Nach Mitternacht - Irmgard Keun - E-Book

Nach Mitternacht E-Book

Irmgard Keun

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Beschreibung

«Der beste satirische Roman über Nazideutschland»Arthur Koestler Frankfurt, 1936: Menschenmassen strömen auf den Opernplatz und warten auf den Besuch Hitlers. Mittendrin und doch abseits verfolgt die 19-jährige Susanne das Geschehen. Voller Sehnsucht und Unruhe wartet sie seit ihrer Flucht aus Köln auf ein Lebenszeichen von ihrem Verlobten Franz. Gemeinsam wollten sie einen Zigarettenladen aufmachen. Doch plötzlich taucht Franz aus dem Nichts vor ihr auf. Er wurde an die Gestapo verraten, hat den Denunzianten – den Besitzer eines Zigarettenladens – umgebracht und muss nun fliehen. Kurz vor Mitternacht muss Susanne sich entscheiden: Soll sie ihre Heimat verlassen, um mit Franz zu gehen? 48 Stunden schildert Irmgard Keun durch die Augen ihrer Erzählerin den Alltag im nationalsozialistischen Deutschland. Mit genauer Beobachtungsgabe und scharfem Humor beschreibt sie die Erlebnisse, Gespräche und Widersprüchlichkeiten verschiedenster Menschen in dieser Zeit. Nach Mitternacht ist einer der wichtigsten Romane der deutschen Exilliteratur.

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Nach Mitternacht

Die Autorin

Irmgard Keun, 1905 in Berlin geboren, feierte mit ihren beiden ersten Romanen Gilgi – eine von uns und Das kunstseidene Mädchen sensationelle Erfolge. 1936 ging sie ins Exil und kehrte vier Jahre später mit falschen Papieren nach Deutschland zurück, wo sie unerkannt lebte. Im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit konnte sie zunächst nicht an die Erfolge ihrer ersten Bücher anknüpfen, bis ihre Romane Ende der Siebzigerjahre von einem breiten Publikum wiederentdeckt wurden. Dazu zählt auch Nach Mitternacht, 1937 in den Niederlanden und seit 1980 im Claassen Verlag erschienen.Irmgard Keun starb 1982 und zählt heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts.

Das Buch

Frankfurt, 1936: Menschenmassen strömen auf den Opernplatz und warten auf den Besuch Hitlers. Mittendrin und doch abseits verfolgt die 19-jährige Susanne das Geschehen. Voller Sehnsucht und Unruhe wartet sie auf ein Lebenszeichen von ihrem Verlobten Franz. Gemeinsam wollten sie einen Zigarettenladen aufmachen. Plötzlich taucht Franz aus dem Nichts vor ihr auf. Er wurde an die Gestapo verraten, hat den Denunzianten – den Besitzer eines Zigarettenladens – umgebracht und muss nun fliehen. Kurz vor Mitternacht muss Susanne sich entscheiden: Soll sie ihre Heimat verlassen, um mit Franz zu gehen?48 Stunden schildert Irmgard Keun durch die Augen ihrer Erzählerin den Alltag im nationalsozialistischen Deutschland. Mit genauer Beobachtungsgabe und scharfem Humor beschreibt sie die Erlebnisse, Gespräche und Widersprüchlichkeiten verschiedenster Menschen in dieser Zeit. Nach Mitternacht ist einer der wichtigsten Romane der deutschen Exilliteratur.

Irmgard Keun

Nach Mitternacht

Roman

Ullstein

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Die Originalausgabe erschien 1937unter dem Titel Nach Mitternacht bei Querido, Amsterdam.claassen ist ein Verlagder Ullstein Buchverlage GmbH© 1980 by Claassen Verlag, DüsseldorfErstveröffentlichung 1937© der deutschsprachigen Ausgabe2022 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Autorinnenfoto: © ullstein bild - ullstein bildE-Book-Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2698-6

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

I

II

III

IV

V

VI

VII

Nachwort

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

I

I

Einen Briefumschlag macht man auf und zieht etwas heraus, das beißt oder sticht, obwohl es kein Tier ist. Heute kam so ein Brief von Franz. »Liebe Sanna«, schreibt er mir, »ich möchte Dich noch einmal sehen, darum komme ich vielleicht. Ich konnte Dir lange nicht schreiben, aber ich habe oft an Dich gedacht, das hast Du sicher gewußt und gefühlt. Hoffentlich geht es Dir gut. Viele herzliche Grüße, meine liebe Sanna. Dein Franz.«

Was ist mit Franz geschehen? Ob er krank ist? Vielleicht hätte ich mich gleich auf die Bahn setzen sollen und zu ihm nach Köln fahren. Ich bin nicht gefahren. Den Brief habe ich ganz klein zusammengefaltet und mir in den Ausschnitt gesteckt, da zerkratzt er mir jetzt die Brust.

Ich bin müde. Alles war heute so aufregend und anstrengend, wie das ganze Leben jetzt überhaupt. Ich mag nicht mehr denken, ich kann nicht mehr denken – in meinem Gehirn sind nur noch helle Flecke, dunkle Flecke, die kreiseln durcheinander.

Gern würde ich in Ruhe mein Glas Bier trinken, aber wenn ich das Wort Weltanschauung höre, weiß ich ja, daß Krach kommt. Die Gerti sollte es lassen, einen SA-Mann zu reizen, indem sie sagt: die Reichswehrleute haben schönere Uniformen und sehen auch sonst schöner aus – und wenn es schon einer von militärischer Rasse sein müsse, dann habe sie lieber einen von der Reichswehr. Natürlich flattern solche Worte wie rasende Hornissen um einen Kurt Pielmann und stechen ihn bis ins Innerste – und wenn er nicht sofort daran stirbt, wird er eben gemein. Man weiß doch Bescheid.

Ganz krank sieht der Kurt Pielmann auf einmal aus und war vorher so fröhlich, er kann einem leid tun. Schließlich hat er vor drei Tagen noch einen Stern gekriegt und ist heute extra von Würzburg nach Frankfurt gefahren, um die Gerti wiederzusehen und den Führer. Der Führer war nämlich heute in Frankfurt, um vom Opernhaus aus ernst ins Volk zu blicken und einen Zapfenstreich von den wiedereingeführten Soldaten zu hören. Eine Runde Bier will ich noch bestellen auf meine Kosten und um abzulenken, hoffentlich habe ich genug Geld.

»Herr Ober!« Ein wüster Betrieb ist hier heute abend. »Herr Ober! Ach rufen Sie ihn doch bitte mal, Herr Kulmbach, Sie können lauter. Und trinken Sie, bitte, aus – noch vier Export, Herr Ober und …« Schon ist er wieder fort.

»Vielleicht haben Sie noch eine Zigarette für mich, Herr Kulmbach?«Ich möchte nicht gern, daß der Herr Kulmbach es hört, wenn die Gerti so gefährlich mit dem Kurt Pielmann spricht, und darum erzähle ich ihm einfach drauflos, wie’s gerade kommt – nur um ihn abzulenken. Mit dem einen Ohr höre ich meine lauten Worte, und mit dem anderen Ohr höre ich den Krach kommen zwischen Gerti und Pielmann.

Wenn ich mal einen Augenblick still bin, ist ein Gerausche von Stimmen um mich, das macht müde zum Schlafen.

Im Henninger-Bräu sitzen wir, es riecht nach Bier und Zigarrenqualm und lautem Gelache. Durchs Fenster sieht man die Lichter vom Opernplatz, ein bißchen trüb und müde sehen sie aus, wie freche gelbe Blumen, die endlich einmal Lust kriegen, »Gute Nacht« zu sagen.

Seit drei Uhr mittags sind wir schon unterwegs, die Gerti und ich. Mit der Gerti bin ich befreundet, seit ich hier in Frankfurt bin. Ein Jahr bin ich schon hier.

Wunderschön sieht die Gerti aus, wenn sie so dasitzt mit ihrem blauen Busen. Natürlich ist der Busen nicht blau, nur das Kleid darüber. Immer sieht die Gerti aus, als habe sie nichts an. Das wirkt aber nicht unanständig bei ihr, weil sie so frech ist mit ihrem Körper und mit ihren Worten und gar nicht geheimnisvoll. Ihre Locken leuchten dick und blond, ihre Augen leuchten knallblau, ihr Gesicht leuchtet wie eine rosa Wolke.

Ich leuchte gar nicht. Darum hat die Gerti mich wohl auch so gern. Obwohl sie sagt, ich könne sehr niedlich aussehen und verstehe nur nicht, was aus mir zu machen. Gerti und Liska schimpfen deswegen mit mir und wollen auch bestimmt ganz ehrlich, daß ich aus mir was mache. Ich will es auch, aber es gelingt mir nie so richtig.

Wenn ich abends vorm Zubettgehen in den Spiegel gucke, dann finde ich mich manchmal sehr hübsch und liebe meine Haut, weil sie so glatt und weiß ist. Und ich finde meine Augen groß, grau und geheimnisvoll und glaube, daß auf der ganzen Erde keine Filmschauspielerin so lange schwarze Wimpern hat. Dann möchte ich manchmal das Fenster aufmachen und alle Männer von der Straße rufen, damit sie kommen und sich wundern, wie schön ich bin. Natürlich könnte ich das nie richtig tun. Aber es ist doch ein Jammer, daß jemand ganz allein für sich oft am schönsten ist. Man findet das aber auch vielleicht nur. Wenn ich neben der Gerti sitze, finde ich mich jedenfalls nur klein, blaß und mickrig. Noch nicht mal mein Haar leuchtet. Es hat eine blonde Farbe, die schläft.

Ich hätte das Bier nicht bestellen sollen – jetzt bestellt der Herr Kulmbach daraufhin eine Runde Kirsch, Er ist nämlich Kellner im »Eichhörnchen«, und wenn Kellner in andere Lokale gehen, sind sie fast immer großzügig.

»Zum Wohl, Herr Kulmbach.« »Auf unseren Führer!« Ein wunderbarer Tag sei heute, sagt Kulmbach – ein einzigartiges Erlebnis für die Frankfurter Bevölkerung sei heute gewesen.

Vom Nebentisch gucken ein paar SS-Leute herüber und machen »Prost«. Ich weiß nicht recht, ob sie die Gerti meinen mit dem Prost oder den Führer. Vielleicht sind sie betrunken und meinen die ganze Welt, aber natürlich keine Juden, Sozialdemokraten, Russen, Kommunisten und Franzosen und solche Leute.

Ich erzähle dem Kulmbach, daß ich seit einem Jahr in Frankfurt bin. Ich wurde geboren in Lappesheim an der Mosel. »Das ist meine Heimat, selbstverständlich vergißt man sie nie, Herr Kulmbach.« Neunzehn Jahre bin ich jetzt alt, die Gerti ist etwas älter. Ich kenne sie durch die Liska, weil die ja kunstgewerblich tätig ist, und Gertis Eltern haben ein Kunstgewerbegeschäft in bester Frankfurter Gegend, da hilft die Gerti verkaufen. Mein Vater hat eine Wirtschaft in Lappesheim und drei Weinberge, aber keine allerbeste Lage. Wenn die Weinberge blühen im Sommer, und der Wind weht so leicht, und die Sonne scheint heiß, dann riecht die Welt nach Honig. Die Mosel ist eine lustige, glitzernde Schlange, weiße kleine Boote lassen sich von den Sonnenstrahlen den Fluß runterschleifen. »Und die Berge am anderen Ufer, Herr Kulmbach – da müssen Sie sich erst mit der Fähre übersetzen lassen und ganz nah rankommen, um zu merken, daß es Berge sind. Von unserem Gasthof aus scheinen sie große grüne Lockenköpfe, ganz warm und freundlich, man möchte sie streicheln. Aber wenn Sie nahe rankommen, dann sind es keine weichen grünen Locken, dann sind es harte Bäume mit Laub dran. Und wenn Sie den Berg raufklettern, dann kommen Sie in den Hunsrück. Da ist es kälter als unten an der Mosel, die Leute sind ärmer und die Kinder blaß und verhungert. Die Blumen dort sind viel weniger bunt und viel kleiner, die Äpfel und Birnen auch. Wein gibt es gar nicht.«

An die Berge muß ich denken, die von weitem aussehen wie fröhliche grüne Lockenköpfe, und an meine Hand muß ich dabei denken. Immerzu hatte ich sie eingerieben mit Liskas tollen Hautcremes. Ich dachte, nun würde die Haut von meiner Hand wie ein seidenes Wunder, aber der Algin hat ein Vergrößerungsglas. Da habe ich mir meine Hand mal unterm Vergrößerungsglas betrachtet und war furchtbar erschrocken. Eine Sommersprosse auf meiner Hand sah aus wie ein Kuhfladen. Welcher Mensch sieht denn an sich so was gern? Alle Vergrößerungsgläser sollte man kaputtmachen.

Ich heiße Susanne. Susanne Moder. Man nennt mich Sanna. Ich bin froh, so verkürzt genannt zu werden, weil es doch ein Zeichen ist, daß Freundlichkeit um mich war. Menschen, die immer nur mit ihrem vollen unveränderten Taufnamen gerufen werden, sind oft so ungeliebt.

Am liebevollsten konnte der Franz es sagen: »Sanna«. Weil er ja überhaupt so langsam und samtig denkt. Ob er wirklich kommt? Ob er mich noch liebhat? Gleich will ich auf die Toilette gehn und seinen Brief noch mal lesen.

Was seine Mutter wohl macht, die Tant Adelheid, dieses Biest? Antun müßte man ihr was, warum habe ich es nicht getan? Als Kind hätte ich bestimmt was gegen sie unternommen, nichts zu lachen hätte sie da gehabt. Die Sau. Wenn man erwachsen wird, läßt man sich viel mehr gefallen und wird schlapp. Als Kinder haben wir uns immer gerächt für Gemeinheiten, und das soll man auch.

Vollständig ungebildet ist die Tant Adelheid, aber sie tut ungeheuer fein. Auf mich hatte sie mehrere Arten von Haß. Ihr erster Haß auf mich war, weil mein Vater mich auf die Mittelschule nach Koblenz geschickt hat. Der war nämlich dafür, daß Kinder was lernten. Ich mache mir nicht viel aus dem Lernen, mein Kopf ist nicht so geeignet dazu. Algins Kopf war geeignet dazu, und man sieht an ihm, daß jemand es durch Lernen weitergebracht hat als alle.

Algin Moder ist mein Stiefbruder und ein berühmter Schriftsteller und siebzehn Jahre älter als ich. Eigentlich heißt er Alois, aber er hat sich seinen Namen selbständig umgearbeitet, weil Alois mehr ein Name für einen Humoristen sei, und das ist er nicht.

Als Algins Mutter starb, heiratete mein Vater eine neue Frau. Die bekam mich. Meine Mutter ist auch früh gestorben, aber mein Vater war immer gut zu den Frauen und konnte nichts dafür. Er hat sich dann wieder eine neue Frau genommen, so eine Fuchsige aus Cochem. Gott, mein Vater kann sich nun mal als Mann und Gastwirt nicht gut in ein Leben ohne Frau schicken. Diese Frau lebt noch. Sie ist nicht böse, aber ihre eigenen kleinen Kinder waren ihr natürlich lieber als wir hinterbliebenen Kinder. Und weil sie ein bißchen dumm ist und nicht hübsch aussieht, wollte sie wenigstens alles beherrschen. Seit sie da ist, habe ich mich in Lappesheim nicht mehr richtig wohl gefühlt.

Der ganze Ort ist mir aber auch auf die Dauer zu klein, ich habe tausendmal lieber eine große Stadt. Man darf so was ja nicht sagen heutzutage wegen der Weltanschauung und der Regierung. Es ist nicht gut und edel, eine Stadt lieber zu haben und schöner zu finden. Die Dichter schreiben jetzt auch alle, daß man nur die natürliche Heimat seiner Natur lieben muß. Trotzdem werden die Städte immer größer gebaut, und Autostraßen werden angelegt auf den dampfenden Erdschollen. Der Sinn der Erdschollen besteht darin, daß die Dichter sie besingen müssen, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen und nachzudenken, was in den Städten los ist und mit den Menschen. Außerdem braucht man die Schollen für Heimatfilme, aus denen sich das Publikum nichts macht. Heini hat uns das alles mal auseinandergesetzt, der Liska und mir. Liska liebt ihn. Ich verstehe ihn auch nicht immer, aber ich liebe ihn trotzdem nicht.

Ich glaube jedenfalls nicht, daß die Gauleiter und hohen Minister gerne einen Winter lang in Lappesheim wohnen würden, wenn die Mosel giftig gelb voll Lehm schwimmt und das ganze Tal mit dickem Wattenebel vollgestopft ist; kaum kann man atmen. Immer ist es dunkel, man fällt auf den löchrigen Wegen. Auszuhalten ist es nur, wenn man da irgend was Eigenes an Geschäft hat und überlegt, wie es weiterzubringen ist. Und wenn man dazu Kinder hat und einen Mann, mit dem man sich rumärgert, was immer noch besser ist, als sich totzulangweilen. Ich will nicht immer dort leben, und der Algin will es auch nicht. Trotzdem er in seinen Geschichten jetzt tut, als müsse man jedes Häufchen Kuhmist an sein Herz drücken, um ein anständiger Mensch zu sein.

Als ich sechzehn Jahre alt war, bin ich nach Köln zur Tant Adelheid gekommen, die hat ein Papierwarengeschäft in der Friesenstraße. Sie ist eine Schwester meiner verstorbenen Mutter, die ihr damals Geld für das Geschäft gegeben hat. Von diesem Geld muß die Tant Adelheid mir monatlich etwas zurückzahlen oder mich umsonst bei sich wohnen lassen. Und das war ein weiterer Grund für die Tant Adelheid, mich zu hassen. Nie hätte ich es so lange bei ihr ausgehalten, nämlich zwei Jahre, wenn der Franz nicht gewesen wäre, der ihr Sohn ist. Daß es ihr Sohn ist, kann man kaum glauben, und sie liebt ihn auch nicht. Ich habe der Tant Adelheid im Laden geholfen, ich verkaufe furchtbar gern, und alle sagen, ich habe ein großes Geschick, mit der Kundschaft umzugehen.

Als der Führer kam, wurde die Tant Adelheid politisch und hing Bilder von ihm auf und kaufte Hakenkreuzfahnen und ging in die NS-Frauenschaft, wo sie auch mit besseren Damen zusammenkam als deutsche Frau und Mutter.

Dann wurden im Versammlungssaal des ehemaligen Vereins christlicher junger Männer Luftschutzübungen abgehalten. Da ging die Tant Adelheid regelmäßig mit mir hin, und sie sorgte, daß die anderen Leute aus dem Haus sich nicht etwa drücken, sondern daß sie auch hingehen. Für den alten schwachen Herrn Pütz, der oben in der Mansarde wohnt, wurde sie lebensgefährlich.

Der alte Pütz lebt freundlich und still für sich allein als Rentner, er hat sauber gebürstete weiße Haare und geht mit schwachen zierlichen Schritten. Die Tant Adelheid hat gemacht, daß er mit zu den Luftschutzübungen ging. Da mußten wir einmal Gasmasken anziehen, in denen man fast erstickte, und eine Treppe raufrasen. Ganz zittrig stand der alte Pütz in einer dunklen Ecke, hielt die Gasmaske in seinen dünnen kleinen Händen und hoffte wohl, man werde ihn nicht bemerken. Aber die Tant Adelheid bemerkte ihn mit ihren schwarzen Stechaugen. Die Gasmaske mußte er umbinden, und die Tant Adelheid jagte ihn vor sich her die Treppe hinauf. Oben auf dem Speicher ist er umgefallen, alle waren erschrocken. Man merkte es nur an den flattrigen Händen und aufgeregten Schritten, menschliche Gesichter gab es ja nicht, nur greuliche Masken. Der verkrunkelte Körper vom Pütz in seinem einzigen guten dunkelblauen Sonntagsanzug lag auf dem Boden, in seiner Maske hörte man ihn röcheln. Tant Adelheid hatte ihm die Maske falsch aufgesetzt, und es war schwer, seinen Kopf wieder herauszukriegen. Ich dachte, er werde sterben, aber ganz langsam hat er sich erholt. Es war wie ein Wunder.

Die Tant Adelheid sagte: »Pütz, Sie müssen mir dankbar sein, sehen Sie das ein? Ohne mich wären Sie verloren gewesen in einem Augenblick ernster Gefahr.« »Laßt mich doch im Bett sterben, laßt mich doch im Bett sterben«, wimmerte der Pütz mit einer piepsenden Stimme wie eine Maus. »Pütz«, sagte die Tant Adelheid streng, »Sie haben das neue Deutschland nicht begriffen, Sie haben den Aufbauwillen des Führers nicht begriffen. Alte Leute wie Sie muß man zu ihrem Heil zwingen oder über sie hinwegschreiten.« Später hat die Tant Adelheid durchgekämpft, daß sie Hauswart wurde. Das bedeutet, daß sie im Falle echter Fliegergefahr eine Schußwaffe bekommt und alle Leute im Haus ihrem Befehl unterstehen. Und sie hat das Recht, jeden zu erschießen, der sich ihrem Willen nicht fügt.

Vor tausend feindlichen Flugzeugen hätte ich nicht so viel Angst wie vor der Tant Adelheid, wenn sie eine Schußwaffe hat und Befehlsgewalt. Auf das Haus, in der die Tant Adelheid wohnt, braucht kein feindlicher Flieger eine Bombe abzuwerfen, um die Leute dort zu töten, das besorgt vorher schon die Tant Adelheid. Es sei denn, sie wird vorher vom Schauwecker umgebracht, der auch begeisterter Nationalsozialist ist und in der ersten Etage wohnt. Er sieht aus wie ein dicker großer gelber Schwamm und ist Inspizient am Stadttheater. Früher war er Mitglied irgendeiner Organisation, wodurch er auch seine Stellung bekommen hatte. Er sollte dann entlassen werden, weil er die Statistinnen im Theater, die er aussuchen konnte und die ihm unterstellt waren, immer unanständig anfaßte und lauter schweinische Sachen machte und sogar Kinder nicht in Ruhe ließ. Ich kenne ihn, er ist ein altes Ferkel, immer hatte ich Angst, ihm abends allein vor der Haustüre zu begegnen. Er wurde nicht entlassen, nur ernst verwarnt. Aber er hatte viel gelitten und wurde darum Antisemit.

Er hat eine verweinte Frau und drei Kinder, die alle in der Hitlerjugend sind. Er ist sehr angesehen in der Partei, denn er hat viel gewußt über die Schauspieler und anderen Angestellten vom Stadttheater. Um jeden Preis wollte er Hauswart werden, und ohne die Tant Adelheid wäre er es auch geworden. Aber die Tant Adelheid hatte Zeugen dafür, daß er hinter dem Rücken eines Losverkäufers vom Winterhilfswerk gesagt hatte: »Fällt mir nicht ein, diesem Nietenonkel was von seinem Scheißkram abzukaufen.« Das war eine glatte Sabotage am Winterhilfswerk, die Tant Adelheid hätt’ es nur anzeigen brauchen. Sie hat auch richtig verstanden, dem Schauwecker Angst zu machen, bis er sie Hauswart sein ließ. Wenn Krieg und Durcheinander ist, wird er sich schon rächen.

Tant Adelheid beging dann eine ganz große Gemeinheit gegen mich, ich hätte sterben können dadurch. Danach wollt ich bei der Tant Adelheid nicht mehr bleiben und bin zum Algin nach Frankfurt gefahren. Er hatte mich mal in Köln besucht und war immer lieb zu mir. Gott sei Dank konnte er mich brauchen und behalten.

Der Algin war schon überall und auch mal in Berlin, da hat er für Zeitungen geschrieben. Dann hat er Bücher geschrieben, und eines Tages ist er richtig berühmt geworden. In allen Zeitungen standen Kritiken über seine Bücher, es sind Romane. Einer handelt von einer Frau, die im Warenhaus stiehlt, sie ist aber trotzdem gut, ihr blieb nur nichts anderes übrig. Von einem Kassierer wird sie gemein behandelt, und nachher hat sie was mit einem Kellner, an dem erlebt sie aber auch keine Freude.

Der Algin hat uns damals die Bücher nach Lappesheim geschickt. Wir haben auch darin gelesen. Denn es war November, die Weinlese war vorbei und der Fremdenverkehr. Mein Vater hat jeden Abend eine halbe Seite gelesen, aber ich glaube, er ist bei keinem Buch bis zum Ende gekommen.