Mörderische Schärennächte - Viveca Sten - E-Book
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Mörderische Schärennächte E-Book

Viveca Sten

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Beschreibung

Die gute Nachricht zuerst: Thomas Andreasson ermittelt weiter! Der letzte Fall hätte ihn fast das Leben gekostet, doch Thomas Andreasson kehrt zurück auf die Polizeistation in Nacka. Sein erster Fall nach langer Krankheit scheint eindeutig zu sein: Markus Nielsen wird erhängt in seinem Zimmer aufgefunden, und er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen.An einem kalten Septembertag wird der Student Markus Nielsen tot in seiner Wohnung in Nacka aufgefunden. Er hängt an einem Seil, das an der Deckenlampe befestigt wurde, und er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Doch seine Mutter ist überzeugt, dass er ermordet wurde, und bittet die Polizei in Nacka, den Fall nicht zu den Akten zu legen. Auf der Wache ist die Situation angespannt, denn fast ein halbes Jahr nach seinem schweren Unfall ist Thomas endlich wieder im Dienst, doch es fällt ihm schwer, wieder Fuß zu fassen. Die Ermittlungen der Polizei führen zur Militärbasis auf der Insel Korsö, gleich neben Sandhamn gelegen. Nora Linde, Thomas' Freundin aus Kindertagen, versucht mehr über das Militärlager herauszufinden, das den Küstenjägern jahrzehntelang als Standort diente. Gibt es etwas in der Vergangenheit, das nicht herauskommen soll?Ein neuer spannender Fall von Viveca Sten, die mittlerweile eine riesige Fangruppe auch in Deutschland hat.

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Seitenzahl: 512

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Viveca Sten

Mörderische Schärennächte

Ein Fall für Thomas Andreasson

Aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Viveca Sten

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Karten zum Buch

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Tagebucheintrag 24. Oktober 1976

Kapitel 6

Kapitel 7

Tagebucheintrag Oktober 1976

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Tagebucheintrag November 1976

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Tagebucheintrag November 1976

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Tagebucheintrag November 1976

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Tagebucheintrag November 1976

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Tagebucheintrag Dezember 1976

Kapitel 26

Tagebucheintrag Dezember 1976

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Tagebucheintrag Januar 1977

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Tagebucheintrag Februar 1977

Kapitel 35

Tagebucheintrag März 1977

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Tagebucheintrag März 1977

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Tagebucheintrag April 1977

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Tagebucheintrag Mai 1977

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Tagebucheintrag Mai 1977

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Tagebucheintrag Juni 1977

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Tagebucheintrag Juni 1977

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Tagebucheintrag Juli 1977

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Tagebucheintrag Juli 1977

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Tagebucheintrag Juli 1977

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Tagebucheintrag August 1977

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Tagebucheintrag August 1977

Kapitel 82

Korsö

Nachwort

Inhaltsverzeichnis

Für Lennart – ohne dich bin ich halb

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Das Plätschern erinnerte ihn an Kinder, die in einer Badewanne planschten. Er schloss die Augen und sah einen Strand vor sich, an dem kleine Kinder fröhlichherumhüpften.

Dann plätscherte es ein letztes Mal, und das Wasser schwappte über den Rand des Putzeimers auf den nassen Boden.

Die Arme hörten auf zu rudern. Die Beine zuckten noch, wie kleine Silberfische, die ziellos hin und her huschen. Krampfhafte, unkontrollierbare Bewegungen.

Dann erlahmten auch sie, und das langsame Tropfen des Wasserhahns war das Einzige, was die Stille in dem weiß gefliesten Raum durchbrach.

Dieses Geräusch sollte er für den Rest seines Lebens im Ohr haben.

Es roch intensiv nach Schmierseife. Der Geruch von Fichtennadeln stieg ihm in die Nase, und er musste würgen. Aber er biss die Zähne zusammen. Die Angst überschattete alles andere.

Etwas Warmes lief an seinem Bein hinunter, und er begriff, dass er sich bepinkelt hatte.

Egal. Es war ohnehin alles zu spät.

Der Wasserhahn tropfte weiter vor sich hin.

Inhaltsverzeichnis

Sonntag, 16. September 2007 (erste Woche)

Kapitel 1

Die junge Frau klang verzweifelt.

»Sie müssen kommen, jetzt sofort.«

»Bitte nennen Sie mir zuerst Ihren Namen.«

Die Stimme der Disponentin in der Notrufleitstelle klang sachlich, aber nicht unfreundlich. Die Digitalziffern auf dem Bildschirm zeigten exakt 10.03 Uhr vormittags an.

»Es ist so furchtbar … es ist Marcus.«

»Können Sie beschreiben, was passiert ist?«, fragte die Leitstellendisponentin. »Versuchen Sie, sich zu beruhigen und der Reihe nach zu erzählen.«

»Ich bin in seinem Zimmer.«

»Ich brauche die Adresse. Wo genau sind Sie?«

»Er atmet nicht. Er hängt einfach da.«

Das Entsetzen und der Schock zeigten sich in der geschluchzten Antwort.

»Ich kann ihn nicht abnehmen, ich schaffe es einfach nicht.«

»Wo genau sind Sie? Ich brauche die Adresse«, sagte die Disponentin wieder.

Im Hintergrund war das gedämpfte Stimmengewirr von Kollegen zu hören, die andere Notrufe entgegennahmen. Bisher war es relativ ruhig gewesen, die Vorfälle vom Samstagabend waren jetzt am Sonntagmorgen längst abgearbeitet. Die Disponentin hatte ihre Schicht um sechs Uhr früh begonnen und schon Zeit gefunden, drei Tassen Kaffee zu trinken.

»Wo genau sind Sie?«, sagte sie zum wiederholten Mal ins Mikrofon.

Jetzt beruhigte sich die Frau am Telefon ein wenig.

»Värmdövägen 10B, in Nacka.«

Sie stieß die Worte beinahe winselnd hervor.

»Im Studentenheim«, hickste sie zum Schluss. »Wir wollten zusammen lernen.«

»Wie heißen Sie?«

»Amanda.«

»Und weiter?«

»Amanda Grenfors.«

Die Stimme klang dünn, zweifelnd, so als könnte die junge Frau nicht fassen, was sie vor sich sah.

»Jetzt versuchen Sie mal zu beschreiben, was passiert ist, Amanda«, sagte die Disponentin in der Notrufleitstelle aufmunternd.

Sie machte sich Notizen. Die Adresse war nur einen Steinwurf von der Polizeistation Nacka entfernt, der Streifenwagen würde nicht mehr als ein paar Minuten dorthin brauchen.

»Marcus hängt unter der Zimmerdecke, an einem Strick«, sagte das Mädchen. »Sein Gesicht ist ganz blau.«

Ihre Stimme brach.

Die Disponentin wartete. Etliche Sekunden verstrichen.

Dann ein Flüstern.

»Ich glaube, er ist tot.«

 

Die Haustür des Wohnheims stand weit offen, als der Streifwagen eintraf. Das Haus war in den Vierzigerjahren gebaut worden, und die vielen Fahrräder, die in einer Reihe davorstanden, zeugten davon, dass es ein Studentenheim war, eines der alten Mietshäuser, die kürzlich als Antwort auf den eklatanten Mangel an Unterkünften für die Ausbildungsstätten der Hauptstadt umgebaut worden waren.

Die beiden Polizisten gingen eine Treppe hinauf und betraten einen langen Korridor mit einem Dutzend Türen zu beiden Seiten. Sie kamen an der Küche vorbei, in der sich Unmengen von schmutzigem Geschirr auf der Spüle stapelten. An einer Schranktür war mit Klebestreifen ein handgeschriebener Zettel befestigt: Räum deinen Kram auf, deine Mutter wohnt hier nicht!

Weit und breit war niemand zu sehen, aber in einer Ecke lag ein schlampig zugeknoteter Müllbeutel. Dem Geruch nach zu urteilen, lag er schon eine ganze Weile dort.

Ganz am Ende des Korridors stand eine Tür sperrangelweit offen. Direkt gegenüber, mit dem Rücken an der Wand, kauerte eine blasse junge Frau. Sie trug Jeans und schwarze Sneaker, und der dicke dunkelrote Pullover schien viel zu groß für den mageren Körper zu sein.

»Sind Sie Amanda?«, fragte die Polizistin, die als Erste bei ihr ankam.

»Mhmm.«

Ein tränenstreifiges Gesicht blickte zu der Polizistin auf. Sie ging in die Hocke und berührte leicht den Arm des Mädchens.

»Alles in Ordnung?«

»Er hängt da drinnen.« Sie hob den rechten Arm und zeigte mit zitternder Hand ins Zimmer. »Am Lampenhaken.«

Die Blicke der Polizisten folgten der Bewegung. Im selben Moment brach die Sonne hervor, und in dem Lichtstrahl, der durchs Fenster hereinfiel, tanzten kleine Staubkörner. Sie bildeten einen schimmernden Glorienschein um den einsamen Körper, der von der Decke baumelte. Der hängende Kopf und der Winkel, in dem er abgeknickt war, bestätigten ihre Vermutung.

Marcus Nielsen war tot.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2

Er lief über die dunkle, raue Eisdecke vor Sandhamn, und sie brach unter seinen Füßen auf. Das Wasser verschlang ihn, es fühlte sich an, als würden Finger und Zehen abfrieren. Das eiskalte Meer presste die Luft aus seiner Lunge und entzog seinem Blut den Sauerstoff.

Gleich würde er in dem Loch ertrinken. Niemand würde ihm zu Hilfe kommen, weil niemand wusste, dass er draußen auf dem Eis war.

Er weinte.

Er wollte nicht sterben, nicht auf diese Art, nicht so einsam und ohne Abschied.

Das Wasser, das die Kälte in seinen Körper zwang, saugte jegliche Kraft aus ihm heraus. Voller Bedauern dachte er an alles, was er nicht mehr hatte sagen oder tun können.

Aber wie hätte er ahnen sollen, dass seine Zeit bereits abgelaufen war?

Während seine Glieder gefühllos wurden, merkte er, dass sein Herz bereits langsamer schlug und er auf dem Weg in die Bewusstlosigkeit war. Bald würde eine trügerische Wärme durch seine Adern fließen, er würde nachgeben, und dann wäre alles vorbei.

Aber er wollte nicht auf diese Art sterben, nicht jetzt, nicht ohne Pernilla an seiner Seite.

Inzwischen fror er so sehr, dass er die Eiskante loslassen musste. Er sank zurück ins Wasser, seine Gliedmaßen waren mittlerweile vollkommen taub. Unmöglich, noch länger zu kämpfen.

Etwas klingelte, schrill und herausfordernd, ein wütendes Signal, das nach Aufmerksamkeit verlangte.

Er schlug die Augen auf und begriff, dass er in seinem Bett lag. Dicht neben ihm atmete Pernilla tief und gleichmäßig.

Er streckte den Arm aus und tastete nach dem Telefon auf dem Nachttisch. Die Finger schlossen sich um die Metallhülle, verloren jedoch den Griff, und das Handy fiel auf den Fußboden.

Für einen Moment war es still, dann begann es wieder zu klingeln, noch lauter diesmal. Das Geräusch hörte nicht auf, und neben ihm regte sich Pernilla.

»Das ist deins«, murmelte sie.

Ihre Stimme holte ihn endgültig in die Realität.

Er schwang die Beine über die Bettkante, aber als er aufstehen wollte und den linken Fuß auf den Boden setzte, verlor er beinahe das Gleichgewicht. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt. Mühsam bückte er sich und hob das Telefon auf.

Er drückte es an die Wange und merkte, dass sie nass von Tränen war.

Seine Stimme klang brüchig, als er sich meldete.

»Ja, Thomas hier.«

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 3

Auf dem Weg zum Auto ging Margit Grankvist in Gedanken die spärlichen Informationen durch, die der Chef ihr am Telefon gegeben hatte.

Sie hatte gerade mit Bertil beim Frühstück gesessen, als der Anruf kam. Ihre Töchter schliefen beide noch. Bertil hatte kaum von seiner Zeitung aufgeblickt, ihm war sofort klar gewesen, dass sie zum Einsatz musste.

Er war es inzwischen gewohnt. Margit lächelte leicht, während sie an ihren Mann dachte. Er war Lehrer und unterrichtete in der Oberstufe Englisch und Schwedisch, und sie wusste, dass manche ihrer Freundinnen den Mann mit dem schütteren Haar nicht gerade für einen umwerfenden Typen hielten. Aber sie waren jetzt seit über zwanzig Jahren zusammen und hatten zwei hübsche Töchter, die bald flügge sein würden. Anna machte im Frühjahr Abitur und Linda war gerade aufs Gymnasium gekommen.

Margit öffnete die Autotür und setzte sich hinters Steuer. Der Vormittag war kühl, man merkte, dass es langsam Herbst wurde. Das spätsommerliche Wetter der letzten Wochen würde bald kaltem Wind und dicken Wolken weichen. Abends wurde es jetzt schon deutlich früher dunkel. Die Tage würden immer kürzer werden, bis es nur noch sechs Stunden hell war.

Bevor endlich die Wende kam.

Margit fiel es zunehmend schwerer, den langen schwedischen Winter zu ertragen. In der letzten Zeit hatte sie immer öfter von einer kleinen Wohnung in Südspanien geträumt, von einem Platz an der Sonne für sie und Bertil, wenn die Mädchen zu Hause ausgezogen waren.

Das Handy piepste und sie sah, dass eine SMS mit neuen Informationen über den toten Jungen gekommen war. Er war zwar schon zweiundzwanzig, aber für sie war er immer noch ein Junge. Ihre Tochter Anna war achtzehn, nur ein paar Jahre jünger.

Er hieß Marcus Nielsen, studierte Psychologie an der Universität in Stockholm und hatte allein ein Studentenzimmer bewohnt, in dem er vor etwa einer Stunde gefunden worden war.

Sie ließ den Motor an und setzte von der Garagenauffahrt zurück. Um diese Tageszeit war kaum Verkehr, bis zum Varmdövägen würde sie nicht mehr als zwanzig Minuten brauchen.

 

Margit parkte vor dem Eingang und schloss das Auto ab. Sie nickte dem uniformierten Polizisten auf der Treppe zu und ging an mehreren Studenten vorbei, die mit wirren Haaren in ihren offenen Zimmertüren standen. Die wohlbekannte Stimme von Kriminaltechniker Staffan Nilsson war schon von Weitem zu hören, noch ehe Margit über die Schwelle trat.

Die Leiche hing immer noch am Haken unter der Decke, würde aber bald vorsichtig abgenommen und in die Rechtsmedizin nach Solna gebracht werden.

»Guten Morgen«, sagte Nilsson und nickte Margit zu.

Sie ging weiter ins Zimmer hinein und sah sich um, während sie die Gummihandschuhe anzog, die er ihr gegeben hatte.

Das Zimmer war relativ groß für eine Studentenbude, bestimmt um die zwanzig Quadratmeter, schätzte sie. Recht gemütlich, auch wenn der Papierkorb von Pizzakartons überquoll und offenbar lange nicht Staub gesaugt worden war.

»So schön haben die Studenten zu meiner Zeit nicht gewohnt«, sagte Nilsson hinter ihrem Rücken. »Wir mussten uns mit Buden begnügen, in denen man sich kaum umdrehen konnte.«

Ein ordentlich gemachtes Bett stand gleich links neben der Tür, und hinten am Fenster sah sie einen Schreibtisch mit untergeschobenem Drehstuhl. An einer Wand hatte Marcus Nielsen ein weißes Bücherregal von Ikea aufgestellt, das Modell, das im Guinness-Buch der Rekorde als das meistverkaufte Regal der Welt verzeichnet war. Gegenüber vom Bett führte eine Tür zu einem kleinen Duschbad. Margit konnte durch den offenen Türspalt ein paar Rollen Toilettenpapier erkennen.

»Da hast du seinen letzten Gruß.«

Nilsson zeigte auf ein Blatt Papier, das auf dem Kopfkissen lag.

»Ein Abschiedsbrief?«

Er nickte und las vor:

»Vergebt mir, aber es ist alles so schwer. Marcus.«

Margit beugte sich vor und studierte den Zettel.

»Das ist ein Computerausdruck.«

»Ja.«

»Aber nicht unterschrieben.«

»Nein.«

»Und wo ist der Computer?« Sie blickte zum Schreibtisch, der mit Papieren und etlichen aufgeschlagenen Büchern übersät war. »Habt ihr ihn schon sichergestellt?«

»Nein, ich habe keinen gesehen.«

»Womit hat er das dann geschrieben?«

Nilsson zuckte die Schultern.

»Gute Frage.«

Margit ging zum Schreibtisch und sah in den Schubladen nach. Als sie den Kleiderschrank öffnete, fiel ihr ein großer Haufen Klamotten entgegen, die nachlässig hineingestopft worden waren, saubere und schmutzige in heillosem Durcheinander. Unter dem Bett entdeckte sie einen Rucksack. Sie öffnete ihn, aber er war leer.

»Hier ist jedenfalls kein Computer.« Sie drehte sich wieder zu Nilsson um. »Kennst du irgendjemanden aus seiner Generation, der ohne so ein Ding leben kann?«

»Er scheint auch keinen Drucker zu haben.«

Nilsson hatte recht. Im ganzen Zimmer gab es weder einen Drucker noch Druckerpapier.

»Wenn der Selbstmord lange geplant war, hat er den Abschiedsbrief vielleicht woanders ausgedruckt, beispielsweise in der Uni«, sagte der Kriminaltechniker.

»Möglich.«

Margit ging wieder zu dem Toten. Die Zimmerdecke war etwas höher als üblich, sodass sich seine Körpermitte etwa auf Augenhöhe befand.

Er trug ein graues Kapuzensweatshirt und abgewetzte Jeans. Ein dunkler Fleck im Stoff zeugte davon, dass sich der Darm im Moment des Todes entleert hatte. Der Gestank schlug ihr entgegen, als sie um den Körper herumging, sie wich instinktiv zurück und wandte das Gesicht ab. Dann trat sie ein paar Schritte beiseite, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen.

Marcus Nielsens Gesichtsausdruck war zu einer wilden Grimasse erstarrt. Die Augen waren halb geschlossen, und in einem Mundwinkel hatte sich Speichel gesammelt. Die Lippen waren verzerrt, Margit überlegte, ob er wohl versucht hatte zu schreien, als die Schlinge sich zuzog.

Hatte er seinen Entschluss bereut, als die Füße den Halt verloren? Oder war es nur ein Muskelkrampf, ausgelöst vom vegetativen Nervensystem des Körpers?

Sein Haar war unnatürlich schwarz, ein Eindruck, der durch die Leichenblässe des Gesichts noch hervorgehoben wurde.

»Das kann nicht seine natürliche Haarfarbe sein«, sagte Margit.

»Glaube ich auch nicht«, erwiderte Nilsson. »Aber das wird die Obduktion zeigen.«

»Was glaubst du, wie lange er schon tot ist?«

Nilsson strich sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken.

»Mindestens fünf, sechs Stunden. Die Leichenstarre hat bereits eingesetzt.«

Margit musterte die Seilschlinge aus verschiedenen Blickrichtungen. Sie schnitt tief in den Hals, dessen Haut dunkelrot mit einem Stich ins Purpurne verfärbt war. Das andere Ende des Seils war mit einem stabilen Knoten an einem Lampenhaken an der Decke befestigt.

»Wie ist er da hochgekommen?«, murmelte sie und beantwortete gleich darauf ihre Frage selbst. »Wahrscheinlich ist er auf den Schreibtisch geklettert, hat sich die Schlinge um den Hals gelegt und ist gesprungen.«

Sie ließ den Blick prüfend über die Leiche wandern. Marcus Nielsen war ziemlich dünn und nicht sehr groß. Dennoch musste der Körper ihrer Schätzung nach etwa siebzig Kilo wiegen.

»Dass er das Gewicht ausgehalten hat«, sagte sie halblaut.

»Wer, der Haken?«

»Mhm.«

Nilsson reckte sich und betrachtete den Haken.

»Das ist solides Mauerwerk, nicht so ein Fertighaus-Pfusch wie viele Neubauten aus den Siebzigern.«

»Du meinst, wenn er in so einem gewohnt hätte, wäre der Haken herausgebrochen und er hätte überlebt?«, fragte Margit.

Sie ging zum Bücherregal und griff nach einem gerahmten Foto, das in Augenhöhe stand. Es zeigte Marcus zusammen mit einem Jungen im Teenageralter und einem Paar in mittleren Jahren, vermutlich seine Eltern und ein jüngerer Bruder. Ein weißer Datumsstempel am unteren Rand zeigte, dass das Foto am 10. Juli 2006 aufgenommen worden war, also im vergangenen Sommer.

Es sah aus wie ein Urlaubsfoto; sie saßen in einer Taverne, und der Hintergrund bestand aus weißen Häusern mit leuchtend blauen Türen. Wahrscheinlich irgendwo in der griechischen Inselwelt, dachte Margit, auf einer entspannten Reise mit der ganzen Familie. Die nicht ahnt, was sie erwartet.

Der Verstorbene sah seiner Mutter auffallend ähnlich, die gleichen schmalen Augen, die gleiche gerade Nase. Ihr Haar war hellbraun, aber das war das ihres Sohnes vielleicht auch gewesen, bevor er es gefärbt hatte. Marcus hatte ein offenes Gesicht und sah intelligent aus, überhaupt nicht bedrückt von irgendwelchen Sorgen, die vierzehn Monate später dazu führen sollten, dass er sich das Leben nahm.

Sein Bruder kam nach dem Vater, beide waren blond und ein wenig pummelig. Der Vater hatte den Arm um die Schultern des jüngeren Sohnes gelegt und lachte breit in die Kamera. Das Foto war vermutlich von einem Kellner geknipst worden.

»Er sah nett aus«, bemerkte Margit.

»Das tun die meisten, zumindest bevor sie tot sind.«

Die Antwort war nicht sarkastisch, sondern nur eine nüchterne Feststellung.

Polizistenhumor, dachte Margit. Auch eine Art, die Tragödie auf Abstand zu halten.

Zögernd stellte sie das Foto wieder aufs Regal. Sie wusste, dass der Vater im öffentlichen Dienst arbeitete und die Mutter Krankenschwester war. Der jüngere Bruder wohnte noch zu Hause und besuchte das Gymnasium im dritten Jahr.

Genau wie ihre Anna.

Das hier war vielleicht das letzte Foto mit der ganzen Familie. Weitere würde es nicht geben. Die Eltern mussten schnellstmöglich informiert werden, und das war keine angenehme Aufgabe.

Nilsson holte etwas aus seiner großen schwarzen Tasche und verschwand im Bad.

»Gibt es Anzeichen für etwas anderes als Selbstmord?«, rief Margit ihm nach.

Er schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen.

»Vorläufig nicht. Aber wir stellen natürlich Fingerabdrücke und andere biologische Spuren sicher, sofern es sie gibt.«

»Wo ist das Mädchen, das ihn gefunden hat?«

»Sie sitzt mit Torunn in der Küche. Als wir ankamen, war sie völlig geschockt.«

»Kein Wunder bei diesen Umständen.«

Margit warf einen letzten Blick auf die Bücher, die im Regal standen. Viele hatten englische Titel, die auf psychologische Themengebiete schließen ließen. Auch die Bücher auf dem Schreibtisch sahen aus wie Fachliteratur.

»Er hat an der Uni Stockholm Psychologie studiert«, sagte Margit. »Ich frage mich, ob er wohl psychische Probleme hatte.«

Nilsson erschien in der Badezimmertür.

»Du meinst solche, die dazu führen, dass man sich umbringt?«

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 4

Nora Linde betrachtete müde das Chaos im Zimmer ihres Sohnes. Seit ihrer Trennung von Henrik verkroch Adam sich immer mehr hinter seinem Computer. Während sich die Klamottenhaufen auf dem Fußboden türmten, hockte er wie festgeklebt am Bildschirm und chattete oder spielte Computerspiele. Es war, als ob er die virtuelle Welt der realen vorzog. Er antwortete nicht, wenn man ihn ansprach, und hielt es kaum am Mittagstisch aus, um nur ja keine kostbare Computerzeit zu verlieren.

Nora versuchte, Grenzen zu setzen, aber das war nicht einfach, da Henrik und sie unterschiedliche Auffassungen zu dem Thema hatten. Was nützte es, dass sie auf einer begrenzten Anzahl Stunden pro Tag bestand, wenn Henrik die Jungs endlos spielen ließ, sobald sie bei ihm waren. Schon als sie noch zusammenlebten, hatten sie sich nur schwer einigen können, aber das war nichts gewesen verglichen mit der jetzigen Situation.

Vor einem halben Jahr, kurz nachdem Henriks Seitensprung aufgeflogen war, hatte sie mit der professionellen Effektivität der Juristin dafür gesorgt, dass dem Gericht alle für die Scheidung erforderlichen Unterlagen zugingen. Da sie Kinder unter sechzehn Jahren hatten, war eine Bedenkzeit von sechs Monaten erforderlich, bevor die Ehe geschieden werden konnte.

Nora brauchte keine Bedenkzeit. Sie war sich absolut sicher, dass sie nicht länger mit Henrik verheiratet sein wollte. Sie konnten kaum zwei Worte miteinander reden, ohne Streit anzufangen, und wenn sie ihn anrufen musste, schob sie es so lange wie möglich hinaus. Aber manchmal ging es nicht anders. Bei zwei Söhnen von sieben und zwölf gab es ständig irgendetwas, das besprochen werden musste.

Doch jedes Mal, wenn sie seine Nummer wählte, hoffte sie, dass der Anrufbeantworter sich meldete.

Am schlimmsten war es, wenn Marie dran war, die Neue an Henriks Seite. Sie waren im Sommer zusammengezogen, und Marie hatte sich in dem Reihenhaus in Saltsjöbaden, das so viele Jahre lang Noras und Henriks Zuhause gewesen war, schnell eingelebt. Marie hatte eine helle, etwas quäkende Stimme, und sie sprach schnell und atemlos, so als sei sie permanent erstaunt über diese Welt. »Marieafgrénier«, meldete sie sich in einem Atemzug.

Jedes Mal dachte Nora säuerlich, dass ihre Exschwiegermutter nun sicher zufrieden war. Endlich hatte ihr heiß geliebter Sohn, der Herr Radiologe, eine Frau gefunden, die in die feine Gesellschaft passte. Maries Familie war adelig, zwar nur verarmter Landadel, aber immerhin Mitglied des schwedischen Riddarhuset, und Marie war auf einem Gutshof aufgewachsen.

Genau das, was Henriks Mutter Monica Linde sich jahrelang für ihn gewünscht hatte, statt Nora, die zwar examinierte Juristin war, aber auch die Erste in ihrer Familie, die studiert hatte.

Bald war Simons Geburtstag, und sie musste es schaffen, ihn zusammen mit Henrik zu feiern, ganz gleich, was sie von ihrem Exmann hielt. Aber bei dem Gedanken an die Geburtstagsfeier zog sich ihr der Magen zusammen.

Nora stupste mit dem Fuß den Haufen Schmutzwäsche auf dem Boden an.

»Adam«, rief sie in Richtung Wohnzimmer, wo er vor dem Fernseher saß. »Komm und räum deine Sachen auf.«

Sie wartete einen Moment, dann rief sie wieder, nachdrücklicher diesmal:

»Adam!«

Das Geräusch von Schritten verriet, dass der schärfere Tonfall Wirkung gezeigt hatte. Ihr Sohn kam maulend näher.

»Musst du dauernd rummeckern?«

Obwohl es das Letzte war, was sie wollte, spürte Nora, wie sie ärgerlich wurde.

»Ich meckere, weil du mich dazu zwingst. Wenn du ein bisschen ordentlicher wärst, müsste ich es nicht.«

»Papa meckert nie.«

Nora zuckte innerlich zusammen. Mit unbeirrbarer Präzision hatte Adam einen Pfeil abgeschossen, der genau ins Schwarze traf.

»Aber jetzt bist du bei mir und nicht bei Papa.« Sie bereute ihre Worte sofort, konnte sie sich aber nicht verkneifen. »Außerdem hat Papa eine Putzhilfe, die können wir uns nicht leisten.«

Ein verächtlicher Blick war alles, was sie als Antwort bekam.

Ich will doch, dass sie sich bei mir wohlfühlen, dachte Nora. Warum endet es immer damit, dass ich an ihnen herumnörgle?

Wie zur Bestätigung ihrer düsteren Gedanken fing sie aus den Augenwinkeln ihr Spiegelbild auf.

Sie war schon immer schlank gewesen, aber jetzt war sie mager. Wenn sie wegen ihres Diabetes nicht gezwungen wäre, regelmäßig zu essen, würde sie das Essen komplett vergessen, denn im vergangenen halben Jahr war ihr jeglicher Appetit vergangen. Ihr schulterlanges rotblondes Haar brauchte dringend einen Schnitt, und unter den grauen Augen lagen dunkle Ringe.

Nora wusste selbst, dass sie nicht genügend Schlaf bekam, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie das ändern sollte. In ihrem Aktenkoffer lag ein Stapel von Dokumenten, die sie innerhalb einer Woche durcharbeiten musste. Es würde wieder ein langer Abend werden.

»Ich kann dir helfen«, sagte sie versöhnlich und bückte sich, um ein paar schmutzige Socken und Unterhosen aufzusammeln, die unter dem Bett lagen.

»Mhmm.« Er blickte nicht auf.

»Adam, komm jetzt. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, aber wir müssen es doch wenigstens versuchen.«

»Mhmm«, kam es wieder.

Sie legte ihm die Hand auf den Arm.

»Du, hör mal …« Sie nahm innerlich Anlauf. »Ich dachte, wir könnten am nächsten Wochenende nach Sandhamn fahren, was meinst du? Du kannst einen Freund mitnehmen, wenn du möchtest. Papa muss zu einer Tagung, deshalb seid ihr zwei Wochenenden nacheinander bei mir.«

Auf seinem schmalen Gesicht erschien die Andeutung eines Lächelns.

Ihre Söhne liebten es, auf die Insel zu fahren, besonders jetzt, wo sie in die Brand’sche Villa gezogen waren, das vielleicht schönste Haus von ganz Sandhamn. Nora hatte es vor einiger Zeit von ihrer Nachbarin Signe Brand geerbt.

Im Laufe des Sommers hatten sie mit vereinten Kräften renoviert und das Schlafzimmer neu tapeziert. Sogar Simon hatte gelernt, Tapetenkleister gleichmäßig aufzutragen. Er war so konzentriert bei der Sache gewesen, dass er vor Anstrengung beinahe schielte.

Nicht nur auf Sandhamn hatten sie die Wohnung gewechselt. Nora hatte eine helle Dreizimmerwohnung in einem Mietshaus im Zentrum von Saltsjöbaden gefunden, die Platz für sie und ihre Söhne bot. Die Jungs teilten sich das größere Schlafzimmer, sie selbst hatte das kleinere genommen. Die Küche war groß und sonnig, genau wie das Wohnzimmer, und in eine Nische in der Küche passte ein Schreibtisch hinein, sodass sie eine eigene Arbeitsecke hatte. Die neue Wohnung lag ungefähr eine Viertelstunde von ihrem alten Haus entfernt.

Adams Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

»Kann ich Wille mitnehmen?«

William Åkerman war Adams bester Freund seit Beginn der Mittelstufe. Im letzten halben Jahr, als Adam versucht hatte, sich daran zu gewöhnen, dass er alle zwei Wochen woanders wohnen musste, waren die Jungs noch unzertrennlicher geworden.

Nora legte ihm den Arm um die Schultern und zog ihn an sich. Als kleines Kind war er weißblond gewesen, aber jetzt war sein Haar sandfarben. Es war nicht so dunkel wie Henriks, aber ansonsten glichen sich Vater und Sohn wie ein Ei dem anderen.

»Er kann gern mitkommen.«

»Danke, Mama.«

Adams Tonfall war weicher geworden, und Nora fiel ein Stein vom Herzen.

Sie dachte an Thomas, ihren Freund aus Kindertagen, der auch Simons Patenonkel war. Er hatte ein Sommerhaus auf Harö, nur zehn Minuten von Sandhamn entfernt. Sollte sie ihn anrufen und ihm sagen, dass sie am kommenden Wochenende hinfahren würde?

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Kapitel 5

Als Margit sich der Küche näherte, hörte sie gedämpftes Schluchzen und jemanden, der in beruhigendem Tonfall sprach. Sie trat ein und sah, dass das Weinen von einer jungen Frau kam, die an einem runden Küchentisch saß. Die etwa fünfunddreißigjährige Polizistin neben ihr kam Margit bekannt vor. Das musste Torunn sein.

»Das ist Amanda«, sagte Torunn und stand auf, damit Margit sich setzen konnte.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Margit und nahm auf dem noch warmen Stuhl Platz.

»Nicht so gut«, flüsterte Amanda.

»Ich weiß, dass es schwer für Sie ist, aber könnten Sie uns erzählen, wie Sie Ihren Freund gefunden haben?«

»Wir waren für heute verabredet. Wir müssen morgen eine Hausarbeit abgeben und wollten sie heute Vormittag fertigstellen.«

Ihre Augen waren weit geöffnet, die Tränen hatten die Wimpern zu starren schwarzen Fliegenbeinen verklebt.

»Ihr seid also Kommilitonen?«

»Ja. Wir studieren beide Psychologie.« Ihr Gesicht verzog sich. »Studierten, meine ich.«

Margit tätschelte ihr den Arm.

»Wissen Sie noch, ob die Tür offen war, als Sie gekommen sind?«

»Ich glaube, sie war zu.«

»War sie von innen abgeschlossen? Haben Sie einen Schlüssel?«

Amanda schüttelte den Kopf.

»Sie war nicht abgeschlossen. Ich hatte erst geklopft, aber als er nicht aufgemacht hat, habe ich die Klinke gedrückt und bin reingegangen.«

Sie verstummte, als ihr der Anblick in den Sinn kam, der sie vor einer guten halben Stunde erwartet hatte. Ihre Lippen zuckten, und sie presste die geballte Faust an den Mund, um nicht wieder in Schluchzen auszubrechen.

Margit wartete geduldig, sie wollte das Mädchen nicht drängen.

»Und da hing er dann so da«, sagte Amanda schließlich. »An der Decke, und er hat mich angestarrt, obwohl er doch tot war. Er hat mich die ganze Zeit angestarrt.«

Sie verbarg das Gesicht in den Händen.

»Haben Sie sonst noch jemanden auf dem Flur gesehen, als Sie gekommen sind?«, fragte Margit.

»Nein, alle haben geschlafen, es war ja noch ziemlich früh.«

Margit legte ihre Hand auf Amandas.

»Sind Sie sicher, dass Sie niemanden gesehen haben?«

Vom Flur her waren Stimmen und sich nähernde Schritte von mehreren Personen zu hören. Margit vermutete, dass es Sanitäter waren, die kamen, um die Leiche zu holen. Nilsson hatte seine Arbeit wohl inzwischen erledigt.

»Ich habe überhaupt keinen gesehen«, sagte Amanda.

»Waren Sie und Marcus eng befreundet?«

»Ja.«

Amanda griff nach einem Glas Wasser, das auf dem Tisch stand, und trank ein paar Schlucke.

»Also, wir haben zusammen gelernt. Die ganzen letzten Semester. Wir haben zur selben Zeit an der Uni angefangen. Aber wir waren kein Paar oder so was.«

»Womit habt ihr euch aktuell beschäftigt?«

»Wir haben ein Seminar zum Thema Gruppen und Gruppenprozesse belegt und waren dabei, unsere Hausarbeit zu schreiben.«

»Wissen Sie, ob Marcus einen Laptop hatte?«

Ein Anflug von Verwirrung huschte über Amandas Gesicht, als hätte sie die Frage nicht ganz verstanden.

»Klar hatte er einen.«

»Wir können ihn nicht finden.«

Das Mädchen schien einen Moment nachzudenken.

»Haben Sie in seinem Rucksack nachgesehen? Oder im Bett? Meistens hat er im Bett gelegen und geschrieben.«

»Nicht am Schreibtisch?«

»Nee, da hatte er nur seinen ganzen Kram.«

»Wissen Sie, ob er einen Drucker in seinem Zimmer hatte?«

»Nein, das glaube ich nicht. Ich habe jedenfalls keinen gesehen.«

»Sicher?«

Amanda nickte.

»Und wo hat er seine Sachen dann ausgedruckt?«

Das Gesicht der jungen Frau hatte wieder etwas Farbe bekommen. Sie wirkte gefasster als vorhin, zog aber immer noch nervös an den Ärmeln ihres Pullovers. Sie waren schon ausgeleiert und reichten bis über die Fingerknöchel.

»In der Uni gibt es Drucker, die jeder benutzen kann. Das machen die meisten, ich auch.«

Daran war nichts Ungewöhnliches, dachte Margit. Ein Selbstmord wurde oft im Voraus geplant. Wenn Marcus Nielsen keinen eigenen Drucker besaß, hatte er den Abschiedsbrief vermutlich irgendwo anders ausgedruckt. Er konnte seinen Selbstmord seit Wochen, vielleicht gar Monaten geplant haben.

Das Einzige, was nicht richtig passte, war, dass er Amanda gebeten hatte, an diesem Morgen hierherzukommen. Aber vielleicht wollte er schnell gefunden werden?

»Wann habt ihr verabredet, dass ihr euch heute hier treffen wollt?«

»Freitag, in der Bibliothek, als wir merkten, dass wir mit der Arbeit nicht fertig werden.«

Margit machte den Rücken gerade. Der Stuhl war hart und unbequem, ein billiger Holzstuhl, der sicher nicht mehr als ein paar Kronen gekostet hatte. Aber Studentenwohnheime waren ja auch nicht gerade bekannt für teure Einrichtung.

»Hat Marcus sich in der letzten Zeit irgendwie anders verhalten als sonst? War er überdreht? Oder niedergeschlagen?«

Amanda schüttelte den Kopf.

»Nein, er war genau wie immer. Deshalb begreife ich auch nicht …«

Ihre Stimme versagte. Die Tränen begannen wieder zu fließen.

Margit wartete darauf, dass sie sich beruhigte. Das Mädchen musste mit einem Streifenwagen nach Hause gebracht werden, sobald sie hier fertig waren.

»Hat er jemals davon gesprochen, sich umzubringen?«

»Nein, nie.«

Amandas Antwort kam schnell und mit Nachdruck.

»Da sind Sie ganz sicher?«

»Ja.«

»Und ihr wart so gut befreundet, dass Sie gemerkt hätten, wenn er über irgendwas nachgegrübelt hätte?«

Amanda nickte so heftig, dass ihr dunkles Haar über die Stirn fiel und ihr Gesicht verdeckte.

»Ja, wir haben über fast alles gesprochen.«

Margit beugte sich vor.

»Ich muss das jetzt fragen, auch wenn es hart für Sie ist. Können Sie sich irgendeinen Grund vorstellen, warum er sterben wollte?«

»Nein, das habe ich doch schon gesagt.« Amandas Tonfall klang jetzt trotzig, und sie sah Margit direkt in die Augen. »Marcus war nicht deprimiert. Er war ein stiller Typ, aber nicht auf die Art.«

Selbstmörder reden nicht immer über ihre Absicht, dachte Margit. Aber die Statistik sprach ihre eigene Sprache. Es war eher die Regel als die Ausnahme, dass Freunde und Angehörige steif und fest behaupteten, es habe keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass etwas nicht stimmte.

Sie nahm eine plötzliche Bewegung wahr und drehte den Kopf. Im selben Moment betrat ein hochgewachsener Mann die Küche.

Der blonde Haarschopf, in dem sich erste Silberfäden zeigten, war zerzaust; anscheinend hatte er sich nur mit den Fingern gekämmt. Seine Augen waren verquollen, als wäre er gerade erst aus schwerem Schlaf erwacht, und die breiten Schultern hatte er leicht nach vorn geschoben.

Sein kaum wahrnehmbares Hinken, eher zu ahnen als tatsächlich zu sehen, erinnerte Margit daran, wie nahe er dem Tod gewesen war, draußen auf dem Eis vor Sandhamn im letzten Winter.

»Hallo, Thomas.«

Tagebucheintrag 24. Oktober 1976

Morgen ist es soweit. Da muss ich mich auf Rindö melden, draußen vor Waxholm, wo die Küstenjägerschule liegt.

Papa hat versprochen, mich hinzufahren, schon morgens um acht soll ich zum Dienst antreten. Wir müssen um sechs losfahren, um pünktlichda zu sein.

Fast tausend Leute hatten sich beworben, vierhundert wurden gemustert und nur fünf Prozent angenommen. In der Regel schließen ungefähr zwei Drittel die Ausbildung ab.

Papa ist mächtig stolz, er macht gar keinen Hehl daraus. Er war Koch in der Armee und schien fast ein bisschen neidisch, als ich ihm erzählte, wofür ich mich beworben hatte.

Mama war eher besorgt, als der Einberufungsbescheid kam.

»Hast du dir das auch wirklichgut überlegt?«

Ich habe nur gelacht. Ich sah mich schon im grünen Barett mit dem goldenen Dreizack.

Dem Abzeichen der Küstenjäger.

Als ich zehn war, haben wir mal mit der Familie einen Ausflug nach Stockholm gemacht. Wir besichtigten das königliche Schloss, und auf dem Weg dorthin gingen wir über den Skeppsbron-Kai, wo mehrere Marineschiffe festgemacht hatten.

Wir waren auf dem Rückweg, als uns ein Trupp Soldaten entgegenkam. Sie trugen grüne Barette und marschierten im Gleichschritt. Alle sahen identisch aus, streng und mit ernsten Gesichtern. Aber als sie auf gleicher Höhe waren, zwinkerte mir ein Soldat zu. Als wäre ich einer von ihnen.

Ich stand nur da und glotzte.

»Was waren das für welche?«, fragte ich, nachdem sie vorbeimarschiert waren.

»Küstenjäger«, sagte Papa. »Elitesoldaten.«

»Küstenjäger«, wiederholte ich und schob meine Hand in seine. »Das werde ich auch, wenn ich groß bin.«

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Donnerstag (erste Woche)

Kapitel 6

Die Frau, die in der Polizeistation Nacka saß und wartete, erregte Thomas’ Aufmerksamkeit im selben Moment, als er durch die Tür kam. Es war halb acht am Donnerstagmorgen.

Sie war auffallend blass und völlig ungeschminkt. Thomas schätzte ihr Alter auf ungefähr fünfundvierzig, ein paar Jahre älter als er selbst. Sie trug eine kurze schwarze Steppjacke und dunkelblaue Jeans, die unten ausgefranst waren.

»Thomas, da ist jemand für dich und Margit«, rief die Pförtnerin, als sie ihn sah.

Die Frau erhob sich sofort.

»Sind Sie Thomas Andreasson?«

Thomas nickte.

»Mein Name ist Maria Nielsen. Mein Sohn Marcus …« Sie stockte, nahm dann aber neuen Anlauf. »Mein Sohn Marcus ist am Sonntag gestorben. Sie waren dort, Sie haben ihn gesehen.«

Thomas erinnerte sich an die Leiche, die im Sonnenschein gebaumelt hatte. Er erinnerte sich an das klare Herbstlicht und den toten Jungen. An die Stille im Zimmer, nachdem die Sanitäter vorsichtig das Seil gelöst und den Körper abgenommen hatten.

Maria Nielsens Stimme zitterte, als sie fortfuhr.

»Bitte kann ich mit Ihnen sprechen?«

»Kommen Sie«, sagte er und dirigierte sie zum Aufzug.

Sie fuhren zwei Stockwerke höher, und Thomas holte seine Codekarte heraus, um die Tür zu der Etage zu öffnen, in der sich die Ermittlungsabteilung befand.

 

Thomas reichte Maria Nielsen mit fragender Geste eine Tasse Kaffee, die er aus der kleinen Pantryküche geholt hatte. Sie nahm sie wortlos entgegen. Schwarz, mit zwei Stücken Zucker, die sie in das dampfende Gebräu fallen ließ.

Thomas bat sie in eines der kleineren Besucherzimmer. Maria Nielsen sank auf den Stuhl, ohne ihre Jacke abzulegen.

»Ich muss mit Ihnen über meinen Sohn reden«, platzte sie heraus, noch bevor Thomas sich hingesetzt hatte. »Marcus hat sich nicht das Leben genommen. Das ist unmöglich. Jemand muss ihn umgebracht haben.«

»Wie kommen Sie darauf?«

Thomas blickte in Maria Nielsens blasses Gesicht und bemühte sich um einen neutralen Tonfall. Er wollte ihre Verzweiflung nicht durch Skepsis schüren.

»Ich weiß es einfach«, sagte sie. »Marcus hat nie etwas davon gesagt, sich das Leben zu nehmen. Er war kein unglücklicher Mensch, war nicht depressiv oder niedergeschlagen.«

Thomas beugte sich vor und sagte: »Marcus wohnte ja nicht mehr zu Hause. Könnte nicht etwas passiert sein, von dem Sie und Ihr Mann nichts wussten?«

Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf.

»Das glaube ich nicht. Wir hatten engen Kontakt. Außerdem hätte David gewusst, wenn etwas nicht in Ordnung gewesen wäre.«

»David?«

»Marcus’ jüngerer Bruder. Sie sind … waren … wie Zwillinge. David ist völlig am Boden zerstört. Sie wollten im Winter zum Skilaufen, sie hatten davon gesprochen, eine Woche Urlaub in den französischen Alpen zu machen, nach Marcus’ Semesterklausur.«

Sie zog ein zerknülltes Papiertaschentuch aus der Tasche und trocknete sich die Augen.

»Warum hätte er eine Reise mit seinem Bruder planen sollen, wenn er sterben wollte?« Ihr Ton war von Resignation in Aggression umgeschlagen. »Können Sie mir das sagen? Warum hätte er das tun sollen?«

Thomas machte eine kleine abwehrende Bewegung mit der Hand.

»Sie wissen, dass die Obduktion keine Anzeichen für etwas anderes als Suizid ergeben hat? Haben Sie eine Kopie des Berichts erhalten?«

Sie nickte verbissen.

»Das beweist gar nichts.«

»Die Spurensicherung hat den Fundort untersucht, aber es gibt keine Indizien, dass Marcus durch ein Verbrechen zu Tode gekommen ist.«

Thomas sah sie mitfühlend an.

»Leider deutet alles darauf hin, dass er durch eigene Hand gestorben ist«, fügte er hinzu.

Maria Nielsen zuckte zusammen, als hätte jemand sie geschlagen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Es tut mir leid«, sagte Thomas.

»Jemand muss Marcus umgebracht haben.« Maria Nielsen richtete den Zeigefinger auf Thomas. »Sie können seinen Fall nicht einfach so abhaken. Das dürfen Sie nicht.«

»Ich habe nicht gesagt, dass wir das tun. Aber wenn wir keine hinreichenden Verdachtsmomente für ein Verbrechen finden, können wir kaum eine Mordermittlung einleiten.«

Heftig aufflammender Zorn ersetzte plötzlich ihre Verzweiflung.

»Ich bitte Sie! Das hat mein Sohn nicht verdient!«

Sie lehnte sich über den Tisch und packte Thomas am Handgelenk.

Er fühlte mit ihr, aber er hatte noch im Ohr, was der Alte, der Chef der Ermittlungsabteilung, auf der gestrigen Morgenbesprechung über Einsparungen und Unterbesetzung gesagt hatte. Auf den Schreibtischen stapelten sich die Ermittlungsakten. Ein junger Student, der allem Anschein nach seinem Leben ein Ende gesetzt hatte, würde unter diesen Umständen kaum auf die Prioritätenliste rücken.

»Haben Sie Kinder?«

Die Frage kam unerwartet, und für einen Moment war Thomas sprachlos. Er hob die Kaffeetasse zum Mund, um Zeit zu gewinnen.

»Haben Sie?«, wiederholte Maria.

»Nein. Doch.«

Er hörte selbst, wie lahm das klang. Sein Körper erinnerte sich noch an das Gefühl, als er an jenem Morgen aufgewacht war und Emily steif in ihrer Wiege neben dem Bett lag. Als alle Wiederbelebungsversuche erfolglos blieben, hatten die Rettungssanitäter ihn mit Gewalt von der Kleinen trennen müssen.

Am Tod seiner kleinen Tochter war seine Ehe mit Pernilla zerbrochen, und er selbst beinahe auch.

»Ich hatte eine Tochter … aber sie ist gestorben, als sie noch ganz klein war.«

Inzwischen konnte er es zumindest aussprechen. Es hatte lange gedauert, bis er dazu in der Lage war.

Maria Nielsen zwinkerte, aber um ihren Mund lag ein entschlossener Zug. Sie richtete ihre geröteten Augen fest auf Thomas’ Gesicht.

»Das tut mir leid. Aber dann verstehen Sie ja, wie mir jetzt zumute ist.« Ihr Tonfall wurde noch eindringlicher. »Sie müssen mir helfen. Marcus hat sich nicht umgebracht. Ich weiß es genau.«

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Kapitel 7

Thomas betrat den großen Konferenzraum, in dem sie für gewöhnlich ihre Morgenbesprechung abhielten. Er hatte gerade eben Maria Nielsen nach unten begleitet, und ihr trauriges Flehen klang ihm noch in den Ohren.

Der Alte saß wie üblich am Kopfende des Tisches, neben Karin Ek, der tüchtigen Assistentin. Am gegenüberliegenden Ende trank Erik Blom den letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse. Das feuchte Haar und das immer noch gerötete Gesicht verrieten, dass er direkt aus dem Trainingsraum gekommen war. Sein Handy piepste kurz, und als er die Mitteilung las, schmunzelte er.

Thomas konnte sich gut vorstellen, dass es eine SMS von einer der zahllosen Freundinnen war, die den Weg des lebenslustigen jungen Polizisten kreuzten. Er selbst hatte nie ein solches Leben geführt.

Gerade als der Zeiger auf acht Uhr sprang, ging die Tür auf und Margit kam herein. Sie ging zu Thomas’ Seite vom Tisch und schlüpfte auf einen Stuhl.

»Sorry«, murmelte sie in Richtung des Alten. »Stau auf der Skurubron.«

Sie erhielt ein kurzes Nicken als Antwort.

Während die Kollegen die Aufgaben des Tages besprachen, wanderten Thomas’ Gedanken zu Maria Nielsen. Er hatte ihr halb versprochen, den Tod ihres Sohnes nicht ad acta zu legen. Nicht, weil er seine Meinung geändert hätte, sondern weil ihre Verzweiflung ihn berührte.

Plötzlich merkte er, dass es still im Raum geworden war.

»Bist du noch bei uns, Thomas?«, fragte der Alte.

Thomas versuchte, sich zusammenzureißen und ein Gesicht zu machen, als sei er ganz bei der Sache. Tatsächlich hatte er keine Ahnung, worüber sie gerade gesprochen hatten.

Wie so oft in der letzten Zeit fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Es war, als wollte sein Gehirn nicht gehorchen. Manchmal ging ihm etwas durch den Kopf, und dann plötzlich dachte er an etwas ganz anderes.

»Natürlich«, sagte er.

»Gut, dann war es das für heute«, sagte der Alte.

»Moment noch«, sagte Thomas.

»Ja?«

Der Alte sah ihn an.

»Marcus Nielsen.«

Thomas’ Tonfall war forscher als beabsichtigt.

»Was ist mit ihm?«

»Sollten wir uns seine Todesumstände nicht etwas genauer ansehen?«

Der Alte sah ihn fragend an.

»Er hat sich erhängt«, sagte er.

»Seine Mutter war vorhin bei mir. Sie glaubt nicht daran.«

»Ich habe am Sonntag seine Familie besucht«, sagte Margit. »Keiner von ihnen wollte akzeptieren, dass er Selbstmord begangen hat. Angehörige tun das selten.«

»Ich würde jedenfalls gern noch ein paar Stunden an dem Fall arbeiten«, sagte Thomas.

In Margits Augen sah er etwas aufblitzen, das schwer zu bestimmen war. Mitgefühl, vielleicht. Oder Sorge, dass ihm das alles zu viel wurde?

Er war am Sonntag erst spät am Tatort erschienen, und das passierte ihm nicht zum ersten Mal. Er schlief immer noch schlecht, und manchmal nahm er Schlaftabletten, obwohl er dann am nächsten Tag müde war. Es kam sogar vor, dass er den Wecker nicht hörte und so sehr verschlief, dass er die Morgenbesprechung verpasste.

Aber die Alternative war, dass er kurz nach Mitternacht aufwachte und nicht wieder einschlafen konnte, weil ihm die Gedanken wieder und wieder durch den Kopf gingen, wie ein Film, der kein Ende nehmen wollte. Dann sorgte der Schlafmangel dafür, dass er den ganzen nächsten Tag benommen war.

»Ich dachte, ich suche die Familie auf und spreche noch einmal mit ihnen.«

Er klang unsicher, er hörte es selbst und straffte die Schultern. Mit festerer Stimme sagte er:

»Ich finde, das sind wir dem Jungen schuldig. Er war erst zweiundzwanzig.«

»Meinetwegen«, sagte der Alte. »Aber verschwende nicht zu viel Zeit damit. Wir brauchen dich dringend für andere Sachen, Thomas, jetzt wo du wieder da bist.«

Der Alte packte seine Zettel zusammen und erhob sich. Die Sitzung war beendet.

 

Familie Nielsen wohnte in einem weißen Backsteinhaus in einem nördlichen Vorort von Stockholm. Die Siedlung war geprägt von lauter gleichartigen Einfamilienhäusern, die dicht an dicht auf ziemlich kleinen Grundstücken standen. Mehrere der Häuser waren umgestaltet oder durch Anbauten erweitert worden, aber man konnte noch sehen, dass sie ursprünglich alle nach dem gleichen Entwurf gebaut worden waren.

Die Haustür wurde von einem halbwüchsigen Jungen geöffnet, der blass und mitgenommen aussah. Das muss David sein, dachte Thomas. Marcus’ kleiner Bruder.

Er stellte sich vor und durfte eintreten.

»Mama«, rief der Junge. »Polizei ist hier.«

Auf der Treppe waren Schritte zu hören, dann kam Maria Nielsen in die Diele. Sie sah aus, als hätte sie gerade geweint, ihre Augen waren gerötet. Ihr Haar hatte sie mit einem Gummiband zusammengefasst, aber ein paar Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihr ins Gesicht.

»Sie?«, sagte sie verwundert.

Thomas streckte die Hand zum Gruß aus.

»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte er. »Ich habe noch ein paar Fragen. Wenn es Ihnen recht ist, natürlich.«

»Sicher.« Sie strich mit nervöser Geste die Haarsträhnen zurück. »Möchten Sie einen Kaffee?«

Thomas war auf die Frage vorbereitet. Die meisten Leute, die Besuch von der Polizei bekamen, reagierten fast reflexartig damit, Kaffee anzubieten, und manchmal konnte das geradezu therapeutisch wirken.

Er schüttelte den Kopf.

»Vielen Dank, aber das ist nicht nötig. Ich möchte nur etwas mehr über Marcus erfahren.«

Er folgte Mutter und Sohn ins Wohnzimmer, wo sie sich setzten. Der Raum wurde von einem großen Flachbildfernseher dominiert. Eine Xbox auf einem schwarzen Ständer verriet das Interesse der Brüder für Videospiele.

Nun war nur noch ein Bruder übrig.

»Wie lange ist es her, dass Marcus ausgezogen ist?«, begann Thomas.

»Das war letztes Jahr, als er sein Studium aufgenommen hat«, sagte Maria Nielsen. »Aber er hat uns ganz oft besucht, am Samstag war er noch hier, zum Beispiel.«

Sie blickte auf ihre Hände.

»Er hat mir immer seine Schmutzwäsche gebracht.« Ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Obwohl ich fand, dass er so etwas selbst machen müsste, habe ich ihm immer wieder dabei geholfen.«

Maria Nielsen hob trotzig das Kinn.

»Da war Marcus genau wie immer. Deshalb ist es ja so unbegreiflich, dass er …« Sie blickte zum Fenster und flüsterte: »… sich am selben Abend erhängt hat.«

David gab einen erstickten Laut von sich, als seine Mutter die verbotenen Worte aussprach.

Thomas versuchte, behutsam vorzugehen.

»Wissen Sie noch, was er gemacht hat, als er zuletzt hier war? Hat er irgendetwas Außergewöhnliches gesagt, was Ihnen aufgefallen ist?«

Sie zog die Schultern hoch. Eine Geste der Resignation, die das Chaos in ihrem Inneren erkennen ließ.

»Er war genau wie immer. Marcus hat in der Küche etwas gegessen, dann ist er nach oben in sein Zimmer gegangen.«

Thomas blickte David an.

»Warst du zu der Zeit zu Hause?«

»Ja, war ich.«

»Ist dir etwas an deinem Bruder aufgefallen?«

Davids Lippen zitterten, als er antwortete.

»Marcus war wie immer. Genau wie meine Mutter gesagt hat.«

»Habt ihr am Samstag etwas Besonderes unternommen?«

»Nein, die meiste Zeit lag er in seinem Zimmer auf dem Bett und hat gesurft.«

Thomas erinnerte sich, dass Marcus’ Laptop noch nicht gefunden worden war. Sein Handy auch nicht. Das war seltsam.

»Womit?«

»Seinem Laptop natürlich.«

»In seinem Studentenzimmer haben wir ihn nicht gefunden. Bist du sicher, dass er ihn am Samstag bei sich hatte?«

David machte ein erstauntes Gesicht.

»Marcus hat seinen Laptop überallhin mitgeschleppt. Er war immer in seinem Rucksack. Ohne den ist er nirgendwohin gegangen.«

»Könnte es sein, dass er ihn hier vergessen hat?«, überlegte Thomas laut. »Dass er vielleicht noch in seinem Zimmer ist?«

Er drehte den Kopf in Richtung der Mutter.

»Ich habe ihn nicht gesehen«, sagte Maria Nielsen. »Aber wir können gleich noch mal nachsehen, wenn Sie wollen.«

Sie erhob sich und ging die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Thomas folgte ihr. Sie kamen in einen kleinen Flur; Maria Nielsen öffnete die nächstgelegene Tür und trat einen Schritt beiseite, um Thomas den Vortritt zu lassen.

Marcus’ altes Kinderzimmer war nicht groß, kaum mehr als acht Quadratmeter, und enthielt ein Bett, einen Schreibtisch und einen abgewetzten schwarzen Ledersessel. Die Wände waren bedeckt mit verschiedenen Postern, und an einer Wand hing eine alte Pfadfinderflagge.

Thomas ging hin und berührte den verblichenen Stoff.

»Marcus war als Teenager bei den Wasserscouts, er liebte das Meer«, sagte Maria Nielsen. »Er war aktives Mitglied in einem Kanuverein, sie sind oft durch den Stockholmer Schärengarten gepaddelt.«

Thomas drehte sich um.

»Das mache ich auch gern. Ich habe ein Haus auf Harö, nicht weit von Sandhamn, und paddle oft in der Gegend.«

Um Maria Nielsens Mund zuckte es.

»Genau wie Marcus.«

»Wie hat ihm sein Studium gefallen?«, fragte Thomas.

Sie ließ sich auf dem Bett nieder und strich mit der Hand über das weiche Lammfell, das am Fußende lag.

»Marcus hat sich so gefreut, als er angenommen wurde. Er hat die Aufnahmeprüfung mit sehr guten Noten bestanden. Es ist nicht so einfach, einen Platz zu bekommen, viele wollen Psychologie studieren.«

»Warum hat er sich gerade für dieses Fach beworben?«

»Er hat sich schon auf dem Gymnasium dafür interessiert. Einer der Lehrer dort hat seine Lust darauf geweckt. Ist es nicht merkwürdig, dass ein einziger Mensch für die Entscheidungen, die man trifft, so bedeutsam sein kann?«

Ihre Stimme klang wehmütig.

Thomas blickte sich ein letztes Mal im Zimmer um. Er konnte keinen Laptop entdecken, auch nichts anderes, was ihm aufgefallen wäre. Marcus Nielsen war bis zu seinem Tod ein ganz normaler junger Student gewesen.

 

Die wohlbekannte Telefonnummer glühte auf dem Display.

Wenn sie das Gespräch nicht annahm, würde sich die Mailbox einschalten. Der Anruf von Henrik würde aufgezeichnet werden, und sie konnte selbst entscheiden, wann sie die Nachricht abhörte.

Oder auch nicht.

Aber wenn es nun wichtig war?

Widerwillig drückte Nora die Anruftaste.

»Ich bin’s.«

Als sie die lässig hingeworfenen Worte hörte, kochte die Wut in ihr hoch.

Wieso bildete er sich ein, sie würde ihn an der Stimme erkennen? Das war so typisch für ihn, er setzte ganz selbstverständlich voraus, dass sie seine Formlosigkeit hinnahm. Sie waren immerhin getrennt, und bald würde die Scheidung endgültig durch sein.

Nach dreizehn Jahren Ehe.

»Ja«, gab sie ebenso knapp zurück.

»Aus den Herbstferien wird leider nichts.«

Nora biss sich auf die Zunge, um nichts Unüberlegtes zu sagen. Sie verstand selbst nicht, woher diese ganze Wut kam, aber sie schoss wie auf Knopfdruck in ihr hoch, sobald sie nur seine Stimme hörte.

»Ach ja?«, sagte sie.

»Mein Dienstplan hat sich geändert. Ich habe die ganze Woche Bereitschaft, deshalb kann ich nicht wie geplant mit den Jungs nach London fliegen.«

»Es ist nicht zufällig Marie, die dir andere Pläne in den Kopf gesetzt hat?«

Die Worte waren ihr kaum über die Lippen gekommen, als sie sie auch schon bereute. Seit wann war sie so bissig? Sie musste sich zusammenreißen.

»Lass Marie aus dem Spiel.«

Aber Nora konnte nicht anders.

»Vielleicht wollt ihr ja lieber eine romantische Reise machen. Sie hat bestimmt keine Lust auf zwei anstrengende Jungs, die die ganze Zeit an dir kleben.«

»Das reicht!«

Henriks Stimme war wie ein Peitschenhieb.

Nora wurde rot. Sie holte tief Luft und verbiss sich den aggressiven Ton.

»Die Jungs werden enttäuscht sein.«

»Ich weiß.« Henrik klang jetzt versöhnlicher. »Meine Idee war das wirklich nicht. Einer unserer Radiologen ist für zwei Monate krankgeschrieben, und jetzt müssen alle Dienstpläne umgestellt werden.«

»Aha.«

Jetzt schämte sie sich ein bisschen.

»Ich dachte, wir könnten vielleicht etwas später fahren, im November. Ich habe Ende des Monats vier Tage frei.«

»Dann versäumen sie ihren Schulunterricht.«

Nora hörte selbst, wie negativ sie immer noch klang.

»Das ist ja wohl nicht das Ende der Welt, oder?«, sagte Henrik. »Sie gehen erst in die zweite und die sechste Klasse. Ein paar Tage spielen doch sicher keine große Rolle. Ist ja nicht so, als wären sie auf dem Gymnasium.«

Nora verkniff sich einen bissigen Kommentar.

»Nein, das wird schon gehen. Aber dann beantragst du die Freistellung.«

»Wie macht man so was?«

Wieder wallte der Zorn in ihr auf.

Wie bequem das all die Jahre für ihn gewesen war, während sie sich um das Organisatorische gekümmert hatte. Sie hatte alles geregelt, was mit Schule und Kindergarten zu tun hatte, und er hatte keinen Finger krumm gemacht.

Und zum Dank hatte er sie mit einer Krankenschwester aus seiner Abteilung betrogen.

»Ruf gefälligst die Schulverwaltung an und erkundige dich!«, sagte sie und legte auf.

 

Das blau-weiße Polizeiband versperrte noch die Tür zu Marcus Nielsens Studentenzimmer. Thomas löste es vorsichtig und schloss die Tür auf.

Es roch ungelüftet in dem Apartment, das eigentlich nur aus einem großen Raum bestand, wenn auch mit eigener Dusche. Im Zimmer war es dunkel, draußen herrschte trübes Wetter und der strahlende Sonnenschein vom Sonntag war längst vergessen.

Er sah sich um, ohne recht zu wissen, wonach er eigentlich suchte. Vielleicht war es verschwendete Zeit, hierher zu fahren, aber er hatte Maria Nielsen versprochen, nach Möglichkeit herauszufinden, was ihrem Sohn zugestoßen war.

So fühlte es sich jedenfalls an.

Er würde dem Fall noch ein paar Stunden widmen, das war das Mindeste, was er tun konnte.

Thomas zog Gummihandschuhe an und begann, die Bücher und Papiere auf dem Schreibtisch durchzusehen.

Das meiste sah aus wie Fachliteratur, aber unter einem der Stapel fand er mehrere Hefte mit japanischen Manga-Comics. Sie sahen reichlich zerfleddert aus, und eines hatte einen großen Fettfleck auf dem Cover.

Thomas lächelte. Marcus hatte wohl ein bisschen Abwechslung von den akademischen Texten gebraucht.

Systematisch durchsuchte er das Bücherregal und nahm sich anschließend den Kleiderschrank vor. Im obersten Fach lagen einige penibel zusammengelegte Pullover, und er ahnte Maria Nielsens mütterliche Hand hinter den ordentlich gestapelten Kleidungsstücken, die einen auffälligen Kontrast zu der übrigen Unordnung bildeten.

Unter dem Bett stand eine rot-weiße Sporttasche. Er zog sie hervor und schaute hinein, fand aber nur einen abgetragenen Neoprenanzug. Vermutlich hatte Marcus ihn beim Paddeln getragen. Falls er mit seinem Kanu im Umkreis von Sandhamn unterwegs gewesen war, hatten sie sich vielleicht sogar mal zugewinkt, wie es unter Kanuten üblich war.

Thomas hatte ein eigenes Kajak, mit dem er gern an frühen Sommermorgen hinausfuhr. Plötzlich sehnte er sich danach, eine Tour zu machen. Es war schon eine ganze Weile her seit dem letzten Mal.

Inzwischen war über eine Stunde vergangen, ohne dass er etwas gefunden hatte.

Mit einem letzten Blick durch das leere Zimmer löschte er das Licht und ließ Marcus Nielsen hinter sich.

Tagebucheintrag Oktober 1976

Wir sind zu acht in der Gruppe, und wir sehen alle gleich aus mit dem Stoppelhaarschnitt und den grünen Klamotten. Wie ein Haufen Papierpuppen, die nach derselben Schablone ausgeschnitten wurden.

Die Verwandlung passierte gestern – ich ging als normaler schwedischer Junge mit halblangen Haaren zum Friseur und kam mit sieben Millimeter kurzen Stoppeln wieder raus. Mit einem Haufen Ausrüstung unterm Arm versuchte ich anschließend, unsere Unterkunft zu finden.

Nicht mal unsere Vornamen dürfen wir behalten, stattdessen werden wir mit Nummer und Nachnamen angeredet. Ich bin Nummer 103. Die Eins steht für den ersten Zug und die Nulldrei für meinen Platz in der Gruppe. Ich bin der Älteste von uns, Andersson ist der Jüngste. Er ist ein Dezemberkind, vielleicht ist er deshalb ein bisschen kleiner als wir anderen. Aber er ist nett, nur ziemlich schweigsam. Er hat das Bett neben meinem.

Wir sind zwanzig Leute, die sich die Stube teilen, und unsere Etagenbetten stehen dicht nebeneinander, mit kaum einem Meter Platz dazwischen.

Kihlberg scheint ganz in Ordnung zu sein, genau wie Martinger, der zwei Meter groß und breit wie ein Scheunentor ist. Die anderen sind wohl auch okay, nur zu Eklund habe ich keinen richtigen Draht.

Alle wirken ziemlich nervös, aber ich habe sämtliche Informationsbroschüren gelesen, die es gibt, und ich weiß, dass die Ausbildung zum Küstenjäger eine stabile Psyche und gute körperliche Kondition erfordert. Nur die Besten werden genommen.

Ich bin gut vorbereitet.

 

Ich habe in den letzten Nächten kaum ein paar Stunden geschlafen. Uns bleiben nur zehn Minuten zum Essen, wir schlingen alles hastig runter und rennen sofort wieder los. Sämtliche Fortbewegung hat im Laufschritt zu geschehen. Wir werden andauernd aus dem Schlaf geweckt, am Ende weiß man gar nicht mehr, ob es Tag oder Nacht ist, man hat vor lauter Übermüdung das Gefühl, als würde man sich durch einen ewigen Nebel bewegen.

Wir müssen Liegestütze auf den Fingerknöcheln machen, und wenn einer zusammenbricht, heißt es für alle anderen, von vorn anfangen. Wenn einer von uns schlapp macht, müssen alle leiden. Sobald wir einen Fehler machen, werden wir bestraft, und natürlich machen wir grundsätzlich nur Fehler.

Ich weiß nicht, ob ich das wirklich durchhalte.

 

Alles wird kontrolliert und inspiziert, andauernd.

Bevor ich hierherkam, dachte ich, Inspektion wäre etwas, was die Polizei oder der Zoll machen, aber inzwischen hat das Wort für mich einen ganz anderen Inhalt bekommen. Es bedeutet, dass alles, was einem gehört, immer und immer wieder kontrolliert wird, damit wir lernen, alles in perfekter Ordnung zu halten.

Wir müssen alle Kleidungsstücke zehn Mal falten, bis sie richtig im Spind liegen. Anschließend reißt der Ausbilder alles wieder heraus und wir fangen noch mal von vorn an.

Gestern wollten wir gerade zu Bett gehen, als der Unteroffizier plötzlich in der Tür stand. Was bedeutete, Inspektion die halbe Nacht lang. Ich weiß nicht, zum wievielten Mal hintereinander. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich merkte, wie mein Hals sich zuschnürte, und kniff die Augen zusammen, damit keiner was merkte.

Trotzdem bewegten sich meine Füße und ich nahm meine Aufstellung ein, ohne einen Mucks von mir zu geben.

»Spindkontrolle!«, brüllte der Uffz in mein Ohr, und dann fluchte er über unsere kollektive Unfähigkeit. »Was ist das für ein Saustall! Hier hat preußische Disziplin zu herrschen, und sonst gar nichts, wann begreift ihr Schwachköpfe das endlich!«

Der Uffz hat nur ein Jahr vor uns angefangen, aber er ist als Stammbesetzung hiergeblieben, »Stammer« nennt sich das wohl. Was bedeutet, dass er das Sagen hat. Egal, welche Befehle er auch erteilt, wir müssen gehorchen.

Sein Wort ist Gesetz.

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Freitag (erste Woche)

Kapitel 8

Maria Nielsen saß wieder am Empfang, als Thomas durch die Tür kam. Sie hob die Hand zu einem zaghaften Gruß, als sei es ihr peinlich, ihn schon wieder zu belästigen. Ohne ein Wort streckte sie ihm ein kleines schwarzes Mobiltelefon entgegen.

Thomas ging zu ihr.

»Hallo, Maria«, sagte er. »Was haben Sie da?«

»Das ist das Handy von Marcus. Nach Ihrem Besuch habe ich überall nach dem Laptop gesucht, ich habe das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Marcus’ Laptop habe ich nicht gefunden, aber sein Handy lag eingeklemmt im Spalt zwischen Bett und Wand. Es muss ihm am Samstag aus der Tasche gerutscht sein, als er auf dem Bett lag und Computerspiele gespielt hat.«

»Sind Sie sicher, dass es seins ist?«

»Ja, ich erkenne es wieder. Das ist sein Handy.«

Thomas wog das Mobiltelefon in der Hand. Sehr gut, dass sich jedenfalls das wieder angefunden hatte.

»Kommen Sie mit in mein Büro, dort können wir uns in Ruhe unterhalten.«

Er ging mit ihr zu den Aufzügen, genau wie beim ersten Mal, und sie fuhren hinauf in seine Abteilung.

Als sie in Thomas’ Zimmer Platz genommen hatten, löste er die Tastensperre des Handys.

»Der Akku war fast leer, aber ich habe ihn aufgeladen«, sagte Maria Nielsen.

Mit dem rechten Daumen klickte Thomas sich zur Liste der Nummern durch, die Marcus kürzlich angerufen hatte. Zwei waren es am letzten Tag seines Lebens. Ein Anruf »zu Hause« und einer bei »Amanda«.

Thomas navigierte durchs Menü und fand eine Anmerkung im Notizbuch des Handys: »Dissociative behaviour, repressed emotions, memories of traumatic events.«

Er hielt Maria Nielsen das Handy hin.

»Wissen Sie, was das hier bedeutet?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, leider nicht. Aber es klingt nach psychologischen Fachbegriffen, vielleicht hatte es mit seinem Studium zu tun?«

Thomas blätterte weiter zur Kalenderfunktion. Rasch scrollte er durch die letzten Wochen in Marcus Nielsens Leben. Er griff nach einem Notizblock und schrieb die Informationen ab, die er im Kalender fand.

Marcus Nielsen hatte eine Reihe verschiedener Vorlesungen in Psychologie eingetragen. Er hatte außerdem mehrere Personen notiert, jeweils unter einem anderen Datum: Der Erste war Jan-Erik Fredell, dann kam einer namens Robert Cronwall, und danach ein Bo Kaufman. Es gab einen Eintrag über einen Besuch in der Beckasinen-Apotheke um elf Uhr am Donnerstag vor seinem Tod.

»Kennen Sie diese Namen hier?«, fragte Thomas und schob Maria Nielsen den Block zu, damit sie einen Blick darauf werfen konnte.

»Nein.«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Ja, aber ich kann meinen Mann fragen und David auch. Glauben Sie, dass diese Namen wichtig sind?«

Ihre Augen flehten ihn um eine positive Antwort an, er sollte bestätigen, dass er etwas von entscheidender Bedeutung entdeckt hatte.

Sollte er ehrlich sein?

Vermutlich hatten die Namen nichts zu sagen, es konnte sich um alle möglichen Leute handeln, von Universitätsdozenten bis zu alten Freunden. Es gab immer noch nichts, was die Selbstmordtheorie irgendwie hätte erschüttern können.

»Ich weiß es nicht, Maria. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich es mir auf jeden Fall genauer ansehen werde.«

Maria Nielsen öffnete den Mund, als wollte sie noch weiter darüber diskutieren, schloss ihn dann aber wieder. Ohne etwas zu sagen, erhob sie sich, und Thomas begleitete sie zum Ausgang.

Auf dem Rückweg steckte er seinen Kopf in Karin Eks Büro.

Ihr Schreibtisch war wie immer perfekt aufgeräumt, sogar die Bleistifte waren frisch gespitzt. Familienfotos in silbernen Rahmen standen ordentlich ausgerichtet in einer Reihe. Karin Ek wirkte sehr beschäftigt; ihr Blick war fest auf den Bildschirm gerichtet, und das Klappern der Tastatur war bis auf den Flur zu hören.

Thomas räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen, und hielt ihr einen Zettel mit den Namen aus Marcus Nielsens Handy hin.

»Könntest du wohl diese Personen recherchieren? Sieh mal zu, was du findest, und ob es irgendeinen Zusammenhang mit Marcus Nielsen gibt.«

Er warf einen letzten Blick auf die Namen, hatte aber immer noch keine Idee.

Es gab nach wie vor keine Erklärung, warum Marcus Nielsens Laptop nicht aufzufinden war, aber ihm ging einfach nicht aus dem Kopf, was der jüngere Bruder gesagt hatte: »Marcus hat ihn immer mit sich herumgeschleppt.«

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Kapitel 9