NOW Du bestimmst, wer überlebt. - Stephan R. Meier - E-Book

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Stephan R. Meier

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Beschreibung

Ein Mann streunt durch dichte Wälder, immer auf der Flucht vor herannahenden Drohnen, die seinen Tod bedeuten können. Sein Name ist Spark. Noch vor Kurzem wurde sein Leben von dem intelligenten Algorithmus NOW geregelt, und Spark hatte alles: Gesundheit, Sex, Nahrung. Doch dann entdeckte er, was hinter dem Tod seines Vaters steckt. Wie gefährlich die Allmacht NOWs ist. Und dass die Frau, die er liebt, verstoßen wurde – dorthin, wo jeden Tag das nackte Überleben auf dem Spiel steht. Damit beginnt Sparks Kampf. Für die Zukunft der Welt. Für die Liebe seines Lebens.

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Stephan R. Meier

NOW

DU BESTIMMST, WER ÜBERLEBT.

Thriller

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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2017 Stephan R. MeierDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Penguin Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: any.way, Heidi Sorg

unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock/Nerijus Juras

Redaktion: Angela Kuepper

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-20045-9V003

www.penguin-verlag.de

Für Biggi

Dieses Buch widmen wir gemeinsam unseren TöchternIsabella, Vanessa, Viola und Suri,und allen anderen Kindern unserer Zeit, die die bisher größte Wandlung der Geschichte der Menschheit nur mit großer Klugheit und dem richtigen Augenmaß bewältigen werden können: die digitale Revolution.

PROLOG

In der Wildnis, dreißig Jahre nach NOW

Grimmig umklammert er die alte Jagdbüchse, die ihm wie ein Relikt aus einer fernen Vergangenheit erscheint. Er atmet flach, konzentriert. Seit Stunden schon liegt er auf der Lauer, späht angestrengt über den rostigen Lauf der Waffe auf die Ebene vor ihm. Er kann sein Glück kaum fassen. Die beiden kapitalen Hasen grasen friedlich nebeneinander, keine dreißig Meter vor ihm im rot-goldenen Licht des Spätherbstes. Der Wind steht günstig, sie können ihn nicht riechen. Er verharrt starr, um ja kein Geräusch zu machen. Es sind dicke, fette Tiere. Ein Pärchen, wie er vermutet. Er peilt über den Lauf; aus seiner Perspektive sehen sie riesig aus.

Töten ist ihm zuwider. Aber er muss essen. Hunger und Not stumpfen ab. In seiner Lage kann er sich kein Mitleid mit den unschuldigen Kreaturen leisten.

Die Zeit verrinnt. Er wartet bewegungslos und beobachtet. Er darf keinen Fehler machen. Sein linker Arm, der den Lauf hält, ist ein einziger Krampf. Die rechte Hand umklammert den Kolben aus geschliffenem Holz, der Zeigefinger liegt schussbereit am Abzug. Zwei Schrotpatronen sind alles, was er noch hat. In einem günstigen Moment kann er beide Tiere mit einem einzigen Schuss erwischen.

Der Boden unter ihm wird immer kälter. Sein Nacken schmerzt, und sein Rücken wird auf Höhe der Lenden schon gefühllos. Er spürt, wie immer mehr Ameisen in seine Stiefel kriechen. Sie beißen ihn. Er versucht sie zu zerquetschen, indem er die Zehen aneinanderreibt.

Feiner Nebel steigt in der Ebene vor ihm auf. Der Wald hinter ihm wird immer dunkler, das Licht auf der Ebene mit jeder Minute rötlicher. Plötzlich hoppelt der eine Hase ein Stück weg vom anderen. Zu weit, um sie mit einer Patrone zu kriegen. Wie lange wird er noch warten können?

Vorsichtig, in Zeitlupe, löst er die Hand vom Abzug. Ein Schweißtropfen hat sich in seiner Augenbraue gesammelt. Er wischt ihn weg, gerade noch rechtzeitig, bevor die salzige Lösung sein Zielauge blind macht. Dann streicht er sich die zotteligen, viel zu lang gewordenen Haare aus der Stirn.

Jetzt folgt der zweite Hase dem anderen. Gemächlich hüpft er immer weiter nach rechts, macht einen Kreis, hält an und bewegt sich dann weiter. Mit einem Mal ist er ganz nahe beim anderen. Darauf hat er lange gewartet. Plötzlich streckt der große Hase den Rücken, sein Kopf kommt hoch, die Ohren stehen steil nach oben. Seine Nase zittert, und die feinen Haare flirren im dunstig-rötlichen Gegenlicht. Er wittert. Ihn?

Jetzt sind beide fast genau in einer Linie vor ihm. Endlich kann er es riskieren. Seine Hand kriecht in Zeitlupe wieder um den Kolben, schmiegt sich um das Holz, und sein Zeigefinger tastet nach dem Abzugshebel. Leicht drückt er gegen das kalte Metall, spürt den Widerstand der Feder. Er spannt alle Muskeln an. Dann atmet er aus. Wie ein Schraubstock hält er die Waffe in Position und zieht mit einem Ruck bis zum Anschlag durch. Er spürt den Hammer vorschnellen, spürt, wie er die Sprengkapsel trifft, und hört, wie sie explodiert. Ein scharfer Knall ertönt. Er sieht durch die Schmauchwolke hindurch über den Lauf hinweg, wie die beiden Tiere durch die Luft gewirbelt werden.

Er lässt das Gewehr sinken, stöhnt vor Erleichterung und Erschöpfung kurz auf, rollt sich zur Seite und kommt mit schmerzenden Gliedern auf die Beine. Wachsam blickt er sich um und verlässt dann den Schutz des Busches, unter dem er gelegen hat. Er sieht nicht aus wie ein Jäger, eher wie ein verwitterter Waldgeist. Seine Bekleidung ist improvisiert, schäbig, aus alten Fetzen zusammengestückelt. Eine dünne, eckige Gestalt, eins fünfundneunzig groß, früher eine kraftvolle, unbestechliche und selbstbewusste Erscheinung. Davon ist wenig geblieben. Die Konturen seines mächtigen Kinns sind unter dem Gestrüpp eines ungepflegten Barts verschwunden. Nur der Blick aus seinen eisblauen Augen über der scharfen Nase und dem schmalen Mund verrät etwas über seine wahre, bis vor Kurzem wohlbehütete Herkunft.

Er rafft den fleckigen Umhang, schiebt die Zweige beiseite und rennt mit steifen Beinen los, so schnell er kann. Ein Schwarm Vögel hat sich unter lautem Protest vom Waldrand erhoben und flattert wild umher. Zweimal sieht er sich um. Dann ist er bei den toten Hasen angekommen.

Er sichert das Gewehr, bückt sich und klaubt den ersten Feldhasen aus dem Präriegras. Er hat starre himmelblaue Augen. Sie sind rund und im Tod weit geöffnet. Er staunt, wie schwer der schlaffe, leblose Körper sich anfühlt. Ein wenig warmes Blut sickert durch das Fell auf seine Hand. Er muss den Bauch getroffen haben. Er ist hin- und hergerissen zwischen Stolz und schlechtem Gewissen.

Rasch vergewissert er sich, dass der zweite Hase ebenfalls tot ist. Es ist ein Weibchen, wie er vermutet hat. Er nimmt sie hoch und tastet den schlaffen Körper ab, fühlt instinktiv den weichen Unterbauch. Ihr von den Schrotkugeln gesprengter Kopf ist auf obszöne Weise nach hinten verdreht und berührt fast den Rücken. Er packt beide Hasen mit der Linken, schultert die Beute und klemmt sich das Gewehr wieder unter den rechten Arm. Sein Blick schweift über das weite Plateau, das sanft zum großen Fluss hin abfällt. Hier ist er nicht sicher. Mit eiligen Schritten läuft er über die schutzlose Ebene und verschwindet kurz darauf im sicheren Schatten der Bäume.

Hastig dringt er tiefer in den Wald ein, der nach nasser Erde, Pilzen und Harz riecht. So wie ein unberührter Wald riecht, der sich seit Jahrtausenden von selbst regeneriert. Der Indian Summer mit seinen warmen Tagen und den kühlen Nächten dringt nicht bis hierher.

Seine klobigen Stiefel aus dickem Pferdeleder hat er drei Monate lang in Pflanzenöl gelagert, bis sie geschmeidig wurden und ausreichend Schutz vor Nässe und Kälte boten. Die Sohlen hat er aus alten, weggeworfenen Winterreifen geschnitzt, die er mit Nägeln an dem dicken Leder befestigt hat. Selbst auf den glitschigen Stämmen umgestürzter Bäume bieten sie ausreichend Halt und hinterlassen nur flache Dellen auf dem weichen Boden aus Nadeln, Moos und Laub. Er hat lernen müssen, sich möglichst geräuschlos und ohne Spuren zu bewegen.

Als er meint, weit genug in den schützenden Wald eingedrungen zu sein, geht er am Fuße einer Kiefer in die Hocke und legt die beiden Hasen vor sich ins Moos. Sein Atem geht stoßweise, das Herz schlägt wie wild gegen die Rippen. Er muss sich beeilen!

Er lehnt die Flinte griffbereit gegen den Baumstamm und holt ein Stück Draht aus der Tasche seiner vielfach geflickten Hose. Frisches Blut glänzt auf der Wachsschicht seines tarnenden Umhangs. Unwillkürlich zieht er das metallische Aroma in seine Nasenflügel. Es ist ein intensiver Duft, der seinen Magen schlagartig erregt. Ein archaisches Gefühl, dem er sich einen Moment lang hingibt. Dann schreitet sein Verstand ein und warnt ihn. Hungrige Braunbären, deren Spuren er in der Gegend gesehen hat, würden das auch riechen, und zwar aus viel größerer Entfernung als er. Er kann nur hoffen, dass der laute Knall des Schusses sie eine Weile auf Distanz hält. Geschickt wickelt er den Draht um die Vorderläufe der beiden toten Tiere und bindet sie zusammen, sodass er sie wie eine Satteltasche über die Schulter werfen kann.

Langsam beruhigt sich sein Herzschlag und fällt wieder in einen normalen Rhythmus. Sein erhitzter Atem trifft auf die kühle Luft der aufziehenden Dämmerung und umhüllt seinen Kopf wie eine Fahne aus Dampf. Er sichert aufmerksam seine Umgebung, späht in das dunkle Unterholz und lauscht angestrengt auf Geräusche. Aber da ist nichts. Das Pochen seines eigenen Pulses im linken Ohr, seiner schwachen Seite, wird langsam leiser. Es wird überlagert von dem hohen, hartnäckigen Pfeifen, das der Schuss ausgelöst hat.

Er hat Glück gehabt. Nur eine Patrone für zwei Hasen. Wäre er nicht schon so lange allein in der Wildnis, würde er jetzt lächeln. Aber da ist niemand, mit dem er seinen Triumph teilen könnte. Es sind mindestens drei Kilo Fleisch, zwei plüschweiche Felle und Zehrung für mehrere Tage. Aus den zarten splitternden Knochen kann er Angelhaken schnitzen. Er streicht anerkennend über den Lauf der Waffe.

Eine Weile wartet er noch, weil er sichergehen will, dass sein Schuss von niemandem bemerkt wurde. Vor zwei Tagen erst hat er die noch warme Asche eines Lagerfeuers gefunden. Es muss ein großer Clan gewesen sein. Sie hatten Tiere bei sich, er hat den Kot gesehen. Er würde lernen müssen, die Losung zu lesen. Aber von wem?

Er kommt aus der Hocke hoch und richtet sich auf. Noch einmal sichert er nach allen Seiten, orientiert sich kurz am Einfall des Lichts und sammelt seine Beute und die Flinte ein. Die Feldhasen haben ein fein gezeichnetes Herbstfell, braun und schwarz gemustert, durchsetzt mit den ersten weißen Flecken ihres bald gänzlich schneeigen Winterfells.

Jede Hast vermeidend, läuft er durch die mal mehr, mal weniger dicht stehenden Bäume, windet sich unter tief hängenden Ästen hindurch und überquert die hoch aufragenden Wurzelknoten der jahrhundertealten Bäume.

Seine Sinne funktionieren immer besser. Sein Gehör ist feiner, die Augen sehen schärfer, und sein ganzer Körper reagiert intensiv auf die neue Umgebung und die vielen Gefahren, die in ihr lauern. Es ist überlebenswichtig: Nicht nur die Bären, auch Wölfe und hungrige Wildschweine oder verwilderte Hunde riechen die toten Tiere auf seiner Schulter, riechen ihn, und vor allem hören sie ihn, lange bevor er sie hört. Wenn er sie sieht, wenn sie sich zeigen, ist es wahrscheinlich zu spät, um unbeschadet in seinen Verschlag zu kommen. Besonders jetzt im Herbst ist es gefährlicher als sonst, fresswütigen Wildtieren im Kampf um Winterspeck zu begegnen.

Er überquert die Lichtung nahe am Bach und kommt an der verfallenen Wassermühle vorbei, die Missionare der »Ville Marie« gebaut hatten. Er hat sie notdürftig repariert und kann dort wildes Getreide, Kastanien und Nüsse zu grobem Mehl verarbeiten. Er nimmt die morsche Holzbrücke neben dem Mahlstein ins Visier, hält kurz inne und blickt sich suchend um: kein wildes Tier in Sicht.

Kaum zehn Minuten später ist er an seinem Ziel angekommen, auf einer Anhöhe, nicht mehr als ein Buckel, wie eine Tonsur umgeben von dichtem Wald. Hier steht die kleine Kapelle, die er seit dem Ende seiner Flucht bewohnt. »Ange Gardien«, Schutzengel, hatten die Mönche sie einst getauft, das gefällt ihm. Über dem Seiteneingang, der zu einem Nebenraum der Kapelle führt, ist der in den Stein gehauene Name noch gut zu lesen. Früher musste dies die Sakristei gewesen sein, jetzt nutzt er den Raum für seine Vorräte und Gerätschaften.

Er öffnet die schwere Holztür, bückt sich unter den Steinbogen und hängt die beiden Hasen an stabile Haken unter der Decke. Mit einem einzigen Schnitt öffnet er die Kehle des Männchens und trennt dann den Kopf des Weibchens ganz ab. Das Blut lässt er in eine Eisenschüssel fließen.

Erst danach streift er den blutverschmierten Umhang ab, windet sich aus seiner Jacke, stellt die Stiefel zum Trocknen kopfüber auf ein Holzgestell und setzt sich auf die kleine Bank neben der Tür, um sich ein wenig auszuruhen. Er zieht die Füße nach oben, wickelt die Lumpen ab und untersucht die Bisswunden der Ameisen. Er schnippt die zerquetschten Körper weg und wickelt seine Füße wieder ein. Dann lehnt er sich zurück, schließt die Augen und wartet, dass das Pfeifen in seinem Ohr langsam schwächer wird.

Sein müder Blick wandert zu den leicht baumelnden Kadavern, er sieht, wie sich die Schüssel unter ihnen mit Blut gefüllt hat. Während der letzte Lebenssaft in Form von zähen Blutschlieren aus den toten Körpern tropft, kehren seine Kräfte zurück. Er lehnt sich nach hinten und schließt erneut die Augen. Etwa eine halbe Stunde dauert es, bis sich sein Körper einigermaßen erholt hat. Er ist noch keine vierzig Jahre alt, aber der Kampf ums nackte Überleben in der Wildnis fordert seinen Tribut. Auf brutalere Weise, als er es sich vorgestellt hat.

Die tiefer werdende Dämmerung schickt nur noch wenig Restlicht durch die schmalen Fenster. In der ehemaligen Sakristei ist es jetzt fast vollständig dunkel. Das metallische Aroma des Blutes verschmilzt mit den Ausdünstungen der modrigen, kalt schwitzenden Mauern.

Ihn fröstelt. Er weiß, er muss sich bewegen. Er schiebt die Ärmel seiner abgewetzten, nach Entbehrung stinkenden Wolljacke hoch bis zu den Ellenbogen. Dabei reibt er über die knotige, bei Kälte und Nässe schmerzende Narbe an seinem linken Unterarm, unter der sich der passive Transponder befindet. Dann steht er auf und nimmt die vollständig ausgebluteten Hasen von den Haken.

Die nahende Nacht mahnt ihn, keine Zeit zu verlieren. Das Häuten von Wild beherrscht er mittlerweile ganz gut, selbst im Dunkeln kommt er zurecht. Am Anfang, direkt nach seiner Flucht aus Eden, wäre er fast verhungert, bis er sich zwang, außer Wurzeln auch Ratten und Eichhörnchen zu essen. Die schönen Felle hängt er zum Trocknen auf und macht sich daran, beide Tiere auszunehmen. Nach zehn Minuten ist er fertig und säubert sich die Hände.

Er reibt sich wieder über die lästige Narbe, die ihn an sein früheres Leben erinnert. Ein im Knochen implantierter Chip – seine universale persönliche Schnittstelle zu NOW, genannt USHAB – mit zehntausend Trillionen Rechenoperationen pro Sekunde hat ihn damals mit dem gesamten Wissen der Menschheit vernetzt. Jetzt sitzt anstelle des USHAB ein einfacher Passiv-Chip in seinem Arm, wie bei einem Haustier. Von einem Stümper eingesetzt, hat es Monate gedauert, bis sich die eitrige Wunde endlich geschlossen und sich eine hässliche Narbe darüber gebildet hat. Doch er hat sein Ziel erreicht: Er ist abgekoppelt, ausgeschaltet und für alle, die er in Eden zurückgelassen hat, für immer unerreichbar geworden. Er hat sich gerettet. Dafür musste er aus dem Paradies fliehen.

Er denkt an sein früheres Leben und wird hastiger in seinen Bewegungen. Er zwingt sich, die Gedanken an Eden zu verdrängen. Ein Leben, in dem alles einen Sinn hatte, wo es keine Gefahr gab und er sich allen Gelüsten hingeben konnte, die er sich nur vorstellen konnte. Umsorgt und umhegt, voller Geborgenheit, Wärme, Lust. Und dann das Jetzt, ein erbarmungsloser Kampf gegen Kälte und Hunger, gegen Krankheit und Tod.

Bisher ist er mit dem Leben davongekommen, aber die größte und schwierigste Aufgabe liegt noch vor ihm. Er fürchtet, dass ihm die Zeit davonrennt. Ihn schwindelt, als er daran denkt, was auf dem Spiel steht. Sein Atem wird fahrig. Das Messer, das er gerade säubert, gleitet ihm aus den zittrigen Händen. Er bückt sich, nimmt es und verliert es wieder. Wut steigt in ihm auf, gemischt mit nackter Angst. Er hat noch keine Ahnung, wie er es anstellen soll. Er versucht seine Gedanken zu ordnen, versucht zu fokussieren. Er schließt die Augen. Als Erstes und Wichtigstes muss er sie wiederfinden, ihr alles erklären. Und er muss sie schnell wiederfinden. Das ist ihm das Wichtigste. Dafür hat er alles riskiert. Wenn er ihr erst einmal alles erklärt hat und sie ihm hoffentlich glaubt, dann können sie gemeinsam nach seinem, nach ihrem Kind suchen. Dafür müssen sie zurück. In das Paradies, nach Eden, wo der Tod auf ihn lauert. Und dann muss er IHN stoppen. Unter allen Umständen. Selbst wenn dabei NOW, das Größte, was der Mensch je erfunden hat, vollkommen vernichtet wird.

Er blickt an sich herunter. Sein Körper ist magerer und härter geworden. Er sieht die vielfach geflickte Hose, darunter schauen Lumpen an seinen mit Schorf übersäten Füßen hervor. Um seinen Leib sieht er zusammengebundene Fetzen, und auf seinen Schultern riecht er den übel muffelnden, nur stümperhaft gegerbten Fellkragen, der ihn wenigstens etwas wärmt. Hoffnungslosigkeit greift nach ihm wie eine kalte Hand. Er ist noch zu jung, um zugrunde zu gehen.

Er schüttelt den Kopf. Ein Anfall naht.

Er tritt aus dem kleinen Nebenraum der Kapelle ins Freie, sucht die Weite und braucht Luft. Wie ein böser Traum bricht die ganze Hoffnungslosigkeit seines Elends aus seinem Unterbewusstsein hervor. Es würgt ihn, als ihm klar wird, wie es wirklich um ihn steht. Ihm wird kalt. Sein Magen verkrampft sich, und schwarze Punkte flirren vor seinen Augen. Er taumelt und hält sich an der groben Außenmauer fest. Er darf nicht ohnmächtig werden! Er muss die lähmende Angst vor dem, was kommt, niederringen!

Schweiß tritt auf seine Stirn. Er stößt sich von der Mauer ab und strebt weg von der Kapelle. Sein Gang ist unsicher, und ein Zittern ergreift seine Hände. Stolpernd erreicht er nach wenigen Schritten den Bach. Es hat ihn mehrere Tage gekostet, Steine anzuhäufen und mit Stöcken mühsam einen neuen Graben in den Waldboden zu bohren. Schließlich hat er es geschafft, das wilde Quellwasser so umzulenken, dass es in der Nähe seines Unterschlupfs als schmaler Wasserlauf vorbeifließt.

Er sinkt nach vorn auf die Knie, beugt sich von der kleinen Böschung hinab und hält die zitternden, in Gebetshaltung verschränkten Hände in das eiskalte Wasser.

Er hofft, dass es auch jetzt hilft, so wie es bisher immer geholfen hat. Die kalte, klare und fließende Frische beruhigt ihn. Nur hier gelingt es ihm, seine wütende Verzweiflung zu lindern.

Konzentriert starrt er auf seine geschundenen Hände, beobachtet, wie sich das Wasser um das Hindernis schlängeln muss, Strudel und Blasen formt und Wirbel bildet. Er spürt den Schmerz, spürt, wie die eisige Kälte des Quellwassers nach seinem Puls greift und in ihn eindringen will. Er muss sich konzentrieren, um nicht das innere Gleichgewicht zu verlieren, muss die Hände fest gegen den Druck der Strömung pressen. All seine Sinne, jede Faser seines Körpers, jede Zelle seines Organismus sind auf Überleben geschaltet. Er muss die Angst bezwingen. Er muss sich befreien. Er muss leben. Er will leben.

Ächzend stützt er sich auf die Knie, steht auf und geht mit noch unsicheren Schritten zurück in Richtung der Kapelle und reibt sich die schmerzenden Pulsadern wieder warm. Ich schaffe das, denkt er. Mich kriegst du nicht klein.

Plötzlich hört er das feine Summen der Motoren und das charakteristische Rauschen der riesigen Flügel, die durch die Luft schneiden. Er sieht sie noch nicht, aber sie werden jede Sekunde über den Baumkronen erscheinen. Ohne zu zögern wirft er sich auf den Boden, krabbelt ein paar Meter und presst seinen Körper gegen eine große Pappel, zieht den Kopf zwischen die Knie und umfasst die Knöchel. Dann lässt er sich in dieser zusammengerollten Haltung zur Seite fallen. So verharrt er regungslos und wartet. In dieser Stellung gleicht sein Infrarotbild dem eines schlafenden Tieres. Sein passiver Tierchip wird den Drohnen auch prompt die Kennung eines großen Hundes funken. Eines Hundes, den niemand vermisst.

Zunächst huscht ein Schatten an ihm vorbei. Spark schielt unter halb geschlossenen Lidern durch die Bäume und sieht die Eagle, eine gigantische Aufklärungsdrohne, heranrauschen. Er kennt jedes Detail ihres metallenen Baus. Ihre Flügel können eine Spannweite von bis zu zweihundert Metern erreichen. Sie kann wochenlang in der Luft bleiben. An Bord trägt sie zahlreiche Miniaturdrohnen, die sie zu näherer Aufklärung absetzen kann, wenn ihre Sensoren ein interessantes Objekt identifiziert haben. Eagles werden eingesetzt, um weite Gebiete zu kontrollieren und Lebewesen zu finden. Suchen sie schon gezielt nach ihm? Es wäre das Ende für ihn, es wäre das Ende für seine Liebe und sein Kind, und es wäre das Ende im Kampf um eine Welt, in der es sich zu leben lohnt, wenn sie ihn entdecken.

Er sieht mit zusammengekniffenen Augen den milchig-weißen Bauch der Drohne, in dem die GenLabs untergebracht sind, die im Flug Gewebeproben analysieren können. Er bleibt bewegungslos in seiner kauernden Haltung, auch nachdem die Drohne schon lange über ihn hinweggerauscht ist. Er wartet auf die zweite Drohne, die unweigerlich kommen muss. Sie sind immer paarweise unterwegs, halten einige Kilometer Distanz zueinander und durchkämmen die weiten, unwirtlichen Gebiete, die von versprengten LOWs bevölkert werden. Früher schaute er sich mit Bill die Luftaufnahmen bei einem Glas Wein an und lachte laut, wenn ein Wilder durchs Bild huschte. Jetzt ist er selbst einer geworden.

Gerade als er den Kopf heben will, vernimmt er erneut das typische Rauschen. Er duckt sich wieder. Sekunden später nähert sich der Schatten der zweiten Drohne. Sie überfliegt ihn etwas dichter als die erste und zieht ihre Bahn gemächlich weiter, bis auch sie hinter den Bäumen verschwunden ist. Er wartet reglos ab, bis er nur noch die vertrauten Geräusche des Waldes hört. Als er sicher ist, dass die Drohnen nicht umdrehen werden, stemmt er sich hoch und rennt zur Kapelle zurück.

Dort setzt er sich auf die Stufen. Sein Körper ist völlig entkräftet, aber sein Geist will nicht aufgeben. Er sieht in die Ferne. Er muss Kraft schöpfen. Er sucht die Quelle, die ihm den Mut und den Willen geben kann. Er kann es schaffen. Er muss es schaffen. Sein Blick schweift suchend in die Ferne. Da draußen, irgendwo da draußen muss sie sein.

1. KAPITEL

Eden, dreißig Jahre nach Einführung von NOW

Sparks Augen waren im Halbschlaf noch fest geschlossen, als das Echo eines Albtraums, der ihn seit Jahren regelmäßig heimsuchte, langsam im Nirgendwo verschwand. Er hatte einen leisen Ruck gespürt, als sein kapselartiger Lithos-Luftgleiter die mittlere Stratosphäre verließ, die Stummelflügel vergrößerte und die Nase auf die Pazifikküste ausrichtete. Schlaftrunken streckte er sich, zupfte die weiche Decke zurecht und überlegte, ob es wieder einmal der Traum gewesen war, der ihn geweckt hatte, oder nur die veränderte Flugposition.

Noch bevor er tiefer in sein Unbewusstes drang, sackte der Luftgleiter plötzlich durch. Spark riss die Augen auf, sein Herz pochte. Der Gleiter vibrierte heftig, fing sich dann aber wieder. Spark griff reflexartig nach den Lehnen des Sessels und klammerte sich fest. Er trug keinen Gurt. Und er war allein an Bord; es gab weder einen Piloten noch einen anderen Passagier.

Jetzt war er hellwach. Der Gleiter pendelte zunächst mit sanfter werdenden Bewegungen in eine ruhigere Fluglage und rauschte dann weiter, in flachem Winkel auf sein Ziel an der Pazifikküste zu.

Sparks Traum war schlagartig wie weggewischt. Er setzte sich auf, brachte die Lehne in eine aufrechte Position, schnallte sich erst einmal an und sah durch das bauchige Fenster hinaus, in den Himmel über ihm. Er betrachtete das kalte Schwarz des endlosen Weltraums, eine Farbe, die so tief war wie nichts auf der Welt, das er kannte. Dann blickte er zur Orientierung hinab auf die Erde und erkannte weit unter sich die Küste des ehemaligen Kaliforniens, wo jetzt das neue Eden lag, seine Heimat. Als sein Blick über das heitere Blau des Pazifiks wanderte, konnte er auf einmal die Erdkrümmung am Horizont deutlich sehen. Und dann, als der Gleiter sich zur Seite neigte, schillerte über der Erdkrümmung auf einmal die hauchdünne Atmosphärenschicht, ein unschuldiges Babyblau vor der tiefschwarzen Unendlichkeit des Weltalls. Spark betrachtete die Schicht aus Luft, die sich über die Erde spannte. Sie allein schützte den Planeten vor dem tödlichen interstellaren Raum. Diese Schicht erschien ihm im Vergleich zur Größe der Erde geradezu papierdünn, und doch machte sie das Leben auf dem Planeten überhaupt erst möglich.

»Die Natur kann man nicht betrügen«, hatte sein Vater immer gesagt, »alles, wirklich alles hat seine Grenzen.«

Spark hatte diesen Effekt während der vielen Flüge mit seinem Gleiter schon öfter wahrgenommen. Aber der Anblick dieser wie mit Händen zu greifenden Verletzlichkeit der Erde, die irgendwo mitten im tiefschwarzen, todbringenden und endlosen Nichts des Weltalls hing, war immer wieder überwältigend.

Noch leicht berauscht von dem Anblick, versuchte sein Verstand nachzuvollziehen, warum sein Gleiter eben reagiert hatte. Hier oben, in einer Reiseflughöhe von über dreißig Kilometern Höhe, war es mit minus vier Grad relativ warm. Sein vollautomatisches Fluggerät musste nach der Kurskorrektur plötzlich in kälter werdende Luftschichten darunter eingetaucht sein. Im Verlauf des weiteren Sinkflugs würde die Temperatur erst auf minus sechzig Grad absinken, bevor sie dann wieder anstieg, je näher sie der Erde kamen. Das war der inverse Temperaturverlauf, dachte er, möglich durch die vollständige Reparatur der Ozonlöcher. Zu Hause in Eden waren es angenehme achtundzwanzig Grad Celsius, wie er der Anzeige entnahm.

Die grüne Diode für »Soft Ride« leuchtete auf. Spark hoffte, dass es nun keine weiteren Turbulenzen mehr geben würde. Er blickte auf die leeren Sessel seines Gleiters.

Das nächste Mal, dachte er und schmunzelte zufrieden, werde ich auf dieser Reise nicht alleine sein. Ich werde sie endgültig mitnehmen.

Es war still um ihn herum, Spark hörte nur das veränderte Rauschen, das von den vergrößerten Tragflächen stammte. Der Gedanke an sie stimmte ihn heiter und gleichzeitig ungeduldig. Noch zweiundzwanzig Minuten bis zur Landung in Eden, las Spark auf dem Monitor, legte den Kopf zurück in das weiche Kissen und schloss die Augen, gerade so, als wolle er die restliche Flugzeit wieder in einen Traum flüchten, diesmal in einen, in dem sie die Hauptrolle spielte. Er versuchte sich auf sie zu konzentrieren, dachte an ihre samtweiche olivfarbene Haut, die großen grünen Augen und ihre perfekte Silhouette. Aber die Frage nach dem Sinn seines lästigen Traums von vorhin, der ihn immer wieder heimsuchte, drängte sich in den Vordergrund.

Er hatte noch nie irgendjemandem davon erzählt. Der Traum mit allen Sequenzen, die ihn so oft mit ihren plastischen, präzisen Details überraschten, war immer exakt der gleiche. Glasklar stand er vor seinem geistigen Auge. Es war ein Traum, der zu der Zeit spielte, als er noch ein kleiner Junge war, gerade sechs Jahre alt geworden. Er begann immer schön, in fast euphorischer Stimmung. Inzwischen war er dreißig Jahre älter, auf der Höhe seiner Kraft, zum Hüter der neuen, idealen Welt erkoren, aber die Erlebnisse seines eigenen sechsjährigen Ichs spukten immer noch in seinem Kopf herum und störten seine Gelassenheit. Irgendwo, dachte Spark, hatte sein Leben wohl ein Loch, das er füllen musste.

Sie waren auf die Kirmes gegangen, er und sein Vater. Es war Sparks Geburtstag. Sein Gesicht war mit bunter Zuckerwatte verschmiert, sein Bauch mit Marshmallows vollgestopft. Er sah die vielen bunten Lichter, hörte den Lärm der Karussells, das Kreischen der Kinder. In seinem Traum wurde die weitere Umgebung schlagartig ausgeblendet. Er sah sich selbst mit offenem Mund vor einer riesigen Geisterbahn stehen. Er wollte hinein, unbedingt, zerrte und zappelte an der Hand seines Vaters.

»Ich bin doch jetzt groß«, sagte er und wusste, dass man sich gruseln würde, wenn man da mitfuhr.

Da kam ein dicker Mann, dessen Gesicht Spark nicht erkennen konnte, auf sie zu, redete mit seinem Vater, lachte und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Er deutete auf die Papierkrone, die Spark auf dem Kopf trug, wie Kinder das tun, wenn sie Geburtstag haben. Dann zeigte er auf ein Schild, auf dem zu lesen war, dass Geburtstagskinder eine Freifahrt bekämen. Spark war stolz, dass er schon lesen konnte. Er war wirklich schon groß. Als sie hineingingen, war er euphorisch und aufgeregt. Er erinnerte sich, wie fest er die Hand seines Vaters gedrückt hielt. Im nächsten Augenblick sah er sich vor dem Schlitten stehen, der mit Totenköpfen und allerlei gruseligem Getier verziert war. Er sah die Schienen, die zu einer Schwingtür führten, hinter der die bedrohliche Höhle auf die Fahrgäste wartete. Kurz löste er den Griff um die Hand seines Vaters, um einzusteigen. Da kam ein Ruck, und das Gefährt fuhr auf einmal los. Er wurde auf den Sitz geschleudert und sah, wie sein Vater auf dem schmalen Bahnsteig stand. Perplex sah er ihm hinterher, dann rief er ihm etwas aus vollem Halse zu, schob den Mann beiseite und rannte los, aber der Wagen war zu schnell. Spark war allein. Er klammerte sich an dem Sitz fest und fuhr auf die Schwingtür zu. Allein …

Die Tür flog auf, und der Horror begann. Geheul, Spinnweben und beleuchtete Skelette, Frankenstein-Monster und Bettlaken mit roten Augen. Er konnte sich nicht sattsehen. Er spürte keine Angst. Auch die Piraten ohne Kopf und die bleiche Frau, die aus dem Sarg hochschnellte, als er vorbeifuhr, erschreckten ihn nicht. Nicht in seinem Traum …

Was ihn erschreckte, war das Ende der Fahrt, als er durch den Schlitz in der Schwingtür das Licht draußen sehen konnte. Plötzlich lief alles in Zeitlupe. Er konnte schon die Stimme seines Vaters hören, der nach ihm rief, und sah die Schienen, die ihn zu ihm tragen würden. Gleich wäre er an der Tür angekommen, gleich wäre die Fahrt zu Ende, doch dann, kurz bevor er wieder in die Heiterkeit und das Glück seines Geburtstags zurückgelangen konnte, bog die Bahn knapp vor der Tür auf einmal scharf rechts ab, berührte sie fast, doch sie führte hinab, immer tiefer in die Dunkelheit … Der Schlitten neigte sich zur Seite und wurde schneller, immer schneller. Die Räder kreischten, Spark wurde heftig geschüttelt und hin und her geworfen, er klammerte sich verzweifelt an die metallenen Streben des Schlittens, und die Fahrt ging weiter ins Bodenlose, ins schwarze Nichts, weg von der Welt, weg vom Licht, in irgendeinen Abgrund, und plötzlich wusste er, er würde seinen Vater, seine Mutter, Basky, den Hund, und sein Zimmer nie mehr wiedersehen. Das war der Punkt, an dem Spark für gewöhnlich aufwachte.

Der Gleiter hob die Nase, um abzubremsen, und stellte seine Rotoren langsam von Vorwärtsflug auf vertikalen Hub um. In wenigen Minuten würde er auf dem vollautomatischen Landing Dock aufsetzen. Spark öffnete die Augen, sah aus dem Fenster und erkannte den vertrauten Landeplatz. Er war entspannt, aber genauso ratlos wie vorher, weil er das, was in den Stunden vor seinem Abflug passiert war, nicht als Rückkoppelung mit seinem Traum in Verbindung bringen konnte. Er spürte, wie die Rotoren heftig vibrierten, weil sie das Gewicht des Gleiters zur Landung senkrecht trugen und mit wohldosiertem Schub das zwanzig Meter lange Gerät mit seiner Passagierkapsel über dem Landeplatz in die Magnethalterungen absenken ließen. Die Flügel surrten unter ihre Verkleidung zurück, und Spark sah die aufgedampften Sonnenkollektoren im Gehäuse des Rumpfes verschwinden.

Er dachte an seinen Vater, den er an jenem Tag verloren hatte. Am Abend, nach dem Besuch auf der Kirmes, war der fürchterliche Unfall passiert. Er hatte seinen Vater über alles geliebt.

Unwillkürlich fasste er sich an die linke Schulter, wo sein Vater ihm ein Andenken hinterlassen hatte: ein mehrschichtiges intelligentes Tattoo, mit einer Tinte gezeichnet, die auf Licht und elektromagnetische Wellen reagierte. Nicht mehr als ein paar kryptische Zeichen waren zu sehen, deren Sinn sich Spark entzog. Sein Vater war sonderbar gewesen, zuweilen. Liebevoll, wie nur ein guter Vater es sein kann, aber sonderbar. Spark durfte die Tätowierung nie verändern, hatte sein Vater ihm eingeschärft. Es würde sie beide auf immer vereinen. »Es ist mein Erbe an dich«, hörte Spark seinen Vater sagen, »das Erbe, das ich dir mitgebe.« Immer wieder hatte sein Vater ihm das eingeschärft. Und dann das Schlaflied gesungen.

Spark faltete die Decke zusammen, griff seine Tasche und stieg aus. Sein Lithos stand schon bereit, um ihn nach Hause zu fahren. Sie nahmen die Straße vom Landeplatz aus Richtung Eden, und Spark machte es sich auf der Rückbank bequem.

Sein Blick schweifte über das sanfte Tal, das von grünen Hügeln umgeben und von einem breiten, klaren Trinkwasser-Fluss durchschnitten wurde. Edens Lage war so gewählt worden, dass es genug frisches Wasser gab und nie zu heiß oder zu kalt wurde. In diesen Breiten, hatte der Algorithmus errechnet, herrschten die idealen Lebensbedingungen für den Menschen mit seiner empfindlichen Biologie.

Eden wurde jeden Frühling von einem endlosen Meer von Wildblumen umschlossen, die Böden hatten sich erstaunlich schnell erholt. Die intakten, artenreichen Wälder um Eden herum würden viele Jahrhunderte lang Sauerstoff in ausreichender Menge produzieren. Die Hochtechnologie hatte es möglich gemacht, Schadstoffe auf null abzusenken. Eden war die erste Stadt der Welt, deren Erbauung und Betrieb keinen Schaden an der Natur verursachte. Und sie war mithilfe des Superalgorithmus NOW so perfekt auf die menschlichen Dimensionen zugeschnitten und von so effizienter Ästhetik erfüllt, dass es der lebenswerteste Ort war, den Menschen je erschaffen hatten. Eden hatte sechshunderttausend Einwohner und war damit die größte Stadt des schmalen Streifens auf dem Globus, der den NOW-Gebieten vorbehalten war.

Sparks Lithos schoss auf der leicht erhöhten Umgehungstrasse am eigentlichen Zentrum Edens mit seinen historischen Metropolen nachgebauten, romantischen Stadtinseln vorbei, durchschnitt am östlichen Stadtrand die Ansammlung der vertikal begrünten Cluster-Türme, an deren Fassadenüberhänge sich Bäume, Gemüsebeete und Obstplantagen bis in den Himmel streckten, und fuhr dann gemächlich bergauf durch den Villenvorort, auf dessen höchstem Punkt Sparks eigenes Domizil stand. Spark wohnte im besten Stadtteil von Eden, was ihm aufgrund seines hohen Rankings auch zustand.

Vielerorts hantierten Robotertrupps in den prächtigen Gärten und schufen in wenigen Tagen aus ausgedruckten Drei-D-Teilen neue Häuser. Der Lithos nahm die letzte Anhöhe und bog in die Straße, von der aus er auf sein Grundstück gelangte. Vor ihm im Tal führte die aufsteigende Feuchtigkeit einen Tanz im Licht der Morgensonne auf. Spark seufzte unwillkürlich. Es gab in Eden keine Zäune, keine hohen Mauern und nirgends Warnhinweise. Es gab keine Kriminalität, keine Angst und keinen Neid. Ein Paradies, wie nur ein Gott es sich vorstellen konnte.

Der Lithos fuhr weiter bergan und klinkte sich in die Magnetschiene seines Gartens ein. Sensoren übertrugen seine Ankunft auf die Systeme im Haus, das von einer kuppelartigen Hülle überspannt wurde, die auch Teile des üppigen, tropisch anmutenden Gartens bedeckte.

Das Licht der aufgehenden Sonne wurde von der Oberfläche des träge dahinströmenden Flusses unten im Tal in flachem Winkel bis hier oben in die Vorstädte mit ihren Gartenanlagen reflektiert. Dies war beim Bau der Stadt berücksichtigt worden, damit möglichst viel Sonnenenergie von den intelligenten Außenverkleidungen der Gebäude genutzt werden konnte. Sparks Villa, die einen der Hügel dominierte, war so ausgerichtet, dass die ersten Strahlen die breite Seite des futuristischen Flachbaus unter der Kuppel trafen, dann im Laufe des Vormittags über die abgerundeten Kanten weiter wandern konnten und damit über den Tag gerechnet genug Strom erzeugten, um den ganzen Hügel zu versorgen. Die Villa war mit einer elektrochromen Folie beschichtet, die sich der Lichteinstrahlung anpasste.

Spark betrat seine Villa durch das Eingangsportal, das mit einem leisen Klack entsichert wurde, als er die vier Stufen emporschritt. Er warf seine Tasche auf den Empfangstisch links neben der Eingangstür und hörte die Stimme, mit der sein System ihn begrüßte:

»Willkommen zu Hause.«

Vier Tage war er nicht hier gewesen. Er wollte sich nach der langen Reise nach Zagoria, eines der entlegenen Ausbildungszentren, erst einmal frisch machen und umziehen.

Spark durchquerte die große, luftige Eingangshalle, sprang die geschwungene Treppe in den ersten Stock hinauf und überquerte die Galerie mit ihrem gläsernen Boden, die sich wie eine schwebende Brücke quer durch das Haus zog. Während er ins Bad ging, schaltete seine Villa die Außenhaut von abgedunkelt auf trüb und dann auf transparent. Auf seinem Weg konnte er die Details in seinem tropisch anmutenden Garten sehen, blieb kurz stehen und blickte zu der kunstreich verzierten Voliere im Garten hinter dem Haus. Er suchte das bunte Papageienpärchen, das dort wohnte. Sie saßen an ihrem Lieblingsplatz im obersten Stock der Freiluftpagode im Schatten zweier großer Palmen und schnäbelten unbekümmert.

Es war herrliches Wetter. Ein weiterer sorgenfreier Tag in Eden. So wie jeder Tag in Eden war, seit es die Stadt gab. Er spürte die tiefe Harmonie in seinem Inneren und seufzte wieder zufrieden. Dann blickte er auf den Timer und ging weiter in seinen Bädertrakt.

Rasch entkleidete er sich und warf seine Wäsche, die mit Sensoren bestückt war, in die dafür vorgesehene Klappe. Die Sensoren würden das hausinterne Transport- und Sortiersystem aktivieren, die Wäsche reinigen und über Förderbänder und mithilfe von Greifarmen wieder dem Ankleidezimmer zuführen.

Spark straffte die Schultern, spannte die Bauchmuskeln und musterte seinen durchtrainierten Körper im Spiegel. Er war zufrieden. Dann surrte eine Klappe im Spiegel zur Seite, und sein Zahnreinigungsapparat schob sich ihm entgegen. Fest biss er auf den Abdruck seiner Zähne. Sobald die Sensoren den Druck registrierten, lief der Timer. Die eigens für ihn angefertigten Zahnschalen schmiegten sich an seine Zähne und begannen mit einer sanften AirFlow-Reinigung. Der Timer blinkte, und eine Stimme ertönte aus der Glaswand vor ihm:

»Hi, Spark.«

Es war seine Assistentin, die auf den Namen Georgia hörte. Über hochempfindliche Mikrofone und ein komplexes System von Lautsprechern und dreidimensionalen Projektoren in allen Räumen konnte er mit dem System wie mit einer Person sprechen, die wirklich anwesend wäre. Die Projektoren konnten auf Wunsch ein Hologramm von ihr in den Raum werfen, sodass es wirkte, als habe das System einen Körper.

Spark hatte Georgia nach seinen eigenen Vorstellungen moduliert: Sie war eine humorvolle, stets höfliche Frau. Jeder in Eden konnte frei entscheiden, wie er seine Schnittstelle nutzte. Einmal konfiguriert, stellte sich der Algorithmus automatisch auf die Vorlieben, Launen und Bedürfnisse des jeweiligen Benutzers ein. NOW optimierte sich selbstständig und lernte alles über seinen Anwender, um ihm bestmöglich dienen zu können.

Georgia wusste, dass Spark zu Hause eher auf eine vertrauliche Anrede stand und nicht etwa mit einem förmlichen »Guten Morgen« begrüßt werden wollte. Das war Gästen vorbehalten.

»Hi, Spark«, wiederholte sie nun, da von ihm keine Antwort kam.

»MMMbbblrmmm!« Mehr bekam Spark mit dem leise vibrierenden Apparat in seinem Mund nicht heraus.

»Airflow empfiehlt ein Scaling in nächster Zeit. Airflow meint, dass sich etwas Zahnstein anzusetzen beginnt. Unten, innen.«

»MMMHHMM!«

»Sollen wir das jetzt gleich erledigen?«, fragte Georgia mit ihrer gutturalen Stimme, die ihm so gut gefiel.

Spark brummte zustimmend.

Das Summen in seinem Mund erstarb und schwoll dann zu einem hohen Sirren an. Spark merkte, dass sich die Zahnmulden in seinem Mund etwas gelockert hatten, der Scaler-Sonic-Strahl sich in hohem Tempo von Zahn zu Zahn vorarbeitete und den Zahnstein entfernte. Dabei beschädigte er nicht ein einziges Molekül vom Zahnschmelz. Das Ganze dauerte weniger als eine Minute.

Der Speichel, der als Reaktion auf die mechanische Reizung seiner Mundhöhle entstand, wurde durch einen der kleinen Schläuche, die Sparks Mund mit dem Spiegel verbanden, abgesaugt. Seine Assistentin projizierte indessen die neuesten Vorschläge für die Inneneinrichtung der Yacht, die er gerade bauen ließ, vor seine Augen, um ihn während der Prozedur abzulenken. Spark betrachtete die dreidimensionale Präsentation. Er bevorzugte ein minimalistisches, elegantes Design für die öffentlichen Bereiche, wie etwa den Decksalon und die Bars. Die Kabinen und das Kaminzimmer sollten mit ihrem maritimen Look vor allem gemütlich und behaglich wirken. Die Yacht würde einhundertzwanzig Meter lang werden, der Rumpf war bereits fertig und mit der neuesten Technik ausgerüstet. Die Bordwände ragten in einer glatten, ununterbrochenen Fläche von der Wasserlinie neun Meter in die Höhe, um ein Entern zu verhindern, wenn er in nicht gesicherten Gebieten der LOW-Gebiete unterwegs war. Stand man auf der Yacht, sah man nur Holz, Glas und Stahl. Das System begleitete die Projektion der Designvorschläge mit einem Klangteppich.

»So. Schon erledigt!«, schnurrte Georgia kurz darauf zufrieden, und die Bilder verschwanden.

Spark öffnete den Mund, und der AirFlow glitt hinaus. Die transparente, türkis schimmernde Kunststoffstruktur zog sich in die Wand vor ihm zurück, und die Klappe schloss sich. Spark spülte den Mund aus und fletschte die Zähne vor dem Spiegel. Er sah sein makelloses weißes Gebiss und fuhr mit der Zunge über den glatten Zahnschmelz.

Die Holzverkleidung der Waschtischumrandung unten öffnete sich und nahm das Glas Quellwasser wieder auf, das exakt auf Sparks Körpertemperatur an diesem Morgen vorgewärmt worden war. Eine Anzeige erschien auf dem Spiegel: »Bakterieller Befund: 100 %. Mundflora: Gesund. Entzündungswerte: N. V. PH: 7,36.« Eine grüne Anzeige leuchtete auf. Nachdem die Eye-Ball-Kennung registriert hatte, dass Spark die Anzeige gelesen hatte, erlosch sie.

»Ein bisschen Bewegung?«, fragte Georgia. »Nicht, dass du’s bräuchtest, aber es wäre noch genug Zeit dafür«, fügte sie hinzu.

»Nein, jetzt nicht. Ich rasier mich erst mal.«

Spark begann mit einem altmodischen Rasierpinsel zu hantieren und schäumte Seife von einem faustgroßen Block auf. Dabei stieg ihm der Duft von der Blüte einer wild wachsenden sizilianischen Kapernart in die Nase. Seine Assistentin registrierte die Moleküle in der Luft und analysierte die Intensität. Er klappte sein geliebtes Barbiermesser auf, zog es über das Wetzleder und schabte sich mit sicherem Schwung den Schaum zusammen mit den kräftigen, bläulich schwarzen Bartstoppeln vom Gesicht. Spark hatte als kleiner Junge seinem Vater gern beim Rasieren zugeschaut und von ihm die Technik und Raffinessen dieser altmodischen Art der Rasur abgeschaut. Als ihm selbst der Bart zu wachsen begann, entschied er sich, es seinem Vater gleichzutun. Das Rasieren war zu einem Ritual geworden, das er liebte.

Spark wusch sich die Seifenreste vom Gesicht, griff nach einem körperwarmen Wabenhandtuch aus Eukalyptusfasern, das an diesem Morgen mit etwas heilsamem Zimtöl verfeinert war, und trocknete seine Wangen ab. Zufrieden musterte er sein Antlitz. Aus dem Spiegel vor ihm tastete ein Niederfrequenz-Laser jede Pore seiner Haut ab, ohne dass er etwas davon mitbekam. Der Laser untersuchte die Hautstruktur, verdächtige Muttermale und Flecken und analysierte die Beschaffenheit der Nährsubstanzen in Sparks Haut. Ein UltraLightScanner tastete in einer Millisekunde seinen Augenhintergrund ab und suchte auf der Netzhaut nach geplatzten Äderchen und Veränderungen, die auf ein mögliches organisches Problem hinwiesen.

Eine weitere Klappe öffnete sich, und Spark entnahm die bereitgestellte Lotion aus Traubenkernextrakten, die das Hautanalyseprogramm heute empfahl, um sich nach dem Duschen einzucremen.

Dann trat er in den WashTower und ließ sich von den Düsen waschen. Seine Assistentin stellte inzwischen in einer Klappe die benötigten angewärmten Handtücher bereit. Dann kontrollierte sie die Wetter- und Temperaturdaten für den Tag, erfasste die anstehenden Termine und erstellte anhand der Sensoren in seiner Kleidung eine aktualisierte Inventur seines DressTowers.

Spark stand nach der Waschung splitternackt in seinem Bäderbereich und trocknete sich ab. Sorgfältig massierte er die Lotion in seine Haut ein. Während er die nährreiche Creme mit ihren vierhundert Bestandteilen verrieb, fragte er:

»Was haben wir heute vor, Georgia?«

»Wir werden die Dampfung der Metallfolie am Haus erneuern, es soll ein warmer Sommer werden, und wir wollen die Isolierung überprüfen. R218 erledigt das. Dann werden die neuen Solarpaneele darüber gedampft. Bis heute Abend ist alles fertig. Um elf Uhr fahren wir zu deinem Onkel Bill ins Archiv. Mittagessen. Dein Essen kannst du auf der Fahrt im Lithos aussuchen, wir haben jetzt das neueste Modell im Port, und ich hab schon geladen, was es heute gibt. Um fünfzehn Uhr sind wir – das wird dir gefallen – bei der Werft, Modelle besprechen. Danach fahren wir zum Einkaufen in den VerticalStore. Da gibt’s neues Obst. Und heute Abend ist Festival. Du wirst Gäste in deiner Loge haben.«

»Okay. Schön. Ein neuer Lithos, hast du gesagt?«

»Ja, Eleanor hat ihn hergeschickt, meine Kollegin mit dem wehenden Mäntelchen.« Georgias Stimme klang abfällig.

»Und, wie ist er?«

»Sehr schick! Lange Schnauze, weiches Sofa, bequeme Kissen aus Eukalyptus, und du kannst stehend ein- und aussteigen, weil das Dach nach oben fährt.«

»Aha«, grummelte Spark, »bin ja mal gespannt.«

»Du siehst übrigens super aus«, ließ sich Georgia vernehmen. »Ich sag das nicht, weil ich muss!«, fügte sie schnell hinzu.

»Schwindlerin!«, erwiderte Spark mit einem Schmunzeln. »Ich zieh mich jetzt an.«

Spark verließ den Bäderbereich, überquerte die geschwungene Galerie und sah dabei nach oben durch das transparente Dach. Weiße Wolken zogen gemächlich über den kobaltblauen Himmel. Herrliches Wetter.

Er betrat, immer noch splitternackt, seinen DressTower, einen geräumigen, luxuriös ausgestatteten Ankleideraum, wie in einer Edel-Boutique.

»Lass mal sehen!«, befahl er und baute sich vor dem Panoramaspiegel auf.

»Ich komme!«, sagte Georgia und erschien Augenblicke später als lebensgroßes Hologramm im Raum neben Spark.

Spark musterte sie. Georgia hatte sich als Ankleiderin bei Hofe zurechtgemacht, gekleidet in ein Monstrum aus gelbem Tüll, dekoriert mit einem Maßband, das ihr um den Hals hing, einem Nadelkissen, das auf ihrem Handgelenk prangte, und einer Schneiderschere, die ihr an einer Kette um den Hals hing. Ihr Gesicht war bleich geschminkt und mit auffälligen Schönheitsmalen dekoriert.

»Hübsches Kleid!«, bemerkte er sarkastisch. »Aber lass den Quatsch weg!«

Georgia errötete und seufzte geziert: »Mon Dieu. Kein Sinn für Romantik, der Seigneur!« Binnen eines Bruchteils einer Sekunde hatte sich Georgia ihrer Verkleidung entledigt.

»So, jetzt seh ich wieder normal aus. Okay?«, schmollte sie.

»Braves Mädchen«, kommentierte Spark und ließ kurz den Blick über ihre Gestalt gleiten.

Georgia war jetzt in einen dunkelblauen, geradlinig geschnittenen Businessanzug gekleidet, der ihre Figur betonte, ohne zu sexy zu wirken. Ihre Haare waren von einer lockigen, barocken Turmfrisur zu einem kastanienbraunen Wasserfall geworden, der ihr ebenmäßiges Gesicht umspielte. Sie war eine attraktive Erscheinung.

»Was hast du ausgesucht?«, wollte Spark wissen.

Der Panoramaspiegel wurde durchsichtig, und dahinter erschienen sechs lebensgroße Projektionen Sparks in sechs verschiedenen Outfits.

»Das da«, sagte Spark und deutete auf ein sportlich-elegantes, bis hin zu den Schuhen stimmiges Ensemble rechts von ihm. »Das nehm ich. Aber ohne Hut!«

»Liegt schon bereit, bis gleich«, gurrte Georgia, machte einen Kussmund, und ihr Hologramm verschwand. Spark hörte, wie die Roboter im Schrank die passenden Kleidungsstücke auf den stummen Diener beförderten.

»Ich hab übrigens drauf gewettet, dass du das nimmst«, ertönte ihre Stimme im Raum.

»Naseweis!«

Spark hörte ihr fröhliches Lachen. »Gotcha, Babe!«, hauchte sie zufrieden und ließ ihre Stimme jetzt dunkel klingen.

»Hauptsache, du hast Spaß!«, knurrte Spark.

»Das ist es doch, worum’s geht, oder nicht?«

»Jaja, hast ja recht«, wiegelte Spark ab.

»Warum sollte irgendeine lebende Kreatur in Schmerz und Leid existieren? Wo doch jeder nur Spaß und Freude am Leben haben sollte! Oder?« Spark registrierte, dass das Neckende in ihrem Tonfall verschwunden war. Sie klang auf einmal ganz ernst.

»Spaß und Freude haben und mit dem Material, das die Erde uns gibt, etwas anfangen«, ergänzte Spark ihren Gedanken. Eine Verkleidung des Schrankes glitt zur Seite, und eine Ankleidepuppe mit seinen auf Körpertemperatur angewärmten Kleidungsstücken wurde herausgeschoben. Spark zog sich Unterwäsche, Socken und die Hose an.

»Das ist doch auch Spaß!«, insistierte Georgia, immer noch aus dem Off.

»Früher nannte man das Arbeit. Man lernte etwas, ließ sich mit seinen Fähigkeiten auf Zeit mieten und bekam Geld dafür, sodass man sich kaufen konnte, was man brauchte.«

»Das hat die Menschen depressiv und krank gemacht, sie fühlten sich versklavt, das war kein Spaß! Früher jedenfalls«, bemerkte Georgia. Ihr großer Kopf erschien dicht vor Sparks Gesicht.

»Was weißt du denn schon über früher?«, hielt Spark dagegen und sah ihr in die Augen.

»Alles, mein Lieber. Alles!«, säuselte sie ihm ins Ohr. Spark musste schmunzeln, als er hörte, wie perfekt die Stimme verschiedene Stimmungen ausdrücken konnte.

»Auch jedes Geheimnis?«, fragte Spark leicht provozierend.

»Jedes Geheimnis«, antwortete Georgia ernst. Sie stand jetzt wieder in ihrer ganzen Gestalt vor ihm. »Und«, fügte sie nachdenklich hinzu, »auch alle Geheimnisse, die gar nicht mehr in euch Menschen hineinpassen. Die kenne ich auch. Alle. Und zwar seit meiner Geburt.« Sie schaute Spark so an, wie sie es immer dann tat, wenn ihre Programmierung über Ursachen und Wirkung von Emotionen der menschlichen Seele an Grenzen stieß: nachdenklich und abwartend. Es entstand eine Pause.

»So, Schluss jetzt, ich zieh mich an«, sagte Spark, der an diesem Morgen keine Lust auf Small Talk hatte.

»Man wird ja wohl noch …«, fügte Georgia keck hinzu.

Aber weiter kam sie nicht. Spark klickte sie mit einer Bewegung seines Unterarms weg, wo sein USHAB seit der Übernahme durch NOW tief im Knochen eingepflanzt war. Es war das universale Endgerät, über das jeder Benutzer NOW bediente. Es enthielt die Kennung, kommunizierte mit allen Sensoren und steuerte den permanenten medizinischen Check. Georgia wurde stumm und verschwand, was ihm im nächsten Augenblick fast wieder leidtat. Es war Teil des Systems, dass die Benutzer, wenn sie wollten, Gefühle für das System entwickelten.

Er klickte ihre Stimme mit der Gestensteuerung seines USHABs wieder an.

»Also gut, Georgia, du hast recht. Ich gebe mich geschlagen. Willst du mitkommen zum Anziehen? Wollen wir weiterreden?«

»Nein, mach nur. Das ist mir im Moment peinlich. Außerdem habe ich zu tun. Ich erstelle gerade das Upgrade der Puppet Master für die CryptoCurrency. Ich komm dann nachher mit in den Garten. Okay? Cheerio …«

»Aber du bist nicht beleidigt?«

»Wie sollte ich? Ich bin doch nur eine Maschine. Es ist alles gut. Ich liebe die Gespräche mit dir. Deine Knurrigkeit am Morgen ist aber manchmal schon ein bisschen seltsam. Aber ich liebe dich trotzdem. Klick mich nur ruhig weg, Liebster!«

»Miststück!«, entfuhr es Spark.

»Das habe ich gehört!«, lachte Georgia aus dem Off.

Spark kleidete sich an, ging bestens gelaunt hinab in die Wohnhalle und trat auf die weitläufige Terrasse. Er nahm etwas Vogelfutter in die Hand und schlenderte hinüber zum Pavillon, wo er von den kreischenden Papageien begrüßt wurde. Aus dem Augenwinkel sah er eine winzige Drohne, die in die Voliere flog, sich dem Klecks näherte, den einer der Papageien fallen gelassen hatte, und mit einer feinen Nadel eine Probe sog.

Zwei Captains – menschliche Diener ohne volle Zugangsberechtigung zu NOW – erhielten gerade ihre Anweisungen von der allgegenwärtigen Georgia. Spark war sehr anspruchsvoll, was seinen Garten anging. Sein Lieblingsbaum war die riesige, ausladende Zeder in der Mitte des nördlichen Teils des Gartens, ein Klon der berühmten Piemonteser Zeder, die anlässlich einer Savoyer Hochzeit im siebzehnten Jahrhundert gepflanzt worden war. Sie musste regelmäßig und sehr behutsam zugeschnitten werden. Ihr Umriss erinnerte ihn an eine perfekt getrimmte Bonsai-Zeder, allerdings war sie über dreißig Meter hoch. Zwei der unteren Äste wuchsen horizontal durch den Garten. Darüber türmte sich das Geäst in perfekten Symmetrien bis in den Himmel. Es sah unwirklich aus, wie eine künstliche, aber lebende Pyramide, die sich sanft im Wind wiegte, und Spark liebte den Kontrast, der ihr innewohnte. Der Baum war ein Kunstwerk, das Ergebnis einer Zusammenarbeit von Natur und Mensch.

Nachdem Spark die Papageien gefüttert und sich mit Georgia über seine weiteren Pläne unterhalten hatte, machte er sich auf den Weg in den TransTower. Georgia wartete bereits neben dem Lithos, der silbrig schimmernd in der Garage stand, das Dach bereits geöffnet und fertig zum Einsteigen. Sie hatte die Haare hochgesteckt, eine große Brille auf der Nase und ein elegantes Halstuch um den schlanken Hals drapiert. Sie wusste genau, dass er diese kleinen Verkleidungsspiele mochte.

»Sir«, intonierte sie geschäftsmäßig.

»Danke«, quittierte Spark mit einem Lächeln und nahm in dem duftenden Ledersessel Platz.

Die Magnetmotoren begannen zu surren, und der Lithos setzte sich lautlos in Bewegung, geleitet vom Dopplersystem aus Resonance Rails und winzigen Drohnen, die ihn eskortierten.

Der Wagen glitt nach einer halben Meile durch das Tor auf die Ausfahrt, klinkte sich in den Rail ein, verlängerte aus aerodynamischen Gründen mit zunehmender Geschwindigkeit seine Form um einen halben Meter und beschleunigte auf ein irrwitziges Tempo, mit dem er auf der Malleability Avenue zum Zentrum Edens strebte. Die blanken Häuserfassaden mit ihren lang gezogenen Screens an den Wänden schossen an Spark vorbei, die Bilder gestochen scharf, wie festgefroren.

Eden war die wichtigste Stadt der NOW-Zone, und in ihr lebten die Schlüsselfiguren des Systems. Obwohl Eden mit einer vollständig autonomen Liquid Democracy Structure konzipiert war, die das Leben vollautomatisch regelte, mussten hochrangige Impulse Giver und einige ausgewählte Entscheider physisch an einem Ort versammelt sein. Nicht-Impulse-Giver, die übrigen Bürger NOWs, egal welchen Rankings, konnten sich aussuchen, in welcher der traumhaften Destinationen sie leben wollten.

Die Fahrt ging vorbei an den Vororten, erreichte dann die Cluster-Zonen, wo die Häuser dichter standen, und verlangsamte sich schließlich zu einer gemächlichen Gleitfahrt, als der Lithos die Grenze des detailgetreuen Nachbaus von Notting Hill erreichte. Sie durchquerten die quirlige und heimelige Londoner Innenstadt, fuhren dann wenig später an den vollen Cafés von Trastevere vorbei, überquerten den Fluss über die Pont Neuf und erreichten auf der anderen Seite das Gebäude aus federleichtem Fiberglas, in dem das Archiv untergebracht war. Es war die wichtigste Einrichtung von NOW und das einzige Gebäude mit Sicherheitsvorrichtungen. Der Archivar und damit Chef des Hauses war Bill, Sparks Onkel.

Nachdem die Sensoren Spark erkannt hatten, öffnete sich das Gate zum Archiv.

Georgia erschien auf dem großen Monitor des Lithos. Sie hielt einen Spiegel vors Gesicht und überprüfte ihren Look. Kurz leckte sie sich über die Zähne, als müsste sie Reste von Lippenstift beseitigen. Dann zupfte sie ihr Halstuch zurecht, hauchte ihre schwarze Brille an und polierte sie am Revers ihrer Kostümjacke, wobei sie einen ironisch-flirtenden Blick in Richtung Spark aus ihren dezent geschminkten Augen abfeuerte.

»Na, dann wollen wir mal«, sagte sie zu Spark. »Ich bin bereit.«

2. KAPITEL

Im Archiv, wenig später

»Herzlich willkommen, Spark«, sagte der ältere der beiden Captains, die schon seit Jahren für das Archiv zuständig waren. »Bill ist noch im Base58. Er bat uns, schon mal nach oben in sein Quartier zu gehen. Bei dem schönen Wetter werden wir auf der Terrasse essen, hat Bill angeordnet.«

»Wunderbar«, sagte Spark. Sein Blick schweifte durch die Halle. Sonnenlicht fiel auf den Boden und brachte den schiefergrauen Granit zum Leben. Die Täfelungen der hohen Wände waren aus weichem Whitewood-Holz gefertigt, das mit seiner weißlich gelben Grundfarbe und den braunen und grünen Kernen das Licht aufnahm und reflektierte. Die dahinter angebrachten Screens zeigten Panoramaaufnahmen der NOW-Welt.

Georgia räusperte sich. »Deine Bestellung?«

»Ich nehme Steak, Salat und Pommes frites«, sagte Spark. »Ganz einfach.«

»Medium rare, wie immer?«, vergewisserte sich der Captain.

»Genau. Übrigens, wenn Bill alleine ist, würde ich gern ins Base58 gehen. Ich kann ihn dann ja nach oben begleiten.«

Bill hatte das Base58 nach der Jahreszahl benannt, in der die US-Behörden als erste Regierung der Welt mit der Speicherung von digitalen Daten begonnen und damit eine neue Investitionsform für Firmen geschaffen und die digitale Revolution möglich gemacht hatten: 1958. Ein würdiger Name für einen derart geschichtsträchtigen Ort.

Es dauerte einen Moment, bis das Hologramm von Bills Assistenten erschien. Spark stellte sich vor, wie Bill den Befehl sorgfältig formulierte, ignorierend, dass die Kommunikation zwischen Menschen und NOW keine zeitliche Ausbreitung mehr brauchte.

»Hallo, Spark«, ertönte die blechern klingende Stimme des namenlosen Assistenten. »Bill erwartet dich. Es wird nicht lange dauern, bis er fertig ist, aber du kannst gern zu ihm gehen.« Das Hologramm verschwand wieder.

»Als hätte er einen Spazierstock verschluckt«, lästerte Georgia in Sparks Ohr. »Und unhöflich dazu.«

Spark nickte dem bereits verflüchtigten Hologramm zu und setzte sich in Bewegung.

Bill. Sie hatten sich lange nicht mehr gesehen und immer nur über Cloud kommuniziert. Spark dachte unwillkürlich an den Unfall seines Vaters zurück, er war ganz hier in der Nähe passiert. Bill war danach sein Vormund und Mentor geworden, und mehr noch, er hatte sich rührend um ihn gekümmert. Wie ein echter Vater. Er hatte seine Anteile an der Firma EUKARYON verwaltet, bis Spark achtzehn Jahre alt geworden war. So hatte es das Testament vorgesehen. Sparks Anteile, ursprünglich ein riesiges Vermögen, waren wie alle Geldwerte von NOW in Zugang umgewandelt worden: Spark hatte sein AAA-Ranking quasi ererbt und damit den umfassendsten Zugang zu den Wunderdingen der NOW-Welt erhalten. Welch ein unfassbares Privileg, dachte er häufig und so auch jetzt.

Die endlosen Algorithmenketten, die zum Meta-Algorithmus NOW geführt hatten, waren hier konzipiert und als Entwicklungsplattformen gespeichert worden. Das Archivgebäude war tatsächlich der Ort, an dem NOW programmiert worden war. Hier hatte sein Vater nächtelang vor den Bildschirmen gesessen und Hypothesen in Algorithmen gießen lassen. Spark erinnerte sich an die geröteten Augen seines Vaters am Frühstückstisch und dass er sich manchmal gefragt hatte, weswegen sein Vater so geweint hatte. Nun wusste er es: Sein Vater hatte hier, genau hier, eine der größten Erfindungen der Menschheit vorangetrieben, um dem ausweglos scheinenden Leid auf diesem Planeten ein Ende zu setzen.

Dort, wo das Archiv heute stand, hatte sich der Firmensitz der ehemaligen Firma EUKARYON befunden, die damals noch Bill und Sparks Vater gemeinsam gehört hatte. EUKARYON war die innovativste Speerspitze der damaligen Algorithmenintelligenz, weil sie nicht daran gebunden war, an dem Wettkampf um die wirtschaftlichen Monopole teilzunehmen, in dem sich die Internetplattformen und Hightech-Giganten zerfleischten. Nein, EUKARYON war schon früh von seinem erbittert gegen Ungerechtigkeit und Armut kämpfenden Vater konzipiert worden: als eine nichtkommerziell genutzte Sammelstelle von Know-how für die Software, die dem Elend auf der Erde ein Ende setzen und die Gesellschaft neu gestalten würde. Die glückliche Verbindung von Sparks Vater zu Bill, der als zynische Geheimdienstlegende mit seinen Nachrichtendiensten über heimlich installierte »Clipper Chips« bei allem, was im Silicon Valley entwickelt wurde, mitlesen konnte, schaffte einen geheimen Korridor, auf dem EUKARYON die bedrohlich angewachsene Macht der gigantischsten Firmen, die es in der Geschichte der Menschheit je gegeben hatte, neutralisieren konnte. EUKARYON schuf das Monopol für die neue Weltformel selbst, und zwar schneller als alle anderen. Die Tatsache, dass Bill durch sein Amt Einfluss auf die Präsidentin hatte, während Sparks Vater ihr Anwalt war, trug nicht unwesentlich dazu bei, dass das Modell der künstlichen Intelligenz von EUKARYON in einem Testlauf simuliert und für gut befunden wurde. Es war das Ende der Politik, das Aus für das Rechtssystem und die Stunde null für die Abschaffung des Geldes. Als begrenzter, streng geheimer Versuch und eigentlich unter Kontrolle des Staates, hatte sich der Algorithmus binnen Kurzem über alles gelegt. Nicht wie ein Virus, der aus einem Labor ausbricht, sondern wie eine neue Sonne, die über der Menschheit aufging.

Genau hier, wo sich heute das Archiv befand, war darüber entschieden worden, wer überleben würde und in das neue Paradies mit einziehen durfte. Das Wertvollste, der Genpool der menschlichen Rasse, musste in seiner gesunden Vielfalt erhalten bleiben, und alle Chancen mussten gewahrt werden, damit er sich weiterentwickeln konnte. Auch die Kernfrage, wie der Mensch unter seinesgleichen leben sollte, wurde hier neu aufgegriffen, nachdem sich abzeichnete, dass alle vorigen Gesellschaftsmodelle und Sozioökonomien gescheitert waren.

NOW berechnete aber nicht nur die biodynamische Erfassung der Menschheit, sondern auch qualitative Zuordnungen: Schönheitsideale, Stimmungen, Hormone, Triebe und Bewertungen der Genealogie, all das fasste NOW zusammen und verknüpfte es zu einem neuen, universellen Gesamtbild des Menschen. Sprache und Literatur, Musik und Kunst, Physik und Chemie, Elektronik und Mechanik. Das gesamte Wissen der Menschheit, die Millionen Jahre dauernde Entwicklung, die Ausprägung der menschlichen DNA und deren Verteilung über die Erde. Die Mechanik der Entwicklung von gengesteuerten Schwächen und Stärken. Von den unzähligen Ausprägungen von Intelligenz und den unterschiedlichsten emotionalen Fähigkeiten. Vom Schnupfen bis hin zu Erbkrankheiten und Krebs. Von Langlebigkeit und Kindersterblichkeit. Von der biologischen und der kulturellen Evolution. Von der Gehirngröße und ihrer historischen Entwicklung. Alles wurde in NOW vereint und programmiert.

Die Wissenschaftler tauchten tief in sämtliche verfügbaren Daten und Aufzeichnungen ein, um zu lernen und nicht zuletzt um Schlüsse zu ziehen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich Ereignisse wiederholten. Am Ende ging es bei NOW um die Frage, wie für die Menschheit negative Ereignisse in der Zukunft vermieden werden könnten. Dazu musste NOW lernen, was warum in der Vergangenheit wie geschehen war, welche Scheidepunkte negative und positive Auswirkungen gehabt hatten und welche einzelnen Punkte miteinander in Zusammenhang standen. Ein gewaltiges vieldimensionales Gitter-Puzzle galaktischen Ausmaßes, verwoben und zusammengehalten durch die unbestechliche Logik der Mathematik mit ihren absurdesten Ausprägungen. NOW war der Weisheit letzter Schluss und damit die letzte Chance für die Menschheit.

NOW lernte auch von Schuld und Sühne. Von Konsequenzen und Ursachen. Von Leid und Unsicherheit. Von tiefer Verzweiflung und religiös bedingter Hoffnung. Von Belohnung und Bestrafung. Von Güte und Brutalität. Von Wahrheit und Lüge. Von Glück und Unglück. Und von der Liebe.

Eigentlich, dachte Spark, war NOW die Perfektion des Menschen, geschaffen durch den Menschen. NOW hatte alles, wusste alles, konnte alles. Ein Traum aller Philosophen, so undenkbar perfekt wie das, was die Menschen früher Gott nannten.

All dies ging Spark durch den Kopf, als er in den Aufzug trat und in Begleitung der beiden Captains hinab ins Base58 fuhr.

Im Aufzug, dessen transparente Innenverkleidung aus leitfähigem und flexiblem Graphen bestand, erschien während der Fahrt hinab ins Base58 der berühmte, historisch wichtige Slogan:

Im Glücke brennen die Lebenslust und Kraft.

NOW, die autopoetische künstliche Intelligenz, hatte das Gedicht eines tatarischen Rebellen kondensiert und daraus eine Maxime des Lebens geformt. NOWs »Mission Statement«, wie ein eifriger ehemaliger Vorstandsvorsitzender es genannt hatte. Es war der erste Beweis, dass NOW auch dichten konnte und damit menschliche, poetische Fähigkeiten bewiesen hatte.

Der Aufzug hielt sanft auf der untersten Ebene. Die Türen glitten zur Seite, und die beiden Captains ließen Spark den Vortritt.

In der zwanzig mal zwanzig Meter messenden Halle, die die Base58 beherbergte, befand sich die einzige noch existierende manuelle Schnittstelle zu NOW. Eine Handvoll aus EUKARYON