Mittsommernächte - Jytta Rasmussen - E-Book

Mittsommernächte E-Book

Jytta Rasmussen

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Beschreibung

Nickys beste Freundin Laura will heiraten. Ausgerechnet in Lauras neuer Heimat Lappland, genauer gesagt in Abisko. Dabei hatte Nicky so sehr gehofft, dass Laura vielleicht doch in Deutschland heiraten würde. Oder in Stockholm. Oder auf dem Mount Everest. Es war doch total angesagt mit der ganzen Hochzeitsgesellschaft an einen exotischen Ort zu reisen. An jeden, wirklich jeden, dieser Orte wäre Nicky total gern gereist, um die Hochzeit von Laura und Rune zu feiern. Es gab nur einen einzigen Ort auf der Welt, an den Nicky nie wieder reisen wollte. Abisko. Ihre schlimmste Befürchtung erfüllt sich, kaum dass sie angekommen ist. Sie trifft Matti, den Mann, der ihr vor eineinhalb Jahren das Herz gebrochen hat... Ein romantischer Sommerurlaub im Land der Mitternachtssonne. Alle Bücher der Reihe "Lapplandnächte" sind in sich abgeschlossen und können einzeln gelesen werden.

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Mittsommernächte

 

Jytta Rasmussen

 

Roman

 

Prolog

Was für ein grandioser Tag! Blauer Himmel, Sonnenschein und ein inspirierenderAusflug zu den Kumeyaay-Indianern. Das würde ein toller Post mit vielen 'Likes' werden. Wie gut, dass sie ihren Job in einem Bochumer Reisebüro vor eineinhalb Jahren an den Nagel gehängt und ihren Reiseblog zu ihrem Beruf gemacht hatte. 

Nicky schüttelte den Sand von ihren Flipflops, bevor sie die Empfangshalle des Blue Waves Hotels am Pacific Beach von San Diego betrat.Das rhythmische Rauschen des Ozeans drang bis in die Hotelhalle. 

„Hello, Nicky!“ Die Rezeptionistin streckte ihren Arm nach vorn aus und schüttelte ihre Faust mit zur Seite gespreiztem Daumen und kleinen Finger. Nicky hob ihre Hand, um den Shaka-Gruß zu erwidern. Sie genoss die lockere, fast freundschaftliche Atmosphäre des von Surfern geführten Hotels.„Hello, Laney!“ 

Laney griff hinter sich in eines der Zimmerfächer. „Es ist ein Brief für Dich angekommen.“

Wer schrieb denn im Zeitalter der E-mails und Kurznachrichten noch Briefe? Neugierig trat Nicky an die Rezeption und nahm den Umschlag entgegen.Der pastellgelbe Brief wog unerwartet schwer in ihrer Hand und die Oberfläche des Papiers fühlte sich rau an.Büttenpapier. 

So etwas nutzte man doch nur noch für Trauerkarten und Hochzeitseinladungen.

Nicky biss sich auf die Unterlippe und bedankte sich bei Laney. So schnell ihre auf dem Boden klatschenden Flipflops es zuließen, flüchtete sie in ihr Hotelzimmer und ließ sich auf ihr Bett sinken. Mehrmals musste sie tief Luft holen, bevor sie sich überwinden konnte,den Briefumschlag mit dem Finger aufzureißen und die ebenfalls pastellgelbe Karte herauszuziehen.  

Die Vorderseite der Karte zeigte das Foto eines sich lachend umarmenden Pärchens. Der Mann groß und schlaksig mit schwarzen Haaren und hellblauen Augen. Die Frau ebenfalls groß mit karamellfarbenen Haaren und Augen, in denen goldenen Reflexe tanzten. 

Ein schönes Paar.

Nicky klappte die Karte auf. Die beiden inneren Seiten waren mit geschwungenen Buchstaben bedruckt,links auf Schwedisch, rechts auf Deutsch. 

 

 Laura & Rune 

Wir heiraten!

Diesen ganz besonderen Tag möchten wir mit Euch feiern.

Die Trauung und anschließende Feier finden am Samstag, den 28. Juni um 14 Uhr in der Northern Light Lodge in Abisko statt.

 

Nickys Hand zitterte unkontrolliert und die Karte entglitt ihren Händen.

Jetzt war es also so weit.

Sie hatte so sehr gehofft, dass die beiden vielleicht doch in Deutschland heiraten würden. Oder in Stockholm. Oder auf dem Mount Everest. Es war doch total angesagt mit der ganzen Hochzeitsgesellschaft an einen exotischen Ort zu reisen.

An jeden, wirklich jeden dieser Orte, wäre Nicky total gern gereist, um die Hochzeit von Laura und Rune zu feiern.

Es gab nur einen einzigen Ort auf der Welt, an den sie nie wieder reisen wollte.

Abisko.

1. Kapitel

Das Quad vibrierte, als Matti es beschleunigte und über den steinigen Fjällboden südlich kantigen Kaisepaktemassivs steuerte. Die Arme seiner hinter ihm sitzenden Großmutter Láilá schlangen sich fester um seine Taille.

Matti hasste es, dieRentierherde mit dem Quad zu kontrollieren. Hasste das laute Knattern des Motors, das alle Wildtiere vertrieb, so dass man keinen einzigen Schneehasen oder Auerhahnzu Gesicht bekam. Hasste den beißenden Gestank nach Benzin und Abgasen, der seine Nasenschleimhäute so betäubte, dass er den Duft der jungen Birkenblätter nicht riechen konnte. Aber am meisten hasste er das stetige Vibrieren des Quads unter sich.  

Viel lieber hätte er die Rentiere zu Fuß betreut und das Federn der Erde unter seinen Füßen gespürt. Doch damit war er allein. Die meisten Angehörigen seines Volkes waren technikfixiert und nutzten Quads, Mobiltelefone und Hubschrauber um ihre Herden zu managen. 

Deshalb war Matti dankbar, dass seine Großmutter Láilá ihre Herde in ein paar Jahren nicht ihm, sondern seiner jüngeren Schwester Sara übergeben würde. Trotzdem würde er weiterhin mithelfen müssen. Besonders im Frühjahr, wenn die Kälber geboren, und um den ersten Juli, wenn die Kälber markiert wurden. 

Doch bis seine Schwester Sara die Herde übernehmen würde, war noch lang Zeit. Láilá war gesund und fit, genau wie sein Vater. So fit, dass sie normalerweise selbst mit ihren im Wind flatternden langen, schlohweißen Haaren Quad fuhr. Die Tatsache, dass sie heute bei ihm mitfuhr konnte nur bedeuten, sie wollte etwas Wichtiges mit ihm besprechen. Und ihm nicht die Chance geben dem Gespräch auszuweichen. Bestimmt wollte sie ihn wieder überreden endlich zu heiraten und würde ihm auch ein paar passende samische Frauen vorschlagen. 

Er spürte, dass seine Großmutter ihren Kopf näher an sein Ohr schob. Auch ohne sie zu sehen wusste er, dass ihre blassblauen Augen ihn fixierten. „Gehst Du zu Runes und Lauras Hochzeit?"

Nein, dort würde er ganz sicher nicht hingehen.

"Die Hochzeit ist am Samstag nach Midsommar, wenn die Markierung der Rentiere in vollem Gang ist.“ Das erst Mal seit langem war er froh, seiner Familie stets mit den Rentieren helfen zu müssen. Für die Absage der Hochzeitseinladung war das eine mehr als willkommene Ausrede.

„Geh' trotzdem hin.“

Welche Haarfarbe sollte sie diesmal wählen? Nicky stand vor dem Badezimmerspiegel ihres Hotelzimmers und betrachtete kritisch ihr Spiegelbild. 

Sowohl die Badezimmertür, als auch die Balkontür ihres Zimmers standen offen, so dass der Wind die Gardine blähte und den salzigen Geruch des Pazifiks bis zu ihr trug.Morgen gingihr Flug auf die Lofoten. Die zwei Monate inKalifornien waren viel zu schnell vergangen und sie würde das sonnige Wetter vermissen. Genauso wie das Rauschen der Wellen, das bis zur ihr ins Zimmer drang.Ob sie überhaupt noch ohne Brandungsgeräusche einschlafen konnte? 

Nicky konzentrierte sich wieder auf ihr Spiegelbild und strich mit der flachen Hand über ihre azurblaue Stoppelfrisur.Der pumucklrote Ansatz ihrer Haare war schonüberdeutlich sichtbar und die Spitzen bogen sich bereits. Es war dringend notwendig ihre Haare mit dem Langhaarschneider zu kürzen und die Farbe aufzufrischen. 

Bereits als Kind hatte sie ihre natürlicheknallroteHaarfarbe gehasst.Vielleicht, wenn sie zu den roten Haaren so richtig schöne grüne Augen gehabt hätte. Smaragdgrün oder gar Türkis, wie das Meer um Jamaika. Dann hätten ihre roten Haare gut dazu ausgesehen. Aber die Farbe ihrer Augen war ein nichtssagendes Graugrün.Wie die Ruhr nach wochenlangem Regen. Außerdem war sie so klein und zierlich, dass selbst die Lehrer sie irgendwann nur noch Pumuckl genannt hatten. Als Teenager hatte sie dann zwar niemand mehr Pumuckl genannt, aber als alle Mädchen aus ihrer Klasse schon den zweiten oder dritten Freund hatten, hatte sich noch immer kein einziger der Jungen für sie interessiert. 

Bis zu ihrem siebzehnten Geburtstag.

Nicky schluckte. Sie wollte jetzt nicht an das denken, was an ihrem siebzehnten Geburtstag passiert war.Entschieden schob sie die schmerzhaften Erinnerungen an den Tag beiseite. 

Am Tag nach ihrem siebzehnten Geburtstag, hatte sie sich den Langhaarschneider ihres Vaters geschnappt, ihre Haare auf einen Zentimeter Länge geschoren und schwarz gefärbt. 

Seit dem Tag hatte es endlich auchmit den Jungs geklappt. Es hatte sogar ausgesprochen gut mit Jungs und später Männern geklappt. Zumindest wenn man Erfolg bei Männern in der Anzahl von One-Night-Stands oder Affären maß, nicht in der Länge von Beziehungen. 

Es hatte so lange gut mit Männern geklappt, bis sie Matti begegnet war.

Jack Johnsons Gitarrenklänge drangen an Nickys Ohr. Hastig rannte sie aus dem Bad, um nach ihrem Mobiltelefon zu suchen. Das Geräusch schien aus Richtung ihres zerwühlten Bettes zu kommen, doch auf dem Nachttisch lag das Telefon nicht. Überhaupt klang es sehr gedämpft. Sie hob das Kopfkissen hoch und schüttelte danach vorsichtig die Decke über der Matratze aus. Kein Mobiltelefon. 

Die Gitarrenklänge verstummten, nur um unmittelbar danach erneut zu beginnen. Der Anruf schien wirklich wichtig zu sein.

Nicky schaute unter ihr Bett.Tatsächlich, mitten unter ihrem Bett lag das Mobiltelefon und Lauras Bild leuchtete auf dem Display. 

Flach auf dem Bauch liegend schob Nicky sich zentimeterweise unter das Bett. Als ihre Fingerspitzen das Telefon erreichten, war das Display erloschen und Jack Johnson verstummt. Doch kaum hatte sie das Telefon näher an sich heran gezogen, vibrierte es erneut.

Nicky nahm das Gespräch entgegen. „Hallo, Laura. Was gibt es denn so Dringendes?“

Mit dem Handy in der Hand versuchte Nicky rückwärts zu kriechen.

„Hej, Nicky! Gut, dass Du endlich 'rangehst!“

Echte Sorge schwang in der Stimme ihrer stets ruhigen und sachlichen Freundin mit. Nicky vergaß, wo sie lag und hob ruckartig ihren Kopf.

Aua!

Ihr Hinterkopf tat höllisch weh.

Sie legte sich wieder flach auf den Boden und versuchte sich trotz der Sternchen in ihrem Gehirn auf das zu konzentrieren, was Laura sagte.

„Du musst sofort nach Abisko kommen?!“ 

„Du hättest Tierarzt werden sollen!“ 

Matti hockte auf dem mit Flechten bewachsenen Boden zwischen knorrigen Fjällbirken, die nur wenig mehr als mannshoch waren, und behandelte eine Wunde am Vorderbein eines Rentiers. Die Wunde war tief und blutete noch leicht, roch aber glücklicherweise nicht eitrig.  Er spülte die Wunde mit einem Aufguss aus getrockneten Birkenblättern, während seine Schwester Sara das Tier festhielt. Das Kalb des verletzten Rentiers sprang auf staksigen Beinen um sie herum. 

„Und wie hätte das gehen sollen? Ihr hättet mehrere Jahre auf meine Mithilfe verzichten müssen.“ 

Gut, dass die Wunde frisch war. Bei den zerstreut weidenden Rentieren war es oft nicht leicht zu erkennen, wenn eines eine frische Verletzung trug. Oft fielen Wunden im dichten Fell erst auf, wenn sie sich bereits infiziert hatte und das Rentier deswegen lahmte. Nicht selten bedeutete dies das Todesurteil für ein Rentier.

„Du könntest jetzt Tiermedizin zu studieren. Inzwischen bin ich alt genug, um mitzuhelfen.“ 

„Und wovon soll ich das bezahlen? Nein, es ist gut so, wie es ist.“ 

Die Wunde war eigentlich so tief, dass man sie hätte nähen müssen. Aber hier, mehr als eine Mil (zehn Kilometer) von der nächsten mit dem Auto befahrbaren Straße entfernt, mussten eine Wundreinigung und ein Verband reichen. Zum Glück war das Klima südlich des kantigen Kaisepakte-Massivs so mild, dass die Fjällbirken bereits Blätter trugen. Er pflückte ein paar frische Birkenblätter, legte sie auf die verletzte Stelle und umwickelte das Bein mit selbsthaftendem Verband.

Abfällig spuckte Sara auf den Boden. „Du karrst im Winter ausländische Touristen mit Deinem Rentierschlitten durch die Gegend. Das ist doch kein Beruf für einen Sami." 

„Ich biete die Rentierschlitten-Touren auch für Einheimische an", verbesserte Matti seine Schwester mild. "Und ich bin damit zufrieden. Sehr sogar.“

Natürlich gab es Momente, in denen Matti sich wünschte, er hätte Tiermedizin studiert. Aber meistens war er froh, es nicht getan zu haben. Den ganzen Tag in den geschlossenen Räumen einer Praxis zu arbeiten oder im Auto von Hof zu Hof zu fahren, wäre nichts für ihn gewesen.

Matti prüfte den Sitz des Verbandes. Er konnte locker einen Finger darunter schieben, aber der Verband verrutschte nicht. Perfekt. "Du kannst sie jetzt loslassen." 

Sara ließ das Rentier los. Sofort drehte es sich um und rannte hastig ein paar Schritte über den flechtenbewachsenen Bodendavon, bevor es wieder in ruhigen Schritt fiel und schließlich den Kopf senkte, um zu äsen. Das Kalb war hinter seiner Mutter her gesprungen und drängte sich jetzt dicht an deren Rumpf. Es war erst ein paar Tage alt und angewiesen auf die Milch und die Fürsorge seiner Mutter. Wenn sie das verletzte Tier nicht rechtzeitig entdeckt und behandelt hätten, dann hätte die Verletzung höchstwahrscheinlich auch für das Kalb den Tod bedeutet. 

Auch Saras Blick war dem Rentier gefolgt. „Für den Verbandswechsel wirst Du mehr Mühe haben sie einzufangen.“

„Das macht nichts, solang sie wieder gesund wird.“ Matti sammelte den Müll ein und notierte sich im Kopf, dass er Verbandsmaterial in der Erste-Hilfe-Tasche ergänzen musste.

Gemeinsam mit seiner Schwester fuhr Matti auf dem Quad zurück zur Renvaktarstugan. Die Zeiten, als die Sami auf ihrer alljährlichen Wanderung in einem transportierbaren Lávvu, einem tipi-ähnlichen Zelt, übernachtet hatten, waren lange vorbei. An allen strategisch wichtigen Plätzen standen inzwischen feste Holzhütten als Unterkünfte. 

In unmittelbarer Nähe der Renvaktarstugan ästen Livli und Aili, die beiden Rentiere, die Matti im Winter für seine Schlittentouren nutzte. Den Sommerdurften sie mit ihren Artgenossen im Fjäll verbringen und ihre Freiheit genießen. Beide hoben ihre Köpfe, als sie Mattis Schritte hörten. Er ging zu ihnen und strich ihnen über das dichte Fell des Halses. Sie stupsten ihn sanft mit ihren feuchten schwarzen Nase an, als er für ihre Begriffe viel zu früh aufhören wollte sie zu streicheln. Livlis Kalb lag in einer Kuhle neben der Mutter und schlief. Aili war noch trächtig. Prüfend strich Matti ihr über den Bauch. Bis zur Geburt würde es noch mindestens eine Woche dauern. Wenn es ein weibliches Kalb würde, genauso wie Livlis, würde er beide behalten und als Zugtiere ausbilden. 

Saras Stimme holte ihn aus seinen Gedanken. „Wir haben beschlossen, dass Du diese Jahr nicht bei der Markierung der Kälber mithelfen musst, damit Du zu Runes und Lauras Hochzeit gehen kannst." 

Ärgerlich drehte Matti sich zu seiner Schwester um. „Wer ist wir?“

„Láilá und ich, unser Vater und Onkel Niilas." 

Matti ballte die Hände zu Fäusten. „Ihr habt einen Familienrat zu dem Thema abgehalten? Ohne mich?“

„Es hat sich zufällig so ergeben. Und da wir alle einer Meinung sind, wärst Du sowieso überstimmt." 

Matti spürte wie seine Fäuste sich noch mehr verkrampften und seine Arme zuckten. Er hatte Mühe deutlich zu sprechen.

„Aber warum muss ich zu dieser Hochzeit gehen? Nenn' mir einen vernünftigen Grund!“ 

„Rune hat Dich eingeladen, obwohl Du Sami bist. Die Einladung nicht anzunehmen, wäre eine Beleidigung.“

„Rune weiß, dass man seine Tiere nicht einfach im Stich lassen kann. Er wird verstehen, wenn ich absage. Schließlich betreibt er selbst eine Schlittenhundefarm.“ 

Sara fuhr fort, als hätte Matti überhaupt nichts erwidert. „Und es ist wichtig, dass wir Sami bei gesellschaftlichen Ereignissen Präsenz zeigen. Schweden hat die ILO 169 der UNO zum Schutz indigener Völker noch immer nicht ratifiziert. Und solange das nicht passiert ist, können sie mit unserem Land machen, was sie wollen. Die nächste Miene wird dann vielleicht in den Weidegebieten unserer Sameby errichtet. “

Matti explodierte. „Musst Du immer alles gleich politisieren? Das ist kein scheißverdammtes gesellschaftliches oder politisches Ereignis, sondern eine private Hochzeit von zwei Menschen, die sich lieben!“

Láilá schien ihren Streit beobachtet zu haben, jedenfalls stand sie plötzlich vor Matti und blickte ihm fest in die Augen. Wie immer konnte er ihrem Blick nicht ausweichen. Ihre blassblauen Augen hielten ihn gefangen, stärker als ein Lasso es hätte tun können, und bohrten sich in seine Seele. 

„Aus welchem Grund möchtest Du nicht zu der Hochzeit gehen.“

„Sind unsere Rentiere nicht Grund genug?" Wütend trat Matti gegen einen Stein. Die Familie ging doch sonst immer vor. Außerdem fehlte es gerade noch, dass er seiner Großmutter und seiner Schwester von Lauras Freundin Nicky erzählte. „Ich muss schauen, ob der Verband noch sitzt. Den habe ich sehr locker gewickelt.“So schnell er konnte, ohne dass es wie eine Flucht aussah, ging er zurück in die Richtung, aus der er gerade mit seiner Schwester auf dem Quad gekommen war.

Nicky wartete bis die anderen Gäste das Flugzeug verlassen hatten und stieg als Letzte die Gangway hinunter. Normalerweise konnte sie gar nicht schnell genug aus einem Flugzeug aussteigen, wartete ungeduldig auf ihren Koffer und stürzte sich auf die Entdeckung der neuen Umgebung. Doch, so neugierig sie darauf war die Mitternachtssonne zu erleben und so sehr sie sich freute ihre beste Freundin Laura zu treffen, beides hätte ihrer Meinung nach nicht in Abisko stattfinden müssen. 

Und jetzt musste sie sogar sechs Wochen in Abisko verbringen, vielleicht sogar noch länger. Reidun, Runes Schwester und Lauras zukünftige Schwägerin, hatte sich gleichzeitig den rechten Arm und das linke Bein gebrochen. Sie benötigte dringend Hilfe in ihrem Hotel, der Northern Light Lodge in Abisko. 

Sechs lange Wochen, während denen tagtäglich die Gefahr bestand Matti zu begegnen. 

Nicky verlangsamte ihre Schritte und trödelte auf dem kurzen Weg zwischen Flugzeug und Flughafengebäude hinter den anderen Gästen her. Obwohl es bereits zweiundzwanzig Uhr war, war es noch taghell und das orangerote Licht der Abendsonne ließ die rot glänzenden Wände des Flughafengebäudes warm leuchten. Trotzdem fröstelte Nicky in ihrem T-Shirt und rieb sich mit den Händen über die Gänsehaut auf ihren Armen. Wenn es hier immer so kalt war, würde sie sich ein paar Pullis kaufen müssen. Die letzten eineinhalb Jahre hatte sie sich konstant in Regionen mit einer durchschnittlichen Jahrestemperatur zwischen zwanzig und dreißig Grad Celsius aufgehalten. Ihre Garderobe bestand aus T-Shirts, kurzen Hosen und Bikinis. 

Die Eingangstür zur Ankunftshalle fiel langsam vor Nicky ins Schloss und sie war die Einzige, die noch draußen auf dem Flugfeld stand. Wenn sie die Ankunftshalle betrat, gab es kein zurück mehr. Noch konnte sie weglaufen, sich irgendwo verstecken und mit dem nächsten Flugzeug zurückfliegen. Aber sie konnte ihre beste Freundin Laura wohl kaum im Stich lassen, wenn diese sie um Hilfe für ihre Schwägerin bat. Wozu hatte man schließlich Freunde? 

Nach Lauras Anruf hatte Nicky sofort ihre Sachen gepackt, ihren Igelhaarschnitt gekürzt und war zum Flughafen gefahren, um den nächsten Flug zu erwischen. Zum Färben ihrer Haare hatte die Zeit nicht mehr gereicht, so dass Nicky eine Baseballkappe aufgesetzt hatte, um ihre natürliche rote Haarfarbe zu verbergen.

Nicky holte tief Luft und zwang sich, die Tür zur Ankunftshalle zu öffnen.  

„Hej Nicky! Endlich!“ Laura musste direkt hinter der Tür gewartet haben und umarmte Nicky stürmisch.  

Nicky erwiderte die Umarmung herzlich, was gar nicht so einfach war, denn Laura war eineinhalb Köpfe größer als sie selbst. Dann schob sie Laura ein Stück von sich, um sie anschauen zu können. „Toll siehst Du aus! Das Leben mit Rune scheint Dir gut zu tun.“ Die goldenen Reflexe in Lauras karamellfarbenen Haaren und Augen funkelten und blitzten um die Wette vor Glück. Außerdem hatte Laura zugenommen. Doch das stand ihr gut. Sogar ihr Busen hatte zugenommen.

Nicky stutzte.

Laut juchzend fiel sie Laura um den Hals. „Du bist schwanger!“

„Psst, nicht so laut.“ Laura sah sich in der Ankunftshalle um. „Es ist noch ganz frisch, siebte Woche, und wir möchten es noch ein bisschen für uns behalten.“

„Das könnte ihr sowieso nicht, so wie Du strahlst. Jeder, der Dich kennt, wird es sofort bemerken. Deshalb kannst Du auch nicht selbst bei Reidun im Hotel helfen, oder?" 

Laura nickte. "Mit den Hochzeitsvorbereitungen, meinem Job als Architektin für Ove und der Bauleitung von Reiduns Ferienhaussiedlung bin ich sowieso schon mehr als genug beschäftigt. - Und Rune hat mit seinen Schlittenhunden, den Jobs als Guide für Reiduns Gäste und dem Anbau unseres Hauses auch mehr als genug zu tun. Schließlich eilt der Anbau jetzt ein bisschen.“Bedeutungsvoll schaute Laura in Richtung ihres Bauches und strich sich mit der flachen Hand darüber.

„Gut, dass Du angerufen hast!“ Nicky umarmte Laura noch einmal kurz und fest. „Selbstverständlich helfe ich Euch. Dazu sind Freunde schließlich da.“ Die beiden Frauen stellten sich in die Nähe des Kofferbandes, um auf Nickys Gepäck zu warten. 

„Sind wir denn noch Freunde?“

Erschrocken zuckte Nicky zusammen und suchte Lauras Blick. Doch diese wich ihrem Blick aus und zeichnete mit ihrem Schuh unsichtbare Muster auf die Fließen.

---ENDE DER LESEPROBE---