ich will keine Almosen. Ich muss bloß ganz schnell einen Job finden.«

»Aber … Von uns beiden bist du das Mathe-Genie, also korrigiere mich, wenn ich falschliege: Wie willst du so viel neben der Uni arbeiten? Selbst, wenn du 20 € pro Stunde verdienen würdest …«

»Wenn ich 20 € pro Stunde verdienen würde, müsste ich 100 Stunden arbeiten, um das Geld reinzubekommen. In einem Vollzeitjob arbeitet man meistens so 40 Stunden die Woche. Das heißt, ich hätte die Kohle in zweieinhalb Wochen.«

Mia runzelte die Stirn. »Ich will echt keine Miesepeterin sein. Aber in welchem Aushilfsjob verdient man 20 € die Stunde und bekommt sofort so viele Schichten zugeteilt?«

Ich seufzte. »Nicht nur das. Selbst wenn ich so einen Job finde, man bekommt das Geld ja auch nicht bar auf die Hand, sondern zeitverzögert aufs Konto überwiesen.« Meine Augen brannten. Ich war mir nicht sicher, wann ich das letzte Mal in der Öffentlichkeit geweint hatte, aber heute sollte es auf jeden Fall nicht dazu kommen. Krampfhaft blinzelte ich, um die Tränen zurückzuhalten.

»Robyn«, meine Freundin streichelte mitfühlend über meine Schulter, »wir schaffen das schon! Ich habe ja auch noch ein bisschen Geld gespart, und wenn es hart auf hart kommt, dann ziehst du eben bei mir ein.«

Ich zwang mich zu einem Lächeln. Mia meinte es nur gut mit mir, doch bei ihr einzuziehen, wäre eine Katastrophe. Sie wohnte in einer winzigen Streichholzschachtel, und überall flogen ihre Klamotten inklusive dreckiger Wäsche herum. Ich liebte sie, doch das würde mich früher oder später verrückt machen.

Stille breitete sich zwischen uns aus, lauter als jedes Gespräch hätte sein können. Wir starrten beide irgendwo ins Nichts und beobachteten einige Studenten, die an uns vorbeihasteten.

»Und deine Mutter?«, setzte Mia an, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie meinen vernichtenden Gesichtsausdruck sah. Meine Mutter war Teil des Problems, und das wusste sie eigentlich. Wenn ich meine Mom darauf anspräche, hielte sie mir wahrscheinlich eine Predigt darüber, was für eine Versagerin ich war, dass ich nicht mal meine eigenen Rechnungen begleichen konnte und dass sie von mir eigentlich sowieso nichts anderes erwartet hatte. Nein, sie war die Letzte, an die ich mich wenden wollte.

Wir schwiegen wieder. Ich inspizierte meine Haarspitzen und zwirbelte sie um meine Finger. »Meinst du, ich bin zu alt, um einen Sugar Daddy zu finden?«, sagte ich, als ich die angespannte Stille nicht mehr aushielt.

Mia sah mich einen Moment lang entsetzt an, dann lachten wir beide los. Ich beugte mich nach vorne, klopfte auf meine Schenkel und schmiss mich nach hinten, als meiner Freundin ein Grunzen entwich. Es war einer dieser Lachflashs, die immer heftiger wurden, je länger man sich dabei ansah. Was war das für eine absurde Situation? Egal, was passierte, einer Sache war ich mir sicher: Mia würde mich niemals im Stich lassen. Ich wollte gerade anmerken, dass ich ja auch einen lukrativen Handel mit getragener Unterwäsche betreiben könnte, als ihr Lachen langsam erstarb und sie einen Punkt hinter mir fixierte.

»Warum starrt uns der riesige Typ dahinten so an?«

Abrupt drehte ich mich um und scannte unsere Umgebung. Etwa zehn Meter entfernt lehnte Finn an einer Mauer und beobachtete uns. Er trug eine eckige Sonnenbrille und die Lederjacke, die er bei unserer letzten Begegnung schon getragen hatte. War ihm nicht viel zu heiß in dem Teil, bei den sommerlichen Temperaturen? Vielleicht wäre er ja mein erster Kunde für getragene Socken! Ich feixte.

Das hätte ich lieber nicht tun sollen, denn Finn interpretierte es wohl falsch und bewegte sich auf uns zu. Schnell drehte ich mich wieder zu Mia um.

»Das ist der Nachhilfe-Idiot, von dem ich dir erzählt habe«, flüsterte ich. Panisch sah ich mich noch nach einer Fluchtmöglichkeit um, als er bereits in mein Sichtfeld kam.

»Hi Robyn!« Mist. Langsam drehte ich mich wieder zu ihm um. Er hatte die Hände in die Taschen seiner Lederjacke gestopft und kickte einen imaginären Kieselstein weg.

»Ach, sieh an! Der heilige Samariter ist gekommen!«, knurrte ich. Finn grinste. Mein Kommentar brachte ihn überhaupt nicht aus dem Konzept. Er überging meine Antwort einfach.

»Hör mal, können wir kurz reden?«

Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was er wollte. War er heiß auf eine weitere Abfuhr? Ich sah Mia ratlos an, doch sie schien die Situation vollkommen falsch zu verstehen. Ihre Augen leuchteten förmlich, als sie Finn musterte, und ich konnte mir allzu gut vorstellen, wie in ihrer Phantasie bereits die Hochzeitsglocken läuteten, während sie als Brautjungfer darauf wartete, dass ich dem Lockenkopf das Ja-Wort gab. Mia sah in jedem männlichen Wesen in meinem Leben einen potenziellen Partner und konnte es kaum abwarten, mich unter die Haube zu kriegen, als wäre sie mein Vater und ich das holde Fräulein in einem Mittelalterfilm.

»Ach du, ich wollte eh gerade gehen!«, zwitscherte sie und stand auf. Ich sprang ebenfalls auf und versuchte ihr unauffällig mitzuteilen, dass sie mich jetzt unter keinen Umständen allein lassen durfte. Doch Mia beachtete mich gar nicht. Sie war damit beschäftigt, Finn neugierig von oben bis unten zu inspizieren.

»Mia, warte, du wolltest mir doch helfen!«, presste ich kläglich hervor. Keine Ahnung, womit sie mir helfen sollte, doch verzweifelte Situationen verlangten nach verzweifelten Maßnahmen. Widerwillig löste Mia ihren Röntgenblick von Finn. »Ja! Helfen!«, sagte sie abwesend. »Ich helfe dir! Später.« Dabei wackelte sie demonstrativ mit den Augenbrauen. Ich hätte ihr den Kopf abreißen können. Ließ sie mich ernsthaft mit dem Blödmann allein? Ich versuchte weiterhin, ihr nonverbale Signale zu senden, doch wie es schien, war Mia dafür blind. Sie trällerte eine Verabschiedung und lief am Lockenkopf vorbei die Treppe hinauf. Einige Meter hinter ihm blieb sie noch einmal stehen und schüttelte die Hand, als ob sie sich an Finn verbrannt hätte. Krampfhaft bemühte ich mich darum, sie zu ignorieren.

»Also«, fing Finn an, brach aber ab, als er meinen versteinerten Gesichtsausdruck sah. Mia alberte immer noch mit einigen Metern Abstand hinter seinem Rücken herum. Sie schwang ein unsichtbares Lasso, mit dem sie Finn wie ein Cowgirl einfing.

»Was …?« Irritiert folgte er meinem Blick. Sofort stellte Mia ihre Show-Einlage ein. Sie lächelte lieblich, als wäre nichts weiter gewesen, und drehte sich winkend um. Dieses Mal ging sie wirklich.

Ich schluckte schwer. Fieberhaft kramte ich in meinem Kopf nach einer schlechten Ausrede und überlegte, ob ein plötzlicher Anfall von Diarrhö wohl weniger peinlich wäre, als auch nur eine Sekunde weiter auszuharren.

»Hör mal. Ich weiß, mein Charme kann ganz schön überwältigend sein, aber …« Er hielt einen Moment inne und verzog das Gesicht so sehr, dass ich kurz darüber nachdachte, ob er vielleicht derjenige mit dem Dünnpfiff sein könnte. Egal, was er sagen wollte, es fiel ihm eindeutig nicht leicht. »Also … Ich stecke wirklich in der Klemme. Letztes Semester habe ich die Prüfung in TM2 echt krass in den Sand gesetzt.«

Abwartend sah ich den Lockenkopf an. »Und jetzt? Ist ja nicht mein Problem.«