NACHT - Die Toten von Jütland - Thomas Bagger - E-Book
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NACHT - Die Toten von Jütland E-Book

Thomas Bagger

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Beschreibung

Das Massengrab eines Serienmörders gibt mehr als einen Alptraum preis: »NACHT – Die Toten von Jütland« ist der 1. Teil der dänischen Thriller-Reihe um die Sonderermittler der Task Force 14, die in den düster-brutalen Fällen durch ihre ganz persönliche Hölle gehen müssen. Ein grausiger Leichenfund schreckt das beschauliche Jütland im Süden Dänemarks auf. In die Brust des Toten, der aus dem Leichenschauhaus entwendet wurde, ist Grandberg eingeritzt, der Name der mächtigsten Familie im Dorf – und des örtlichen Polizeichefs. Und neben der Leiche steckt eine Schaufel im Boden, die ein mörderisches Geheimnis enthüllt: das Massengrab eines Serienkillers, der seine jungen Opfer mit kochender Milch verbrühte. Weil Kommissar William Grandberg wegen Befangenheit nicht selbst ermitteln darf, werden die Sonderermittler der Task Force 14 aus Kopenhagen geschickt: David Flugt, eben erst von einem traumatischen Undercover-Einsatz in Rumänien zurückgekehrt, und sein exzentrischer Kollege Lucas Stage. Was sie herausfinden, ist schlimmer als jeder Alptraum … Rasant, brutal, menschlich berührend und überraschend bis zum Finale: Der dänische Autor Thomas Bagger legt eine Thriller-Reihe vor, die vor allem die Fans düsterer skandinavischer Thriller à la Stieg Larsson oder Faber / Pedersen begeistern wird. »Wenn Sie auf fesselnde Thriller und schwerste Verbrechen, eine Vielzahl von Spuren und unlösbare Rätsel stehen, dann sollten Sie ›NACHT‹ lesen. Ein Pageturner, den Sie sich nicht entgehen lassen sollten.« Fru Thulstrup (Krimi-Buchblog)

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NACHT

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Über dieses Buch

Ein grausiger Leichenfund schreckt das beschauliche Jütland im Süden Dänemarks auf. In die Brust des Toten, der aus dem Leichenschauhaus entwendet wurde, ist Grandberg eingeritzt, der Name der mächtigsten Familie im Dorf – und des örtlichen Polizeichefs. Und neben der Leiche steckt eine Schaufel im Boden, die ein mörderisches Geheimnis enthüllt: das Massengrab eines Serienkillers. Aus Kopenhagen werden die Sonderermittler der Task Force 14 geschickt: David Flugt, eben erst von einem traumatischen Undercover-Einsatz in Rumänien zurückgekehrt, und sein exzentrischer Kollege Lucas Stage. Was sie herausfinden, ist schlimmer als jeder Albtraum …

Inhaltsübersicht

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

Prolog

Der Junge stöhnte schlaftrunken. Der Traum hatte seinen Körper noch fest im Griff, trotzdem registrierte er tief in den dunklen Winkeln seines Unterbewusstseins, dass Nacht war und er eigentlich nicht wach sein sollte.

Er hob den Kopf vom Kissen und sah kleine violette Funken, als er blinzelte. Die Atmosphäre im Zimmer war eine ganz andere als vorhin, als er mit der Nase in einem Donald-Duck-Heft und im sicheren Schein der Nachttischlampe eingeschlafen war. Seine Mutter hatte offenbar das Licht gelöscht. Warum tat sie das? Sie wusste doch genau, dass er das nicht wollte.

Er umklammerte das Bettzeug so fest, dass er den Stoff knarren hörte. Er zog die Decke hoch bis ans Kinn, so weit, wie die Mauer reichte, wenn er den Kopf darüber streckte, um das Nachbarmädchen zu beobachten. Die Decke war klamm und roch säuerlich.

Plötzlich wusste er, was ihn geweckt hatte. Der Albtraum. Der, bei dem ihm der Schrei im Hals steckenblieb, weil sein Mund mit zähem Kleister gefüllt war, der sich weder schlucken noch ausspucken ließ, bis ihm am Ende die Augen aus dem Schädel quollen.

Der Junge wimmerte leise. Das Herz galoppierte in seiner Brust. Panik ergoss sich wolkenbruchartig über ihm. Aus ihm heraus. Warmer Urin rann über seine Pobacken. Machte alles klebrig und unappetitlich.

Warum machst du das, warum tust du das immer wieder?, wimmerte er lautlos und hörte, dass die Gedanken die zornige Stimme seiner Mutter hatten.

Er starrte verängstigt in die Dunkelheit. Es fühlte sich an, als läge eines von Vaters schweren Lederbüchern mit Goldschrift auf seinem Brustkorb. Er musste raus hier, brauchte Luft. Er schwang die Füße auf den kalten Boden, schlich zum Fenster und spähte durch den Gardinenspalt hinaus. Im Mondschein sah der Garten hinter dem Haus wie aus einem der Schwarz-Weiß-Filme aus, die seine Mutter immer anschaute, wenn sein Vater auf Reisen war. Er hasste diese Filme. Die schneidenden Stimmen der Schauspieler, das aschfahle Licht vom Fernsehbildschirm, das unheimlich durch den Raum waberte. Es quälte ihn, die graue Silhouette seiner Mutter auf dem großen Sofa zu sehen, in sich gekehrt wie hypnotisiert, eine Zigarette zwischen zwei Finger geklemmt, die vor sich hin glühte.

Der Junge kniff sich in die Wange, ein guter, ablenkender Schmerz. Dann wurde er sich wieder des nassen Flecks in seiner Schlafanzughose bewusst, der inzwischen eiskalt war. Seine Blase drückte, war noch nicht leer.

Er schlich auf Zehenspitzen durch den dunklen Flur, der sich, wie das Nachbarmädchen behauptete, nachts in den pechschwarzen Darm eines Ungeheuers verwandelte. Wer sich traute, bis an sein Ende zu gehen, würde von dem Ungeheuer ausgeschissen und in einem See brodelnder Kacke ertrinken. Er biss die Zähne zusammen. Im Hellen war es weniger unheimlich. Er konzentrierte sich auf das Knarren der Bodendielen, die abwechselnd hellen und tiefen Töne.

Dann erstarrte er.

Da war ein Geräusch. Aus dem Schlafzimmer der Eltern. Er stand jetzt genau vor der Tür. Ein schmaler Lichtstrahl schien durch das Schlüsselloch. Der Junge verlagerte unentschlossen das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Es war ihm strengstens verboten, nachts in ihr Zimmer zu kommen. Egal, was für Albträume er hatte. Seine Mutter hatte ihm nie einen Grund genannt. Es war einfach nur verboten.

Da war wieder das Geräusch. Eine helle Stimme. Ein Flüstern. Ein Wimmern.

»Seid ihr wach?«, fragte er, so laut er sich traute, was nicht sehr laut war.

Das Wimmern wurde lauter, aber die helle Stimme klang trotzdem nicht traurig.

Er starrte auf den magischen Lichtfaden und schob ein Auge vor das Schlüsselloch.

Der Junge schnappte nach Luft. Nicht in seiner wildesten Fantasie hätte er sich ausdenken können, was er jetzt sah. Die Fenster und Spiegel im Schlafzimmer waren neblig beschlagen. Wachs tropfte von den sechs Silberarmen des Kerzenständers, und die Familienfotos über dem Kopfende des Betts schaukelten an ihren Nägeln. Er schluckte einen Klumpen im Hals hinunter. Das Nachbarmädchen räkelte sich auf dem Laken im Bett seiner Eltern. Nackt. Weiß. Sein Vater lag hinter ihr, ganz nah, in seinem schwarzen Brusthaar glänzten Schweißperlen, während er aggressiv seinen Unterleib gegen ihren Po klatschte.

Fest. Fest. Immer fester.

Der schmächtige Körper des Nachbarmädchens wackelte bei jedem Stoß, die Haut über dem Schlüsselbein war rot gefleckt, und sie saugte so heftig die Luft ein, dass ihre Rippen Schatten auf der Haut warfen. Der Junge schaute erstaunt auf die langen Finger seines Vaters, die eine Brust des Mädchens drückten, die kaum seine Hand füllte.

Der Junge starrte entsetzt an sich herunter. Auf die Beule in seiner Schlafanzughose. Sein Pimmel ragte steinhart nach vorn. Instinktiv schob er eine Hand unter den Hosenbund. Rüttelte an seiner Rute.

Sein Atem ging heiser, die Wangen glühten. Er wimmerte benommen, wollte aufhören, aber seine Hand schüttelte weiter, als würde er würfeln.

Der Schritt des Jungen brannte. Ein wohliges Ziehen, das ihn veranlasste, die Augen zu schließen. Er stand vor der Tür. Und war zugleich in dem Zimmer. Bei ihnen. Haut auf Haut. Aneinanderreibend. Stöhnend. Klatschend.

Der Junge öffnete den Mund. Eine heiße Lavawelle zerschmolz ihn innerlich und schoss alles Geschmolzene aus seinem Pimmel heraus. Seine Knie wurden weich wie Gummi.

So hörte er die Schritte hinter sich nicht. Eine Hand legte sich hart über den Mund des Jungen. Ohne Vorwarnung. Sein aufsteigender Schrei erstickte in der warmen Handfläche, als er nach hinten gezerrt wurde. Seine Hacken schlurften über den Boden. Gleich darauf wurde er in sein Bett geschleudert und seine Schultern von zehn Krallenfingen nach unten gedrückt. Die Stimme seiner Mutter ätzte sich durch die Dunkelheit.

»Was um alles in der Welt treibst du da, du Missgeburt?« Sie schüttelte ihn, dass die Bettfedern quietschten. »Antworte mir!«

Er stammelte paralysiert: »I-ich musste pinkeln … Da hab ich ein G-geräusch g-gehört und …«

»Und wolltest ein bisschen spionieren?«

»Nein, nein!« Er drehte das Gesicht zur Seite. Der Atem seiner Mutter stank nach Zigaretten und etwas anderem, herb und moderig, wie saure Beeren. »Warum ist sie in eurem Schlafzimmer? Was macht Vater mit ihr?«

»Mit wem?«

»Dem Nachb…«

Eine schallende Backpfeife.

»Da ist niemand.«

»Aber …«

Die Mutter kniff ihm hart in die Wange.

»Du verdorbenes, widerliches Stück Dreck. Fummelst vor meiner Schlafzimmertür an dir selber rum. Soll ich deinen Vater holen, damit er ihn dir abschneidet? Soll ich?« Die Stimme seiner Mutter war dicht an seinem Ohr, ging aber in alle Richtungen, als richtete sie sich an unsichtbare Zuhörer im Dunkeln. »Musst du unbedingt so werden wie dein Vater? Ihr seid doch Tiere!«

Der Junge traute sich nicht, zu widersprechen. Seine Mutter schwieg auch. Sie atmete ihm ins Gesicht, und es würgte ihn innerlich. Dann lockerte sich der Griff um seine Schultern, und er hörte ihre schlappenden Schritte auf den Bodenbrettern und das kurze, undramatische Klicken der zufallenden Tür.

1

Der Oktobersturm wirbelte richtungslos durch die Nacht. Fingerdicke Regenstrahlen bohrten sich in die Erde der Ackerlandschaft, die sanft hügelig in einen endlosen Horizont aus Schlamm und kahlen Bäumen überging. Die meisten Süderjütländer schlummerten um diese Zeit vermutlich unter ihren warmen Decken oder drängten sich in irgendwelchen Kneipen, in denen das Dröhnen des Unwetters im Lärm von Gelächter und klirrenden Flaschen ertrank. Fuchs und Marder suchten Schutz unter Scheunendächern und Traktorreifen und ließen die nächtliche Beute Beute sein.

Aber sie waren immer da und überall. Die Nachtwanderer.

Ein bohrender Pikser in der Seite holte Claus Fockbek aus einem wohligen Traum. Er grunzte und wedelte den ausgestreckten Zeigefinger weg.

Ein neuerlicher Pikser.

»Das nächste Mal melde dich früher. Jetzt mag ich nicht«, murmelte Claus und drückte die Wange ins Kissen. Er wollte zurück in seinen Traum.

»Danke für die Hilfe, Claus.«

Nicht der Vorwurf seiner Ehefrau, mit der er seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet war, veranlasste Claus, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen. Es war der Unterton in ihrer Stimme. Die Unruhe.

»Da ist was, oben auf dem Wall.«

»Was?«

»Ein Licht. Es geht dauernd an und aus.«

Claus hörte das Gartentor im Wind klappern.

»Warum guckst du nicht selbst nach?«

»Da ist auch so ein Geräusch.«

»Was für ein Geräusch?«, seufzte er.

»Wie eine Sirene, irgendwie.«

»Sirenen und Licht. Wenn das mal nicht die Außerirdischen sind, von denen Bette Niller immer faselt.« Claus schob sich unter Carinas warme Decke. »Wenn das unsere letzte Nacht auf Erden ist, lass uns lieber keine Zeit vergeuden.«

Ihr spitzer Finger schob ihn weg. »Memme. Soll ich den Mädels vielleicht erzählen, dass du deine eigene Frau bei diesem Dreckswetter rausschickst?«

Claus blinzelte. Jetzt war er endgültig hellwach. Der gute Ruf eines Süderjütländers stand auf dem Spiel, wenn sich der Frauenverein zum Kaffeekränzchen traf. Mit einem Seufzer schwang er die Füße über die Bettkante.

 

Claus ging nach draußen. Sein Bauernhof lag am Rand eines hügeligen Naturschutzgebiets, dessen höchster Punkt der Kamm der Wallanlage Smøl Vold war, 46 Meter über dem Meeresspiegel. Niemand wusste Genaueres über den Ursprung des Walls, außer dass die Landschaft so wie der Rest Süderjütlands im Laufe der letzten zwei Eiszeiten geformt worden war. Claus erinnerte sich vage an eine Erklärung aus der Schulzeit, dass die Wallanlage in der Eisenzeit eine Art Kultstätte gewesen sein sollte.

Er blieb wie angewurzelt stehen. Das mystische Licht war jetzt deutlich oben auf dem Wallkamm zu sehen. Er schluckte. Smøl Vold galt bei den meisten Bewohnern als Ödland, aber wirklich öde war es dort selten. Irgendetwas war immer unterwegs. Jetzt hörte er auch das Geräusch. Sirenenheulen durchschnitt die rauschenden nächtlichen Luftmassen.

Er überquerte den Hofplatz. Die Schweinefarm war seit vier Generationen im Besitz seiner Familie. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass sein ältester Sohn der Fünfte in der Reihe sein würde. Aber für diesen Generationenwechsel war Claus in dieser Nacht noch nicht bereit. Bevor er in die Dunkelheit hinausstapfte, holte er die Schrotflinte seines Großvaters aus dem Geräteschuppen.

Er stieg über den Zaun und lief durch das hohe Wildgras den Hang hinauf. Der Geruch nasser Erde legte sich zäh auf seine Nasenschleimhaut. Der Regen prasselte ohrenbetäubend auf die Kapuze seiner Regenjacke, und sein einziger Orientierungspunkt war der weiße Lichtfleck auf dem Hügelkamm.

Wegen der heimtückischen Fuchsbauten und glitschigen Steine im hohen Gras überlegte er kurz, die Taschenlampe einzuschalten. Aber er wollte sich in der Dunkelheit nur ungern zu erkennen geben.

Die Sirene heulte im Wind wie das weit entfernte Weinen eines Babys. Das Geräusch weckte zusammenhanglose Kindheitserinnerungen. Die Geschichten von der Hellseherin Fanny, einer unverheirateten Frau aus dem 19. Jahrhundert, die in einem schwarzen Konfirmationskleid herumspukte. Nachdem sie eine schwere Fieberattacke überlebt hatte, hatte sie seherische Fähigkeiten. Die verbitterte Jungfrau jammerte heiser in der Nacht, auf der ewigen Suche nach einem Mann, den sie mit sich unter die Erde ziehen konnte.

Claus schaute über die Schulter zurück. In einigen um die Wallanlage verteilten Höfen brannte Licht. Am Horizont schimmerte das Mondlicht auf der Flensburger Förde.

Auf der offenen Fläche kamen die Sturmböen in kräftigen Schüben, der Regen peitschte scharf prickelnd über ihn hinweg. Jetzt hörte er, dass die Sirene nicht der Klagegesang der Jungfrau Fanny war, sondern ein mechanisches, grelles Geräusch, das nicht hierhergehörte.

Ein paar Meter vor dem blinkenden Licht blieb er stehen und kniff die Augen zusammen. Da stand ein merkwürdiger Apparat, so ähnlich wie die Bewegungsmelder im Gemeindehaus, die automatisch das Licht einschalteten. Dieser hier war jedoch größer und mit einer blinkenden LED-Birne ausgerüstet. Der Sensor war an eine Stange montiert, die in der Erde steckte.

»Hallo …«, rief Claus nervös.

Die Sirene war aus unmittelbarer Nähe ohrenbetäubend laut.

Er hob die Stimme. »Hallo! Ist da jemand?«

Niemand antwortete. Nur sein Gehirn, das ihm sagte, dass er umkehren und bis zum Hellwerden warten sollte. Aber sein süderjütländischer Stolz zwang ihn, der Sache auf den Grund zu gehen. Er konnte sich nicht selbst belügen. Er hatte sie gesehen. Die Gestalt am Fuß der Apparatur.

Claus machte einen Schritt nach vorn und schaltete nun doch die Taschenlampe ein, richtete den Lichtkegel langsam auf die Gestalt. Die Schrotflinte hielt er umklammert wie ein Kreuzritter die heilige Ikone, sein Puls pochte hart in den Schläfen. Endlich fing der Lichtkegel das ein, was da am Boden lag. Im gleichen Augenblick fegte ein Windstoß ihm die Kapuze vom Kopf. Er kniff geschockt die Augen zusammen, als er in das gequälte Gesicht schaute, das ihn mit leerem Blick anstarrte.

Das Letzte, was Claus rückwärts taumelnd dachte, war, dass das nicht sein konnte, dass er immer noch in seinem Traum gefangen war. Denn es war das zweite Mal innerhalb von drei Tagen, dass er diesen toten Menschen sah.

 

Carina Fockbek starrte aus dem Fenster und trommelte mit den Fingernägeln gegen den Rahmen. Sie sah den Lichtkegel von Claus’ Taschenlampe am höchsten Punkt vom Smøl Vold. Was machte der Sturkopf da oben. Sie hatte nun doch ein schlechtes Gewissen, ihren Mann in das Mistwetter rausgeschickt zu haben.

Sie schnappte erschrocken nach Luft, als der Lichtkegel plötzlich abkippte und direkt in den Himmel strahlte. Carina wich vom Fenster zurück in den Raum. Das waren die Außerirdischen, die Claus mitnehmen wollten! Sie sah kurz zwei Lichtpunkte aufleuchten. Nicht wie das weiße Blitzen, das sie vorher gesehen hatte. Das Licht war dunkler, orange. Als Carina Fockbek die zeitlich verzögerten Schallwellen der zwei Schrotflintenschüsse hörte, war sie schon auf dem Weg zum Telefon.

2

Jenny Seland saß auf der Bettkante und rieb sich mit den Handflächen übers Gesicht, das sich verquollen und schlaff anfühlte, als hätte ihr jemand Quecksilber unter die Haut gespritzt. Nach dem vierten Glas gestern Abend hätte sie aufhören sollen. Rotweinkater bescherten ihr immer dieses unangenehm aufgedunsene Erwachen am Morgen danach.

Sie hob ihren dröhnenden Kopf. Das Morgenlicht verfing sich mit einem perlenbestäubten Schimmer in den Gardinen. Aus der Nachbarwohnung drangen undefinierbare Schläge durch die Wand, und von unten stieg der Duft von Kaffee und Toastbrot zu ihr hoch.

Der Geruch verursachte Jenny eine Gänsehaut.

Zusätzlich zu dem Kater war sie mit der deprimierenden Erkenntnis erwacht, dass es zwei Typen Männer auf der Welt gab: den, den man eine Sekunde sah und für den Rest des Lebens nicht mehr vergaß. Und den, mit dem man eine Beziehung einging.

Von den beiden fürchtete Jenny letzteren ganz klar am meisten. Den sicheren Mann mit dem sicheren Job und den sicheren Freizeitinteressen. Der sicheren Sex lieferte mit Bürokratenküssen, die einer fantasievollen Korrektur bedurften, wenn die Freundinnen Details verlangten. Der jeden Sonntag seine Laufschuhe anzog und seine feste, sichere Runde lief und sich immer erst einmal das beste Stück wusch, bevor er galant um einen Blowjob bat. Den Mann, der einer Frau die Lebensjahre stahl, wie ein Haarriss im Reifen, mit dem man für den Rest seines Lebens weiterfahren konnte, ohne zu ahnen, dass er überhaupt da war.

Jenny blinzelte den Schlaf aus den Augen und schielte auf die andere Bettseite. Der rebellische Erbe eines der größten Bau- und Anlageunternehmen Süderjütlands schlief sicher und fest auf dem Bauch.

William Grandberg, 41 Jahre alt, etwa 1 Meter 90 groß, athletischer Körperbau mit einer südeuropäischen, jugendlichen Glut und dem ansteckendsten, lebendigsten Lachen, das man sich vorstellen konnte. Zuletzt gesehen, wie Gott ihn geschaffen hatte, in Gesellschaft einer unidentifizierten, peinlich berauschten Frau.

Jenny presste die Lippen aufeinander. In dem einfallenden Licht sahen Williams braune Locken wie mit mattem Kakaopulver bestäubt aus. Die herabgerutschte Decke gab die beginnende Wölbung zweier wohltrainierter Pobacken frei.

Diese Pobacken hatte sie heute Nacht fest im Griff gehabt.

Tränen schnürten ihren Hals zusammen.

In der Regel waren die spannendsten, charmantesten Sexgötter entweder abenteuerlustige Ehemänner oder brüllende Soziopathen. Aber hier vor ihr lag die Nadel im Heuhaufen. Der Mann mit der heiligen Dreifaltigkeit: sexy, Single und intelligent. Sie hatten ein paar fantastische Monate zusammen gehabt. Bis gestern Abend. Bis zu seinem: Ich glaube, wir funktionieren besser als Freunde.

Jenny war erstarrt, den Mund weit offen, als William ihr ohne Vorwarnung dieses verfluchte, triefende Klischee in den Rachen gestopft hatte. Und sie konnte sich nicht einmal im Zorn von ihm befreien, weil er schlau genug gewesen war, ihr nie irgendetwas zu versprechen.

Wie so oft hatte sie sich von ihrer Gutgläubigkeit lenken lassen, die seit ihrer Kindheit wie zäher Lack an ihr klebte. Mein süßer Flaumkopf hatte William sie scherzend genannt. Du bist zu unkritisch. Das war gar nicht böse gemeint, nur der Rat, ein wenig wachsamer durch die Welt zu gehen.

Grundsätzlich widersprach Jenny ihm auch gar nicht. Sie gab viel zu schnell nach und hatte ein etwas zu ausgeprägtes Bedürfnis, verstehen zu wollen. Andererseits zog sie auch Stärke aus ihrer Rolle als Gegengewicht zu dem Macho-Dampfwalzen-Archetypus bei der Polizei.

Sie wurde gebraucht.

Nur hier nicht. In diesem Schlafzimmer. Hier hatte sie offensichtlich das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten. Nicht ohne sich das Herz brechen zu lassen und die Phase eins des Liebeskummers zu durchlaufen: sich die Birne abzuschießen und das Arschloch noch ein letztes Mal in sich zu spüren.

Check.

Der nächtliche, leidenschaftliche Vollrauschsex rollte über ihre innere Leinwand. Sie waren halb bekleidet ins Bett getaumelt. Flackernde Kerzen, über die Wand huschende Schatten. Finger überall, Lecken und Küssen, ruckartige, sprunghafte Bewegungen, bis die Explosion sie auseinandergeschleudert hatte. Ihre letzte Erinnerung war die Nacht, die sich unzusammenhängend und in flackerndem Gegenlicht zurückzog wie eine Filmrolle, die sich aufgehängt hatte.

Jenny sammelte ihre Sachen vom Boden auf und verließ das Schlafzimmer. Sie zog sich in der Küche an, die wie der Rest von Williams Wohnung eingerichtet war: in einer Mischung aus teurem dänischen Design und praktischem IKEA-Charme.

Jenny hakte ihren BH zu und zog das elegante Seidenkleid über den Kopf. Alles drehte sich wie nach einer langen Autofahrt. Drei Gläser Wasser später starrte sie katatonisch auf ihre Hand, die den Extraschlüssel zu Williams Wohnung festhielt.

Sein Handy auf dem Küchentisch vibrierte. Jenny schaute misstrauisch darauf. Wer rief so früh an einem Samstagmorgen an? Eine andere Frau? Oder war Jenny vielleicht selbst die andere? War es so klischeehaft? Sie ging zu dem Tisch, um einen Blick auf das Display zu werfen.

»Wer ist es?«

Jenny fuhr herum. »Fuck, hast du mich erschreckt!«

William lehnte im Türrahmen. Nackt, unbeschreiblich appetitlich. Er rieb sich verschlafen die Augen.

»Gib her.«

Jenny legte das Handy in seine ausgestreckte Hand.

»Unbekannte Nummer«, murmelte sie beschämt.

»Sie sprechen mit William Grandberg, Ermittlungs-, ähm, Chef der Mordkommission, Polizeidirektion Esbjerg.«

Die tief brummende Männerstimme am anderen Ende bescherte Jenny eine erbärmliche Erleichterung.

»Könnten Sie das bitte noch mal wiederholen?«, sagte William.

Ihr Blick streifte seinen Schwanz. Das hübscheste Exemplar, das ihr je unter die Augen gekommen war. Die linke Socke saß noch immer an seinem Fuß.

»Wo, sagen Sie?«, stieß William aus und seine Bauchmuskulatur zog sich zusammen.

Jenny schaute hoch.

»Wer ist am Fundort? … Wurde der Mann festgenommen? … Okay. Habt ihr die Wallanlage abgesperrt?«

Der Mann am anderen Ende antwortete mit einem kurzen, effektiven Brummen.

»Gut. Ich bin unterwegs.«

3

Hier ist es«, sagte William und ging vom Gas, zum ersten Mal, seit sie von seiner Wohnung in Esbjerg losgefahren waren. William blinkte mit dem Fernlicht den Streifenwagen an, der mit rotierendem Blinklicht quer über dem Weg stand. Jenny sah die ausdruckslosen Gesichter hinter der Windschutzscheibe einen raschen Kennzeichencheck durchführen, ehe der Streifenwagen Platz machte und sie durchließ.

William bog auf einen holperigen Schotterweg ab. Jenny musterte ihn von der Seite. Seine Schneidezähne kneteten die Unterlippe, und ein verbissener Schatten verdrängte das Tageslicht aus seinem Gesicht. Sie ahnte den Grund. Er war gerade erst als Nachfolger des frisch pensionierten Børge Kofoed zum Chef der Mordkommission befördert worden. Und der Fall, der nun auf seinen Tisch geflattert war, sah aus, als würde es sein erster großer werden. Den er mit rotweinverklebtem Hirn und der Ex im Schlepptau antrat.

Was sicher nicht einmal Williams größte Sorge war.

Etliche Bewohner dieses Landstrichs waren der Meinung, dass ein Grandberg schlicht und ergreifend nichts bei der Polizei verloren hatte. William und seine beiden Brüder stammten aus einer süderjütländischen Familie, die fester Bestandteil der lokalen Gerüchteküche war. Alle kannten sie. Und jeder kannte jemanden, der einen kannte, der gehört hatte, dass …

Diese Tratscherei war Jenny ein Dorn im Auge. William selbst behauptete, sich damit arrangiert zu haben. Er behauptete, damit leben zu können, dass sein Nachname die Skepsis der Leute wie ein Megafon verstärkte. Und dass er in seiner neuen Rolle als Chef der Mordkommission in einem der größten Polizeidistrikte des Landes nicht weniger Gegenwind erwartete. Dem zum Trotz wusste Jenny, dass er extrem hohe professionelle Ansprüche hatte. An seine Kollegen. An sich selbst. Er verlangte von jedem, seine Arbeit mit Stolz und Leidenschaft auszuführen, was er unmissverständlich in seiner ziemlich unsensiblen Rede zu Børge Kofoeds Abschiedsfeier gesagt hatte: »Von nun an ist bei uns kein Platz mehr für egozentrische Einzelgänger mit eigenen Regeln und Methoden. Für Typen, die persönliche Siege über den Erfolg der Gemeinschaft stellen. Wir wollen eine moderne Polizeieinheit sein, die begreift, dass Zusammenarbeit und das Teilen von Wissen unsere größten Stärken sind.«

Das Schweigen der Gäste war, außer bei Børge Kofoed, schwer zu deuten gewesen. Alle wussten, dass es Kofoed in seiner langen Dienstzeit als Chef der Mordkommission des Polizeidistrikts Süd- und Süderjütland ein Hauptanliegen gewesen war, sich selbst den Rücken frei zu halten. Williams Worte waren ein unerwarteter Schlag in die Magengrube gewesen, und Kofoeds langjährige Freundschaft mit Williams Vater, Laust Grandberg, machte den Dolchstoß nicht gnädiger. Im Gegenteil.

 

Der Parkplatz von Smøl Vold war ein ungepflegter, von wild wachsenden Laub- und Nadelbäumen umringter Matschplatz. Sie stiegen aus. Der Wind hatte sich gelegt, unentschlossene Regentropfen raschelten im Gestrüpp.

Jenny und William folgten einem rutschigen, von herabgefallenem Laub rot und gelb gefärbten Trampelpfad. Die von Williams Frau geliehenen Gummistiefel drückten über dem Spann, aber die Alternative wären ihre High Heels vom Vorabend gewesen.

Williams Frau. Jenny hatte keine Ahnung, wie sie sie sonst bezeichnen sollte.

Sie kamen auf offenes Gelände. Auf dem höchsten Punkt standen zwei Polizisten. Einer von ihnen kam ihnen entgegen.

»Moin, Niels Christensen, Station Sønderborg.« Der Polizist begrüßte beide mit einem energischen Händedruck.

Jenny schaute auf den Wallkamm. Die Silhouette des zweiten Polizisten zeichnete sich vor dem grauen Himmel ab. Er war über den auf der Erde liegenden Körper gebeugt.

»Ist der Bereich abgesperrt?«, fragte William.

»Wir haben Leute an allen Zufahrtswegen. Das Gebiet umfasst etwa einen Hektar. Ich hielt Absperrband nicht für die umweltfreundlichste Lösung.« Christensen lachte nervös.

»Schon in Ordnung«, sagte William. »Ich schicke ein paar Fußstreifen aufs Gelände. Die Journalisten werden garantiert versuchen, möglichst nah an den Toten heranzukommen. Apropos, wollen wir …?«

»Ja. Da wäre nur noch ein winziges … Detail, das Sie kennen sollten, bevor Sie sich die Leiche ansehen.«

»Okay?«, sagte William. Professionell. Neutral.

Der Beamte warf seinem Kollegen einen raschen Blick über die Schulter zu.

»Jetzt reden Sie schon!«, platzte William in einem Ton heraus, bei dem sich Jennys Nackenhaare aufstellten. Er atmete tief ein und senkte die Stimme. »Kenne ich den Toten?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Christensen. »Aber, ähm, ich glaube, er kennt Sie.«

 

Der Wind raschelte in dem hohen Gras auf dem Kamm von Smøl Vold. Am Horizont war die Flensburger Förde als unbeweglicher dunkelblauer Fleck zu sehen, um die sich Süderjütlands hügelige Landschaft erstreckte, so weit das Auge reichte. Eine fast schon spürbare Stille senkte sich über die vier Polizisten, die auf den Leichnam herabschauten und eine Erklärung für das suchten, was sie da sahen.

Jenny hatte schon viele Beispiele für den pietätlosen Umgang mit Leichen gesehen, aber nichts hiermit Vergleichbares. Das Ganze glich einer Inszenierung, einem arrangierten Szenario.

Der Unterleib des Toten war mit einer Plane zugedeckt, die mit Zeltheringen in der Erde festgesteckt war. Der Mund des Mannes war weit aufgerissen, eingefroren in der Totenstarre. Die trockenen, verschrumpelten Lippen formten ein unheimliches schwarzes Loch in den Hals hinunter. Es gab keine sichtbaren Leichenflecken am Torso oder den Armen. Was vermuten ließ, dass der Mann auf dem Rücken gelegen hatte, nachdem das Herz aufgehört hatte zu schlagen, und dass die Schwerkraft das stillstehende Blut auf die Unterseite des Körpers gezogen hatte. Die Haut des Mannes, die nicht mehr von der Muskulatur kontrolliert wurde, war eingesunken und spannte über den vorstehenden Knochen. Auf den ersten Blick waren keine Einstiche, Verletzungen nach stumpfer Gewalteinwirkung oder Schusswunden zu sehen. Er war einfach nur ein alter toter Mann.

Bis man es entdeckte. Das Detail.

Quer über den Brustkorb des Mannes war eine Reihe Buchstaben geritzt, aber wegen der Blutleere im Körperinnern ließ sich das Geschriebene nur mühsam über die zerfransten Schnittränder der Haut entziffern.

 

GRANDBERG

 

Jenny musste sich regelrecht anstrengen, William nicht anzustarren. Ähnliche Bemühungen nahm sie auch bei den zwei uniformierten Kollegen wahr. Sie hatten auf ihn gewartet. Auf die Reaktion des neuen Chefs der Mordkommission, wenn er seinen Familiennamen eingeritzt in die Haut einer Leiche sah.

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte William tonlos.

»Ein Landwirt aus dem Ort. Claus Fockbek. Seine Frau hat die Lichtblitze von dem Ding da gesehen.« Niels Christensen zeigte mit einem Nicken zu dem Apparat hin, der in Kopfhöhe der Leiche in den Boden gerammt war. Er hatte ungefähr die Größe der Gartenlaternen, die den Plattenweg zum Haus von Jennys Mutter säumten.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Das ist zur Schädlingsabschreckung«, erklärte der andere Polizist. »Mein Bruder hat was Ähnliches auf seinem Hof. Kräftiges Blinklicht und laute Sirene. Das Blinken und Heulen hält Füchse, Marder und Raubvögel von den Hühnern fern.«

»Hat der Landwirt was angefasst?«, fragte William.

»Negativ. Der arme Kerl hat so einen Schock gekriegt, dass er gestolpert ist und zwei Schüsse aus seiner Schrotflinte in die Luft abgefeuert hat.«

»Dann gehört der nicht ihm?«, sagte William mit einem Blick auf den Spaten, der neben der Leiche im Boden steckte.

»Negativ«, sagte Niels Christensen wieder und sah auf seinen Notizblock. »Aber Fockbek gibt an, dass der Tote von hier ist. Gustav Thygesen, 81 Jahre alt und Hobby-Auktionator bei den lokalen Landwirtschaftsauktionen. Er ist vor drei Tagen nach einem Herzinfarkt gestorben. Mitten auf einer Auktion.«

Jenny legte die Stirn in Falten. »Das heißt, dass die Leiche gestohlen wurde?«

»Jepp. Gustav sollte laut Plan morgen beerdigt werden.«

»Haben Sie schon den Bestatter kontaktiert?«

»Ja.« Niels Christensen schlug sich nervös mit dem Notizblock auf die Handfläche. »Was glauben Sie, hat das alles zu bedeuten?«

William fuhr sich dreimal schnell mit den Fingern durch die Haare.

»Wir brauchen mehr Leute, um das Gelände abzusuchen. Schleifspuren, Stoffreste, DNA, alles, was mit dem Leichenfund in Verbindung gebracht werden kann. Und der Bereich muss vollständig abgesperrt werden. Sorgen Sie dafür, dass alle Schaulustigen fotografiert und alle Kennzeichen vorbeifahrender Fahrzeuge registriert werden.«

William starrte stumm auf die Leiche, bis die beiden Polizisten außer Hörweite waren.

»Das ist jetzt ein echtes Problem.« Er lächelte mit einer schwachen Mattigkeit in den Mundwinkeln. »Wenn der Polizeipräsident spitzkriegt, dass mein Nachname in den Brustkorb einer Leiche geritzt ist, wird er sofort familiäre Befangenheit zu bedenken geben. Mein erster Fall als Chef der Mordkommission, und den soll ich von der Seitenlinie verfolgen.«

Jenny spitzte die Lippen. »Weißt du, ob jemand aus deiner Familie den Toten kennt?«

»Ich habe keinen Kontakt zu Elias. Der ist da draußen mit seiner ›Kirche‹ verwachsen. Und Andreas und Laust sehe ich auch nur alle Jubeljahre.« William kratzte sich am Kinn. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass eins meiner Familienmitglieder mit einem Typen wie dem hier Umgang pflegt.«

Jenny ignorierte die arrogante Wortwahl. William war in einer anderen Welt aufgewachsen. Internationale Internate, Au-pair, hohe Steinmauern und Privatchauffeur. Er mochte der Oberklasse den Rücken gekehrt haben, aber die Oberklasse schimmerte weiter in seinem Wesen und in seinem unterkühlten, leicht blutleeren Habitus durch. Wie bei ihren gemeinsamen Abendessen in irgendwelchen Restaurants – auf dem Schoß ausgebreitete Serviette, Ellenbogen am Oberkörper, gerader Rücken. Ein etwas volksnäheres Gebaren täte seinem Auftreten sicher gut, beispielsweise, die Schuhe auszuziehen, wenn er eine Wohnung betrat, oder das Befolgen all der ungeschriebenen, süderjütländischen Regeln.

»Und?«, sagte William mit einem Fingerschnipsen. »Was haben wir?«

»Eine Menge.« Jenny betrachtete den Toten und die einzelnen Elemente der Inszenierung. »Außer den eingeritzten Buchstaben. Die Plane bedeckt den Unterleib des Verstorbenen, damit er nicht entblößt allen Blicken ausgesetzt ist. Sie ist extra mit Zeltheringen gegen den Wind festgesteckt. Als respektiere der Täter die Verletzlichkeit des Toten.«

»Mach weiter.«

»Zu diesem fürsorglichen Vorgehen passt auch der Schädlingsvertreiber. Der Täter will sichergehen, dass der Verstorbene nicht von Aasfressern verunstaltet wird. Aber das Gerät erfüllt auch noch eine weitere Funktion: Es zieht Aufmerksamkeit auf sich. Licht, Geräusche. Um was auch immer es hier geht, es schien ihm wichtig zu sein, dass er schnell gefunden wird.« Jenny schwieg.

»Spuck’s aus«, sagte William. »Du hast doch schon eine Idee, was das hier sein könnte.«

Jenny wischte sich eine Locke aus den Augen.

»Es ist nur ein Gedanke, aber möglicherweise ist der Verstorbene einfach so etwas wie ein rotes Tuch. Der Täter weiß, dass er mit dem Leichenfund die Aufmerksamkeit der Polizei bekommt. Immerhin stehen wir jetzt hier.«

Sie gestikulierte mit einem Armschwung über das weite, offene Naturschutzgebiet.

»Wir müssen die Schnittwunden und den Körper auf DNA-Spuren untersuchen.«

»Natürlich. Aber ich glaube nicht, dass der Verstorbene das Verbrechen ist, sondern eine Botschaft.«

William blies die Wangen auf.

»Dann sind mein Nachname und der in der Erde steckende Spaten … ein Rebus, ein Bilderrätsel?«

»Genau. Und ich glaube auch, dass ich die Lösung kenne.«

»Aha?«

Jenny verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein. Das regennasse Gras schwappte unter ihren Gummistiefeln.

»Da liegt etwas in der Erde.«

4

David Flugt öffnete das Küchenfenster, zündete seine Zigarette an und blies den Rauch in das grau verwischte Himmelbild über Rødvig. Sein Blick fiel wie üblich auf den rechteckigen Ausschnitt der Hafenanlage, den man zwischen den kleinen, schiefen Stadthäusern vor seinem eigenen noch kleineren und schieferen Stadthaus sehen konnte. An den Masten der Kutter blinkten Lichterketten, der Wind zottelte an den Persennings der an Land geholten Segelboote, und im Lösch- und Lagerhafen zuckelte eine einsame heruntergekommene Gestalt in Sicherheitsweste herum. Der Kaufmannshof am Vestkajen, das gelbe Packhaus und die Schiffswerft dienten heute nur noch als Geschichtsdenkmäler oder modernisierte Wohnungen.

David aschte in die vertrocknete Topfpflanze auf dem Fensterbrett und betrachtete den edlen dreimastigen Schoner, den derzeitigen Touristenmagneten. Es lag eine schlummernde Urkraft in den festgezurrten Segeln, die nur darauf warteten, freigelassen zu werden und stolz im Wind ihre Hahnenbrust aufzuplustern.

David ging zu seinem Computer im Arbeitszimmer und klickte mit der F5-Taste die aktualisierte Nachrichtenseite von TV2 an. Die Top-Nachricht war die gleiche wie bei den fünf F5-Eingaben davor. Unwetterwarnung. Ein Oktobersturm, der nächste Woche Dänemark erreichen sollte. Die Meteorologen vermuteten, dass die südlichen Regionen des Landes am härtesten betroffen sein würden. Die Süderjütländer bereiteten sich darauf vor, indem sie ihre Fenster verbarrikadierten und gefährdete Bäume fällten.

Fight or flight.

Er drückte die Kippe in der Topferde aus.

Über seinem Kopf im ersten Stock knarrten die Bodendielen. Er schaute an die Decke, sah die bröckeligen Stuckornamente, die Spinnenweben, an die er nicht rankam. Und tippte wieder auf die F5-Taste.

Oktobersturm. Panik.

Die Segel würden noch länger am Mast verharren müssen.

David ging zurück ans Küchenfenster. Meditierte, ob er sich noch eine Zigarette anzünden sollte. Fand Ruhe in der Nähe des Sturms.

In der Aussicht auf Chaos.

5

Zwei Stunden. 120 Minuten. 7200 Sekunden.

In diesem kurzen Zeitraum war es den größten Nachrichtenmedien gelungen, jede noch so kleine unebene Schlammmulde in der Wallanlage zu okkupieren. Die Stimmung erreichte bereits den Siedepunkt. Lautes Aktivitätsgeflirre um die Übertragungswagen, Teleobjektive, Zusammenstöße zwischen Bewohnern und Journalisten und eine Festnahme wegen Übertretens einer Polizeisperre.

Aus diesem Grund hatte William Grandberg weitere zwei Hundestaffeln vom Stadtteil Süd angefordert und an die Journalisten eine Warnung vor freilaufenden Hunden im Gelände herausgegeben. Danach hatte er Unterstützung vom Landeskriminalamt in Fredericia angefordert, die unmittelbar das gesamte Team von der Wallanlage abgezogen und eine Polizeidrohne losgeschickt hatten, um Bilder vom Fundort zu machen, bevor er noch weiter kontaminiert wurde.

William, Jenny und der Rest der Tatortgruppe standen am Fuß des Walls unter den schwefelgelben, tropfenden Blättern eines Laubbaumes. Sie versuchten, eine Grabungsgenehmigung einzuholen, nachdem Jenny gegoogelt hatte, dass der Fundort Naturschutzgebiet war. Die letzte Genehmigung für eine Grabung hatte 1932 das Nationalmuseum erhalten, aber sie hatten nichts von Bedeutung gefunden. In den folgenden Jahrzehnten hatte Smøl Vold einen ungestörten Dornröschenschlaf gehalten. 1931 hatte eine Genossenschaft die Wallanlage erworben, um zu verhindern, dass sie in deutschen Besitz fiel. Und das Ermittlerteam versuchte nun, eine Person dieser Genossenschaft aufzustöbern.

»Darum muss sich das Stadtteilamt kümmern«, sagte William. »Wir vergeuden damit nur unsere Zeit.« Er wandte sich an den Kriminaltechniker mit der überdimensionalen Fernbedienung. »Wann ist die Drohne fertig?«

»In wenigen Minuten«, antwortete der Mann konzentriert, die Zungenspitze im Mundwinkel.

William folgte mit mürrischem Blick der über ihren Köpfen surrenden Drohne, die den Tatort fotografierte und vermaß. »Die Daten werden uns nichts nützen.«

Jenny drückte Williams Schulter. Er schüttelte ihre Hand ab. Für eine kurze Sekunde hatte sie vergessen, wo sie waren. Niemand durfte von ihrer Beziehung wissen. Ex-Beziehung. Sie versuchte, die gekränkte innere Stimme zu unterdrücken, die zischte, dass William sich extrem schnell auf eine platonische Beziehung umgestellt hatte.

»Grandberg?«, rief ein Polizist von dem Trampelpfad zwischen den Bäumen. »Alfa-4 meldet einen Zivilisten unten an der Absperrung. Er will mit Ihnen reden.«

»Keine Zivilisten am Tatort«, sagte William.

Der Beamte räusperte sich. »Das könnte ein Problem werden.«

»Warum?«

»Weil der Zivilist behauptet, dass ihm der Tatort gehört.«

Die Ermittlungsgruppe wartete gespannt. Schließlich tauchte auf dem Weg ein beleibter älterer Herr in Regenjacke auf. William und Jenny gingen dem ungebetenen Gast entgegen.

»Moin! Anders Fode, Landwirt, Hobbyarchäologe und Vorstandvorsitzender der Smøl Vold-Genossenschaft.«

Die Titel wurden mit schnaufender Stimme verkündet, begleitet von einem feuchten Händedruck für jeden von ihnen.

»William Grandberg, Chef der Mordkommission für den Polizeidistrikt Süd- und Süderjütland. Das ist meine Kollegin Jenny Seland, Kriminalkommissarin. Wir haben versucht, Sie zu erreichen.«

»Ich weiß. Ich habe nicht geantwortet, weil ich schon auf dem Weg war.« Er hievte den Rucksack von seiner Schulter. »Meine Frau hat Kaffee gekocht und Traumkuchen gebacken. Wer möchte?«

Jenny hatte schon gesundere Körper sich mit einem Apfel im Maul an einem Spieß über dem Feuer drehen sehen, wobei Anders Fode mit seinen roten Wangen und dem federgeschmückten Cowboyhut etwas Liebenswertes ausstrahlte, wie ein kauziger Wissenschaftler oder Umweltaktivist.

»Kein Picknick an einem Tatort«, sagte William steif.

»Meine Frau ist aber eine hervorragende Bäckerin.« Fode schob sich ein Stück Kuchen in den Mund und schraubte den Deckel von der Thermoskanne. »Dann ist der selige Gustav also auf meiner Wallkrone gelandet.«

William atmete tief ein.

»Wir haben versucht, Sie zu erreichen, weil wir vermuten, dass in dem Wall etwas vergraben ist.«

»Und was sollte das sein?«

»Das würden wir gerne herausfinden.«

Fodes Kiefer hörten auf zu mahlen.

»Wenn ihr noch nicht mal wisst, wonach ihr sucht, wo wollt ihr dann bitte schön anfangen zu graben?«

William schob den Unterkiefer vor.

»Kriegen wir Ihre Genehmigung zum Graben oder nicht?«

»Nein.«

»Aber …«

»Das ist geschütztes Gelände. Und unsere Genossenschaft ist eine gemeinnützige Gesellschaft. Niemand bestimmt über uns, außer wir selbst.«

»Das kann ein Durchsuchungsbeschluss sicher ändern.«

Fode lachte laut und herzhaft. »Ein Durchsuchungsbeschluss für was genau? Ihr wisst ja noch nicht mal, wonach ihr grabt.«

Die Drohne kam im Sinkflug aus der Luft.

»Der Tatort ist wieder freigegeben«, sagte der Techniker.

Fode packte Kaffee und Kuchen zurück in den Rucksack. »Meine Frau wird sehr enttäuscht sein, wenn sie hört, dass ich den ganzen Kuchen allein gegessen habe.«

»Das scheint für Sie doch nichts Ungewöhnliches zu sein«, murmelte William.

»Wissen Sie was, ich nehme gern ein Stück«, sagte Jenny. »Und ich bin sicher, dass meine Kollegen sich auch über einen heißen Kaffee freuen. Stimmt’s, Leute?«

Die Techniker nickten mit einem Seitenblick auf William.

»Und dem Chef täte was Süßes auch ganz gut«, sagte Jenny mit einem Lächeln.

William nickte verkrampft.

Fode verteilte Kuchen und Kaffee in kleinen Plastikbechern.

»Dann können wir uns ja endlich gegenseitig helfen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Jenny mit vollem Mund.

»Ich kann euch unter die Erde bringen. Ohne einen einzigen Spatenstich.«

6

Es war Viertel nach drei. Jenny schaute zusammen mit William und dem Einsatzleiter des LKA den Technikern bei der Arbeit zu, die in ihren weißen Schutzanzügen herumliefen und Fotos machten, den Tatort vermaßen und Beweismaterial in Zipbeuteln sicherten. Die Aufnahmen der Drohne zeigten eine breite Schleifspur im Gras, die darauf schließen ließ, dass der Leichendieb von der südlichen Seite der Anlage gekommen war. Die Streifenwagen waren ausgeschwirrt, um die Nachbarschaft abzuklappern und Videoaufnahmen von Tankstellen, Firmen und Privathäusern einzusammeln.

Jenny schaute zu dem kahlen, dem Wetter ungeschützt preisgegebenen Wallkamm hoch. Das vom meteorologischen Dienst für die nächste Woche angekündigte Unwetter würde die Ermittlungen komplett lahmlegen, weshalb William sich genötigt gesehen hatte, Anders Fodes Angebot anzunehmen.

Wie sich herausstellte, gehörte Fodes Eigenbetitelung als »Hobbyarchäologe« zu den typisch süderjütländischen Understatements. Die Genossenschaft, deren Vorsitzender er war, hatte Zugriff auf eines der wenigen Georadare des Landes. William hatte Fode grünes Licht gegeben, das Gerät so schnell wie möglich an den Tatort zu bringen.

»Es ist im Anmarsch«, krächzte es aus Jennys Funkgerät, und im selben Augenblick tauchte Fodes plumpe Gestalt auf dem Pfad auf. Er schob mühsam etwas vor sich her den Hang hinauf, das entfernt an einen Rasenmäher erinnerte, auf dessen Querstange ein Laptop montiert war.

»Will der uns verarschen?«, brummte William.

Jenny ignorierte den arroganten Kommentar. William führte sich seit ihrem Eintreffen wie ein Kotzbrocken auf, vermutlich, weil seine Stunden als Ermittlungsleiter in diesem Fall gezählt waren. Sobald die Details auf Kristian Sejersens Schreibtisch landeten, würde er als befangen erklärt und an die Seitenlinie verwiesen werden.

Fode trug eine Sicherheitsbrille und einen Helm, als erwartete er Steinschlag von oben. Sein Blick wanderte zu dem Zelt, das das LKA über dem Leichnam errichtet hatte.

»Das hier ist ein Georadar«, sagte er, als würde das alles erklären.

Der Einsatzleiter kniete sich vor das Gerät.

»Ich hab schon mal was darüber gelesen. Wenn ich es richtig verstanden habe, kann das Teil sozusagen ein paar Meter tief in die Erde schauen. Aber wie werden die Daten übermittelt?«

Fode saugte Luft ein.

»Mithilfe elektromagnetischer Wellen registriert das Gerät Reflexionen von den Schnittstellen zwischen den Erdschichten unter uns. Über diese Antenne werden kurze Elektrowellen nach unten geschickt, und wuppdi, zurück auf diesen Bildschirm.« Er tippte auf den Laptop. »Der entwirft dann ein 3-D-Bild der gescannten Erdschicht.«

»Reflexionen in den Erdschichten«, sagte Jenny. »Was habe ich mir darunter vorzustellen?«

»Hohlräume, Armierungen, große Steine. Knochen. Jede Form von Anomalie zwischen den zusammengepressten Erdschichten wird hier auf dem Bildschirm angezeigt.«

»Wie viel Zeit braucht so eine Messung?«, fragte der Einsatzleiter.

Fode ließ den Blick über die Wallanlage schweifen.

»Wir könnten heute im günstigsten Fall noch dreißig Prozent des Geländes scannen.«

»Wir?«, hakte William nach.

»Die Sache ist die, dass ein Georadar von erfahrenen Händen bedient werden muss«, antwortete Fode und rückte seinen Helm zurecht.

»Unsere Techniker sind glücklicherweise lernfähig«, konterte William.

Fode legte das rote Gesicht in tiefe Falten.

»Dummerweise ist das Radar ab morgen früh für eine Ausgrabung auf Seeland ausgeliehen.«

»Dreißig Prozent hört sich okay an«, sagte William schließlich. Seine unprofessionelle Machoattitüde war Jenny unangenehm. Diese Seite an ihm kannte sie bisher noch nicht.

»Obgleich das vermutlich zu hoch angesetzt ist.« Fode sah Jenny an, der klar war, dass er eigentlich mit William sprach. »Bei der nassen, schweren Erde sind zehn Prozent vermutlich realistischer.«

William musterte Fode mit einem halb amüsierten Gesichtsausdruck und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

»Da scheint es ja wirklich das Beste, erfahrene Hände das Georadar bedienen zu lassen.«

»Eine vernünftige Entscheidung. In dieser Gegend helfen wir uns gegenseitig«, sagte Fode und fügte nach kurzer Bedenkpause hinzu: »Und wissen Sie was? Die Archäologen warten sicher gerne einen Tag. Damit wir die ganze Wallanlage schaffen.«

»Fangen Sie einfach an.« William ging den Hang hinunter.

»Wo willst du hin?«, fragte Jenny.

»Die Presse fordert eine Stellungnahme.«

»Haltet ihr das für eine gute Idee, den Sonnenschein mit der Presse reden zu lassen?«, sagte Fode lachend, während Jenny Williams entschwindender Silhouette unter der aufgerissenen grauen Wolkendecke hinterherstarrte.

7

Jenny trat aus dem Zelt ins Freie, nahm den Mundschutz ab und füllte gierig ihre Lungen mit frischer Luft. Der Leichnam in dem Zelt verströmte einen Brechreiz erregenden Geruch.

Das Herbstdunkel kam angekrochen wie ein verängstigter Hund. Weit verstreut waren einzelne Lichter von den umliegenden Höfen zu sehen. Bald schon würde sich die Dunkelheit über die süderjütländische Landschaft senken. Undurchdringlich schwarz, wie man es in dichter besiedelten Gegenden nie erlebte. Als Kind hatte Jenny im Dunkeln Angst gehabt. Bis ihre Großmutter ihr erklärt hatte, dass die schwarze Nacht eine notwendige Voraussetzung für helle Träume war.

Dieser Gedanke hatte sie getröstet. Und tat es immer noch.

Anders Fode und der Einsatzleiter schoben das Georadar nun schon mehrere Stunden geduldig den Hang rauf und runter und fachsimpelten unermüdlich und begeistert über die Genialität des Geräts.

»Habt ihr schon was gefunden?«, rief sie.

»Wir gehen gerade die ersten Messdaten durch«, antwortete der Einsatzleiter. »Wollen Sie mitgucken?«

»Gerne«, antwortete sie und warf einen Blick über die Schulter. »Ich bin dann mal kurz weg«, rief sie.

»Alles klar«, sagte William aus dem Zelt, wo er mit zwei Kriminaltechnikern die Untersuchungen zum Abschluss brachte, damit der Verstorbene wieder der Familie übergeben werden konnte, die sich gerüchtehalber zahlreich vor der Absperrung versammelt hatte.

Fode und der Einsatzleiter starrten völlig gebannt auf den Monitor, als Jenny sich zu ihnen gesellte, während die Daten hochgeladen wurden und ein 3-D-Bild der eingescannten Erdschichten Form annahm.

»Was ist darauf zu sehen?«, fragte Jenny.

»Das Radar zeigt zuerst einmal die Erdschichten in einem vertikalen Querschnitt in einer Art Schichtkuchengrafik.« Fode klickte weiter zu einer Grafik des nächsten Areals. »Wenn wir irgendwelche Anomalien entdecken, können wir ein Quadrat ausschneiden und es um 360 Grad drehen, um die Anomalien von allen Seiten zu betrachten und zu messen, wie tief sie liegen und wie groß sie sind.«

»Sind die Bilder GPS-markiert? Falls wir auf etwas stoßen?«

»Wurde schon jemals ein Ferrari ohne Tacho verkauft? Natürlich, woher sollten wir sonst wissen, wo wir graben müssen?« sagte Fode mit jovialem Gesichtsausdruck, der vermutlich seinen überheblichen Unterton kompensieren sollte.

Jenny wechselte einen Blick mit dem Einsatzleiter.

»Sehen Sie sich das an«, murmelte Fode und zeigte auf den Bildschirm. »Sehen Sie die geschwungene Linie? Die weist auf einen Hohlraum hin.«

»Wie tief?«

»Anderthalb Meter etwa.« Fode zoomte die Anomalie heran, die aussah wie abstrakte blaugrüne Picasso-Pinselstriche. »Hm.«

»Was sehen Sie?«, fragte Jenny.

Statt zu antworten, wischte Fode weiter. Fand noch eine Anomalie, die er in 3-D vergrößerte. Ein paar stumme, angespannte Sekunden sprang er zwischen den sich in den Konturen ähnlichen Anomalien hin und her. Diese Ähnlichkeit war das Einzige, was Jenny sehen konnte.

»Verdammt«, murmelte Fode. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine tiefe Furche.

»Was ist los?«

»Das versteh ich nicht. Es ist zwar schon einige Jahre her, dass das Nationalmuseum hier gegraben hat, aber die haben damals nichts von Belang gefunden. Und wir sind innerhalb weniger Stunden jetzt schon auf zwei Anomalien gestoßen.«

»Könnten das Lufteinschlüsse oder Steine sein?«, fragte der Einsatzleiter.

»Sehen Sie die quer liegenden blaugrünen Umrisse?« Fode wechselte zwischen den 3-D-Bildern. »Sie sind ungefähr gleich lang und breit.«

»Ja.«

»Ich habe so etwas schon mal bei einer Ausgrabung in Aalborg gesehen.« Fodes Stimme wurde tonlos. »Die werde ich nie vergessen.«

»Was bedeutet das?«, fragte Jenny.

Fode atmete zitternd ein. »Das bedeutet, dass wir auf einem Friedhof stehen. Neueren Datums.«

8

Es wurde mit jeder davontickenden Sekunde dunkler, der Sturm rüttelte an Bäumen und Büschen, schwarze Wolken stürmten über den Himmel wie Wolfspfoten. Es war halb zehn. Jenny war todmüde, verkatert und brauchte dringend eine Toilette. Zugleich wollte sie sich ungern von der Wallanlage entfernen, über deren Gras der graue Nebel hing wie Lagerfeuerrauch.

Nach dem beunruhigenden Fund früher am Tag hatten sie den Rest der Wallanlage gescannt und über das Gelände verstreut siebzehn vergleichbare Anomalien gefunden. Anschließend hatten sie die Daten mit Grafiken aus einer archäologischen Datenbank über Grabfunde verglichen. Die Ähnlichkeiten waren frappierend. Danach hatte Fode bei den übrigen Vorstandsmitgliedern der Genossenschaft angerufen, um eine Grabungsgenehmigung einzuholen.

Vier kräftige Scheinwerfer erleuchteten nun die feuchte Grasfläche, wo laut GPS-Koordinaten in anderthalb Metern Tiefe ein Fremdkörper begraben sein sollte. Jenny schüttelte sich. Drei mit Spaten ausgerüstete Polizisten standen Schulter an Schulter nebeneinander, ernst, blass.

Jenny hörte sonores Motorbrummen, Raupenketten auf knackenden Zweigen und knirschendem Schotter. Der Minibagger sollte die oberen Erdschichten abtragen, den Rest würden die Polizisten übernehmen.

»Ganz vorsichtig und behutsam«, gab William das Startsignal für den Baggerfahrer. Jenny ahnte ein Zittern in seiner Stimme.

Das Dröhnen des Motors steigerte sich in einem ohrenbetäubenden Crescendo, als die Schaufelzähne sich in die Erde bohrten und die obere bröckelnde Grasschicht von der Erde darunter lösten. Drei Schaufelfüllungen später verstummte der Motor, und die Stille über der Wallanlage wurde nur von dem schmatzenden Geräusch der Spatenstiche und dem keuchenden Atem der Beamten durchbrochen.

Es dauerte nicht lange, bis einer von ihnen die Hand hob.

»Da … ist etwas«, verkündete er kurzatmig.

Der Einsatzleiter, der hinter ihnen stand, nahm seine Videokamera herunter, wie um bestätigt zu bekommen, was er durch die Kameralinse gesehen hatte. Zwei weitere Techniker kamen hinzu, legten sich bäuchlings auf die Erde und reichten mit ihren Bürsten in die Grube. Jenny fühlte sich sonderbar neben sich stehend, als sie an den Rand der Grube trat. Im Augenwinkel bemerkte sie, dass die anderen Anwesenden sich ihr anschlossen. Am Ende stand die Tatortgruppe in einem geschlossenen, fast schon ein wenig zeremoniellen Kreis um das Loch herum.

Sie folgte den vorsichtigen Strichen der Bürsten, die Erde, Wurzeln und kleine Steinchen wegfegten. Und endlich sah sie, was die Erde verbarg.

9

David Flugt holte tief Luft und tippte eine Nummer ein. Noch vor dem dritten Freizeichen hatte er sich von seinem Küchenstuhl erhoben, sich wieder gesetzt und war wieder aufgestanden.

Sein Chef und Abteilungsleiter der Sonderermittlungsgruppe Ost antwortete:

»Ist es wichtig, David?«

Lasse Skårup klang kurzatmig, im Hintergrund war das Klappern seiner Absätze zu hören.

David scrollte auf der Nachrichtenseite von TV2 hoch und runter. Die Breaking News leuchteten seit zehn Minuten auf einem grellgelben Banner:

 

Polizei findet MASSENGRAB in Süderjütland.

 

David räusperte sich.

»Es gibt einen Fall in meiner alten Heimat.«

»Soll heißen?«

»Das Massengrab in Smøl Vold.«

Skårups klappernde Absätze verstummten.

»Woher hast du die Information?«

»TV2. Eben reingestellt.«

»Diese verfluchten Dorfsheriffs! Ich hab klipp und klar gesagt, dass sie warten sollen.«

»Warten? Worauf?«

»Nicht worauf, David. Auf wen.«

»Hast du schon jemanden hingeschickt?«

»Lucas Stage.«

»Das ist nicht dein Ernst?«

»Lucas hat sich von sich aus gemeldet. Er hat Erfahrung mit Serienmorden. Und Smøl Vold ist eindeutig eine Aufgabe für die Task Force 14.«

David umklammerte das Handy. Die Task Force 14 war eine Spezialeinheit, die bei besonders komplizierten oder distriktüberschreitenden Verbrechen in den 14 Polizeidistrikten des Landes unterstützend einsprang.

»Lass mich dein Gedächtnis auffrischen, Chef«, sagte David. »Ich bin ebenfalls Spezialagent der TF14.«

»Und lass mich deins auffrischen: das warst du. Du hast von dir aus die Einheit verlassen.«

»Come on! Ich bin seit fast einem Jahr zurück bei der SO. Ich bin bereit.«

»Und was ist mit dem psychologischen Gutachten?«

»Ich bin mental so robust wie ein Astronaut.«

Skårup seufzte. »Ich weiß deine Initiative sehr zu schätzen. Aber wenn du gerne deinen Job behalten möchtest, David, dann lässt du dich nicht bei denen blicken.«

»Außerdem war ich unmittelbar nach der Polizeischule sechs Jahre bei der Grenzpolizei in Padborg. Die Dorfsheriffs, wie du sie nennst … die haben da eine andere Mentalität.«

»Das kriegt Lucas schon hin.«

»Ich denke speziell an die Süderjütländer.«

Am anderen Ende der Verbindung wurde es still. Die Sekunde des Zögerns reichte David, um den Druck zu erhöhen.

»Wenn sie den Täter nach zwei Monaten noch immer nicht haben, wer trägt dann die Verantwortung dafür, nur einen Mann geschickt zu haben? Und dann auch noch ausgerechnet den, der für seinen Kooperationsunwillen bekannt ist.«

»Lucas ist der Beste.«

»Das wissen die da drüben aber nicht.«

»Was willst du?« Skårups Stimme bebte leicht. »Wie viele verschiedene Versionen von ›Nein‹ brauchst du, bist du es kapierst?«

»Offiziell hast du noch nicht Nein gesagt.«

»Ja, und?«

»Das könnte bedeuten, dass du dir nicht sicher bist.«

Das Absatzgeklacker seines Chefs war wieder zu hören.

»Lucas tritt am Montag in der Polizeihauptwache in Esbjerg an«, sagte er schließlich. »Er leitet die Ermittlungen. Du arbeitest ihm als Assistent zu.«

»Danke, Chef.«

»Und vergiss nicht, dass ich auch noch an keiner Stelle offiziell Ja gesagt habe.«

David legte auf und schaute zu dem gepackten Rollkoffer neben der Tür, klopfte sich eine Zigarette aus dem Päckchen und trat ans Fenster.

Sein Chef war clever und empathisch und wusste, dass gewisse Ermittler blind für ihre eigenen Beschränkungen waren. Ermittler, deren Selbstbild sich aus den selektiven Daten vergangener Erfolge zusammensetzte. Aber David brauchte keinen Psychologen, der ihm sagte, dass etwas in ihm zerbrochen war. Zum Teufel, nein, er hörte die Bruchsplitter regelrecht in seinem Kopf rasseln.

Er schaute raus zu dem Dreimaster. Weg.

Er rauchte seine Zigarette bis zum Filter, langsam, und drückte sie im Kräutertopf aus. Er zog den Rollkoffer in den Vorflur, blieb kurz stehen und schaute die Treppe hoch in den ersten Stock.

10

Der Himmel war pechschwarz und es war schneidend kalt, als David Flugt aus der Regionalbahn 3354 stieg. Er lief durch die Innenstadt von Esbjerg, die im nordischen Herbstlicht einen rauschönen Charme hatte; rotwangige Familien und flatternde Schals im sanften Licht der Straßenlaternen.

David wusste über die Stadt kaum mehr, als dass der Hafen ein umtriebiger Offshore-Knotenpunkt war. Er sog die Luft ein. Salz, Teer, ein Hauch Kloake.

Dem skandinavischen Minimalismus zum Trotz waren die Wände des Hotels Britannia sowohl in dem offenen Restaurantbereich als auch in der Hotelbar in mutigen Farben gestrichen – mintgrün, sandbraun, meerblau. David ging an die Rezeption, ein quadratischer, an eine Sauna erinnernder, mit Eichenpaneelen getäfelter Kasten.

Der weißhaarige, pickelgeplagte Rezeptionist schwenkte auf die automatische, geistesabwesende Schaltgeschwindigkeit von Servicepersonal um, das zum 150. Mal am Tag die gleiche Begrüßungsphrase wiederholt.

Auf Aufforderung des Rezeptionisten reichte David seinen Pass über den Tresen. Nagelneu, stempelfrei. Als wäre er heute nicht nur in Esbjerg eingetroffen, sondern auf dem Planeten Erde.

Das geräumige Hotelzimmer war ähnlich wie die Lobby in einer sonderbaren Kombination aus modernistischen, geometrischen Formen, schweren Möbeln und bunten Kissen eingerichtet. Über dem Bett lag eine exzentrische Bärenfelldecke. In der Grabesstille des Zimmers waren nur das gedämpfte Summen des Kühlschranks und der Verkehrslärm von drei Etagen tiefer zu hören.

David warf den Koffer aufs Bett und zog sich aus. Unter den kochend heißen Strahlen der Dusche musste er sich mit einer Hand an der Kachelwand abstützen und gegen eine Serie von Magenkrämpfen und das Bedürfnis ankämpfen, sich zu übergeben. Hinterher wischte er den beschlagenen Spiegel ab und ließ den Blick über seinen tätowierten Oberkörper gleiten. Eine Uhr ohne Zeiger, drei Blutstropfen, eine Taube mit blutigen Flügeln, vier namenlose Grabsteine. Die blauen Linien auf der Haut waren verblasst. Noch zwei Laserbehandlungen, und er würde sie für immer los sein. An der einzigen intakten Tätowierung über seiner Hüfte blieb sein Blick hängen. Ein schlafendes Kaninchen.

David ging nackt und tropfnass durch das Zimmer und öffnete die Schiebetür zum Balkon. Seine Haut prickelte, als der Wind darüberstrich. Esbjerg war eine große Veränderung. Die Luft, das Licht, das Gefühl, sich an einem unbekannten Ort zu befinden. Sein Chef hatte ihn gewarnt, dass es zu früh war. Dass eine neue Aufgabe so kurz nach der letzten Mission posttraumatische Reaktionen auslösen könnte. Narben auf der Seele ließen sich nicht mit dem Laser entfernen wie Tätowierungen.

Er zog den Reißverschluss seines Koffers auf. Ein hellroter Plüschbär sah ihm entgegen. Er warf ihn auf den Stuhl und zog sich Boxershorts und ein T-Shirt über. Die restlichen Kleider wanderten in den Schrank. Er starrte auf den kleinen Aluminiumkoffer, der noch im Koffer lag. Einen ganz kurzen Augenblick legte er seine Finger an die zwei Schnappschlösser. Sein Atem beschleunigte. Dann richtete er sich ruckartig auf, als hätte er eine plötzliche Eingebung, schob den Aluminiumkoffer in den Tresor und gab einen vierstelligen Code ein.

Der Schließmechanismus klackte.

David legte sich ins Bett und verbrachte die Nacht in dem knisternden Bettzeug in der Endlosschleife eines wirren Traums, der sich mit der Morgendämmerung verwob: auf der Flucht, durch Abwasserrohre taumelnd, eine nackte, schreiende Silhouette, mit Blut beschmiert, das nicht seins war.

11

Jenny Seland zog mühelos an den keuchenden Mountainbikern auf dem Fahrradweg vorbei. Im Zentrum war wenig Verkehr und ihr E-Bike schnurrte im höchsten Gang. Sie liebte diese stillen Tagesanfänge in Esbjerg, wenn die Stadt sich den Schlaf noch nicht richtig aus den Augen gerieben hatte und das bernsteinfarbene Morgenlicht die Gebäudefassaden in glühende Farbe tauchte. Sie lebte schon ihr ganzes Leben in dieser hübschen Hafenstadt mit dem Spitznamen »Heringstown«, wo das Salzwasser in trauter Vereinigung mit den dunstigen Horizontlinien der Hafenindustrie schimmerte und die Bewohner ein charmant beschauliches Leben führten.

Aber etwas war anders als sonst. Die Straßen schienen in düsteres Nachkriegslicht getaucht. Sie atmete tief ein, versuchte, das Gedankenkarussell auszubremsen. Vermutlich war sie einfach nur mental überreizt durch die Trennung von William. Außerdem hatte sie schlecht geschlafen, weil der Fund des Massengrabs bereits eine internationale Magnetwirkung entwickelt hatte. Alle Hotels in Aabenraa, Sønderborg und Umgebung waren für die nächste Woche ausgebucht. Das Ermittlungsteam hatte die Heimwehr zusammentrommeln müssen, um einen Ring um Smøl Vold zu errichten, während die Kollegen vom NKC, dem Nationalen Kriminaltechnischen Zentrum, die Skelette ausbuddelten.