Mitternachtsdiebe - Marie Hüttner - E-Book

Mitternachtsdiebe E-Book

Marie Hüttner

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Beschreibung

Mehr als ein Kinderkrimi - außergewöhnliches Kinderbuch mit unverwechselbaren Charakteren. Für Mädchen und Jungen ab 10.

Diebstahl im Museum! Die berühmte Porzellanfigur Piroschka ist spurlos verschwunden. Eine Katastrophe für Pias Papa, der dort arbeitet. Was er nicht weiß: Pia hat die Figur versehentlich  mitgehen lassen. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als gemeinsam mit Pepe nachts ins Museum einzubrechen, um die Figur zurückzubringen. Allerdings geht dabei einiges schief …

Gelungene Fortsetzung des Bestsellers "Ist Oma noch zu retten?"

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Das Buch

Sei stark wie ein Bär und furchtlos wie eine Löwin. An diesen Spruch von Oma Lore denkt Pia gerade ständig. Im Museum ist nämlich die berühmte Piroschka-Figur verschwunden. Eine Katastrophe für Pias Papa, der dort arbeitet. Was er nicht ahnt: Pia hat mit dem Verschwinden mehr zu tun, als ihr lieb ist. Als nachts auch noch eingebrochen wird, stellt sich bald heraus, dass die Figur Teil eines viel größeren Rätsels ist. Pia und Pepe müssen ermitteln!

Die Autorin

© Corinna Hengelein

Marie Hüttner, 1989 geboren, war nach dem Psychologiestudium Stipendiatin der Akademie für Kindermedien und wurde für den „berliner kindertheaterpreis 2023“ nominiert. Sie lebt in Berlin, wo sie u. a. Hörbuchserien entwickelt und als Therapeutin für Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche arbeitet.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor:innen und Übersetzer:innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator:innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autor:innen und Illustrator:innen:www.thienemann.de

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Viel Spaß beim Lesen!

Marie Hüttner

Mitternachtsdiebe

THIENEMANN

Diese Welt ist voller Wunder,

und ihr auch, ihr auch, ihr auch.

Gisbert zu Knyphausen

Ein Team für alle Fälle

Ratsch.

Ich riss ein kleines Stück Klebestreifen ab und befestigte den roten Zettel am Schulzaun. Ratsch. Ich klebte den nächsten an. Ratsch. Und noch einen. Ratsch. Ich arbeitete mich von links nach rechts. Immer weiter. Schon bald konnte man vor lauter Zetteln den Schulzaun nicht mehr erkennen. Rot leuchtend flatterte das Papier im Herbstwind. Unübersehbar. Sehr gut. Genau so hatte ich mir das gedacht.

Leider sah ich aus den Augenwinkeln, wie drei Mädchen am Zaun stehen geblieben waren, einen Zettel abrissen und anfingen zu kichern. Na toll. Das Terror-Trio. Tara, Tilda und Thea. In meiner inneren Mitte geriet etwas ins Wanken.

Immer noch kichernd kamen sie auf mich zugelaufen. Ich tat so, als würde ich sie nicht sehen, und klebte einfach weiter. Ratsch. Zettel. Ratsch. Zettel. Ratsch.

Aber das war Tara egal. Sie baute sich vor mir auf, räusperte sich und las mit extralauter Stimme meinen Zettel vor. »Deine Katze ist entlaufen? Dein Nachbar verbirgt etwas? Deine Eltern benehmen sich komisch? – Ruf uns an! Wir sind dein TEAM FÜR ALLE FÄLLE! Pia Schneider & Pepe Caruso.«

Die Mitglieder des T-Trios guckten mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, bevor sie in Gelächter ausbrachen.

»Pia Schneider spielt mal wieder Detektivin mit ihrem unsichtbaren Freund«, lachte Tara.

»Und ihrer Superhelden-Oma!«, rief Tilda.

»Sag mal, Pia, wie war das noch mal?«, gluckste Thea. »Deine Oma wurde entführt von einer gefährlichen Diebesbande? Und du hast sie gerettet?«

Tilda prustete jetzt noch lauter. »Wer’s glaubt!«

»Genauso wie du im letzten Jahr auf den Mount Da Long gestiegen bist und im Jahr davor zum Treffen junger Forscherinnen eingeladen wurdest.«

Na schön, wenn man es ganz genau nahm, dann stimmte die Geschichte mit dem Mount Da Long und dem Forschertreffen nicht, die hatte ich mir von Oma Lore ausgeliehen. Aber die Entführungsrettung war zu einhundert Prozent genau so passiert. Vor nicht einmal drei Monaten.

In einer spektakulären Aktion hatte ich Oma Lore aus den Fängen einer fiesen Diebesbande befreit. Zusammen mit Pepe Caruso aus Omas Nachbarhaus, der für mich zu Beginn ein Angeber war, aber der am Ende mein Freund und bester Ermittlungspartner wurde.

»Was denn? Guck mal, Tilda, es hat ihr die Sprache verschlagen, dabei erzählt sie doch sonst so viel.«

Die fiese Tara redete und lachte und redete. Ich sagte nichts. Aber innen drin, da breitete sich die Wut-Lava aus. Rot und glühend heiß und gefährlich.

Während ich die fiese Tara anschaute, stellte ich mir vor, wie sie in einen gigantischen Bottich voller Wackelpudding fiel. Ich stellte mir außerdem vor, wie ich Tilda eine dreistöckige Sahnetorte ins Gesicht klatschte.

»Was guckt sie denn jetzt so blöd?«, drang die Stimme von Tilda zu mir durch, wie durch eine wabbelige Wand aus Wackelpudding.

»Hallo? Hörst du uns überhaupt zu?«

Das war genug. Ich drückte meinen Rücken durch und machte mich so groß ich konnte. Sei stark wie ein Bär und furchtlos wie eine Löwin, sagte Oma Lore immer. Ich versuchte, gleichzeitig der Bär und die Löwin zu sein.

»Nein, ich habe euch nicht zugehört. Aber ich glaube, ich habe nichts verpasst. Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet«, ich deutete auf den Zaun, »ich habe noch jede Menge zu tun.«

Tara funkelte mich angriffslustig an. Sie kam einen Schritt auf mich zu und zerknüllte ganz langsam vor meinen Augen den roten Zettel in ihrer Hand.

»Du bist echt erbärmlich, Pia Schneider. Du und deine Lügenmärchen.«

Das fremde Mädchen

Die sind mir egal, die sind mir egal, die sind mir egal. Die sind mir egal.

Wenn ich es nur oft genug dachte, dann würde es wahr werden. Ganz bestimmt.

Die sind mir egal, dachte ich, als ich in den Bus nach Hause stieg und neben einem schnaufenden, dicken Mann saß, der irgendwie nach Brokkoli roch.

Die sind mir egal, dachte ich, als ich über die schwankende Brücke lief, unter der die gelben S-Bahnen hindurchratterten.

Die sind mir egal, dachte ich, als ich die Haustür aufschloss und die vier Stockwerke hochlief, über den roten alten Teppich, immer zwei Stufen auf einmal.

Die sind mir egal, dachte ich, als ich in unsere Wohnung hineinstolperte, in der ein Geruch nach Zuckerwatte und Hamsterkäfig hing.

Halt, stopp. Zuckerwatte und Hamsterkäfig??

Ich schnupperte noch mal. Ja, eindeutig. Aber … so roch unsere Wohnung doch gar nicht. Jetzt erst sah ich die Kartons, die sich links und rechts an den Wänden stapelten.

»Aus dem Weg, schnell, ist schwer!«

Gerade noch rechtzeitig sprang ich beiseite und guckte einem unbekannten Mädchen in Latzhose hinterher, das unter einem Arm eine Stehlampe und unter dem anderen einen Tierkäfig trug, direkt in unsere Wohnung.

Was um alles in der Welt war hier los? Hatte ich mich im Stockwerk geirrt? Ich stolperte in den Hausflur zurück und las das Klingelschild.

Lars und Pia Schneider. Das waren wir. Das war mein Name. Und der von Papa. Neben dem Klingelschild hing die Karte mit dem glücklichen Schwein, das in einen See springt. Die hatte Oma Lore uns mal geschickt. Die Hinweise waren eindeutig. Aber wenn das wirklich unsere Wohnung war, wer war dann das Mädchen in unserer Wohnung und woher kamen der komische Geruch und die Kartons?

Langsam ging ich zurück und schlich durch unseren Flur. Es war wohl an der Zeit, die Situation genauer zu untersuchen.

Kurz zuckte ich zusammen, als im Wohnzimmer etwas laut polterte. Vorsichtig lugte ich hinein. Im Sonnenlicht erkannte ich schemenhaft eine Frau. Sie trug leuchtend orangefarbene Leggings und ein kurzes schwarzes Oberteil und schob keuchend unser Sofa von links nach rechts.

Als sie fertig war, schaute sie sich um und rief: »Laarsiii! Komm mal kurz! Laaarsiii!«

Die Stimme kannte ich. Sofort stolperte ein Mann ins Wohnzimmer. Unter seinen Achseln hatten sich kreisrunde Flecken gebildet und er wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Mein Vater. Und seine neue Freundin Ätz-Tanja.

Ich mochte sie nicht. Aus vielen Gründen.

Die Gründe:

1. Ihre Stimme. Die quietschte wie die Bremsen eines einfahrenden Zuges. Wie ein ungeöltes Türscharnier. Wie die Sohlen neuer Sportschuhe auf dem Turnhallenboden.

2. Sie wollte immerzu Aerobic machen. Und Crossfit. Und sie trug ständig diese superengen Leggings.

3. Sie sagte Sachen wie Oh my gosh.

4. Ihr Parfum roch nach Zuckerwatte und ich bekam davon Kopfschmerzen.

5. Sie hatte absolut keine Ahnung von Kindern. Einmal hatte sie mir einen Radiergummi, einen Bleistift und einen Kaktus geschenkt und meinte, ich solle schön damit spielen.

Vor zehn Monaten hatte Ätz-Tanja angefangen, im Naturhistorischen Museum zu arbeiten. In dem Museumsshop, in dem sich die Besucher versteinerte Fossilien und kleine Modelle von Dinosauriern kaufen konnten. Mein Vater hatte sie in seiner Mittagspause dort gesehen und sich sofort verknallt. Und seit genau neun Monaten, sechsundzwanzig Tagen und vierzehn Stunden waren die beiden ein Paar. Ich wusste das so genau, weil ich die Tage auf meinem Kalender abstrich. Es war nämlich so: Die bisher längste Beziehung von meinem Vater hatte zehn Monate, drei Tage und achtzehn Stunden gedauert. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sich das mit Ätz-Tanja auch erledigt hatte.

Eigentlich hatten wir eine Abmachung. In den Mama-Wochen durfte Papa, so viel er wollte, mit Ätz-Tanja abhängen, sie knutschen und komische Sportübungen machen, für die er sich extra neue und viel zu enge Sporthosen gekauft hatte. Aber in den Papa-Wochen war Ätz-Tanja tabu. Sie ging mir aus dem Weg und ich ihr. Es war besser für alle. Aber heute hatte er die Abmachung gebrochen.

»Ey!«, rief ich laut in seine Richtung.

Erst guckte er ein bisschen verwirrt, aber dann sah er mich.

»Ey? Seit wann sagst du denn ey als Begrüßung?«

»Seit jetzt gerade.«

Ätz-Tanja lächelte. »Hallo Pia, schön, dich zu sehen«, sagte sie mit ihrer viel zu hohen Stimme.

Überhaupt nicht schön, dich zu sehen, hätte ich am liebsten geantwortet, aber der Blick von meinem Vater war eindeutig.

Ich verschränkte die Arme. »Ich weiß ja nicht, ob es euch interessiert, aber da ist ein fremdes Mädchen im Gästezimmer.«

»Ein … fremdes Mädchen?«

Mein Vater eilte an mir vorbei, ich lief hinter ihm her, gefolgt von Ätz-Tanja. Zu dritt guckten wir ins Gästezimmer. Und Tatsache – da stand das Mädchen in der Latzhose und guckte sich um. Sie schaute vom Bett mit der bunt gepunkteten Wäsche zum alten Kleiderschrank aus Holz, zum Teppichläufer und aus dem Fenster, vor dem gerade die gelbe Hochbahn vorbeiratterte.

»Da, hab ich doch gesagt.« Ich deutete mit dem Finger auf sie.

Doch mein Vater und Ätz-Tanja wirkten gar nicht überrascht. Im Gegenteil. Mein Vater lachte.

»Aber das ist kein fremdes Mädchen, das ist Polly.«

Polly hin oder her. Ich hatte das Mädchen noch nie gesehen.

Jetzt ging Ätz-Tanja auf das Mädchen zu und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Tanjas Tochter Polly«, sagte Papa.

Ich guckte das Mädchen an. Ausdruckslos. Und das Mädchen guckte mich an, aus braunen, fast schwarzen Augen. Genauso ausdruckslos. Sie stand aufrecht und gerade wie an der Kante eines Zehn-Meter-Sprungbretts. Ihre Hände steckten in den Taschen ihrer Cord-Latzhose, ihre schwarzen Haare waren zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, die ihr vom Kopf abstanden. Sie schien in meinem Alter zu sein, vielleicht ein bisschen älter, maximal zwölf.

Sie sagte nicht Hallo. Sie lächelte nicht. Weil sie nichts sagte, musste ich etwas sagen.

Ich drehte mich zu meinem Vater um. »Und warum steht Tanjas Tochter Polly in unserem Gästezimmer?«

Für eine Millisekunde huschte etwas über sein Gesicht, das ich nicht deuten konnte. Er guckte kurz zu Tanja, dann zu Polly, dann zu mir.

»Na weil die beiden doch jetzt bei uns wohnen.«

Der aller-aller-aller-schlimmste Tag

»NEIN!«, brüllte ich Minuten später meine geschlossene Zimmertür an. »Auf gar keinen Fall! Niemals! NIE!«

»Aber Pia, jetzt beruhig dich doch erst mal«, redete Papa auf der anderen Seite der Tür. »Wir haben das doch besprochen.«

»HABEN WIR NICHT!«

Er rüttelte an der Klinke, aber vergeblich.

»Haben wir sehr wohl. Vor zwei Wochen, als ich gesagt habe, du sollst deine Kopfhörerstöpsel rausnehmen, ich habe dir was Wichtiges zu sagen. Wir haben das besprochen und du hast gesagt, das ist für dich okay.«

Mist. Kurz flammte der Moment wieder in meinem Kopf auf. Vor zwei Wochen hatte ich eine unglaublich spannende Sendung über die investigative Journalistin Sally Dry gehört, die ich auf keinen Fall unterbrechen konnte. Also hatte ich die Köpfhörerstöpsel, wie Papa sie nannte, einfach drin behalten und genickt und gelächelt und Okay, okay gesagt, während Papa über irgendwas redete und ich weiter dem unfassbaren Enthüllungsskandal der Journalistin folgte.

Mein Vater trommelte jetzt wieder gegen die Tür.

»Komm, lass mich rein, dann reden wir über alles.«

»Niemals!«, rief ich. »Ich komme erst wieder raus, wenn die weg sind!«

Ich hörte, wie Papa von außen dicht an die Tür heranging und die Stimme senkte.

»Tanja und Polly können dich hören, das ist wirklich nicht sehr nett.«

»ICH WILL AUCH NICHT NETT SEIN!«

»Komm schon, das bringt doch jetzt nichts«, hörte ich Ätz-Tanja sagen.

»Wir sehen uns spätestens beim Abendbrot«, sagte Papa.

»Tun wir ganz sicher nicht!«, rief ich.

Keine Antwort.

Ich presste mein Ohr gegen die Tür, aber hörte nur Schritte, die sich entfernten.

Mist, verdammter. Das war der aller-aller-aller-schlimmste Tag. Papa und ich, wir waren doch zwei gegen den Rest der Welt. Das war immer so gewesen. Aber seit Ätz-Tanja auf der Bildfläche aufgetaucht war, schien alles anders. Ich stand jetzt allein da.

Ich zog die Vorhänge zu, schaltete die Planetenlampe an und warf mich aufs Bett. Das Kopfkissen roch nach Lavendel und erinnerte mich an Oma Lore, weil es bei ihr im Schlafzimmer auch immer nach Lavendel roch. Zum elften Geburtstag hatte sie mir ein kleines Spray für mein eigenes Kopfkissen geschenkt. Weil es mich immer so entspannt machte. Ich nahm das Spray, sprühte dreimal in die Luft und schnupperte.

Doch heute funktionierte es nicht. Also musste ich etwas anderes versuchen. Ich stand auf und wühlte mich durch die Berge von Zeugs auf meinem Schreibtisch. Zwischen Zettelhaufen, aufgeschnittenen Tintenpatronen, einem verschimmelten Apfel und mehreren längst verloren geglaubten Puzzlestücken von meinem 1000-Teile-Erdmännchen-Puzzle wurde ich fündig. Da war er – mein heiliger Ermittlungsblock. Ich setzte mich zurück aufs Bett, zog die Knie ran und platzierte den aufgeschlagenen Block darauf. Dinge aufzuschreiben half mir, mich innerlich zu sortieren.

Ich notierte:

Möglichkeiten:

1. Widerstand – Für immer in meinem Zimmer bleiben.

2. Kapitulation – Mein neues Schicksal akzeptieren und beim Abendessen so tun, als wären wir eine kleine, glückliche Familie.

3. Innovation – Auswandern und ein neues Leben beginnen.

Ich war ein bisschen stolz, weil ich endlich alle neuen Wörter benutzen konnte, die ich in dem Beitrag mit der Investigativ-Journalistin Sally Dry gelernt hatte. Wieder und wieder ging ich die Liste durch. Ich dachte an die Geschichten, die Mama mir früher vorgelesen hatte. In den Geschichten hatte es manchmal Kinder gegeben, die von zu Hause weggelaufen waren, weil sie sich dort nicht mehr wohlfühlten. Die ihre Sachen schnappten und zack – die Wohnung, die Stadt, das Land verließen. Ich hatte mich immer gefragt, wie man wusste, wann so ein Moment gekommen war. Nun war es eindeutig so weit. Mein Vater hatte sich mir nichts, dir nichts für ein neues Leben entschieden. Warum sollte ich also nicht genau dasselbe tun?

Ich kippte das ganze Zeug aus meinem Schulrucksack auf den Boden und fing an zu packen.

Ich musste weg. Weit weg.

Eisangeln in Alaska

Aus der Küche hörte ich gedämpfte Stimmen miteinander sprechen, während ich meine Zimmertür einen Spaltbreit öffnete und auf den Flur huschte.

»Das ist gar nicht gut«, sagte mein Vater gerade.

Geschirr klimperte im Abwaschbecken. Ätz-Tanja antwortete etwas, das ich nicht verstehen konnte.

Es war gar nicht so leicht, die Wohnungstür zu erreichen. Schließlich trug ich meinen Sportbeutel auf dem Rücken, meinen Schulrucksack hatte ich vor den Bauch geschnallt und über meiner Schulter hing die große Leder-Reisetasche von Mama. Da ich noch nicht entschieden hatte, wohin ich auswandern wollte, ob in die marokkanische Wüste oder die arktische Tundra, musste ich auf viele denkbare Möglichkeiten vorbereitet sein – vom Badeanzug bis zur Schneehose hatte ich alles dabei. Dadurch wog mein Gepäck aber auch bestimmt dreihundert Zentner. Oder dreißig. Oder drei. Ehrlich gesagt wusste ich nicht genau, wie schwer ein Zentner war.

Leise schnaufend wankte ich in Richtung der Wohnungstür. Irgendwie musste ich es noch schaffen, meinen Parka und meine Chucks anzuziehen, und dann nichts wie weg.

Für Papa hatte ich einen Zettel auf meinem Schreibtisch hinterlassen.

Hallo Vater.

Erst wollte ich lieber Papa schreiben, aber er benahm sich ganz und gar nicht lieb.

Also:

Hallo Vater. Anscheinend gibt es keinen Platz mehr für mich in dieser Wohnung. Darum werde ich fortgehen. Weit weg. Viel Spaß mit Deiner neuen Familie.

Deine (frühere) Tochter Pia.

Das frühere hatte ich nachträglich noch in Klammern gesetzt. Es kam mir dann doch zu dramatisch vor.

Gerade setzte ich meinen Fuß auf eine knarzende Diele, da hörte ich Ätz-Tanja sagen: »Komm, Larsi, ich weiß, was dir jetzt helfen wird.«

»Ach ja?«

»Ja. Crossfit. Crossfit hilft immer. Echt, nach zwanzig Burpees und dreißig Squats sieht die Welt schon wieder anders aus. Das macht dich total frei.«

»Also … danach ist mir jetzt eigentlich nicht so.«

»Hoch mit dir und rauf auf die Matte, du wirst schon sehen.«

Ich hörte meinen Vater seufzen und wie er und Ätz-Tanja die Stühle vom Tisch wegrückten.

Mist verdammter. Sie wollten ins Wohnzimmer. Dafür mussten sie über den Flur laufen. Den Flur, in dem ich behängt mit zentnerschweren Reisetaschen stand, um gleich für immer fortzugehen. Schon öffnete sich langsam die Küchentür.

Jetzt war Schnelligkeit gefragt. Ich hechtete, so gut es ging mit den Taschen, hinüber zur Garderobe und warf Papas alten Trenchcoat über mich. Mit einem Auge lugte ich zwischen den Ärmeln hervor und beobachtete, wie Papa und Ätz-Tanja über den Flur liefen.

Kurz bevor sie das Wohnzimmer erreicht hatten, drehte Papa sich um, guckte Richtung Garderobe und schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, wir müssen mal die Jacken aussortieren. Die Garderobe platzt ja aus allen Nähten, das ist mir vorher gar nicht aufgefallen. Hm, und dieser Trenchcoat, irgendwas kommt mir daran komisch vor …«

»Larsi, jetzt lass doch die Garderobe. Die Burpees rufen.« Ätz-Tanja zog ihn am Ärmel ins Wohnzimmer.

Gerade noch mal Glück gehabt. So leise wie möglich stellte ich die Taschen ab, glitt in meine roten Chucks und schlüpfte in meinen Parka. Dann hängte ich mir die Taschen wieder um und wandte mich zur Wohnungstür.

Wie ich so im Flur stand, erfasste mich mit einem Mal eine tiefe Traurigkeit, denn mir wurde bewusst, dass dies mein allerletzter Papa-Moment gewesen war. Das war der Moment, an den ich mich zurückerinnern würde, wenn ich zukünftig weit weg von hier lebte, vielleicht um ein Lagerfeuer saß mit meinen neuen Leuten in der Steppe oder beim Eisangeln in Alaska einen großen Fang machte. Ich würde an den letzten Papa-Moment denken, wie er mit hängenden Schultern durch den Flur schlurfte und sagte: »Ich glaube, wir müssen mal die Jacken aussortieren.«

Fast beschloss ich, den ganzen Plan wieder abzublasen. Aber dann hörte ich Ätz-Tanjas hohe Stimme aus dem Wohnzimmer.

»Und eins und zwei und drei …«

Mein Vater schnaufte und rief: »Du hast recht, das macht wirklich Spaß!«

Er hatte Spaß, kurz nachdem er mein Leben zerstört hatte. Unglaublich. Ich trat einen Schritt vor und öffnete die Tür.

Doch weit kam ich nicht.

Alles hell und golden

»ÜBERRASCHUNG!!«

Erst begriff ich gar nicht, wer da vor mir stand. Wie war das möglich? Ich starrte die Personen vor der Tür an wie eine Fata Morgana. Hinter mir hörte ich aufgeregtes Getrappel im Flur.

»Aber, was macht ihr denn hier?«, rief Papa. »Ihr solltet doch erst übermorgen …«

»Ja, aber wir wollten euch überraschen und übermorgen wäre es ja keine Überraschung gewesen«, sagte eine große ältere Dame, die ein rotes Stirnband und einen blau gepunkteten Mantel trug.

»Oma Lore!!« Ich ließ mich in ihre Arme fallen und sog ihren Rosen-und-Lavendel-Duft ein.

Die Herbstferien! Der Oma Lore-Besuch! Seit Wochen angekündigt und heftig herbeigesehnt. – Wie hatte ich den nur vergessen können?

»Mein Pia-Kind«, sagte Oma Lore und drückte mir viele kleine Küsse von oben auf den Kopf.

»Mamma mia«, ertönte eine Jungenstimme neben ihr.

Ich löste mich aus der Umarmung und stand Pepe Caruso gegenüber. Er trug genauso wie bei unserer ersten Begegnung einen Trainingsanzug, nur diesmal war er nicht burgunderrot, sondern mitternachtsblau. Ich hatte das mit dem Trainingsanzug nie verstanden, da Pepe nicht wirklich sportlich war. Aber wer weiß, vielleicht fand er die Anzüge einfach bequem.

Bei meinem Anblick hob er die Augenbrauen über seinen knallgrünen Augen und grinste schief. »Wie siehst du denn aus?« Er deutete auf die ganzen Reisetaschen, die an mir dranhingen.

Meine Wangen wurden heiß.

»Ja, wie … siehst du eigentlich aus?«, fragte jetzt auch Papa.

Das war eine gute Frage.

»Du übst bestimmt für eine mögliche Expedition, oder, Pia-Kind?«, sagte Oma Lore sofort und zwinkerte mir zu.

Ich nickte. Oma-Lore wusste einfach immer, was zu tun war.

»Kann mir mal jemand den Kater abnehmen?«, rief Pepe. »Der ist ja so was von schwer!«

Erst jetzt sah ich, dass Pepe Omas Kater die ganze Zeit unterm Arm gehalten hatte.

»Schnorrer!« Ich presste den Kater an mich. Er war warm und wunderbar weich und roch nur ein klitzekleines bisschen nach ekelhaftem Fisch.

Immer noch mit drei Zentnern Gepäck behängt und Schnorrer im Arm wankte ich zurück in die Wohnung. Das Gepäck war schwer. Doch in mir war es leicht und hell und golden. Oma Lore und Pepe und Schnorrer waren hier. Ich musste doch nicht auswandern. Alles war gut.

»Moooo-ment.«

Papa stellte sich uns in den Weg und streckte die Hand vor wie ein Verkehrspolizist. »Das geht nicht. Ihr … also … ihr könnt hier nicht einfach so auftauchen, zwei Tage früher als besprochen. Mutter, was denkst du dir denn? Und warum hast du mir nicht geantwortet, ich hab dir doch geschrieben! Weil … also … die Umstände haben sich geändert. Die Wohnung ist voll. Wie stellt ihr euch das vor?« Hinter Papa erschienen Ätz-Tanja und ihre Tochter Polly.

Oma Lore streckte das Kinn vor und runzelte die Stirn. »Ich schlage vor, wir kommen erst mal rein, du erklärst mir diese neuen Umstände genau und wir sehen weiter, ja?«

»Na schön«, sagte mein Vater.

»Ach so, ich meinte eigentlich Pia«, antwortete Oma Lore.

Regel 1, Paragraph 1

Papa gab uns zehn Minuten. Danach wollte er sich mit Oma Lore unterhalten. Papa wollte sich ständig über Dinge unterhalten. Vor allem mit Oma Lore. Er wollte sich mit Oma Lore unterhalten, nachdem wir (da war ich vier) das kleine Kinder-Schwimmbecken mit Wackelpudding gefüllt hatten. Er wollte sich mit Oma Lore unterhalten, nachdem wir (da war ich sieben) an die Unterseite einer Palette Rollen geschraubt hatten und damit einen sehr steilen Berg runtergerast waren für ein Experiment über Geschwindigkeit. Und er wollte sich erst recht mit Oma Lore unterhalten, nachdem Pepe und ich sie (das war im Sommer) in unserer spektakulären Rettungsaktion aus den Händen der Entführer befreit hatten. Nun wollte er sich also wieder mit Oma Lore unterhalten, dabei hatte sie ja nun wirklich nichts falsch gemacht, sondern er.

Nachdem ich Pepe und Oma Lore von diesem absolut verkorksten Tag erzählt hatte, presste Oma Lore ihre knallroten Lippen aufeinander und nickte.

»Ich verstehe. Du armes Ding.«

Ich hielt den fetten Schnorrer auf meinem Arm und kraulte sein flauschiges Fell, und Pepe stand neben dem Haufen Gepäckstücke und sah selbst aus wie eine Reisetasche, die darauf wartete, dass jemand sie aus der Gepäckaufbewahrung abholte.

Oma Lore schaute rüber zu den roten Schulzaun-Zetteln und zu dem Abschiedsbrief an Papa auf meinem Schreibtisch. Pepe folgte ihrem Blick. Plötzlich kam mir das mit dem Abschiedsbrief ganz schön peinlich vor. Schnell ging ich rüber und drehte den Zettel um.

Oma Lore warf einen Blick auf die schmale, goldene Uhr an ihrem Handgelenk und sagte klar und deutlich: »Zeit zu handeln.«

Sie drückte ihren Rücken durch, wodurch sie noch mal gute zwanzig Zentimeter zu ihrer enormen Körpergröße hinzugewann, öffnete die Tür zum Flur und marschierte hinüber zur Küche.

Während sich die Erwachsenen aufgeregt unterhielten, stand ich mit Pepe in meinem Zimmer herum.

Zum ersten Mal waren wir nur zu zweit. Natürlich waren wir das im Sommer auch gewesen. Aber der Sommer und unsere Mission in Klein Funkenwalde kamen mir plötzlich Lichtjahre entfernt vor. In der Zwischenzeit war so viel passiert. Ich war dreieinhalb Zentimeter gewachsen, hatte mir auf der linken Seite eine Strähne blau gefärbt und gelernt Hallo, wie geht es Ihnen? auf neun Sprachen zu sagen. Auch Pepe schien nicht mehr der Junge zu sein, der er noch im Sommer gewesen war. Er hatte was mit seinen Haaren gemacht, waren sie kürzer? Außerdem roch er anders. Nach Seife und Holz. Und da war noch etwas. An seinem Unterarm zeichnete sich eine längliche Schürfwunde ab, ziemlich frisch.