Mord unterm Reetdach - Eric Weißmann - E-Book

Mord unterm Reetdach E-Book

Eric Weißmann

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Beschreibung

Tatort: Sylter Luxusimmobilie Ein Immobilienmakler ermittelt auf der schönsten Insel Deutschlands Perfekte Urlaubs-Strandkorb-Lektüre! Der Abend des traditionellen Sylter Sonnenwendfeuers endet mit einem Schock: die Leiche des Archsumer Großbauern Hinnerk Petersen wird in dessen Garten gefunden, alles deutet auf Mord hin. Auch Immobilienmakler Kristan Dennermann ist dabei, als der Tote entdeckt wird. Petersen hinterlässt ein prächtiges Anwesen, das Dennermann verkaufen soll. Schnell stößt der Makler auf gewisse Ungereimtheiten. Ging es um einen Erbschaftsstreit? Und was hat es mit dem Gerücht auf sich, der Verstorbene habe regelmäßig eine hübsche junge Prostituierte empfangen? Je intensiver Dennermann nachforscht, desto größer wird der Kreis der Verdächtigen. Und schon bald hat der Killer es auch auf ihn abgesehen … Perfekt für Fans von Nordsee- und Sylt-Krimis

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Seitenzahl: 358

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Über das Buch

Wie jedes Jahr nimmt Immobilienmakler Kristan Dennermann an der Sonnenwendfeier in Hörnum teil. Zum Entsetzen der Gäste endet der Abend jedoch mit einer grausigen Entdeckung: Die Leiche des Sylter Urgesteins und Archsumer Großbauern Hinnerk Petersen wird im Garten seines Grundstücks gefunden. Alles deutet auf Mord hin. Petersen besaß eine Spitzenimmobilie – Reetdach, weitläufiges Grundstück, Triple-A-Lage. Das verspricht einen Erlös in Millionenhöhe. Als Kristan Dennermann von Petersens Söhnen mit dem Verkauf des prächtigen Anwesens beauftragt wird, wundert er sich über die Eile, denn Geldnöte plagen die Erben keineswegs. Schnell stößt der Makler jedoch auf weitere Ungereimtheiten. Wer trachtete dem alten Mann nach dem Leben? Während die Polizei halb Sylt befragt, aber völlig im Dunkeln tappt, beginnt Dennermann, auf eigene Faust zu recherchieren. Doch schon bald gerät er selbst in das Visier des Mörders.

Eric Weißmann

Mord unterm Reetdach

Kristan Dennermann ermittelt

Ein Sylt-Krimi

Prolog

Etwas klickt. Ein Geräusch, das nicht hierhergehört.

Noch bevor ich die Bedeutung erfasse, setzt mein Atem aus. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich in den wattigen Nebel, der mich einhüllt, mich zu verschlucken droht. Nebel ist das Schlimmste, seit ich damals …

Mein Herz rast, meine Knie beginnen, unkontrolliert zu zittern. Ich hätte nicht herkommen dürfen. Niemals.

Du musst verschwinden. Sofort.

Aber meine Füße gehorchen mir nicht mehr. Immer tiefer sinke ich in den matschigen Wattboden, den die auflaufende Flut in eine Todesfalle verwandeln wird, sobald sich die Priele mit Meerwasser füllen, unaufhaltsam, und mir den Rückweg zum Strand abschneiden.

Nordsee ist Mordsee.

Das ist allerdings mein kleinstes Problem, denn das metallische Klicken sagt mir, dass ich nicht allein hier draußen bin. Ich spüre die drohende Gefahr körperlich, mit jeder Faser. Wieder und wieder suche ich den Nebel ringsum nach verräterischen Schatten ab. Vergeblich. Nur der Lichtkegel eines fernen Leuchtturms streicht ab und an durch die feuchte Suppe.

Niemand wird mich hören, wenn ich um Hilfe schreie, niemand kann mir jetzt noch helfen. Warum, verdammt, habe ich das zugelassen? Warum bin ich nicht einfach bei dem geblieben, was ich am besten kann – Häuser und Wohnungen verkaufen? Warum habe ich mich dazu hinreißen lassen, auf eigene Faust zu ermitteln und mich damit in Teufels Küche zu bringen?

Mein Puls beginnt, panisch zu flattern, als ich eine Silhouette erspähe, die sich unmerklich aus dem wattigen Grau abhebt. Quälend langsam nimmt sie Gestalt an, färbt sich dunkler, wird größer. In diesem Moment gleitet der Lichtkegel des Leuchtturms heran, und etwas Metallisches blitzt direkt vor mir auf. Der Lauf einer Waffe.

Das ist es also. Das Ende.

Der Moment gefriert, während mein Hirn in hektische Betriebsamkeit verfällt und Fragen über Fragen abfeuert, die nichts mehr zur Sache tun.

Warum habe ich die Warnzeichen übersehen? Warum habe ich keinen Polizeischutz angefordert? Wann wird man meine Leiche finden? Wer kümmert sich um meinen Hund, wenn ich tot bin?

 

Kapitel 1

Vier Tage zuvor

 

Man muss schon verdammt hart im Nehmen sein, um wolkenverhangene Himmel, extreme Temperaturschwankungen und peitschenden Wind zu mögen. Es sei denn, man ist bekennender Syltianer. Dann geht jedes Wetter, jede Jahreszeit. Aber man muss seinen Beruf wirklich lieben, leidenschaftlich lieben, um auf dieser meerumtosten teilverrückten Insel als Makler zu arbeiten.

Auf mich trifft beides zu: Ich liebe Sylt, ich liebe meinen Beruf, und das seit mehr als fünfzehn Jahren.

Fröstelnd stehe ich vor einem Reetdachhaus im Süderheidetal. Auch an diesem ungewohnt kühlen und stürmischen Junitag war ich wie gewohnt mit meinem Corgi am Strand spazieren. Nichts für schwache Gemüter. Wie Nadelstiche haben sich aufgewirbelte Sandkörner in meine Haut gebohrt, und trotz der dicken Gummistiefel fühlen sich meine Füße wie erstarrt an.

Inzwischen hat der Wind noch mal kräftig zugelegt. Starke Böen fegen ums Haus und zerren melodramatisch an klappernden Fensterläden wie in einem alten Edgar-Wallace-Film. Solche Fensterläden gibt es nur noch selten an den Häusern hier.

Jetzt hätte ich nichts gegen einen heißen Tee einzuwenden, gern auch mit Schuss. Aber Job ist Job. Seit einer Woche steht das Objekt zum Verkauf, für stattliche fünf Millionen, und die Interessenten rennen mir regelrecht die Bude ein. Klar, jeder will dort wohnen, wo Sylt noch ursprünglich wirkt, urig, geradezu putzig. Im Süderheidetal hat sogar das Transformatorenhäuschen ein Reetdach.

Besichtigungstermine könnte ich mir im Grunde sparen. Obwohl das Haus stark renovierungsbedürftig ist, würden die meisten Kunden auch blind zuschlagen. Ist ja absolut risikolos. Ob man nun ein fensterloses Wohnklo in Westerland oder eine Kampener Luxusvilla mit Whirlpool erwirbt, auf Sylt ist die Wertsteigerung garantiert. Dass ich dennoch auf Begehungen vor Ort bestehe, hat mit meiner Berufsehre zu tun. Kein Verkauf ohne Besichtigung – auch wenn vieles gerne mal im Vorfeld per WhatsApp läuft und manchen Käufern sogar ausgereicht hat. Spaß beiseite, aber so kann es in seltenen Fällen auch mal sein, wenn einer genau weiß, was er denn will, und die Insel schon kennt.

Heute ist der erste Termin im Reetdachhaus im Süderheidetal, der neuesten Errungenschaft meines Portfolios und der aktuelle Aufmacher meiner Website: Kristan Dennermann, Ihr Spezialist für Sylter Immobilien, präsentiert ein Spitzenobjekt in Toplage.

Mit kältesteifen Fingern schließe ich die Tür auf und tappe in den schmalen, mit Kommoden und Schränken vollgestellten Flur. Die Besichtigung werde ich allein durchführen, weil sich der Hausherr, der alte Hinnerk Petersen, weigert, zugegen zu sein, »wenn lauter Fremde durch meine Räume trampeln«.

Kein Problem, ich bin bestens vorbereitet. Ich werde meine Kunden auf die schönen alten Holztüren aufmerksam machen, ihnen den gemauerten Kamin im Wohnzimmer zeigen, die blau-weißen original friesischen Kacheln in der Küche. Auch auf die dekorativen Deckenbalken im Eingangsbereich werde ich hinweisen, Eiche massiv, gut zweihundert Jahre alt.

An einem dieser Balken hat einst der Vater von Hinnerk Petersen gehangen. Aufgedunsen, mit blutunterlaufenen Augen und bläulich verfärbter Haut.

Schaudernd blicke ich hoch zu den dunkel gebeizten Holzbohlen. Wenn man genau hinsieht, erkennt man noch die Stelle, an der der Strick eine helle Kerbe ins Holz gescheuert hat. Es muss ein längerer Todeskampf gewesen sein. Doch danach ist Ruhe eingekehrt, tiefer Frieden, das alles umspannende, alles überwindende Nichts, in dem es keinen Schmerz mehr gibt, kein Hadern, keine Verzweiflung.

Nicht mal dran denken, Kristan. Reiß dich zusammen.

Ich kenne den Sog des großen Nichts. Einfach Schluss machen und vergessen, was nicht mehr gut werden kann. Einige Male bin ich nah dran gewesen. Viel zu oft.

Was den Vater von Hinnerk Petersen betrifft, erzählt man sich die immer selbe Geschichte. Alt und krank sei er gewesen, sodass er das Haus nicht mehr verlassen konnte. Da kommt dann halt eine Menge zusammen: das trostlose Warten aufs Ende, die Einsamkeit, die langen dunklen Winterabende, an denen die düsteren Gedanken schneller kommen, als man Depression sagen kann.

Eine tödliche Kombination.

Wieder einer, der nicht stark genug war. Aber was heißt das schon, Stärke. Er hat den vorzeitigen Tod einem langen, qualvollen Siechtum vorgezogen. Ein stolzer Friese eben, eigensinnig und selbstbestimmt bis zuletzt – so wie einst Gunter Sachs.

Auch sein Sohn Hinnerk ist einer vom alten Schlage. Vor einer Woche tauchte er in meinem Westerländer Maklerbüro auf, selbst schon ein alter Herr, gebeugt, wettergegerbt, etwas hinfällig. Aber höchst eigensinnig. Bei den Besichtigungen wolle er auf keinen Fall zugegen sein, hat er erklärt, dafür schmerze ihn der Verkauf des Familienbesitzes zu sehr. Mit seiner von Altersflecken übersäten Hand hat er den Maklervertrag unterschrieben, mir einen Hausschlüssel überreicht und ist wieder hinausgewankt.

Schwer atmend stehe ich im Flur. Stickig ist es hier drinnen im Haus, auch ein bisschen muffig. Es riecht nach Tod.

Rasch wechsele ich ins Wohnzimmer, wo ich alle Fenster aufreiße und die kalte salzige Luft einatme, die auf mich einstürzt.

Friede den Toten, Respekt vor den Lebenden. Wobei Letzteres nicht immer so leicht ist in meinem Beruf. Ein stilechtes Friesenhaus im Süderheidetal weckt Begehrlichkeiten. Anderswo versuchen die Leute, den Kaufpreis zu drücken, auf Sylt bieten betuchte Interessenten schon mal an, zwei- bis dreihunderttausend Euro draufzulegen – unter der Hand, steuerfrei. Doch da sind sie bei mir an der falschen Adresse. Man mag es Sentimentalität nennen oder Gerechtigkeitssinn, für so was bin ich nicht zu haben.

Unwillkürlich muss ich lächeln. Angesichts der üblichen Bestechungsversuche kommt es fast knickerig rüber, dass mir ein Kunde für den Zuschlag eine Hublot Big Bang für knapp hunderttausend Euro versprochen hat. Rührend auch die dralle Unternehmergattin aus Süddeutschland, die beim Vorgespräch durchblicken ließ, man könne ja mal »in ganz intimer Atmosphäre« über das Objekt verhandeln.

Die meisten Leute drehen halt ein bisschen durch, wenn sie ein Anwesen auf Sylt ins Auge fassen.

Kein Wunder. Offiziell trage ich den Titel Immobilienfachwirt, ich selbst bezeichne mich als Wunschhändler und Traumvermittler. Krisenfeste Kapitalanlagen sind das eine, mein Geschäftsmodell basiert jedoch auf der emotionalen Rendite meiner Kunden. Nestbau ist ein Urinstinkt und Sylt der absolute Sehnsuchtsort. Wer hier nach langer Suche ein Domizil ergattert, wird von tiefen Glücksgefühlen geflutet.

Blechern schlägt die große Standuhr im Wohnzimmer an. Viertel vor fünf. In fünfzehn Minuten wird das Ehepaar aus Berlin vor der Tür stehen, das ganz oben auf meiner Favoritenliste steht, sympathische Leute mit drei kleinen Kindern. Nur noch ein letzter Check-up, dann kann die Besichtigung starten.

Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung zu sein. Nach wie vor befinden sich Hinnerk Petersens schwere dunkle Möbel im Haus. Seine Kinder hegen keinerlei Interesse an dem Plunder, wie sie die Einrichtung des Vaters geschmackvollerweise nennen.

Mir kann es nur recht sein. Ein voll möbliertes Objekt wirkt immer ansprechender als kahle Räume, wo man jeden Fleck, jeden Riss in der Wand sieht. Selbst hässliche Möbel verleihen einer Immobilie etwas Heimeliges, Bewohntes. Bei besserem Wetter hätte ich auch Gartenstühle und einen Sonnenschirm draußen auf den Rasen gestellt. Home Staging nennt man das: alles nett herrichten, damit sich Interessenten sofort wie zu Hause fühlen.

Suchend schaue ich mich um. Auf mein Geheiß hat ein professioneller Putztrupp gestern gründlich sauber gemacht und aufgeräumt, aber irgendwas wird ja immer übersehen.

Mir entgeht selten etwas. Als langjähriger Makler weiß ich, wie man ein Objekt vorteilhaft präsentiert, und vor allem habe ich ein Auge für störende Details. Was musste ich nicht schon alles entdecken: leere Schnapsflaschen hinter dem Sofa, gebrauchte Kondome unterm Bett, Pornohefte auf der Toilette.

Als Erstes schalte ich sämtliche Lampen an. Licht ist immer gut, viel Licht. Danach inspiziere ich noch einmal jedes einzelne Zimmer, rücke hier ein Sofakissen zurecht, hebe dort einen Papierschnipsel vom Boden auf. Im Schlafzimmer finde ich eine von Spinnweben mumifizierte Socke, eingeklemmt zwischen Bett und Nachtschrank. Hoher Ekelfaktor, bloß schnell weg damit.

Aber das ist es nicht, was mich beunruhigt. Häuser erzählen Geschichten. Auch in diesem Haus nisten sie, in jedem Zimmer, jeder Ecke, jedem Winkel. Bedrohliche Geschichten. Irgendetwas stimmt hier nicht, das spüre ich ganz deutlich, wenngleich ich nicht sagen könnte, was genau.

»Sie sind zu durchlässig«, hat mein Therapeut mal gesagt, »Sie haben eine extrem hohe Wahrnehmungsfrequenz, deshalb sind Sie so dünnhäutig und sehen manchmal Gespenster.«

Womöglich hat er recht.

Weiter geht’s in die Küche, deren nostalgischer Charme mich seltsam berührt. Der niedrige Raum wirkt wie eine Zeitkapsel mit dem altertümlichen Gasherd, den friesischen Kacheln und dem groben uralten Holztisch nebst passenden Armlehnstühlen. Nach dem Verkauf wird das alles rausfliegen. Zurzeit sind indirekt beleuchtete Kücheninseln angesagt, mit schicken tischlergefertigten Hochstühlen wie Barhocker und Hightech-Extras wie Sous-Vide-Garer und und und.

In einem Holzregal an der Stirnwand sind allerlei Lebensmittel aufgereiht: Mehlpackungen, Zuckertüten, ein paar Dosen mit Eintopfgerichten. Davor liegt ein zerbrochenes Glas mit Hühnerfrikassee auf dem Boden. Schöne Bescherung. Wie konnte das denn passieren? Ist es dem Hausbesitzer vielleicht heute Morgen heruntergefallen? Aber warum hat er das Malheur dann nicht sofort beseitigt?

Gut, da muss ich jetzt ran. Zunächst wickele ich ein Geschirrtuch um meine rechte Hand, dann wische ich das Ragout vom Boden und hebe vorsichtig die Glassplitter auf.

Jetzt erkenne ich auch das Etikett: Lilos Happy Belly. So heißt die Hundenahrung Marke Eigenbau, die meine alte Freundin Lieselotte in ihrer Küche zubereitet und an die wohlhabenderen Sylter Hundebesitzer verkauft. Das Dreihundert-Gramm-Glas für stolze zwölf Euro. Dafür sind aber auch beste Zutaten drin, alles Bio, ohne künstliche Zusatzstoffe.

Auch ich leiste mir ab und an ein Glas für meinen Corgi, den Prince of Wales. Er liebt das Bio-Rinderragout, am meisten aber liebt er den Leberwurstkeks, den es gratis dazugibt.

Weiter im Text. Bevor ich Möbel und Ablageflächen auf eventuellen Staub kontrolliere, öffne ich den Kühlschrank. Der wird beim obligatorischen Clearing gern vergessen. Großer, großer Fehler. Schon des Öfteren habe ich vergammelte Kohlköpfe oder Tupperdosen mit gewölbten Deckeln in den Kühlschränken gefunden. Einmal sogar ein madenzerfressenes Kotelett. So was muss man als Makler wissen, wenn man böse Überraschungen bei der Besichtigung vermeiden will.

Alles gut. Der Kühlschrank ist vollkommen leer, ordnungsgemäß blank gewienert und dem Geruch nach zu urteilen sachgemäß desinfiziert. Vorsichtshalber schaue ich auch ins Tiefkühlfach. Wegen der heftigen Stürme hat es einige Stromausfälle gegeben, was eine ziemliche Sauerei bedeuten kann, falls noch etwas darin liegt.

»Wusste ich’s doch«, brumme ich. »Wenn man nicht alles selber macht …«

Mit spitzen Fingern ziehe ich eine Packung Erbsen aus dem Fach. Sie muss schon länger darin gelegen haben. Eine dünne Eisschicht glitzert auf der Pappe, das aufgedruckte Mindesthaltbarkeitsdatum ist seit zwei Jahren abgelaufen. Ich will die Schachtel gerade in den Mülleimer befördern, als mein Blick auf einen winzigen Schriftzug fällt.

Für Julia hat jemand mit Kugelschreiber auf die Schmalseite gekritzelt.

Petersen hat nur Söhne. Vielleicht heißt die Zugehfrau Julia? Andererseits haben die Putzleute erzählt, das Haus sei unfassbar verschmutzt und verwahrlost gewesen, ein elendes Drecksloch. Also keine Zugehfrau. Wer dann?

In diesem Moment sehe ich, dass die Packung geöffnet und mit einem Streifen Tesafilm wieder verschlossen wurde. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Als Single entnehme auch ich den Inhalt portionsweise, nicht alles auf einmal. Es ist mehr Intuition als Neugier, als ich den Klebestreifen abziehe und zum Spülbecken gehe, um die Schachtel darin auszuleeren.

Klackernd prasseln steinhart gefrorene Erbsen aufs Metall. Als Letztes fällt ein durchsichtiges Tütchen in die Spüle.

Ich reiße die Augen auf.

Ein Schmuckstück funkelt mir entgegen. Ein Ring, über und über mit Brillanten besetzt. Ein kleiner Zettel flattert hinterher, mit den gleichen krakeligen Buchstaben bedeckt wie die Verpackung.

Wenn du dies findest, haben die Schweine gewonnen. Aber den hier kriegen sie nicht, der ist für dich. Frag nicht und halt bloß die Füße still. Du weißt ja, was sonst passiert. H

 

Wie vom Donner gerührt starre ich auf den Zettel. Großer Gott, was hat Hinnerk Petersen denn damit gemeint? Ich würde ihn gern anrufen, doch seit zwei Tagen kann ich ihn nicht erreichen. Angeblich ist er zu seinen Kindern aufs Festland gefahren. Komischer alter Kauz. Was in aller Welt hat es mit dieser Botschaft auf sich?

Das Schrillen der Türglocke reißt mich aus meinen Überlegungen. Hastig klaube ich die Erbsen aus dem Spülbecken und werfe sie mitsamt der Schachtel in den Mülleimer. Den Zettel und das Tütchen mit dem Ring stecke ich in meine Jackentasche. Ein Reflex. Vielleicht auch Intuition.

Was hat sich hier wirklich abgespielt? Und wer zum Teufel ist diese Julia?

 

Kapitel 2

Bei Sonnenschein ist Sylt ein blank geschrubbtes Urlaubsparadies mit seinen langen blendend weißen Stränden, den weiten kobaltblauen Himmeln, der kristallklaren Brandung. Bei stürmischem Wetter, wenn der Wind dicke bleigraue Wolken über den Himmel jagt, offenbart sich jedoch eine ganz andere Seite der friesischen Inseln: etwas Düsteres, Unheimliches. Fast meint man, die wimmernden Seelen ertrinkender Seeleute im Windgeheul zu hören, das Knarren berstender Schiffe, das Wehklagen der daheimgebliebenen Frauen, die vom Tod ihrer Männer erfahren.

Heute ist so ein unheimlicher Tag. Mittlerweile hat sich der Himmel fast völlig verdunkelt, und der Sturm ist noch stärker geworden. Welkes Laub und kleine Zweige wirbeln durch die Luft, die Bäume biegen sich landeinwärts.

Frierend ziehe ich meinen dünnen Schal fester um den Hals. Es ist ein außergewöhnlicher Schal, mit einem blau-weißen Muster, das Friesische Kacheln zeigt.

Ich könnte längst wieder im Büro sein. Drei Besichtigungen in zwei Stunden, das ist sozialer Hochleistungssport: immer konzentriert bleiben, immer freundlich, selbst bei gewissen Verhaltensauffälligkeiten. Ein Interessent hat mich doch tatsächlich mal aufgefordert, seine Kippe auszutreten, weil er Gucci-Espadrilles für vierhundert Euro trug und um die kostbare Bastsohle fürchtete.

Es ist wunderbar, mit Menschen zu arbeiten, anstrengend aber auch. Eine Auszeit am Schreibtisch hätte ich mir jedenfalls redlich verdient. Dazu einen heißen Tee und vielleicht einen Nordseegarnelensalat mit Fenchel und Orangenfilets. Als passionierter Hobbykoch liebe ich es, neue Rezepte auszuprobieren, meist mediterrane Varianten der friesischen Küche. Pochierte Scholle mit Kräuter-Knoblauch-Kruste zum Beispiel, oder Seehecht in Safransoße mit gedünsteten Schalotten.

Auf schwere Kost versuche ich neuerdings zu verzichten. Gewichtsprobleme, mein altes Thema.

Doch statt ins Büro zu fahren, umrunde ich jetzt schon zum zweiten Mal das Haus, auf der Suche nach verdächtigen Spuren. Die Sache mit der ominösen Julia lässt mir keine Ruhe. Wer auch immer sie ist, sie muss doch wissen, dass der alte Petersen ein Schmuckstück für sie versteckt hat. Und falls er für längere Zeit verreist ist – warum ist sie dann nicht hergekommen und hat sich den Ring geholt, bevor das Haus verkauft wird?

Wieder und wieder leuchte ich die Fassade mit meiner Handy-Taschenlampe ab. Nichts. Keine Auffälligkeiten.

Okay, eine letzte Runde noch.

Diesmal achte ich besonders auf die Kellerfenster. Es gibt nur zwei, die nachträglich eingesetzt wurden. Alte Friesenhäuser haben meist keine Keller, dafür geräumige Dachböden unter dem Reet. Offenbar war Hinnerk Petersen an zusätzlichem Stauraum gelegen, wobei nach meiner Erinnerung nur Gerümpel dort unten gestanden hat.

Langsam gehe ich in die Hocke und verliere fast das Gleichgewicht, als mich ein heftiger Windstoß trifft.

Verdammt.

Stöhnend knie ich mich auf den Rasen. Da ist was. Im Lichtkegel der Handy-Taschenlampe entdecke ich gesplittertes Holz. So, als hätte jemand versucht, das Kellerfenster aufzuhebeln.

Lange starre ich auf den schadhaften Rahmen. Einbrüche sind eher selten auf der Insel, weil man nicht so schnell wieder wegkommt, und wenn, dann nur mit der Fähre oder mit dem Zug. Leicht kontrollierbare Nadelöhre. Unbewohnte Häuser ohne Alarmanlagen werden allenfalls mal von Jugendlichen aufgebrochen, die es cool finden, illegale Partys zu feiern und verwüstete Räume zu hinterlassen.

Allerdings nicht im überschaubaren Süderheidetal. Hier ist man unter sich, Fremde würden sofort auffallen.

Ratlos stelle ich die Taschenlampe aus, stecke das Handy ein und rappele mich auf. Hat diese Julia versucht, unbemerkt hier einzudringen? Aber was geht mich das überhaupt an?

Nachdem ich mich vergewissert habe, dass die Haustür gut verschlossen ist, laufe ich geduckt zu meinem Mini Cooper, der in der Auffahrt parkt.

»Hey, Prince, alles gut?«, murmele ich, als ich den Wagenschlag öffne und mich in den Fahrersitz fallen lasse. »Bist ja ein ganz Braver.«

Schwanzwedelnd richtet sich mein Corgi von der karierten Decke auf, die auf dem Beifahrersitz liegt. Kein Bellen, kein Kläffen. Der Prince of Wales verfügt über eine nahezu königliche Geduld, obwohl ich zwischen den Kundenterminen immer nur kurz nach ihm sehen konnte. Man könnte durchaus von Nonchalance sprechen.

Ich habe mich gerade angeschnallt, als ein ausdauerndes Surren ertönt. Während der Besichtigungen gehe ich nicht ans Handy, darüber hinaus muss man als Makler rund um die Uhr erreichbar sein – was aus meiner Sicht auch überarbeitungswürdig ist. Manche Kunden rufen sogar mitten in der Nacht an. Während ich den Motor starte, drücke ich die Freisprechtaste. Bestimmt ein weiterer Interessent, der um jeden Preis dieses Friesenhaus will.

»Kristan Dennermann. Hallo?«

»Hi, Jamie, schon was Neues im Süderheidetal?«

Nein, kein Kunde. Es ist Hella, meine langjährige Mitarbeiterin. Wegen ihrer plietschen Art nenne ich sie Miss Honeypenny, wofür sie sich mit dem Nickname Jamie Bond bei mir revanchiert. Wir sind ein eingespieltes Team.

»Läuft, Honeypenny.« Mit einer Hand stelle ich die Automatik auf D und fahre los. »Das Berliner Ehepaar war wie erwartet unkompliziert, ganz im Gegensatz zu dem Frankfurter Software-Manager. Der hat mächtig einen auf dicke Hose gemacht.«

»Total pushy, der Typ. Hat inzwischen schon zweimal wieder hier angerufen. Und sonst?«

Ein kleines Lachen kann ich mir nicht ganz verkneifen.

»Die erotisch offensive Unternehmergattin aus Süddeutschland kam ziemlich aufgebrezelt zum Termin. Ihr Dekolleté hatte Sommerschlussverkaufsqualitäten: Alles muss raus.«

»Was du nicht sagst«, kichert Hella. »Hört sich an, als ob die Berliner die Nase vorn haben.«

»Stimmt. Wie sieht’s mit der Bonitätsprüfung aus?«

»Alles im grünen Bereich. Soll ich schon mal die Kaufpreisvereinbarung aufsetzen?«

»Warte lieber bis morgen.« Schwungvoll biege ich südwärts in die Hauptstraße ein. »Zwei Besichtigungen stehen noch an, unter anderem hat Eleonore ein Auge auf das Haus geworfen.«

»Eleonoooore?«, echot Hella mit einem ironischen Unterton. »Mann, Mann, die sammelt Häuser wie andere Leute Briefmarken.«

Wohl wahr. Eleonore Goosejacob gehört zu meinen Stammkundinnen. Die wohlhabende Hamburger Witwe besitzt bereits einige Häuser auf Sylt, die ich manchmal für sie vermiete. Es sind allesamt Luxusimmobilien. Pro Woche beträgt die Miete bis zu fünfzigtausend Euro, Personal inklusive. Doch genug ist nie genug für Eleonore.

»Vergiss nicht, du musst gleich nach Hörnum zur Mittsommerfeier«, erinnert mich Hella an den nächsten Termin. »Bei dem Wetter ein Einsatz mit der Lizenz zum Frieren.«

»Besten Dank für deine Anteilnahme.«

»Kein Ding, Jamie. Dann bis morgen früh.«

Hellas kehliger Alt verstummt und wird von der neutralen Stimme eines Nachrichtensprechers abgelöst.

»… ist mit weiteren schweren Stürmen zu rechnen. In Hamburg wurde wegen der Hochwassergefahr bereits der Fischmarkt für den Autoverkehr gesperrt.«

Gerne höre ich NDR3 im Auto, wegen der klassischen Musik. Und am liebsten natürlich RSH mit Carsten Köthe. Jetzt drehe ich den Ton leiser, um besser nachdenken zu können.

Einerseits gefällt mir die Vorstellung, dass die Berliner Familie Hinnerk Petersens Friesenhaus bekommt. Als Makler eignet man sich eine gewisse Menschenkenntnis an, notgedrungen. Es sind viele Blender unterwegs, und meist bestätigt sich mein erster Eindruck. Die Berliner sind nett, sie wirken seriös, aller Voraussicht nach würde der Verkauf glatt über die Bühne gehen. Dennoch habe ich ein schlechtes Gewissen, ein so sympathisches Ehepaar mit drei kleinen Kindern in das Todeshaus einziehen zu lassen.

Man kann Häuser umgestalten, renovieren, sogar bis auf die Grundmauern entkernen – ihre Geschichten aber bleiben. Auch die dunklen. Vor allem die dunklen.

Geistesabwesend starre ich auf die Straße, als plötzlich etwas durchs Scheinwerferlicht flitzt. Eine Katze? Ein Kaninchen?

Hart steige ich auf die Bremse. Dann geht alles ganz schnell. Der Wagen gerät ins Schleudern, schrammt haarscharf an einem Laternenmast vorbei, wird auf die andere Straßenseite geworfen und schlingert hin und her, bevor er auf dem Seitenstreifen zum Stehen kommt.

Mir bricht der Schweiß aus. Am ganzen Körper zitternd, umklammere ich das Lenkrad, unfähig, mich zu bewegen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Alles ist wieder da. Die Nacht vor elf Jahren. Die Sirenen, das Blaulicht, die verzerrten Stimmen aus den Funkgeräten.

Das Nichts.

Lautes Gebell holt mich in die Gegenwart zurück. Ich schaue nach rechts. Aufgeregt windet sich der Prince of Wales unter dem straff gespannten Sicherheitsgurt und kratzt mit den Pfoten am Sitz. Seine Decke ist in den Fußraum gerutscht.

»Alles okay.« Ich strecke eine Hand nach meinem Corgi aus. »Wir hatten einen Schutzengel. Alles okay, Prince, alles okay.«

Nichts ist okay.

Die Nacht von damals verfolgt mich, quält mich, lässt mich nicht mehr los. Seit vollen elf Jahren. Mein Therapeut spricht von PTB, einer posttraumatischen Belastungsstörung. Aber das ist nur dürrer Fachjargon. Da sind die wiederkehrenden Albträume, das Taubheitsgefühl in den Händen und im Herzen. Die Ängste, die sich regelmäßig zu Panikattacken steigern, mit Herzrasen, Schweißausbrüchen, Todesangst.

Es gibt Momente, in denen ich nicht mal in meinen Wagen steigen kann.

Reiß dich zusammen, sage ich mir nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Du musst damit fertigwerden, das Leben geht weiter. Mit dem Handrücken streiche ich mir über die schweißnasse Stirn. Was für ein Leben ist das denn? Ohne Liebe, ohne Hoffnung?

Wieder surrt mein Handy.

»Hi, Jamie, ich bin’s noch mal. Hast du schon das Neueste gehört?«

»Ich höre immer so einiges. Wovon sprichst du?«

»Hinnerk Petersen ist verschwunden. Die Polizei hat gerade eine Suchmeldung rausgegeben.«

 

Kapitel 3

Gegenwind formt den Charakter, sagt man auf Sylt. Ein schwacher Trost. Schwer vornübergebeugt stemme ich mich gegen den Sturm, der mittlerweile so gnadenlos auf der Insel wütet, als sollte alles ausradiert werden, was dort nicht hingehört.

Meine Augen tränen, meine Wangen brennen. Eine halbe Stunde Fußmarsch durch die dunkle Heidelandschaft liegt hinter mir, zusammen mit anderen dick vermummten Gestalten. Tiefschwarz erstreckt sich das tosende Meer zu meiner Rechten, vor mir am Ufersaum flammen Hunderte Fackeln auf.

Ich habe ebenfalls eine Wachsfackel in der Hand. Mit der anderen halte ich den Prince of Wales im Zaum, der wild kläffend an der Leine zerrt. Wahrscheinlich wegen der Vollbremsung vorhin, die fast ins Auge gegangen wäre. An Wind und Kälte ist mein Corgi schließlich gewöhnt. Auch ich bin im wahrsten Sinne des Wortes durch den Wind. Noch immer zittern meine Knie nach dem Beinahe-Unfall. Und nicht nur deshalb.

Ein namenloses Grauen erfasst mich, wenn ich an Hinnerk Petersens Haus denke, an den Holzbalken, an die mit Händen zu greifende Gegenwart des Todes.

Und nun wird Petersen vermisst. Es ist nur eine Ahnung, ein unheilvolles Ziehen im Brustkorb, doch ich fühle deutlich, dass er in Gefahr ist. Vielleicht sogar tot. Und irgendetwas sagt mir, dass er wohl kaum eines natürlichen Todes gestorben ist, falls er denn wirklich nicht mehr unter den Lebenden weilt.

Mein Verstand will das alles verdrängen, wegdrücken, als Hirngespinst abtun, aber es gibt da etwas, was sich nicht wegdrücken lässt: das, was mein Therapeut eine erhöhte sensorische Verarbeitungssensititvität nennt. Meine Mutter in ihrer herzerwärmenden Art hätte es anders formuliert: »Du bist halt eine elende Memme, Kristan.«

Doch wie sollte ich Hinnerk Petersens Verschwinden ignorieren? Es muss etwas mit diesem ominösen Zettel und dem Ring zu tun haben. Noch einmal rekapituliere ich die Worte: Wenn du dies findest, haben die Schweine gewonnen. Aber den hier kriegen sie nicht, der ist für dich. Frag nicht und halt bloß die Füße still. Du weißt ja, was sonst passiert. H

»Hi, Kristan.« Ein groß gewachsener Mann in einem eleganten kamelhaarfarbenen Mantel tritt auf mich zu und zieht einen silbernen Flachmann aus der Manteltasche. »Willst du einen Schluck? Bevor wir uns hier noch sonst was abfrieren, meine ich. Ist bester Aquavit.«

»Nee, lass mal, Sven.«

Ich habe es nicht so mit Hochprozentigem, im Gegensatz zu Sven Atzorn, dem Westerländer Apotheker, der bereits seinen Flachmann aufschraubt. In seinem fackelbeschienenen Gesicht formt sich das selbstgewisse Lächeln eines Mannes, der zu den Honoratioren des Insellebens gehört. Sven mischt überall mit, in diversen Vereinen, Segelclubs, Golfclubs, und ist der wichtigste Sponsor des Amazonencorps Weiße Lanze, einem Ringreiterinnenverein.

»Sind mal wieder die üblichen Verdächtigen unterwegs, schon gesehen?«, grinst er. »Alles, was Rang und Namen hat, und das bei dem Schietwetter. Wieso muss ausgerechnet zur Sommersonnenwende so ein Sturm aufziehen?«

Und warum sitze ich nicht zu Hause, mit einem guten Rotwein im Glas?

Bereits am Morgen habe ich einen Opus One aus dem kalifornischen Napa Valley geöffnet, um den Wein atmen zu lassen. Schon allein der Duft der aparten Beeren- und Röstnoten kann einen kirre machen, dazu Nuancen von Vanille, gepaart mit dem erdigen Aroma alter französischer Eichenfässer.

Doch der Fackelzug gehört halt dazu. Keine Mittsommernacht ohne Fackelzug. Hier in Hörnum wandert man um die Südspitze der Insel und trifft sich dann zum Lagerfeuer am Restaurant Südkap unterhalb des Hörner Leuchtturms. Auch beim Biikebrennen im Februar sind Fackeln obligatorisch: ein Ritual aus jenen heroischen Zeiten, als die Sylter Männer noch zum Walfang aufbrachen, statt ihre Betten an Touristen zu vermieten und im eigenen Keller zu nächtigen. Immer am 22. Februar war es losgegangen mit der Fahrt ins Ungewisse. Am Vorabend hatten die Ehefrauen zum Abschied Feuerzeichen gesetzt, die »Biiken«.

Ein letzter Gruß, oft der allerletzte. Tja, Nordsee ist Mordsee.

Inzwischen sind die Mittsommerevents ähnlich beliebt wie das Biikebrennen. Klar, im Sommer ist Hochsaison, und die Temperaturen liegen meistens im Wohlfühlbereich, sodass man die ganze Nacht am Strand durchfeiern kann. Es sei denn, das Wetter ist so launisch wie heute.

»Kommst du gleich noch zum Matjesessen mit Bratkartoffeln in die Alte Liebe?«, erkundigt sich Sven Atzorn zwischen zwei Schlucken Aquavit.

»Ehrensache.«

Auch wenn mir gedämpfter Babysteinbutt an Ratatouille wesentlich lieber wäre. Zum einen, weil ich nun mal ein passionierter Feinschmecker bin, zum anderen, weil ich fettiges Essen künftig meiden will. Schon allein wegen meiner Leberwerte, die im bedenklichen Bereich liegen. Aber Tradition ist halt Tradition. Matjes mit Bratkartoffeln gehören für Honoratioren wie Sven zum Mittsommer, wie nackte Haut zur Buhne 16. Berge von Speckwürfeln und großzügig genossene Schnäpse eingeschlossen.

Unversehens gerät der Fackelzug ins Stocken. Wir haben das Ziel erreicht, einen riesigen Holzstoß unweit des Restaurants Südkap. Da und dort ragen Reisig und vertrocknete Äste aus den aufgeschichteten Holzscheiten, die schon von einer großen Menschenmenge umringt werden. Beim Biikefeuer baumelt, aufgeknüpft an einem Galgen, eine lebensgroße Strohpuppe – ein Brauch. Fast wirkt die Puppe lebendig, so heftig wird sie vom Wind hin und her geschleudert.

Ich kann dann immer gar nicht anders, als daran zu denken, als das schaurige Bild auf den Vater von Hinnerk Petersen zu übertragen, wie er zappelnd am Deckenbalken hing und um Luft rang, bis die letzten Zuckungen verebbten und der Körper erschlaffte. Hoffentlich ist seinem Sohn ein besseres Schicksal beschieden. Hoffentlich. Wenn nur nicht diese dunkle Ahnung wäre, dass Hinnerk Petersen etwas zugestoßen ist.

Sterben kann eine hässliche Angelegenheit sein. Etwas Schmutziges und Erniedrigendes, das einen an der sogenannten Schöpfung zweifeln lässt. Was für eine höhere Macht ist das denn, die so einfallsreich und grausam vorgeht wie ein Kind, das stundenlang mit einer Spinne spielt, um sie dann zu zerquetschen?

Das habe ich aus nächster Nähe erleben müssen, damals, nach diesem grässlichen Unfall, der alles zerstört hat, was ich liebte. Nur ich bin noch da. Allein, ohne eine Gefährtin an meiner Seite. Vielleicht deshalb, weil ich mich selbst nicht lieben kann.

Bei der Biike tritt immer der Bürgermeister vor, ein smarter Mittfünfziger. Er beginnt, mit donnernder Stimme zu sprechen. Auf Friesisch. Kaum jemand hört richtig hin. Alle wollen endlich das Feuer sehen, um danach in die umliegenden Lokale auszuschwärmen.

Auch ich habe Schwierigkeiten, mich auf die Rede zu konzentrieren. Noch immer gibt der Prince of Wales ein nahezu hysterisches Kläffen von sich. Mit aller Kraft stellt er sich auf die Hinterbeine und versucht hechelnd, in den Scheiterhaufen zu gelangen.

»Was hat er denn?«, fragt Sven Atzorn. »Sucht er die Strohpuppe, die es nur beim Biikefeuer gibt? Hier in Hörnum gibt’s ja statt der Puppe immer die brennende Tonne?«

»Möglich.« Nur mit Mühe kann ich meinen Corgi davon abhalten, direkt in den Scheiterhaufen zu springen. »Ist ja auch ziemlich unheimlich, oder?«

»Ach, Quatsch«, lacht der Apotheker, »da hat man schon ganz andere Sachen auf Sylt gesehen. Wasserleichen, Schnapsleichen …«

Immer heftiger zerrt der Prince of Wales an der Leine, und sein Kläffen steigert sich zu einem alarmierten Gebell. Das macht mich stutzig. So wie eine Mutter beim Schreien ihres Babys weiß, ob es Hunger oder Schmerzen hat, gelangweilt oder ängstlich ist, weiß ich immer, was in meinem Hund vor sich geht. Er will sein Herrchen warnen, daran besteht kein Zweifel.

Und dann sehe ich den Hut zwischen den Holzscheiten. Einen auffälligen moosgrünen Filzhut mit breiter Krempe. Es gibt nur einen Inselbewohner, der solche altmodischen Kopfbedeckungen trägt: Hinnerk Petersen.

Vorsichtig nähere ich mich dem aufgeschichteten Holz, um den Hut herauszuholen. Zu spät. Das Feuer wird entfacht.

Binnen Sekunden lodern helle Flammen im Scheiterhaufen. Beißender Rauch steigt auf, unzählige Funken tanzen vor der schönen Kulisse.

Auch der Hut brennt lichterloh.

Verdammt. Wo ist Hinnerk Petersen?

 

Kapitel 4

»Nicht zucken – schlucken!«, kommandiert Sven Atzorn und reicht ein Tablett mit randgefüllten Schnapsgläsern herum, auf denen bläuliche Flammen züngeln.

Die meisten Anwesenden folgen seiner Aufforderung, ich sehe verstohlen zur Uhr. Seit zwei Stunden sitze ich am großen Stammtisch der Alten Liebe, etwas fremd und verloren zwischen all den Honoratioren, die hier die Mittsommerfeierlichkeiten ausklingen lassen. Am liebsten würde ich mich mit einem Glas des sagenhaften Opus One im Bett verkriechen. Doch das Matjesessen ist Pflicht, wenn man dazugehören will.

Über die Köpfe der Feiernden hinweg lasse ich meinen Blick durch die volle Gaststube wandern.

Alles hier wirkt wie aus einem Touristenprospekt: das geschnitzte Holzmobiliar, die Petroleumlampen, die weißen Häkelgardinen vor den Butzenscheibenfenstern. Auch der obligatorische Meeresbewohner darf nicht fehlen. Blaugrau schimmernd, mit weit aufgesperrtem Maul, hängt er über dem Tresen, ein gewaltiger ausgestopfter Schwertfisch, dessen schnabelartiger Oberkiefer wie ein Speer in den Raum ragt.

Es ist eine typisch friesische und auch recht gemütliche Location, dennoch zieht es mich nach Hause. Matjes und Bratkartoffeln sind längst verputzt und liegen mir wie Wackersteine im Magen, jetzt sind die Trinkrituale dran, denen ich wenig abgewinnen kann.

»So, Leute, der Spruch!«, ruft Sven Atzorn.

»Wie Irrlicht im Moor flackert’s empor«, kommt es vielstimmig zurück, »lösch aus, trink aus, genieße leise, auf echte Friesenweise, den Friesen zur Ehr, vom Friesengeist mehr!«

Synchron werden die Flammen mit Bierdeckeln gelöscht, um den Schnaps danach in einem Zug runterzustürzen. Mit beiden Händen umfasse ich mein Weinglas. Ich habe mir einen trockenen Pfälzer Riesling aus meiner früheren Heimat bestellt. Obwohl ich mich mittlerweile als Sylter betrachte, gönne ich mir manchmal ein bisschen alten Lokalpatriotismus in flüssiger Form.

»Mensch, Kristan, was hast du denn?« Verwundert stößt mich Sven Atzorn mit dem Ellenbogen an. »Du bist heute so still.«

»Lass ihn mal«, geht Johanne, die Wirtin, dazwischen, die eine weitere Runde serviert. »Du weißt doch, Kristan steht nicht so auf Schnäpse.«

»Ach nee, bist du neuerdings seine Mami, nachdem es sich ausgeschnackselt hat?«, höhnt jemand aus der Runde.

Es wird still am Tisch, Blicke fliegen hin und her. Sylt ist halt ein großes Dorf. Jeder hier weiß, dass ich mal was mit Johanne hatte, eine kurze Liaison nur, aber genug Stoff für alkoholbetriebene Witzeleien.

»Ich schnacksele, mit wem’s mir passt«, entgegnet sie kess und streicht das enge Jeanshemd glatt, das gerade so viel über ihre weiblichen Formen verrät, um der Fantasie noch etwas übrig zu lassen. »Oder ist hier jemand neidisch, weil er nicht randurfte?«

Verlegen schaue ich in mein Weinglas. Ich würde Johanne liebend gern verteidigen, wofür es mir allerdings an der nötigen Schlagfertigkeit fehlt. Auf einer kleinen Insel, wo Klatsch zu den bevorzugten Freizeitbeschäftigungen gehört, muss man sowohl einstecken als auch austeilen können, und diese Kunst beherrscht Johanne weit besser als ich.

Während die Gespräche am Tisch wieder Fahrt aufnehmen, folge ich ihr zum Tresen, begleitet vom Prince of Wales, der trotz des Lärms mit untadeligem Betragen punktet.

Eine Weile schaue ich zu, wie sie mit geübten Griffen mehrere Biere gleichzeitig zapft. Trotz ihrer Ende vierzig ist Johanne immer noch eine Schönheit mit ihrem kurzen blonden Haar, den klaren, etwas herben Gesichtszügen, dem sinnlichen Mund und den meerblauen Augen, die sich verfinstern, wenn sie wütend wird.

Momentan sind ihre Augen dunkeltintenblau.

»Idioten.« Mit dem Kinn deutete sie zum Tisch. »Warum müssen die immer ihre große Klappe aufreißen?«

»Mach dir nichts draus, ist nur dummes Stammtischgerede«, erwidere ich achselzuckend. »Sag mal, darf ich dich was fragen? Was ist das für eine komische Geschichte mit Hinnerk Petersen?«

Johanne, die gerade im Begriff ist, zwei neue Gläser unter den Zapfhahn zu stellen, hält mitten in der Bewegung inne.

»Der alte Petersen? Du meinst – dass er unauffindbar ist?«

»Genau.«

Zwischen ihren Augenbrauen erscheint eine steile Falte, und sie gräbt ihre Schneidezähne in die volle Unterlippe, bevor sie im Flüsterton weiterspricht.

»Manche meinen, er könnte aufs Festland gefahren sein. Aber das ist absoluter Schwachsinn. Hinnerk hat Krebs, außerdem seit Jahren schweres Rheuma. Du hast ihn ja selbst erlebt, der kann sich nicht mal mehr allein die Schuhe zubinden.«

»Seit wann wird er denn vermisst?«

»Seit gestern Morgen. Da hat ihn sein Arzt noch untersucht, zu Hause. Blutdruck messen und so, bevor er angeblich zu seiner Familie zu seinen Kindern nach Süddeutschland wollte. Danach …«, sie schnippt mit den Fingern, »… weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Seine Söhne haben heute den Arzt angerufen, wo denn ihr Vater bleibt, aber der Arzt wusste auch nichts.«

Aha. Schwerfällig hieve ich mich auf einen der mit cognacbraunem Leder gepolsterten Barhocker und beuge mich zu Johanne vor.

»Da ist noch was. Was erzählt man sich denn so über ihn?«

»Wieso?« Stirnrunzelnd sieht sie mich an. »Ich kenne dich, Kristan. Was ist los?«

»Na ja, heute war ich in seinem Haus, weil er mich mit dem Verkauf beauftragt hat. Hella hatte vorher alles ausgemessen und abfotografiert, deshalb war ich das erste Mal da. Ziemlich gruselig, die Atmosphäre dort.«

»Apropos, wie geht’s Miss Honeypenny?«, lächelt Johanne. »Ist sie immer noch in dich verschossen?«

Du lieber Himmel. Verstimmt schiebe ich einen Bierdeckel auf dem blank polierten Tresen hin und her.

»Tu mir den Gefallen und fang du nicht auch noch mit dem bekloppten Gerede an. Hella und ich, wir sind nur Kollegen. Und Freunde. Das ist alles.«

»Tausend Mal berührt«, summt Johanne immer breiter lächelnd, »tausend Mal ist nichts passiert …«

Ich gebe es auf. Mein Status als ewiger Junggeselle sorgt nun mal für Gerüchte. Hella ist etwas jünger als ich, eine hübsche Mittdreißigerin, lebenslustig und stets extravagant gekleidet. Dass sie auf Frauen steht, hätte ich selbst unter schlimmster Folter nicht verraten. Hella legt großen Wert auf Privatsphäre.

»Jedenfalls das Haus, das von Hinnerk Petersen«, knüpfe ich an den losen Gesprächsfaden an, »wie soll ich sagen – es ist mehr so eine Ahnung als eine Gewissheit. Aber irgendwas stimmt da nicht.«

»Ach nein?«

Wachsam schaut Johanne zum Stammtisch, wo das Stimmengewirr in lautstarkes Krakeelen übergeht. Sie wirkt etwas zu wachsam für meinen Geschmack. Wenn ich mich auf etwas verstehe, dann darauf, in den Gesichtern der Menschen zu lesen wie in dem sprichwörtlichen offenen Buch.

»Du weißt was«, sage ich lapidar.

»Wissen wäre zu viel gesagt. Warte, ich bring nur schnell die Getränke rüber.«

Eilig stellt sie die gefüllten Biergläser auf das Tablett und geht zum Stammtisch, wo sie mit lautem Hallo empfangen wird.

Währenddessen schaue ich hoch zu dem ausgestopften Schwertfisch. Nordsee ist Mordsee, geht es mir erneut durch den Kopf. Noch wage ich nicht, das Wort morden im Zusammenhang mit Hinnerk Petersen auch nur in den Mund zu nehmen. Einstweilen stelle ich ja nur vage Vermutungen an.

Vielleicht bin ich wirklich zu durchlässig, deshalb sehe ich überall Gespenster. Nur der Ring in meiner Jackentasche, der ist real. Ich kann ihn ertasten, durch das Plastiktütchen hindurch. So wie den knisternden kleinen Zettel. Wenn du dies findest, haben die Schweine gewonnen.

»Ehrlich, ich habe ein dickes Fell«, zischt Johanne, die mit dem leeren Tablett hinter den Tresen zurückkehrt. »Aber heute könnte ich die alle an die Wand klatschen.«

»Tut mir leid. Wieder anzügliche Bemerkungen über uns?«

»Nee, die hecheln jetzt Hinnerk Petersen durch.« Aufgebracht hebt sie eine Augenbraue. »Er hätte öfter Damenbesuch gehabt, vom Festland. Besuch von einer Dame, die keine Dame ist, falls du verstehst, was ich meine.«

»Sprechen wir hier etwa von einer …«

»Nutte, genau.« Unwirsch streicht sie sich eine blonde Strähne aus der Stirn. »Angeblich ein junges Ding, kurzer Rock, langes schwarzes Haar, auffällig geschminkt.«

»Eine Männerfantasie.«

»Du sagst es«, bestätigt Johanne, bevor sie eine Weinflasche aus dem Kühlschrank holt, ein Glas auf den Tresen stellt und es vollgießt. »Die fangen richtig an zu sabbern bei der Vorstellung, Hinnerk könnte auf seine alten Tage noch ein paar Nümmerchen geschoben haben.«

»Und du? Wie denkst du darüber?«

Knallend landet das gefüllte Weinglas vor mir auf dem Tresen.

»Dass die alle mächtig Druck auf dem Stift haben, wenn sie so einen Scheiß erzählen. Eine Nutte bei Hinnerk Petersen, daran geilen die sich auf wie nix. Ich kenne mich ja nicht mit der Libido von Männern jenseits der achtzig aus, aber Hinnerk und ein Mädel aus dem Gewerbe?«

Und wenn es sich nun um diese geheimnisvolle Julia handelt?

Nachdenklich probiere ich den Wein. Es ist wieder der Pfälzer Riesling, natürlich. Johanne vergisst nichts, und manchmal frage ich mich, wie genau sie sich an unsere gemeinsamen Nächte erinnert. Ich vermisse diese Nächte. Doch als Johanne die heikle B-Frage stellte, B wie Beziehung, war mir in die Quere gekommen, was mein Therapeut als Bindungsphobie infolge einer PTB bezeichnet.

»Danke, sehr aufmerksam.« Mit einem Nicken nehme ich die weiße Papierserviette entgegen, die sie mir hinhält, und tupfe mir damit die Lippen ab. »Was Hinnerk Petersen angeht, muss ich passen. Ich kannte ihn nur flüchtig, und über seine erotischen Aktivitäten möchte ich mir kein Urteil erlauben.«

»Bitte sprich nicht in der Vergangenheitsform von ihm, ja?«

Betroffen schaue ich in Johannes aufgelöstes Gesicht. Sie ist den Tränen nahe.

»Du mochtest – ähm, magst ihn?«

»Er war ein Stammgast, einer von den echt netten.« Sie schnieft ein wenig. »Manchmal hat er sich auch was liefern lassen, ungefähr einmal im Monat: Vorspeise, Suppe, Fischgang, rote Grütze für zwei Personen.«

»Für zwei.«

Hilflos hebt Johanne die Arme.

»Ja, aber das heißt doch noch lange nicht, dass es für eine Nutte war!«

Beide verfallen wir in brütendes Schweigen, während sich der Geräuschpegel im Lokal stetig steigert. Soeben ist ein Akkordeonspieler hereingekommen, auch so eine Touristenprospekt-Erscheinung. In seiner dunkelblauen goldbeknöpften Kapitänsjacke, dem blau-weiß gestreiften T-Shirt und der weißen Schirmmütze sieht er aus wie vom hiesigen Fremdenverkehrsverein einbestellt.

Ohne weitere Aufforderung baut er sich neben den Stammtisch auf und intoniert die heimliche Inselhymne. Einige singen sofort mit, nach und nach steigen auch die anderen Gäste ein.

»Wo de Nordseewellen trecken an’ Strand, wo de geelen Blöme bleuhn int gröne Land. Wo de Möwen schrieken gell int Sturmgebrus, dor is mine Heimat, dor bün ick to Hus.«

Mit lautlos sich bewegenden Lippen spreche ich den Refrain mit, auf Hochdeutsch: »Wo die Möwen schreien grell im Sturmgebraus, da ist meine Heimat, da ist mein Zuhaus.«

Danach wechsele ich einen Blick mit Johanne. Einige Wochen lang hat mir diese Frau ein Zuhause bedeutet. Seitdem ist unsere Vertrautheit langsam erkaltet und hat sich in eine herzliche, aber auch etwas unverbindliche Freundschaft zurückentwickelt. Johanne sagt mir nicht alles, was sie über Hinnerk Petersen weiß.

Essen für zwei, eine junge Dame, die den alten Herrn regelmäßig besucht, das macht Sinn. Aber welchen, verdammt?

Ich bin so tief in meine Gedanken versunken, dass ich zusammenzucke, als mir jemand auf die Schulter klopft und ein knarrender Bass in meinen Ohren dröhnt.

»Moin, moin, Kristan.« Ich fahre herum. Groß, kompakt, in einer dunkelblauen Wolljacke und mit einer Prinz-Heinrich-Mütze auf dem Schädel, steht Simon Beeken vor mir. »Na, Sportsfreund, alles im Lack?«

Trotz seiner sechsundachtzig Jahre ist er immer noch eine imposante Erscheinung. Den weißen Vollbart und das wettergegerbte Gesicht unter der Prinz-Heinrich-Mütze kann man als friesische Folklore abhaken. Wirklich beeindruckend sind seine schlauen alten Fuchsaugen, die alles gesehen haben, was einen an der Krone der Menschheit zweifeln lässt.

»Feiern ist durch, Kristan«, raunt er mir zu. »Wir müssen Hinnerk Petersen suchen, das sind wir ihm schuldig. Selbst wenn wir nur noch seine Leiche finden können.«

Wie vom Donner gerührt sitze ich da. In meinem Nacken prickelt es unangenehm, und meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich schlucke krampfhaft.

»Mensch, Simon, was redest du denn da von einer Leiche?«

»Du weißt doch, der Polizeifunk ist mein kleines schmutziges Hobby.« Rund um seine Augen bilden sich tausend kleine Lachfältchen, bevor er wieder ernst wird. »Die suchen mit Hochdruck nach Hinnerk. Allerdings wird er schon seit mehr als vierundzwanzig Stunden vermisst, weshalb man mit dem Schlimmsten rechnen muss. Der ist doch völlig hilflos in seinem schlechten Zustand. Wenn er sich verlaufen hat oder wenn ihm jemand was antun wollte«, mit der flachen Hand vollführt Simon eine sägende Geste vor seinem Hals, »Ende, aus, Exitus.«

»Oh Gott.«

»Lass mal Gott da raus. Was ist mit dir? Du müsstest doch was über Hinnerk wissen, immerhin verscherbelst du sein Anwesen.«