Nur ein Schubs - Jan Bobe - E-Book

Nur ein Schubs E-Book

Jan Bobe

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Die Reihen auf dem Berliner Platz lichten sich. Ausgerechnet die ärmsten Seelen der Gütersloher Trinkerszene streichen reihenweise die Segel. Mal geraten sie vor dem Amtsgericht unter einen Lkw, mal knallen sie hinter der Martin-Luther-Kirche an einen Laternenpfahl, mal purzeln sie an der Alten Weberei in die Dalke und ertrinken. Selbst die zerbrochene Schnapsflasche an der Diekstraße entwickelt noch genügend tödliches Potenzial. Bei Polizei und Rettungsdienst macht sich Erleichterung breit. Nur allzu gern deckt man den Mantel des Vergessens über die Verblichenen, denn sie waren nicht gerade beliebt. Nur Dierk-Helge Reuter-Ritterling, der junge hyperaktiver Ermittlungsterrier vom 4. K, vermeint in den alkoholschwangeren Todesfällen ein Muster und damit die Handschrift eines Serientäters zu erkennen. Und welche Rolle spielt der illustre Bauunternehmer Sandmann, der plötzlich und unbegreiflich ein lukratives Projekt vor die Wand fährt, das Kapital abgreift und untertaucht? Waren die Verblichenen etwa Leichen aus seinem Keller? Dierk-Helge beißt sich in der Sache fest, allem Spott zum Trotz. Eigenständig nimmt er Ermittlungen auf, droht aber im Akten-Tsunami seines Massenkommissariats zu versumpfen. Hilfe bekommt er nur von den Streifenpolizisten seiner alten Dienstgruppe, die einmal mehr unter Beweis stellen, dass Polizei eine Kunst ist, die auf der Straße gelernt und ausgeübt wird und nicht in einem Büro. "Nur ein Schubs" spielt in Gütersloh. An authentischen Orten erzählen reale Personen wahre Geschichten und spinnen einen Handlungsstrang, der quer durch Ostwestfalen bis nach Spanien, Griechenland und auch in die Karibik führt, schließlich aber unweigerlich wieder in Gütersloh endet.

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Nur ein Schubs

  ein Gütersloh-Krimi

Texte: © Copyright by Jan Bobe

Gestaltung: Eckard Klessmann

Coverfoto (Dalkebrücke an der Weberei): Detlef Güthenke

Lektorat. Elisabeth Jürgens

Beratung: Tina Gallach

Nur ein Schubs ist ebenfalls als Taschenbuch erhältlich im

Vox-Rindvieh-Verlag M. Borner

ISBN 978-3-98-201571-2

www.ostwestfaelisch.de

Bevor es losgeht

Fast wäre diese Geschichte tatsächlich passiert, im Zuge der Finanzkrise irgendwann vor ein paar Jahren. Denn einige der handelnden Personen sind nur allzu real. Keine Sorge, sie alle haben mir ihre Erlaubnis für ihren Auftritt in diesem Buch gegeben. Zudem haben nicht wenige der Szenarien und Begebenheiten tatsächlich genauso stattgefunden, wie sie hier beschrieben sind. Allerdings zu einer anderen Zeit, an anderen Orten und mit anderen Menschen, sodass auch hier ein Rückschluss auf die tatsächlich Beteiligten nicht möglich ist. Leider hat es eine Firma Sandmann und eine Landsparkasse Bockhorst aber nie gegeben, also musste ich die gesamte Handlung dann doch erfinden.

Sollte Sie daher nun beim Lesen plötzlich das Gefühl beschleichen, sich selbst wiederzuerkennen, dann habe ich Sie entweder vorher angesprochen, oder aber diese Ähnlichkeit wäre rein zufällig und völlig unbeabsichtigt.

Was ist wahr, was geflunkert? Mit der Lösung dieser zentralen Frage wünsche ich Ihnen, liebe Leser, viele frohe Stunden.

Eine Bemerkung zur Polizei Gütersloh ist noch erforderlich. Sie ist eine reale Behörde, der ich zu allem Überfluss selbst seit etwa vierzig Jahren sehr gerne angehöre. Ihre Darstellung bereitete mir deshalb Kopfzerbrechen, sie musste besonders fiktiv ausfallen. So braucht es niemand wundern, wenn in diesem Buch die Polizei immer noch in ihrem alten, maroden Standort an der Berliner Straße festhängt, obwohl sie in Wirklichkeit bekanntlich schon 1998 in einen topmodernen Neubau an der Herzebrocker Straße umgezogen ist.

Sollte trotzdem jemand hoffen oder befürchten, dass hier aus dem Nähkästchen geplaudert oder gar schmutzige Wäsche aus all der Zeit hervorgekramt und gewaschen werden soll, so muss ich diejenigen enttäuschen. Auch nach intensiver Suche habe ich nichts gefunden, was auch nur ein kleines, hinterhältiges Nachtreten wirklich gelohnt hätte. Eigentlich jammerschade, denn die Gelegenheit wäre erstklassig gewesen.

Nein, ganz im Gegenteil: Ich habe kein einziges der vielen Jahre bereut. Es war immer sehr nett und unglaublich spannend in der echten, der wirklichen Polizei Gütersloh, die mit dieser Geschichte nicht mehr zu tun hat als mit der alten Seidenweberei der Gebr. Bartels, in der sich nun schicke Loftwohnungen befinden. Die heutigen Bewohner der alten Wache haben hier allerdings die einmalige Chance auf einen Blick in die skurrilen Geschichten, die in den dicken Mauern um sie herum zu Hunderten schlummern.

Jan Bobe

Prolog

Sommer

Grelle, blaue LED-Blitze durchschnitten die Nacht und warfen bizarre Muster an Bäume und Hauswände. Ein kerniger Turbodiesel drehte scheinbar mühelos auf, dann kam der Rettungswagen durch die Unterführung geschossen und jagte die Dalkestraße entlang zur Blessenstätte hin, die übliche Flugschneise vom Klinikum in den Gütersloher Norden. Wohl mit Rücksicht auf die ruhebedürftigen Bewohner des Seniorenzentrums 'Am Bachschemm' hatte der Fahrer auf das Martinshorn verzichtet. Unten an der Kreuzung Kirchstraße war aber bevorrechtigter Querverkehr zu befürchten. Ein einzelnes Intervall der starken Kompressorhörner zerfetzte die nächtliche Stille, doch nach vier Sekunden senkte sich wieder Ruhe über den Webereipark, der in tiefer Dunkelheit lag. Nur eine einsame Laterne versuchte, etwas Licht und damit auch einen Hauch gefühlter Sicherheit in das finstere Gelände zu streuen, wurde aber von einem üppig wuchernden Haselstrauch erfolgreich daran gehindert.

Die einsame Gestalt, die auf der Bank am Spielplatz inmitten von Pizzaschachteln, Pommesschalen und einer beträchtlichen Menge Leergut saß, war daher kaum zu entdecken. Und wenn tatsächlich ein nächtlicher Passant den Weg zwischen Kesselhaus und Umspannwerk über die Holzbrücke genommen und den Mann bemerkt hätte, was nicht der Fall war, wäre ihm sicher entgangen, dass dessen völlige Unbeweglichkeit nur scheinbar war. Denn seine Schultern zitterten leicht, dicke Tränen quollen aus seinen rot umränderten Augen, und der Rotz tropfte ihm aus dem Gesicht, während er leise in sich hinein weinte. Der Mann stierte apathisch in die Dalke, die schwarz und träge an ihm vorbeifloss. Nichts passierte. Schließlich, nach einer halben Ewigkeit, zog er kräftig die Nase hoch, und seine rechte Hand griff unter die Bank. Sie brachte eine dunkelgrüne Flasche hervor, die Linke zog in mechanischer Bewegung den Korken ab. In einer einzigen bedächtigen Bewegung setzte der Trinker die Flasche an, steigerte kontinuierlich ihren Anstellwinkel bis in die Senkrechte und überstreckte dabei den Kopf nackenwärts. Ein großer Schluck, dann war der Inhalt bewältigt. Einen langen Moment verblieb die Flasche in ihrer Position, bis auch der letzte Tropfen sicher hinausgelaufen war, dann flog sie in hohem Bogen in die Büsche. Der Mann atmete scharf aus und horchte dann intensiv in sich hinein. Sein stark gedämpftes System registrierte einen anhaltenden, penetranten Impuls, den er schließlich als dringendes menschliches Bedürfnis identifizierte. Mühsam begann er, sich zu erheben, fiel aber prompt wieder auf die Bank zurück. Beim zweiten, schwungvolleren Versuch bekam er direkt Übergewicht nach vorn. Nur ein heftiger Ausfallschritt bewahrte ihn vor dem Sturz, sorgte aber dafür, dass er nun rückwärts kippte und ins Gras fiel. Eine Weile lag er dort wie ein Käfer auf dem Buckel, bis er es schaffte, sich umständlich auf den Bauch zu drehen und tatsächlich nach mehreren Versuchen zumindest mit dem Hinterteil wieder hochzukommen. Er krachte aber immer wieder zusammen. Schließlich erkannte er die Aussichtslosigkeit seines Tuns, robbte zur Bank hinüber und zog sich mühsam daran hoch in einen wackeligen Stand. Nach einer unsicheren Weile hatte er sich so weit stabilisiert, dass er frei stehen konnte. Vorsichtig stüskerte er zum nahen Dalkeufer, balancierte mühsam den schwankenden Horizont aus und öffnete umständlich seinen Hosenstall. Nach längerem Herumkramen fand er schließlich sein bestes Stück, brachte es in Position, und kurz darauf plätscherte ein kräftiger Strahl, während er die Erleichterung genoss und zugleich konzentriert die Außentreppe der Weberei auf der anderen Flussseite fixierte, um nicht doch noch ein jähes Opfer der Gravitation zu werden.

Es war kein Stoß, erst recht kein Schlag, nur ein kleiner Schubs mit dem Zeigefinger, der ihn genau zwischen die Schulterblätter traf. Er hätte nur einen kleinen Schritt nach vorn machen müssen. Er hätte die Hände zum Schutz vors Gesicht bringen und die Knie beugen sollen. Vielleicht hätte er auch all das getan, aber dafür hätte er zwanzig Sekunden mehr Zeit gebraucht in seinem Zustand. So kippte er wie ein fallender Baum. Er merkte nur noch den Aufschlag. Mehr nicht.

Kapitel 1

Frühling

„Dalke 25/11 für Dalke kommen!“

„25/11 hört!“

„Fahren Sie Friedrich-Ebert-Straße zum Amtsgericht, dort reglose Person auf der Fahrbahn! Anruf kam von der Feuerwehr nebenan.“

„25/11 verstanden, sind unterwegs.“

„24/11, wo steht ihr?“

„Verler Straße, beim Schotten. Wir fahren auch mal in die Richtung.“

Polizeioberkommissar Ulrich Haferkamp ließ das Seitenfenster vom Streifenwagen runter. „He, Patrick, kau schneller, wir haben zu tun!“

Patrick Grünbaum, Kommissaranwärter im Abschlusspraktrikum, hob hektisch beide Arme, in einer Hand einen Big Mac, in der anderen einen Becher Cola. Dann stopfte er einen Fleischklops mit pappigem Brötchen und Kunstkäse fast heile in den Mund und warf den ganzen Rest in den Mülleimer. Heftig kauend plumpste er auf den Fahrersitz und startete den Motor.

„Waf iff bemm lof?“

„Ruhig, Brauner, ich sagte Beeilen, nicht Wegschmeißen. Wir fahren zu ‘ner Hilo am Amtsgericht. Die Cola hättest du ja noch trinken können.“

Patrick schluckte zweimal schwer, schaute frustriert und gab Gas. Der Wagen verließ zügig den Parkplatz des Fast-Food-Tempels.

Das Funkgerät quakte: „Dalke für 25/11, wir treffen hier gerade ein. Sieht nicht gut aus, die reanimieren!“

Uli beugte sich vor und drückte zwei Knöpfe im Armaturenbrett, Blaulicht und Martinshorn gingen an. Dann lehnte er sich zurück, schloss die Augen und wartete ab. Raaatsch, der Wahlhebel wurde in die unterste Position gekloppt. Sportmodus. Der Turbodiesel heulte in höchster Drehzahl auf und das Automatikgetriebe schaltete vier Gangstufen herunter. 160 PS trieben den Passat Kombi druckvoll nach vorn. Ach ja, die erste Einsatzfahrt. So haben wir alle mal angefangen! Uli öffnete die Augen wieder und schaute vorsichtig nach links. Weiße Fingerknöchel krallten sich ins Lenkrad, ein verdächtiger Glanz lag auf Patricks starrem Blick, der etwa 80 Meter vor ihm auf der Straße festgenagelt schien.

Die Verler Straße flog inzwischen mit 140 Sachen unter ihnen durch, aber Patrick blieb eisern auf dem Gas stehen. Uli notierte Minuspunkte auf einer imaginären Checkliste und fragte sich, wann er seinen Zauberlehrling am besten einbremsen sollte. Aber es kam nicht dazu. Ein Lkw kam ihnen entgegen. Vier massive Fernlichtscheinwerfer, dachseitig in Reihe montiert, flammten auf und nahmen ihnen für einen Moment jegliche Sicht. Patrick bremste panikartig, weshalb er die grüne Ampel „Auf der Haar“ mit nur noch 100 km/h nahm.

„Arschloch! Wenn ich den kriege!“ presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Hast du das Kennzeichen?“

„Nee, aber es war einer von DHL.“ Uli grinste gemütlich. „Kleiner Tipp: Mach halt dein eigenes Fernlicht aus bei Gegenverkehr, dann wird auch keiner sauer!“

Patrick brauchte eine Weile, bis er den Hinweis gecheckt und umgesetzt hatte. Deshalb konnte er auch vor der roten Ampel am Stadtring problemlos bis auf Null abbremsen, ohne vorher an der britischen Kaserne irgendwelche betrunkenen Soldaten zu atomisieren. Uli vergab einen virtuellen Pluspunkt für den Stillstand der Räder. Jetzt war Patrick in der roten Welle und musste auch an der Kampstraße runterbremsen. In der Kurve vor der Carl-Bertelsmann-Straße schob der Passat aber schon wieder verdächtig über die Vorderräder. Zum Glück griff hier das ESP beherzt ein und bremste das Gefährt kontrolliert auf einen unbedenklichen Geschwindigkeitsbereich ab.

Als der Wagen am Music Temple endlich wieder Gas annahm und der Friedrich-Ebert-Tunnel mit steigender Geschwindigkeit auf sie zukam, sah Uli in der Gefällestrecke mit Linkskurve unvermeidbare Probleme aufkommen und sich selbst schließlich doch zu einer Bemerkung genötigt: „Fahr langsam, Patrick, wir ham’s eilig!“

„K…keine Sorge, hab alles im Griff.“ Doch das schien Patrick selbst nicht zu glauben, denn im Tunnel kriegte er mitten in der Kurve plötzlich Angst vor der eigenen Courage, ging vom Gas und fing prompt an zu schlingern. Patrick lenkte hektisch, das ESP hatte auch schon wieder alle Hände voll zu tun. Ein kapitaler Pendelschlenker war trotzdem unvermeidbar. Mit 60 Sachen und einem hochroten Patrick ging es dann weiter bis zum Einsatzort. Das Blaulicht sahen sie schon von weitem. Ein Rettungswagen stand auf der Gegenspur und ein Streifenwagen stand dahinter.

Polizeikommissar Manni Schulte stellte Lübecker Hüte und Blitzleuchten auf, Polizeihauptmeister Jörg „Otto“ Krüger lehnte seine 120 Kilo Lebendgewicht mit offener Jacke am RTW an und nuckelte an einer Cola. Er hatte es gern immer etwas bequemer.

„Keine Panik“, warf er Uli entgegen, der für seinen Geschmack viel zu dynamisch auf ihn zukam. „Ist bloß Magura, die alte Pottsau. Hat sich im besoffenen Kopf gemault und die Birne aufgeschlagen. Die laden den gleich ein, dann sind wir wieder weg!“

„Mach mir lieber noch den linken Fahrstreifen dicht und schick den Verkehr komplett in die Bismarckstraße. Und setz dir dabei ‘ne Mütze auf. Das gibt immer so hässliche Fettflecken, wenn dich einer umfährt.“

Otto wurde puterrot im Gesicht und drohte zu platzen. Doch schließlich senkte er den Blick, trollte sich äußerst widerwillig zu seinem Streifenwagen und fuhr ihn in die geheißene Position. Dann griff er zum Handy.

„A-tem-los-durch-die-Nacht“ quetschte der jüngere der beiden Sanis stoßweise zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während seine muskulösen Unterarme im Rhythmus des Gassenhauers mit sichtlichem Widerwillen die Herzmassage ausführten. „Wie sieht’s aus, Bernhard?“ fragte Uli. Der ältere Rettungssanitäter sah nicht mal auf.

„Schlecht“, sagte er gemütlich, „der is chanz inne Mäse. Taucht nichmal mehr als Orchaanspender. Aber der Notaazt is im Anfluch, der hat das letzte Wort. Müsste cheeden Moment hier sein. Schädelbasisbruch, wennzte mich fraachst. Der is hier bestimmt chestolpert und mit sseinen Dääz aufcheschlagen.“

Der Tote, ein schmuddeliges, mageres Männlein um die 60, blutete leicht aus den Ohren.

„Is doch eh alles für ‘n Arsch bei dem Stinker“, mopperte der Jüngere. „Ich hab hier kaum Widerstand bei der Herzmassage, das Brustbein ist auf jeden Fall auch durch. Bäh, ich krieg direkt Herpes, wie der gammelt. Und woanders brauchen uns anständige Leute ...“ Dem Schweiß, der ihm bereits vom Kopf floss, krabbelte aus dem Kragen ein mächtiges tätowiertes Wikingerornament bis hinters Ohr entgegen. „Halt die Klappe und pump, Ron“, zischte der Alte scharf. Das reichte Uli erst mal, er griff zum Mikrofon.

„Dalke für den 24/11?“

„Ja, komm für Dalke!“

„Erstens: Der Verletzte ist inzwischen ex. Zweitens stinkt das hier stark nach Unfallflucht. Ich brauche so schnell wie möglich mehr Licht von der Feuerwehr, die sollen auch das THW alarmieren, das kann länger dauern. Dann noch Kräfte von uns zur Verkehrsregelung. Schick auch jemand zur Feuerwache, die sollen den Zeugen vernehmen, der Magura gefunden hat.

Und du solltest ein paar Leute vom Verkehrskommissariat rausklingeln, damit die zügig die weiteren Ermittlungen übernehmen können. Lieber fünf als zwei. Da kommt jede Menge Arbeit auf uns zu.“

Uli lief von jetzt auf gleich zu optimaler Betriebstemperatur auf. Er trommelte Manni und Patrick zusammen und wies sie an, einen Streifenwagen 50 Meter vor dem Toten aufzustellen und das Fernlicht einzuschalten.

Kurz darauf lagen Uli, Manni und Patrick auf Händen und Knien und suchten jeden Zentimeter Straße sorgfältig ab. Simultan bauten Feuerwehrmänner große, ballonförmige Stativleuchten auf, Stromaggregate wurden angeworfen. Schon bald war die Unfallstelle taghell erleuchtet.

Ein Streifenwagen fuhr durch die Absperrung, die gerade vom Verkehrsdienst aufgebaut wurde. Er zog locker an den Suchenden vorbei bis direkt neben den Toten, der mit blauen Tüchern abgedeckt war.

„Welche Dumpfbacke ist das denn, hier einfach so mitten durch die Radieschen zu baseln?“, knurrte Uli wütend.

Die Beifahrertür ging auf und eine lange, dünne Gestalt mit schlechter Haltung und braun kariertem Anzug stieg aus.

„Ach du Scheiße, der Flamingo!“ Manni verdrehte die Augen und übergab sich theatralisch in seine Mütze.

Polizeirat Dr. Meier-Wirsing, Volljurist und Seiteneinsteiger in den höheren Polizeidienst, erschien am Einsatzort. Falsch, Meier-Wirsing erschien nicht, er trat auf. Aber damit nicht genug: In der geöffneten Fahrertür zeigte sich jetzt der wohlfrisierte Kopf von Polizeioberkommissar Ronald Dettmer. Der Mitarbeiter des Führungsbüros und neuerdings permanenter Schatten vom neuen Chef entstieg langsam und umständlich dem Fahrzeug. Die kurze Einsatzfahrt schien seinen angeschlagenen Bandscheiben nicht gut getan zu haben. Meier-Wirsing kam mit weiten Schritten herüber, seinen Lackel Dettmer im Schlepptau. Er selbst hielt seinen Gang für kraftvoll und zielstrebig, alle anderen erinnerte er lebhaft an einen großen Storchenvogel, der durch den Tansania-See watet. Der brandneue kommissarische Leiter der Polizeidirektion Gütersloh bevorzugte zudem rosa Hemden, daher war sein Spitzname eine Sache weniger Stunden gewesen.

„Guten Abend die Herren“, grüßte er mit einem Sympathie heischenden Lächeln in die Runde. „Ja, ich habe heute Führungsbereitschaft, und da habe ich mich entschlossen, diesen Einsatz persönlich vor Ort zu führen. Können Sie mir kurz ein Lagebild geben?“

„Ja klar. Der Tote heißt Robert Magura und ist ein amtsbekannter Alkoholiker.“ Uli spulte die Fakten ansatzlos ab. „Er wurde hier vor 20 Minuten leblos auf der Straße gefunden. Erste Diagnose: Schädelbruch und innere Thoraxverletzungen. Keine Anzeichen für ein Überrollen, bisher keine Hinweise auf das flüchtige Fahrzeug. Die Fahndung steht.“

„He, Uli, ich hab hier was!“ Patrick winkte aufgeregt. Uli ging sofort zu ihm hinüber. Die Sanis zogen ab, Dettmer unterhielt sich angeregt mit einem Feuerwehrkameraden und Meier-Wirsing stand auf einmal allein da. Er ging zu dem Toten, um ihn anzusehen, aber der stank erbärmlich, also deckte er ihn schnell wieder zu. Er sah, wie Uli drüben mit den Kollegen diskutierte und dann an einer bestimmten Stelle Zeichen mit gelber Kreide auf die Fahrbahn malte.

Meier-Wirsing war sauer. Er war sogar stocksauer. Hier stand er mal wieder mutterseelenallein. Niemand beachtete ihn, niemand hörte ihm zu, alle machten was sie wollten und scherten sich einen Dreck um ihn. Zum Heulen, alles war genau wie früher.

Tiefe Verzweiflung kochte hoch in Sönke Meier-Wirsing. Er ballte die Faust in der Tasche und sah sich hilfesuchend um. Aus Richtung Kaiserstraßesah er einen Typen in Zimmermannshosen durch die Absperrung herankommen. Der Mann ging zu einem Streifenwagen, öffnete die Heckklappe und kramte darin herum. Fassungslos sah Meier-Wirsing zu, dann warf er einen sichernden Rundumblick. War Unterstützung in der Nähe? Ja, die anderen standen keine 20 Meter weiter. Er sah wieder hinüber zu dem seltsamen Mann. Der hatte eine gelbe Polizei-Warnweste aus dem Auto genommen und zog sie sich über seine karierte Kanadajacke. Dann streifte er Latexhandschuhe über und ging hinüber zur Leiche, die er kurz und gründlichuntersuchte. Was sollte das denn? Na, der kam ihm gerade recht. Den würde er erst mal strammstehen lassen! Meier-Wirsing drückte die Brust durch und trat näher.

„He, Sie da, unterlassen Sie das sofort! Wer sind Sie und was haben Sie an der Leiche zu suchen?“

Der Mann blickte auf und musterte den Anzugträger. „Ich bin Polizist und mach hier meinen Job. Und wer sind Sie?“

„Ich bin hier der Einsatzleiter. Ich kenne Sie nicht. Ich habe Sie überhaupt noch nie gesehen!“

„Ich Sie auch nicht!“ Der Mann war Mitte 50 und trug im linken Ohr einen großen goldenen Ring. Er stand auf und ging hinüber zu Uli und Manni, die ihn freudig begrüßten und ihm kräftig auf die Schulter hauten.

Der Fremde schaute sich kurz um, ließ sich einige Dinge erklären, nickte dann und zeigte auf einen bestimmten Bereich der Straße. Patrick und Manni gingen wieder auf die Knie und suchten dort weiter, während der Fremde und Uli zurück zur Leiche gingen, die sie eingehend betrachteten.

Der Flamingo hatte die Schnauze voll. Und zwar restlos. Nicht mit ihm, nicht mit Dr. Sönke Meier-Wirsing. Denn schließlich war er hier der Chef, jetzt ließ er die Puppen tanzen. Er würde nicht mehr am Spielfeldrand stehen und zugucken. Nie wieder! Aus, Feierabend, Sense. Er überlegte kurz und pfiff dann seinen Fahrer heran.

„Na gut, Dettmer. Dann wollen wir mal Struktur in diesen Einsatz bringen.“ Meier-Wirsing rieb sich unternehmungslustig die Hände. „Kommen Sie!“

Entschlossen stelzte er auf die Kollegen zu.

„So, meine Herren, treten Sie bitte kurz zusammen, ich strukturiere jetzt mal den Einsatz. Sie geben aber auch nicht gerade ein tolles Bild ab, wie Sie da auf Knien über die Straße robben. Dazu in der schönen neuen Uniform. Die Presse ist im Anmarsch. RTL und Westfalia TV haben sich auch angesagt!“

Uli und Manni sahen sich bedeutungsvoll an. Aha, also daher wehte der Wind. Das erklärte auch, warum Ronald Dettmer mit rausgefahren war. Den kriegten doch sonst keine zehn Pferde hinter dem Ofen weg.

Meier-Wirsing fuhr in seiner Ansprache fort. „Wir bilden ab sofort vier Abschnitte.“ Lupenreine polizeiliche Einsatzlehre wurde jetzt abgespult. Manni Schulte schien im Hintergrund unter schweren Magenkoliken zu leiden.

„Den Abschnitt ‚Unfallort‘ leitet ab sofort POK Dettmer, als Unterabschnitt 'Spurensicherung' habe ich zur Unterstützung den Erkennungsdienst angefordert. Den Abschnitt 'Ermittlungen' übernimmt die Kriminalwache, ihr unterstelle ich die alarmierten Kräfte vom Verkehrskommissariat. Sie, Herr Haferkamp, übernehmen die Verkehrsmaßnahmen. Absperrung, Ableitung, Umleitung. Ich denke, das kriegen Sie hin?

Ich selbst werde unter vorläufigem Verzicht auf Reserve den Einsatz persönlich vor Ort führen und zugleich die Öffentlichkeitsarbeit leiten, bis die Pressestelle besetzt ist.“

Das war druckreif. Selbstgefällig schaute Meier-Wirsing sich um und erblickte den fremden Mann in Polizeiweste.

„Und Sie, Herr Wer-immer-Sie-sind: Halten Sie sich gefälligst aus der Spurensuche heraus, das macht die Kripo. Sie haben hier keine Funktion!“

Ha! Das ging runter wie Öl. Meier-Wirsing schwebte auf Wolken und sah den Fremden aufdringlich an. Dem Schlaumeier hatte er es aber sauber gezeigt.

„Lütkehennerich“, sagte der Schlaumeier und streckte Meier-Wirsing unvermittelt die Hand hin, der sie völlig überrumpelt ergriff und schüttelte. „Oder kurz Henry. Komm gerade aus dem Urlaub hier vorbei. Das ist meine Dienstgruppe und ich dachte, ich halte an und helfe.“

„Vielen Dank, wir kommen bestens zurecht. Überlassen Sie das uns und fahren Sie nach Hause!“

„Okay, wie Sie wollen. Eine Frage hätte ich aber doch noch: Was ist mit den Fahndungsmaßnahmen?“

Zwei müde wirkende Augen sahen Meier-Wirsing ruhig an, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Meier-Wirsing lächelte überlegen.

„Kompliment, Herr Lütke – äh – hennerich? Die Checkliste für große Verkehrsunfälle scheinen Sie ja schon mal gelesen zu haben. Sie müssen die Details aber immer im Gesamtkontext sehen. Lagebeurteilung, Entschlussfassung, Durchführung; das ist die Reihenfolge“, dozierte er gönnerhaft. „Wonach bitte soll ich fahnden? Die Erkenntnislage geht leider gegen Null. Soll ich wertvolle Einsatzkräfte blind in der Prärie herumschwirren lassen, die ich hier am Tatort benötige? Wir müssen dringend Informationen zum Unfallhergang und zum flüchtigen Fahrzeug erlangen, und zwar hier vor Ort. Oder können Sie die etwa einfach so aus dem Ärmel schütteln?“

„Für mich sieht alles nach ‘nem gelben Lkw aus.“

Meier-Wirsing stutzte, doch nur für einen Moment.

„Aah okay, und das sagt Ihnen Ihre unendliche Weisheit?“ Seine Stimme troff vor Ironie.

„Das nicht gerade“, antwortete Lütkehennerich gemütlich, „aber es steht ja alles deutlich auf die Straße geschrieben. Man muss halt nur lesen können. Genau wo Kollege Schulte steht, haben wir den seltenen Glücksfall einer Schuhabriebspur, die uns den Kollisionspunkt zuverlässig anzeigt. Genau dort ist er angefahren und circa zehn Meter weit in diese Richtung geschleudert worden, wo er jetzt noch liegt. Kollege Grünbaum hat hier gerade einige interessante Lacksplitter mit Rostanhaftungen gefunden, es gibt aber keinerlei Glas, weder auf der Fahrbahn noch an der Leiche. Bei einer Pkw-Kollision wäre das fast zwingend zu erwarten gewesen. Magura hat offensichtlich einen Schädelbasisbruch, das Brustbein ist durch und das Rückgrat ebenfalls. Die untere Körperhälfte ist dagegen völlig unverletzt. So als habe ihn in Brusthöhe ein solider, waagerechter Gegenstand getroffen. Das einzig passende Fahrzeugteil, das mir dazu einfällt, ist die vordere Unterkante eines Lkw-Anhängers. Magura muss irgendwie zwischen Motorwagen und Anhänger gestolpert sein, hat stehend die Aufbaukante abgekriegt und geriet dann unter den Anhänger, ohne überrollt zu werden. Die Situation ist anders kaum denkbar. Würde mich wundern, wenn der Fahrer was davon gemerkt hat.

Kurz und gut: Wir suchen ein Lkw-Gespann. Keinen Sattelschlepper, sondern einen Gliederzug. Farbe Gelb, Fluchtrichtung Autobahn.“

Funkstille. Dann hinter ihnen ein Schrei: „Scheiße, der DHL-Laster!“

Uli war hinzugekommen und hatte den Schluss von Henrys Statement mitgehört. Er riss sein Funkgerät aus der Brusttasche, trat zur Seite und begann, eine Salve an Informationen und Forderungen in Richtung Leitstelle abzufeuern.

Jenseits der Unfallstelle zerdepperte eine halbleere Colaflasche auf dem Gehweg in grobe Scherben und Manni Schulte trieb einen keifenden Otto mit kräftigen Schubsern und wüsten Beschimpfungen in den Streifenwagen, der Sekunden später mit qualmenden Reifen und Blaulicht in Richtung Verler Straße davonschoss.

Lütkehennerich war ein paar Schritte in Richtung Kollisionsstelle gegangen und stand still auf der Straße, einen Zeigefinger in scharfer Konzentration auf Mund und Nase drückend. Uli gesellte sich zu ihm.

„Seltsam. Findest du nicht auch?“, fragte Uli einfach so in den freien Raum.

„Was?“

„Na ja, es ist schon ziemlich schwierig, bei einem vorbeifahrenden Lkw-Gespann genau zwischen Motorwagen und Anhänger zu laufen. Da muss sich unser Robert schon richtig Mühe gegeben haben. Vielleicht hat da ja auch jemand nachgeholfen.“

„Meinst du echt? Ich weiß nicht. Vielleicht hat er nur nicht gecheckt, dass da noch ein Anhänger hinten dranhängt und ist direkt losgelaufen, als der Motorwagen vorbei war.“

„Hmm, kann sein. Aber ich würde grundsätzlich nicht ganz ausschließen, dass da einer dran gedreht hat. Und wir müssen auf den Flamingo achten. Der nervt ganz schön rum, oder?“, raunte er. „Zwei Minuten noch, dann geht der hoch wie ‘ne Rakete!“

„Sehe ich auch so.“ Henry zog die Stirn kraus. „Ist das der neue Chef?“

„Fürs erste ja. Kommt direkt von der Polizei-Hochschule. Leitet jetzt die Führungsstelle und provisorisch dazu die komplette Einsatz-Direktion, bis unser Polizeidirektor aus Afghanistan wiederkommt oder ein neuer Chef gefunden ist. Nicht gerade ein Glücksgriff.“

Henry runzelte die Stirn. „Am besten er kriegt irgendwie was zu tun. Ich habe da ‘ne Idee!“

Der Genannte stand schon wieder mutterseelenallein mitten im Geschehen. Alles um ihn herum lief in hektischer Präzision wie ein Actionfilm ab, aber er war mal wieder nur Zuschauer. Kinobesucher in der dritten Reihe. Eine Träne quoll aus seinem Augenwinkel, sein linker Nasenflügel flatterte unkontrolliert und er stöhnte lange und lautlos.

Henry sah ihn einen kurzen Moment an und ging auf ihn zu.

„Wenn ich einen Vorschlag machen darf, Herr Meier-Wirsing?“

„J... ja, bitte?“

„Wir brauchen dringend eine starke Ermittlungsgruppe, um die Fahndungsmaßnahmen zu koordinieren. Bei der Fuhrparkgröße von DHL ist ein einzelnes Team völlig überfordert. Und natürlich einen erfahrenen Kommissionsleiter. Vielleicht jemand von der Kripo?“

„Nein, auf gar keinen Fall!“ Meier-Wirsing blühte schlagartig auf. „Ich werde die Ermittlungskommission natürlich persönlich leiten! Zufällig habe ich selbst an der Hochschule der Polizei zu diesem Thema referiert. Unterstützen Sie Herrn Dettmer hier weiter am Unfallort und halten Sie engen Kontakt zu mir, ich kümmere mich um alles andere.“

Eine EK! Wieso war er nicht gleich darauf gekommen? Egal, alles würde gut werden. Kommissionsleiter! Kräfte von Kripo und Verwaltung anfordern und befehligen! Fahndungshinweise und Ermittlungsergebnisse in den Medien präsentieren! Und vor allem am Montag in der Führungsrunde. Die würden staunen. Besonders der Kripochef, dieser Reiffeisen, der ständig für seine drei bis vier EKs Leute aus seiner, Meier-Wirsings Direktion wegsaugte, ohne dass man sich dagegen wehren konnte. Zu allem Überfluss machte er sich jeden Morgen damit auch noch wichtig und ließ bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten den Klugscheißer raushängen. War der in den letzten Wochen irgendwie weitergekommen? Kein Stück!

Diese Sache hier war dagegen sehr erfolgversprechend. Gab es nicht in den großen Flotten von jedem Lkw GPS-Daten? Bestimmt! Im Geiste rief Meier-Wirsing polizeitaktische, kriminalistische und gerichtsmedizinische Schlagworte auf, die er zusätzlich zum Einsatz zu bringen gedachte. Leichenspürhunde, Mantrailer, DNA-Analyse, Öffentlichkeitsfahndung, Toll-Collect. Was war noch mal dieses Leukomalachit-Grün? Egal, es klang auf jeden Fall unglaublich schlau! Leicht und locker flossen ihm die Begriffe aus dem Langzeitgedächtnis und wurden im Arbeitsspeicher griffbereit abgelegt.

Meier-Wirsing hörte lauter werdende Stimmen hinter sich. Zwei Kamerateams waren eingetroffen und diskutierten mit den Absperrkräften über das Betreten des Unfallortes.

Bestens vorbereitet machte Meier-Wirsing sich auf den Weg zu ihnen.

Rechts im Pättken zum Städtischen Gymnasium, dicht an einem großen Rhododendron, stand jemand und beobachtete interessiert das Geschehen. Im Vorbeigehen erhaschte Meier-Wirsing einen flüchtigen Blick auf die schlanke, dunkle Gestalt mit Basecap und Kapuzenpulli. Er hielt inne und sah genauer hin, aber da war sie auf einmal spurlos verschwunden. Komisch. Oder Einbildung? Hoch erhobenen Hauptes und mit energisch vorgerecktem Kinn stelzte er den laufenden Kameras entgegen.

„So, das war's!“ Uli packte die letzten Kegel und Blitzleuchten in den Streifenwagen, Patrick löste weiter hinten einen Streifen Flatterband von einem Laternenpfahl ab. Die Friedrich-Ebert-Straße lag friedlich da wie immer. Nur ein paar Kreidestriche deuteten noch darauf hin, dass hier vor kurzem ein Mensch getötet worden war. Und ein kleiner Fleck Ölbindemittel, von dem niemand ahnen konnte, dass er eine ganz andere, eine rote Flüssigkeit aufgesaugt hatte.

„Verdammt, schon zwei Uhr.“ Henry zog die Warnweste aus und reichte sie Uli. „Wird Zeit, dass ich in die Koje komme.“

„Wo pennste denn heute? Geht's noch zu Gabi?“

„Nee, um die Zeit bestimmt nicht. Die ist wahrscheinlich sowieso noch sauer auf mich.“

„Wieso das denn?“, fragte Uli wie nebenbei. Innerlich hatte er aber schon die Lauscher aufgestellt. Die Beziehung zwischen Henry und seiner Exfrau war eine permanente Berg- und Talfahrt, die nun schon ins achte Jahr ging.

„Ach, du weißt doch. Kurz vor meinem Urlaub war die Stelle im Verkehrskommissariat ausgeschrieben. Maleczyk, der Direktionsleiter, hat mich gleich massiv angegraben. Wäre doch ‘ne Supersache für mich. Raus aus dem Schichtdienst, geregelte Arbeitszeiten und so.“

„Ja, stimmt ja auch. Willst du etwa bis 61 auf dem Bock sitzen? Außerdem ist das doch haargenau dein Ding. Endlich mal einer in dem Laden, der wirklich Ahnung hat von dem, was er macht. Mensch Henry, bewirb dich bloß. Wer sollte denn gegen dich anstinken als Unfallermittler, bei deinem Alter und deiner Qualifikation?“

„Nee, ich weiß nicht. Ich und Innendienst? Gabi liegt mir ja schon seit 25 Jahren damit in den Ohren. Aber mir fällt doch nach zwei Tagen die Decke auf den Kopf in so ‘nem Büro. Außerdem ist der Zug längst abgefahren.“

„Wieso?“

„Bewerbungsschluss war vorgestern 24 Uhr. Da war ich noch auf der Fähre kurz vor Genua.“

Uli schüttelte den Kopf und machte sich wieder daran, seinen Streifenwagen einzuräumen. Henry war einfach unverbesserlich. Den würden sie irgendwann noch mal im Sarg aus der Wache heraustragen.

Henry ging hinüber zum Parkplatz am Wochenmarkt. Dort stieg er in ein großes Fahrzeug ein, das irgendwie an einen Möbelwagen, vielleicht auch an einen Pferdetransporter erinnerte. Ein kräftiger Lkw-Motor sprang an, dann rollte das seltsame Gefährt über die Bismarckstraße und die Hohenzollernstraße, überquerte den Nordring und fuhr weiter Richtung Norden. An der Schillstraße zögerte Henry kurz und machte Anstalten, nach rechts in die Wohnsiedlung abzubiegen. Doch dann gab er sich einen Ruck, gab Gas und fuhr weiter Richtung Niehorst.

Kapitel 2

Walter Lehmann drehte sich in seinem Bett wie ein Hähnchen am Spieß. Bereits zum siebten Mal warf er einen Blick auf den alten Wecker, der vor ihm auf dem Nachtschränkchen stand. Mit grausamer Langsamkeit bewegte sich der Minutenzeiger und schien in jeder Position eine gefühlte Ewigkeit einzurasten. Seit 30 Jahren stand dieser Wecker auf halb sechs Uhr. Seit 29 Jahren wurde Walter zwei Minuten vorher wach und schaltete den Alarm ab, bevor der mit infernalischem Getöse lostoben konnte. Seit einem Jahr war das anders. Kurz nach zwei Uhr war die Nacht für Walter vorbei. Wie immer wachte er auch an diesem Montagmorgen schweißgebadet auf. Nein, er schreckte hoch und stellte fest, dass sich in seinem Kopf finstere Gedanken wie Mühlsteine drehten; immer um dieselben Dinge, die größer und größer wurden und für nichts anderes Platz ließen.

Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, wurde sein Magen aktiv, fing an zu krabbeln wie ein Ameisenhaufen und produzierte einen hübschen Säureschwall, der ihm beißend die Kehle hochstieg. Sein Darm fiel prompt in den Reigen ein. Es fühlte sich an, als würde dort jemand einen Haufen groben Kies von links nach rechts schaufeln. Walter wusste, er würde in spätestens zehn Minuten mit diesem fiesen Dünnschiss aufs Klo rennen müssen, der ihn seit Monaten hartnäckig verfolgte, um ihm auch noch den letzten Rest seiner leidgeprüften Rosette wegzuätzen. Es hatte keinen Zweck. Walter stand auf und tat das, was er in letzter Zeit häufiger tat. Er ging in die Wohnküche seines 2-Zimmer-Appartments und holte ein etwas zu groß geratenes Sherry-Glas und eine grüne Flasche aus der kleinen Vitrine. Er goss zwei Daumenbreiten einer goldbraunen Flüssigkeit ein, die er eine Weile in der hohlen Hand herumschwenkte. Gewohnheitsmäßig inhalierte er das kräftige Bukett intensiv durch die Nase, bevor er sich einen ordentlichen Schluck gönnte. 48 Volumenprozente schlugen in seinen ramponierten Magen ein wie die Krallen eines gigantischen Raubvogels. Zehn Sekunden hielt der scharfe Schmerz an, dann ließ er langsam nach und machte einer verheißungsvollen Entspannung Platz.

Aah, das tat gut. Walter nahm einen zweiten Schluck, den er lange im Mund herumrollte, bevor er ihn genießerisch die Kehle hinab rinnen ließ. Der Schmerz blieb aus, das Magenflattern verflog. Wohltuende Wärme und Schwere breiteten sich von seiner eben noch desolaten Körpermitte in alle Extremitäten aus. Ein dritter Schluck leerte das Glas. Zehn Minuten lang saß Walter mit geschlossenen Augen am Küchentisch, genoss den kathedralen Abgang des Destillats und dachte an nichts, während er sich mental ins Bodenlose fallen ließ. Doch dann begannen die Teufel in seinem Bauch, ihre Schockstarre abzuschütteln und sich von neuem zu regen.

„Nicht mit mir“, dachte Walter und goss sich ein zweites Glas ein.

Um halb sechs tat Walters Wecker etwas, das er früher nie getan hatte: er klingelte. Und zwar klingelte er mit jener Lautstärke und Dissonanz, die nur alten Weckuhren mit zwei großen Chromschellen vorbehalten ist. Walter wurde aus einem komaähnlichen Tiefschlaf gerissen, der ihn schließlich doch noch vor einer Stunde überfallen hatte. Er schaffte es nach etwa fünf Versuchen irgendwie, das Monster abzustellen und zumindest rein körperlich eine halbwegs aufgerichtete Position einzunehmen. Die heiße Dusche half nicht wirklich weiter, und wie sonst kalt abzuduschen brachte er schon länger nicht mehr über sich; er zitterte ohnehin am ganzen Körper. Beim Zähneputzen wurde ihm schlecht. Er brauchte dringend etwas zu essen, musste aber bestürzt feststellen, dass er schon wieder nichts eingekauft hatte. Im Kühlschrank fand er noch eine Bockwurst in einem offenen Glas, die er gegen den deutlichen Protest seines Magens kalt herunterwürgte.

Dass sein Arbeitsanzug entgegen sonstiger Gepflogenheiten nicht mehr ganz sauber war, registrierte er überhaupt nicht. Vorsichtig bestieg er sein Fahrrad und fuhr recht wackelig den Westfalenweg entlang Richtung Dammstraße. An einem schmucken Vorgarten hielt er kurz an und kotzte seine Bockwurst hinter die peinlichst manikürte Buchsbaumhecke. Jetzt ging es ihm etwas besser. Er hielt an der Großbäckerei am Elmers Weg und kaufte dort ein Milchbrötchen, das er im Fahren mampfte. Über die Wiedenbrücker Straße ging es weiter ins Industriegebiet West. Punkt sechs Uhr schwenkte er zur Firma Sandmann ein. Er zog seinen Schlüsselbund, betätigte den Schlüsseltaster, und das schwere Rolltor glitt geräuschlos, weil gut geschmiert, zur Seite. Mit Betreten des Geländes ging in Walter eine unmerkliche Veränderung vor. Er legte sein jämmerliches Privatleben ab wie einen Regenumhang, der draußen bis zum Feierabend unsichtbar an einem imaginären Haken hängen blieb.

Er schloss den Seiteneingang auf und ging im Dunkeln nach hinten in die Umkleide zu seinem Spind. Mit dem grauen Kittel, den er dort herausnahm, streifte er sein zweites Ich über. Anderen mochte er als kauziger Kalfaktor erscheinen, der die Halle und den Hof fegte. Und Walter ließ sie alle gern in diesem Glauben. Doch in Wirklichkeit war er Haus-, Hof- und Lagermeister, Herr über Material und Gerät, der seit 30 Jahren jeden Tag von neuem dafür sorgte, dass Firma Sandmann das blieb, was sie war: ein erstklassig funktionierender Handwerksbetrieb. Walter schaltete den Hauptschalter der großen Halle ein. Grelle Neonröhren flammten auf. Instinktiv schloss er die Augen, die nach dieser Nacht noch lichtempfindlicher waren als gewöhnlich. Nach einer Weile hatte er sich noch immer nicht an die Helligkeit gewöhnt und ging mit zusammengekniffenen Augen an seine Arbeit. Wie zwei gute Freunde standen die beiden neuen Baukräne vor ihm. Die hatte er den ganzen Freitag lang gewartet. Die sollten heute auf die neue Baustelle nach Steinhagen.

Walter hatte sich gewundert, als der Chef die Kräne vor vier Wochen angeschafft hatte. Die vorigen waren noch bestens in Schuss gewesen. Aber der Chef hatte irgendwas von Investieren und Steuerabschreibung erzählt. Walter war froh gewesen. Im letzten Jahr hatte es in der Firma irgendwie nicht mehr so recht gefluppt. Kaum größere Aufträge, nur Kleinkram und ein paar Mal auch Kurzarbeit. Aber das war vorbei. Zwei schöne Eigenheime im neuen Steinhagener Baugebiet waren in Auftrag. Die Sohlen waren gegossen, heute würde die Kellerschalung in Angriff genommen werden. Arbeit für circa zehn Wochen, und weitere Aufträge steckten schon in der Pipeline.

Walter ging schnell aus dem grellen Neonlicht der großen Halle hinüber zum kleinen Bürotrakt, um die Materiallisten für heute zu checken. An der schweren Feuerschutztür stockte er, sie stand halb offen. Nanu, wer hatte denn hier wieder geschlampt? Ein Blick reichte und Walter wusste was los war: Die Tür war aufgebrochen worden. Schwerer Hebeleinsatz in Schlosshöhe hatte Tür und Stahlzarge heftig deformiert, das Schloss war halb herausgebrochen. Walter zog die Tür vorsichtig auf. Den Gegenstand, der dahinter am Boden lag, kannte er. Das mannshohe Brecheisen stammte aus seinem eigenen Lager und wurde normalerweise für Schalarbeiten eingesetzt. Entschlossen ging Walter vor in den Bürotrakt. Er dachte keinen Moment daran, dass die Täter eventuell noch im Gebäude sein könnten. Beide Büros waren durchsucht, der Inhalt von Schränken und Schubladen auf dem Fußboden verteilt worden.

Walters Sorge galt dem Firmentresor im Chefbüro. Doch das Ungetüm mit dem doppelten Zahlenschloss aus Mitte des vorigen Jahrhunderts war unangetastet. Dafür lag aber der stählerne Schlüsselschrank mitten im Raum. Er war offensichtlich mit Brachialgewalt geknackt und dabei von der gegenüberliegenden Wand abgerissen worden. Walter checkte schnell die Schlüssel, die auf der Erde herumlagen. Das Ergebnis war deutlich. Er rannte zurück und um die Kräne herum zur Halle 2. Die beiden neuen 12-Tonner mit Ladekran und Allradantrieb. Beide spurlos verschwunden. Der Gabelstapler war auch weg. Walter war wie betäubt. Dann fiel ihm plötzlich noch etwas ein. Der Mercedes vom Chef.

Kapitel 3

Die blaue Leuchtstele direkt am Bürgersteig war schon ziemlich alt und nur notdürftig von den wuchernden Bodendeckern freigeschnitten. Die Aufschrift „Polizei“ in weißen fetten Lettern war wirklich der einzige sichtbare Hinweis auf die tatsächliche Widmung des alten Fabrikgebäudes aus rotem Backstein, das etwa dreißig Meter von der übrigen Bebauung zurückstand und sich irgendwie im Dornröschenschlaf zu befinden schien, halb mit Efeu und wildem Wein zugewachsen. Einen ausgelagerten Polizeiposten, allenfalls eine Stadtwache würde der unkundige Besucher hier vermuten. War aber falsch! 1975 war die alte Polizeistation an der Königstraße endgültig aus allen Nähten geplatzt. Oberkreisdirektor Dr. Sturzenhecker, Gott habe ihn selig, hatte auf der Suche nach einer Notlösung schließlich Nägel mit Köpfen gemacht, die alte Bartelsche Seidenweberei samt Nebengebäuden für das Land angekauft und in einem Hauruckverfahren polizeilich ertüchtigt. Die Wache machte sich im Erdgeschoss breit, Leitungsstab und Bezirksdienst im ersten Stock und die Kripo kam unters Dach. Der Verkehrsdienst richtete sich im ehemaligen Werkskindergarten jenseits der Grünen Straße wohnlich ein, die auf circa 100 Metern Länge Teil der Liegenschaft war, die Techniker kamen nebenan in die Hausmeisterwohnung. Sogar eine eigene Kfz-Werkstatt mit Hebebühne war vorhanden. Optimal in der damaligen Zeit, als Polizei nur Pistole, Funkgerät, Schreibmaschine und Telefon brauchte, um zu funktionieren. Wirklich, die Räumlichkeiten waren groß, die Dienstfahrzeuge standen alle sicher und trocken in der riesigen Werkshalle, Platz satt. Hier konnte man es gut und gerne für eine Übergangszeit aushalten. „Zehn Jahre höchstens“, tönte Dr. Sturzenhecker damals mit einem Mundwerk, das seine sonstige körperliche Erscheinung an Größe bei weitem übertraf. Die Pläne für ein neues Kreishaus an der Herzebrocker Straße mit eigenem Polizeikomplex lagen in der Schublade, auch für die Übernahme und Erschließung des alten Wehrmachtsschießstandes im Rhedaer Forst. Wen juckten angesichts dieser Perspektiven die paar Wanderratten, die den Hinterhof längst vereinnahmt hatten und auch die weitläufigen Kellergewölbe mit unzähligen Gängen und Schächten schrittweise eroberten. Man wohnte schmuddelig, aber zweckmäßig und geräumig. Das Ganze war nun allerdings fast 40 Jahre her. Ein technisches Wunder, dass die Hütte überhaupt noch stand. Mittlerweile arbeiteten zwei massive Lenzpumpen rund um die Uhr, um das eindringende Grundwasser im Keller auf Pegel zu halten, von Trockenlegen träumte längst niemand mehr. Bei Stromausfall würde die Polizei innerhalb von 48 Stunden absaufen, denn spätestens dann war der Serverraum geflutet. Die Industrieruine war längst ein Fass ohne Boden. Das Geld, das hier bereits hineingepumpt worden war, um einfach nur den Dienstbetrieb aufrecht zu erhalten, hätte einen Neubau längst mehrfach finanziert.

Kurz gesagt: Der Neubau der Polizei Gütersloh war mehr als überfällig.

Aber tausendundeine Schwierigkeiten waren in all den Jahren nacheinander aufgetaucht und hatten das immer wieder gebetsmühlenhaft propagierte Projekt hinausgeschoben. Die Berliner Straße 133, damals angepriesen als Filetstück der Gütersloher Stadtplanung, stellte sich als nicht vermittelbar heraus. Dann reihten sich mehrere Finanzkrisen mit andauernden Haushaltsperren aneinander. Zu allem Überfluss wurde das Liegenschaftswesen des Landes wie viele andere öffentliche Verwaltungsbereiche irgendwann privatwirtschaftlich outgesourct. „Bauten NRW“ übernahm das weitere Planverfahren mit jenem Schwung und Erfolg, der inzwischen europaweit bekannt ist und der den Sitz der Gütersloher Polizei bisher keine drei Millimeter weiter zu bewegen vermocht hatte.

Auch an diesem Montag traf sich die allmorgendliche Führungsbesprechung daher nicht in einem angemessenen, medienbestückten Konferenzraum, sondern im geräumigen Flur der Chefetage, der einfach mit einigen Bürotischen und Stühlen möbliert war und zugleich als Frühstücksraum und Kaffeebude herhielt. Pünktlich um halb neun trafen die Leiter der Fachdirektionen Einsatz, Verkehr und Kripo ein und besetzten ihre angestammten Plätze. Für die Führungskräfte des Höheren Dienstes war das Treffen obligatorisch, dazu kamen Vertreter vom Stab, der Leitstelle und der Pressestelle. Lockere Unterhaltung entwickelte sich, während Stullen gemampft und Müslischalen geleert wurden.

„Na, dann geht’s den Geldsäcken in Westfalen auch endlich an den Kragen“, grummelte Kripo-Chef Albert Reiffeisen hinter seiner Neuen Westfälischen hervor.

„Ach, die Luxemburger Bankenaffäre? Recht so, sage ich.“ Polizeioberrat Gerold Maleczyk, Leiter der Direktion Verkehr, bezog wie gewohnt klare Position. „Höchste Zeit, dass da mal einer aufräumt mit dieser staatlich geförderten Steuerhinterziehung. Die Finanzkrise steckt uns allen noch schwer im Nacken. Als wenn die nicht schon genug Schaden angerichtet hätte.“

„Ist aber eindeutig verfassungswidrig“, ließ Polizeirat Meier-Wirsing sich vernehmen, der mit einem schweren Pilotenkoffer hereinkam und wie üblich keine Gelegenheit ausließ, sein Füllhorn juristischer Fachlichkeit über die Menschheit auszugießen.

„Strafrechtlich übrigens auch extrem brisant. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Da kauft ein demokratischer Rechtsstaat gestohlene Bankdaten, um sich selbst zu bereichern. Digitale Hehlerei in Reinkultur. Aber nicht genug, dass NRW sich damit direkt an einer Straftat beteiligt. Nein, die Herren bauen auch noch sämtliche folgenden Strafverfahren darauf auf. Fällt eindeutig unters Verwertungsverbot. Und das ist noch das kleinste Übel bei dem Eklat. Hach, welch ein Thema für eine Doktorarbeit. Fast bedauerlich, wenn man bereits promoviert hat.“

Das Gespräch verstummte schlagartig, Blicke wie Diamantkernbohrer fraßen sich in Wände und Decken.

Wie jeden Tag seit 15 Jahren erschien um Punkt 8:35 Uhr der Leitende Polizeidirektor Herbert Hirschacker. Er ging kurz um den Tisch und gab jedem die Hand. Dann setzte er sich auf einen freien Stuhl irgendwo mitten zwischen die Kollegen. Im Unterschied zu allen anderen Führungskräften weigerte er sich standhaft, einen festen Platz zu besetzen, erst recht den am Kopfende, der daher gewöhnlich frei blieb. Nicht heute. Meier-Wirsing hatte wie selbstverständlich vor dem Ende Platz genommen und umfangreiches Bild- und Aktenmaterial um sich herum drapiert, das er intensiv studierte. Zwischendurch warf er Blicke in die Runde, mit denen er den restlichen Besprechungsteilnehmern nonverbal zu verstehen gab, dass er hier und heute die Hauptrolle zu spielen gedachte.

LPD Hirschacker schien die Situation völlig zu ignorieren. Er nickte dem Dienstgruppenleiter der Leitstelle zu. PHK Braun räusperte sich.

„Okay, zum Einsatzgeschehen. Zunächst hätten wir einen Geschäftseinbruch in der Gütersloher Innenstadt. Diesmal war es das 'Gents', der neue Herrenausstatter in der Spiekergasse. Die komplette Sommerkollektion ausgeräumt. Schlosszylinder fachmännisch gezogen, Beuteschaden bei 50.000 Euro, keine Zeugen, keine Täterhinweise.“

„Die müssen doch mit dem Lkw vorgefahren sein bei der Beute. Und das soll keiner gemerkt haben?“ Maleczyk runzelte misstrauisch die Stirn.

„Sicher hat jemand im Vorbeigehen einen Lkw gesehen“, mutmaßte Reiffeisen. „Fragt sich, ob etwas verdächtig war. Anlieferverkehr ist völlig normal in der City, auch nachts. Wenn das clever gemacht ist, merkst du im Vorbeigehen nicht unbedingt, ob hier aus- oder eingeräumt wird.“ Die Themen wechselten. Routinemäßig spulte PHK Braun die weiteren Ereignisse vom Wochenende ab. Schlägereien, Vermisstenfälle, häusliche Gewalt und festgenommene Straftäter.

Meier-Wirsing zwang sich eisern zur Ruhe und studierte seine Unterlagen. Er konnte es aber nicht verhindern, dass seine Füße sich unbemerkt selbstständig machten und einen unrunden Rhythmus auf den alten grünen Velours tappten. Einige der Besprechungsteilnehmer bemerkten die Zappelei und sahen sich vielsagend an.

Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, kam PHK Braun auf den Punkt: „Ja, herausragendes Ereignis war der tödliche Unfall mit Flucht von Freitagnacht. Herr Meier-Wirsing war Einsatzleiter.“ Erwartungsvoll blickte er letzteren an, um ihm das Wort zu erteilen. Der holte gerade Luft, um zu seinem wohldurchdachten Vortrag anzusetzen, als Kriminaldirektor Reiffeisen ihm mit unglaublicher Kaltschnäuzigkeit in die Parade fuhr.

„Den Grundsachverhalt kennen wir alle aus der Zeitung. Frage: Wie ist der Ermittlungsstand und wie lange gedenken Sie, diesen exorbitanten Kräfteansatz zu fahren? Es kann doch wohl nicht so schwer sein, ein paar Lkw zu überprüfen. Ich habe nicht eine EK zu laufen, ich habe derer vier auf einmal. Ich brauche meine Männer zurück.“

„Die Sie seit über sechs Monaten aus meiner Direktion abgezogen haben, wenn ich erinnern darf!“ Meier-Wirsing hatte sich gut vorbereitet. So schnell ließ er sich hier und heute nicht abservieren.

„Zu Ihrer Kenntnis: Es sind 14 infrage kommende Lkw. So einfach wie Sie sich das vorstellen, ist die Sache aber nicht. Denn jedes Lkw-Gespann besteht aus fünf unabhängigen Komponenten. Da haben wir den Motorwagen, dazu die Anhängerlaffette. Jedes dieser Fahrgestelle bekommt dazu einen getrennten Kofferaufbau, die so genannte Wechselbrücke. Ja und dann ist da noch der Fahrer. All diese Komponenten werden ständig getauscht. Wir müssen also 14 Personen und 56 Objekte an etwa 30 verschiedenen Standorten im gesamten Bundesgebiet überprüfen, jeweils unter Einsatz von Ermittlern, Leichenspürhunden und Kriminaltechnikern.“

Reiffeisen knirschte hörbar mit den Zähnen. Dieser Kläffköter biss tatsächlich zurück.

„Wie sind Sie eigentlich auf DHL gekommen? Unfallzeugen gab's doch keine!“, bohrte er nach. Irgendwo musste hier doch eine faule Stelle zu finden sein.

„Kompetente Spurensuche am Unfallort“, konterte Meier-Wirsing genüsslich. „Steht alles direkt auf die Straße geschrieben. Man muss halt nur lesen können!“ Mann, der Spruch kam gut, den würde er sich merken!

Reiffeisen knurrte unwillig. Nicht dass er ansatzweise kontraproduktiv eingestellt wäre, im Gegenteil. Ihm ging als waschechter Kripomann nur leider jegliches Verständnis für verkehrspolizeiliche Sachverhalte ab. Treu der Devise: Kripo kann ich aus dem FF, für alles andere reicht mein Führerschein.

„So ist das“, pflichtete LPD Hirschacker dem Flamingo bei. Der alte Hase lächelte versonnen vor sich hin. „Kollege Lütkehennerich war nicht zufällig am Unfallort?“

Meier-Wirsing wand sich verlegen auf seinem Stuhl hin und her. Eigentlich wollte er selbst hier die Lorbeeren einheimsen. „Ja richtig“, gab er zu, „der kam zufällig vorbei, gerade aus dem Urlaub.“

„Ach, der obdachlose Wanderarbeiter? Ich dachte, der wäre wieder irgendwo in Marokko, die Wüste begrünen?“ POR Maleczyk sah mit süffisantem Augenaufschlag in die Runde.

„Wie, obdachloser Wanderarbeiter?“ Polizeirätin Nora Brettschneider war Lehrgangskollegin von Meier-Wirsing und wie er Juristin, aber ungleich hübscher und sportlicher. Sie leitete seit kurzem die Stabsdienststelle.

„Ob Sie's glauben oder nicht, Kollege Lütkehennerich ist o.f.W. Ja wirklich: ohne - festen - Wohnsitz. Vor sechs Jahren hat seine Frau ihn rausgeschmissen. Seitdem wohnt er in so einem Mörderteil von Wohnmobil, das er selbst zusammengebraten hat und ist nirgendwo amtlich gemeldet. Ein Unding für einen Beamten, wenn Sie mich fragen. Wie zahlt der seine Steuern? Wie kriegt der seine Post? Wie ist der telefonisch erreichbar? Und wie der rumläuft: Immer auf Malocher getrimmt: schwarze Cordhose mit Doppelschlitz und Zollstock. Dann dieser unmögliche graue Pullover. Ich glaub, der hat noch keine Waschmaschine von innen gesehen. Dazu Weste und Schlapphut. Und natürlich den größten Ohrring, den er kriegen konnte. Was wirft denn das für ein Bild auf uns?“ Selbstgefällig legte Maleczyk sich zurück. 'Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich', dachte er und grinste hinterhältig.

„Das ist ja noch längst nicht alles.“ KD Reiffeisen haute mit Schmackes in die Kerbe hinein. „Zu allem Überfluss kriegt dieser Nichtsesshafte auch noch Teilzeit genehmigt und gondelt jedes Jahr locker drei bis vier Monate durch die Weltgeschichte. Da fällt mir wirklich nichts mehr zu ein.“ LPD Herbert Hirschacker sah seine Führungsriege mit müden Augen an. Dies war einer der Momente, wo er sich besonders intensiv auf seinen verdienten Ruhestand freute, der in wenigen Monaten beginnen würde.

„Zu Ihrer Kenntnis: Lütkehennerich war in seinem ersten Leben Zimmermann, er ist als Geselle tatsächlich einige Jahre lang auf der Walz gewesen. Kluft und Ohrring trägt er also völlig zu Recht, niemand kann ihm das verbieten. Die Rechtsabteilung hat das schon vor Jahrzehnten durchgeprüft. Ein Gleiches gilt für seinen Antrag auf Teilzeit. Er hat eine Dreiviertelstelle. Anders als andere Leute reduziert er aber nicht seine Wochenstunden, sondern arbeitet voll und nimmt das komplette Kontingent auf einmal. Da er das immer im Winter nach Neujahr tut und daher in der Haupturlaubszeit uneingeschränkt zur Verfügung steht, gibt es keinen vernünftigen Grund, ihm die Sache zu verwehren.“

„Und was macht er in der Zeit? Hat er kleine Kinder oder eine pflegebedürftige Mutter? Er muss doch einen Grund angeben.“ Im Beamtenrecht kannte Meier-Wirsing sich aus wie kein zweiter.

Herbert Hirschacker hob seine Stimme, was er selten tat. „Herr Lütkehennerich macht keineswegs Urlaub, oder jedenfalls nicht das, was wir darunter verstehen. Er arbeitet in dieser Zeit ehrenamtlich für die UNESCO und beteiligt sich an Hilfsprojekten in verschiedenen nordafrikanischen Staaten. Meistens hilft er beim Bau von Schulen und Krankenhäusern und bildet im Rahmen der Projekte vor Ort Handwerker aus.“

„Na ja, wem's Spaß macht!“ Maleczyk warf einen ziemlich affektierten Blick an die Zimmerdecke.

Herbert Hirschacker seufzte leise vor sich hin.

„Manch einem von uns“, sagte er dann schlicht, „würde es im Leben entscheidend weiterhelfen, mal so ein, zwei Jahre auf dem Bau zu arbeiten.“

Kapitel 4

„Moin Manni!“ Der Tatortwagen stand noch nicht ganz still, da war Kriminalkommissar Dierk-Helge Reuter-Ritterling schon aus dem Fahrzeug und auf seinen uniformierten Kollegen zugesprungen.

„Kannst du mir einen kurzen Überblick geben?“

„Klar, sofort“, meinte Manni freundlich. „Aber lass uns erst auf Hermann warten, dann brauche ich nicht alles zweimal zu erzählen.“ Er beobachtete, wie der alte Kriminalbeamte gemütlich dem Fahrzeug entstieg, längere Zeit im Fond herumkramte und schließlich gemessenen Schrittes auf sie zukam, Spurenkoffer in der Hand und Kamera um den Hals. Er registrierte auch belustigt, dass der junge Dierk-Helge die ganze Zeit nervös auf den Fußspitzen wippte. Sein brandrotes Haar leuchtete in der Morgensonne und bildete einen unglaublichen Kontrast zu seiner nachgerade bleichen Gesichtsfarbe. Otto, Mannis Streifenpartner, redete derweil in der Werkhalle auf einen grauhaarigen Mann in gleichfarbigem Arbeitskittel ein und zeigte dabei auf einen großen Stapel beschichteter Isolierplatten. Der Mann hörte Otto zu, schüttelte dann den Kopf und verschwand im Inneren der Halle. Otto kam zu ihnen herüber geschlendert, die Hände tief in den Hosentaschen und mit offensichtlicher Stinklaune.

„Na, Otto, Deal geplatzt?“ Kriminaloberkommissar Hermann Stratkötter hatte die Situation sofort erfasst.

„Scheiß-Wichtigtuer!“, stieß der Dicke hervor und wandte sich angewidert ab, nicht ohne dem Graukittel einen giftigen Blick hinterher zu schicken.

„Okay, dann kurz zur Lage!“ Manni zückte sein Notizbuch. „Scheint alles nach einem klaren Fall von Car-Napping auszusehen, zum Nachteil des Bauunternehmers Sandmann. Die Täter sind an der Rückfront über die Mauer aufs Dach, haben eine Lichtkuppel aufgehebelt und konnten von dort auf das Hochregal im hinteren Bereich runterspringen. Der Rest war einfach. Sie haben die Tür zum Bürotrakt aufgebrochen, wozu sie ein langes Hebeleisen aus dem Betrieb verwendeten. Im Büro haben sie den Schlüsselschrank von der Wand gehebelt und geknackt. Entwendet wurden drei Fahrzeuge: zwei fast neue 12-Tonner mit Allradantrieb und Ladekran und dann der Mercedes vom Chef. Alles komplett mit Papieren und Originalschlüsseln. Tatzeitraum von Freitag, achtzehn Uhr bis heute Morgen um sechs. Melderin ist Frau Sylvia Lieblich, die Geschäftsführerin. Sandmann selbst ist noch auf Geschäftsreise in Spanien, wird aber jeden Moment zurückerwartet. Das ist auch der Grund, warum sein Mercedes hier untergestellt war. Soweit die Lage. Wie sollen wir den Schriftkram regeln? Wir schreiben wie üblich die Strafanzeige und ihr macht die Spurensuche?“ Hermann nickte zustimmend, aber Dierk-Helge hatte andere Pläne.

„Nee, wir übernehmen komplett.“ Hermann verdrehte die Augen und schickte ein ebenso inniges wie nutzloses Stoßgebet gen Himmel.

„Schreib mir ‘nen Dreizeiler zur Eintreffsituation, alles andere machen wir. Irgendwas stinkt hier.“ Tief in Gedanken versunken wendete Dierk-Helge sich ab und schritt auf den Bürotrakt zu.

Dort trafen sie auf eine Frau, die sich als „Sylvia Lieblich, Geschäftsleitung“ vorstellte. Sie war mittelgroß, mittelschlank und trug mittelblondes, mittellanges Haar. Irgendwie hätte sie insgesamt ziemlich mittelmäßig gewirkt, wären da nicht das schwarze Nadelstreifenkostüm, die schwarzen Pumps, die gestärkte weiße Bluse, die Goldbrille, der teure Schmuck und das aufwendige Make-Up gewesen. Sylvia Lieblich hatte keine Anstrengungen gescheut, sich managermäßig voll aufzubrezeln.

Ihre Haltung wirkte gerade aber weniger autoritär, denn sie kniete auf dem Boden und versuchte erfolglos, den Stahlschrank zur Seite zu schieben, der offensichtlich von der Wand gehebelt und direkt aufgebrochen worden war.

„Finger weg!“ kommandierte Dierk-Helge sofort scharf. Die Frau stand auf, musterte ihn herausfordernd und stemmte die Hände in die Hüften.

„Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe hier eine Firma zu leiten“, schoss sie zurück. „Der Laden muss weiterlaufen, uns geht mit jeder Minute bares Geld durch die Lappen. Dieser Einbruch wirft uns glatt zwei Tage zurück. Sämtliche Termine kippen, wir geraten vertraglich in Verzug. Das zahlt uns kein Mensch!“

„Schon klar“, schaltete Hermann sich diplomatisch ein. „Trotzdem müssen Sie nicht ausgerechnet die Sachen berühren, die auch die Täter angefasst haben. Ich nehme an, Sie brauchen als erstes Ihr Büro wieder zurück?“

Die Lieblich nickte zustimmend. Endlich jemand, der Durchblick hatte.

„Okay, dann fangen wir gleich hier an, umso schneller sind wir durch. Was ist übrigens mit dem Tresor dort?“

„Scheint alles okay zu sein.“

„Können Sie mal nachsehen, ob was fehlt?“ Hermann musterte den alten Stahlkoloss aus Vorkriegszeiten interessiert. Er besaß zwei Zahlenschlösser aus matt blinkendem Messing.

„Nein, die Kombination kennt nur Herr Sandmann.“

Aha, soviel also zum Thema Geschäftsleitung. Interessiert sah Dierk-Helge sich um. Die Fotos an den Wänden zeigten stattliche Segelyachten und Szenen vom Hochseeangeln. Der Chef war verschiedentlich selbst am Steuer und im Kampfstuhl zu sehen. Er schien exklusive Hobbys zu pflegen. Eine ganze Wand war jedoch mit Magnettafeln versehen. Drei verschiedene Bauprojekte waren dort im Grundriss, in verschiedenen Aufrissen und als aufwändige 3-D-Animation zu sehen.

„Das sind die Objekte, die Fa. Sandmann derzeit aktuell realisiert“, erklärte Sylvia Lieblich professionell. „Das ist natürlich nur ein Teil der Auftragslage. Wir hängen immer nur die aktuell im Bau befindlichen Projekte auf, damit die Mitarbeiter sich besser hineindenken können. Ein Bild sagt nun mal mehr als tausend Worte!“

„Was Sie nicht sagen“, meinte Dierk Helge abwesend. Sein Blick blieb auf einem Exposee hängen, das plakativ auf einem Regal stand. „Villas Selva y Mar“ las er.

„Das ist unser derzeitiges Investorenprojekt in Málaga“, soufflierte Sylvia Lieblich sofort. „Ein echtes Sahnestück und äußerst lukrativ. Exklusive Villen, umgeben von einem Naturreservat. Eine abgelegene Bucht an der Steilküste mit eigenem Sandstrand. Wenn Sie interessiert sind, kommen Sie gern zu uns.“

Aber Dierk-Helge war mit den Gedanken schon wieder woanders. Geistesabwesend faltete er das Exposé zusammen und steckte es ein. Dann machten Hermann und er sich an die Arbeit.

Zwanzig Minuten später waren sie drinnen fertig und sichteten das Außengelände.

„Jetzt mal ganz in Ruhe, Roter!“ Hermann Stratkötter fischte sich eine von seinen fiesen gelben Gauloises aus der Hemdtasche und setzte sie mit seinem vorsintflutlichen Flammenwerfer in Brand. Eine herbe Duftwolke aus kohlschwarzem Tabak und Benzin machte sich breit.

„Wie zum Henker kommst du darauf, dass hier irgendwas getürkt ist?“

„Liegt doch glasklar auf der Hand!“ Dierk-Helge schritt gestikulierend auf und ab. „Erstens: Das Brecheisen, mit dem sie die Feuerschutztür aufgehebelt haben, war hier aus dem Betrieb. Mit was anderem hätte man das schwere Ding auch gar nicht knacken können.“

„Klar“, konterte Hermann. „Aber das Oberlicht ist mit einem kleineren Eisen aufgebrochen worden, ebenso der Schlüsselkasten. Roter Lack, handelsübliche Baumarktware. Die haben nicht mit der Feuerschutztür gerechnet, sind mit ihrem Werkzeug gescheitert und haben sich im Objekt was Besseres gesucht. Das erleben wir bei Firmeneinbrüchen doch laufend. Kein Tresorknacker bringt ein Schweißgerät mit, wenn eines vor Ort ist.“

„Ja, aber dann der Mercedes!“ Hermann zuckte unbewusst zusammen. Die Worte ‚Ja, aber‘ aus Dierk-Helges Mund lösten inzwischen allergische Reaktionen bei ihm aus.

„Der Mercedes war nur zufällig hier. Das kann nur ein Insider gewusst haben.“

„Mensch, Dierk, denk doch mal nach! Was wird denn hier die letzten Jahre geklaut wie blöd? Baufahrzeuge halt. Lkw, Bagger, Radlader, Kräne und Gabelstapler. Gerüste nimmt man auch schon mal gern mit. Das Baugeschäft boomt im Osten, die Sachen werden da gebraucht. Jetzt baldowert jemand das Ding hier mit den beiden 12-Tonnern aus und stolpert dabei – hups – über den Mercedes. Was glaubst du, was der macht?“

Aber Dierk-Helge gab nicht auf. Lässig schlug er auf das schwere, mannshohe Rolltor, das gewöhnlich die Zufahrt zum Firmengelände versperrte. „Die Schlüssel fürs Tor waren nicht in der Firma. Die haben nur der Chef, der Hausmeister und die Poliere. Wie glaubst du haben die Einbrecher das auf und wieder zu gekriegt ohne Schlüssel und ohne sichtbaren Schaden?“ Herausforderung und Triumph blitzten in seinen Augen, als er seinen Kollegen ansah. Hermann schaute sich das Tor in Ruhe an. Es wurde elektrisch betrieben und über einen Schlüsseltaster bedient, der sauber in einen Pfosten eingelassen war. Hermann kramte in der Hosentasche und holte ein voluminöses Schlüsselbund hervor. Dann begann er, die einzelnen Schlüssel zu probieren. Schon beim zweiten gab es ein lautes Klicken. Summend sprang ein Elektromotor an und das gut geschmierte Tor schloss sich fast lautlos.

„Kuckma, wieder mal mein Garagenschlüssel. Der passt meistens.“ Hermann grinste zufrieden. „Billiger Baumarktzylinder. Jeder siebte Schlüssel passt.“

Das Rolltor war noch nicht wieder ganz offen, da fuhr ein schwarzer Audi Q7 mit quietschenden Reifen aufs Gelände. Am Hamburger Kennzeichen konnte man leicht erraten, dass es ein Leihwagen war. Ein Mann um die 50 in teurem, zerknittertem Anzug stieg aus und kam forschen Schrittes auf sie zu.

„Sandmann“, stellte er sich vor. „Bernd Sandmann. Ich bin hier der Chef. Meine Mitarbeiterin hat mich eben angerufen. Was ist denn genau passiert?“

Dierk-Helge schmollte gerade, also sprach Hermann mit ihm.

Die Bürotür ging auf. Sylvia Lieblich rauschte auf Bernd Sandmann zu und warf sich ihm schluchzend an den Hals. Hermann glotzte verwundert. Nanu, die arrogante Büroschnepfe von eben schien ja mächtig aufzutauen. Und ihr Arbeitsbereich schien ja auch erheblich tiefer zu gehen, als sie vorhin vorgegeben hatte.

Sandmann tröstete seine Mitarbeiterin. „Komm, Sylvia, ist alles halb so wild. Ich hab schon von unterwegs telefoniert. In drei Stunden stehen hier zwei Leasingfahrzeuge auf dem Hof, dann geht es weiter. Schließlich sind wir versichert.“ „Und ob“, dachte Dierk-Helge grimmig. Hermann konnte ihm erzählen was er wollte. Der war doch eh nur zu faul. Er, Dierk-Helge Reuter-Ritterling, würde seiner Nase folgen. Und wenn hier außer Hermann was faul war, dann würde er das rauskriegen. Er brauchte diesen geschniegelten Typen doch nur anzugucken, um Bescheid zu wissen. Sandmann passte einfach nicht auf den Bau. Der war Sohn von Beruf. Und die heulende Blondine war eindeutig ein Fremdkörper in diesem Betrieb mit ihren Pumps und ihren gestylten Fingernägeln. Aber da war doch eben dieser Graukittel, der Otto abserviert hatte. Das waren gewöhnlich die Leute, die wussten, was Phase war. Dierk-Helge machte sich im Hinterkopf eine Notiz, dem Mann später noch mal auf den Zahn zu fühlen.

Kapitel 5

Gegen zwei Uhr kamen Hermann und Dierk-Helge endlich auf die Dienststelle zurück. Hermann holte einen Rollwagen vom Hausmeister und verschwand mit seinem umfangreichen Spurenmaterial direkt zu den Kriminaltechnikern beim Erkennungsdienst. Dass Tatortdienst am Montag voll die Arschkarte ist, wusste Dierk-Helge nicht erst seit gestern. Da stehen immer die ganzen Einbrüche vom Wochenende an. Eigentlich ist das mehr als genug Arbeit für einen Tag. Aber voller böser Vorahnung schaute er auf dem Weg zum Büro noch schnell bei Elke vorbei. Die gute Seele und Büromanagerin des Kommissariats sah ihn über zwei hohe Aktenstapel hinweg mitleidig an. Und richtig: Der Papierstoß, der in seinem Fach schmorte, bog den dünnen Sperrholzboden schon deutlich nach unten und schien auch jetzt noch bei bloßem Betrachten aufzugehen wie ein Hefeteig. Chef Reiffeisen hatte mal wieder gnadenlos zugeschlagen und ihm sein Fach so richtig schön vollgeknallt.

'Die jungen Dachse sollen mal ordentlich an die Schüppe, dann kommen sie nicht auf dumme Gedanken' war sein ureigenstes Motto. Dem war scheißegal, ob man sich den ganzen Vormittag draußen die Hacken abgelaufen hatte. Frustriert schnappte er sich eine gelbe Postbox aus der Ecke und warf den Stoß nach kurzer Sichtung hinein. Na ja, immerhin ein komplett geklauter Transporter. Der Rest Fahrraddiebstähle, Internetbetrüge und eine nette Serie von demolierten Autos. Zerkratzte Türen, abgeknickte Antennen und Scheibenwischer. Lauter tote Hosen. Viel Arbeit, null Ermittlungsansatz. Was hatte er nur verbrochen? Dierk-Helge schielte auf Hermanns Fach, das war deutlich flacher bestückt. Warum kriegte der nicht die ganze Kleinscheiße? Der bewegte seinen Arsch doch sowieso nicht freiwillig nach draußen, so wie die meisten.

Irgendwie tickten hier alle nach derselben Uhr. Papier wegschaufeln, Statistik bedienen. Alles andere war Wurst. Wenn er hier doch bloß was zu sagen hätte, dann würde der Laden anders laufen. Dierk-Helge sehnte sich zu den Spezialermittlern für Leichen, Brand und Rauschgift. Die hatten noch Zeit für richtige Recherchen, die hatten keinen Rollbalken an ihrer Fallübersicht. Aber die Aussicht auf eine Stelle im K1 oder K2 war düster für Newcomer wie ihn. Da musste man sich schon profilieren. Aber wie bitte konnte man aus dem bürokratischen Tsunami eines Massenkommissariats positiv hervorstechen? Dierk-Helge seufzte frustriert, dann trollte er sich den endlosen Flur entlang zu seinem Büro.

„Viel Spaß damit“, rief Elke ihm sorgenvoll hinterher, aber Dierk-Helge war gedanklich schon längst wieder woanders. Vorausgesetzt, Unternehmer Sandmann hatte tatsächlich einen Versicherungsbetrug hingelegt: Welchen Sinn konnte das haben? Das Baugewerbe hatte ziemliche Flaute, es litt immer noch unter der Finanzkrise. Drohte Sandmann vielleicht die Insolvenz? Brauchte er dringend Geld, um die Zahlungsunfähigkeit abzuwenden?

Sandmann hatte von zwei Ein-Familien-Häusern gesprochen, dazu kam das Seniorenheim in Herzebrock.

Das war zwar alles nicht gerade bombig, aber der Laden schien zu laufen und angeblich steckten bereits weitere Aufträge in der Pipeline. Fa. Sandmann schien auf gesunden Füßen zu stehen. Und trotzdem: drei teure Fahrzeuge auf einen Schlag. Das war schon ein ordentlicher Hammer für sich. Circa 250.000 Euro Zeitwert. Aber da war noch was. Irgendwie hatte es mit Sandmann zu tun. Warum war ihm der Mann so suspekt? Dierk-Helge schloss die Augen und ließ die Begegnung noch mal im Gedächtnis ablaufen.

Sandmann: Etwa eins fünfundachtzig groß, sportlich mit Bauchansatz, dazu porentiefe Bräune mit einem ordentlichen Schuss Sonnenbank. Das dunkel getönte und blondgesträhnte, noch recht volle Haar sorgfältig nach hinten gegelt, teurer Anzug, schwere Goldkette und eine wuchtige Schweizer Uhr, die verdächtig nach Breitling aussah. Der jetzt leider geklaute AMG-Mercedes rundete das Bild ab. Dazu die megateuren Hobbys: Segeln und Hochseeangeln in der Karibik. Alles, aber auch wirklich alles an Sandmann stank nach Geld. Nach viel Geld. Okay, ein mittelständischer Bauunternehmer lebt deutlich über der Armutsgrenze, aber die Symbolik, mit der Sandmann sich umgab, war für ihn zwei Regale zu hoch gegriffen.

Das war es. Dierk-Helge grinste. Sandmann lebte klar über seine Verhältnisse. Der war kein Handwerker und würde auch nie einer werden. Sandmann war ein Zocker. Hatte er sich womöglich verzockt? Und was hatte es mit diesen „Villas Selva y Mar“ auf sich? Das würde er als nächstes herauskriegen. Der Ermittlungsterrier in ihm streckte witternd die Nase in den Wind und ließ aus tiefstem Inneren ein böses Knurren heraus, während die Flanken angespannt zitterten. Voller Tatendrang schmiss Dierk-Helge sich in seinen Bürosessel. Von dem Stoß neuer Anzeigen nahm er die oberen beiden und legte sie in ein gut gefülltes Körbchen auf seinem Schreibtisch. Da würde er sich morgen früh als Erstes drum kümmern. Den Rest knallte er kurzerhand in die zweite Schublade seines Schreibtisches. Das heißt, er wollte knallen, aber die Schublade war zu seinem Schrecken randvoll. Auch die dritte Lade enthielt schon einen beträchtlichen Stoß. Höchste Zeit für einen verschärften Bürotag. Sichten, sortieren, kopieren, lochen, klammern. Dann den ganzen Rotz weg zur Staatsanwaltschaft, eine Durchschrift ablegen und zum Schluss, als wichtigster Schritt der detektivischen Bemühungen, die Kriminalstatistik bedienen. Und hoffen, dass Reiffeisen nicht allzu viel von dem Schrott wieder zurückgab, weil er mal wieder in jeder Suppe irgendein Haar finden würde. Dierk-Helge stieß einen tiefen Seufzer aus. Bei nächster Gelegenheit, versprach er sich hoch und heilig. Aber nicht jetzt. Nach fünf Minuten konzentrierter Denkarbeit griff er zum Hörer.

Als Hermann vom Erkennungsdienst zurückkam, fand er seinen Kollegen vor, der mit hochrotem Kopf irgendwem am Telefon klarmachte, warum gerade die Firma Sandmann dringend intensiver Fürsorge bedurfte. „Sicher? Was ist heute schon sicher?“ fragte er seinen Gesprächspartner. „Das ganze stinkt halt nach Betrug. Und dafür muss es ein Motiv geben. Schau doch einfach mal nach, das kostet ja nichts. Ja? Du meldest dich? Perfekt!“

„Wer war denn das?“ Hermann sah seinen Partner besorgt an.

„Oberfinanzdirektion Münster“, sagte der lakonisch und hackte irgendetwas mit Hochgeschwindigkeit in seinen PC. Hermann zuckte mit den Schultern und holte sich erst mal einen Kaffee aus dem Automaten im Keller. Genau 38 Minuten später klingelte das Telefon. Die Art, in der Dierk-Helge den Telefonhörer schnappte, erinnerte Hermann lebhaft an die Boa Constrictor in seinem Terrarium zuhause, wenn sie ihre wöchentliche Zuchtratte schlug.

Dierk-Helge lauschte angespannt, dann weiteten sich seine Augen. „Okay, ich klär das hier im Hause und melde mich umgehend bei dir, um alles Weitere zu besprechen. Tschüss bis dann … und danke!“

Dierk-Helge legte den Hörer auf und atmete tief aus. Dann machte er eine Becker-Faust und stieß ein herzhaftes „YESSS“ aus.

„Du ahnst nicht, was die Jungs von der Steuerfahndung mir gerade gesteckt haben!“

Hermann seufzte leise. „Nein“, sagte er dann, und milde Resignation schwang in seiner Stimme. „Aber ich befürchte, dass du es mir alles sofort haarklein erzählst!“

„Die Steuerfahnder haben Sandmann auf der Liste. Du weißt doch: der Luxemburger Bankenskandal. Sandmann hat dort auch Schwarzgeld gebunkert. Der Kerl will sich nach Übersee absetzen und liquidiert hier gerade seine Vermögenswerte. Wenn das keine Fluchtgefahr ist, dann weiß ich's nicht. Ich muss sofort zum Chef!“ Und raus war er.

Hermann lehnte sich zurück und atmete tief durch. Es war dringend Zeit für sein tägliches Ritual. Erst mal holte er sich einen frischen Kaffee. Dann zog er eine Schublade auf, der er eine grüne Flasche entnahm. Er goss einen anständigen Schluck davon in seinen Kaffeebecher, von dem er zuvor die erforderliche Menge Kaffee abgetrunken hatte. Er nippte genießerisch und wartete ab.

Eine Stunde später war Dierk-Helge wieder da. Körperhaltung und Mimik ähnelten der eines getretenen Dackels.

„Na, wie war's?“, fragte Hermann beiläufig, ohne von seiner Zeitung hochzuschauen.

„Die sind doch alle nicht ganz dicht“, stieß Dierk-Helge zornbebend aus. „Nix hören, nix sehen, nix sagen, das ist hier die Strategie!“ Er setzte sich hin und schmollte wie ein Dreijähriger. Hermann war einerseits froh, wenn sein junger Springinsfeld mal einen Dämpfer abkriegte. Aber jetzt war er doch etwas besorgt.

„Nun erzähl schon“, sagte er väterlich. „Kein Haftbefehl? Kein Durchsuchungsbeschluss?“

„Nicht die Bohne“, murmelte Dierk-Helge deprimiert. „Reiffeisen hat sofort die Wirtschaftskriminalisten dazu gerufen. Die WiKri-Leute haben gleich so komisch geguckt. Dann haben sie bei der Steuerfahndung nachgehakt, die hatten den Fall inzwischen intern durchgesprochen. Sandmann ist ein kleiner Fisch. Er hat da Einlagen im niedrigen sechsstelligen Bereich. Reicht niemals für eine Freiheitstrafe. Na ja, und beim Thema Fluchtgefahr haben sie mir erst mal ‘ne Trainerstunde verpasst.“

„Wieso“, hakte Hermann ein, „das ist doch ganz einfach. Du setzt die wirtschaftlichen und sozialen Bindungen des Beschuldigten im Inland gegen die Höhe der zu erwartenden Strafe. Gegebenenfalls musst du noch etwaige Bindungen im Ausland erwägen. So haben wir es gelernt.“

„Genau das hat Reiffeisen auch gesagt. Sandmann hat ein funktionierendes Unternehmen, das ihm einen gehobenen Lebensstandard beschert. Er besitzt die Firmenimmobilie, dazu die elterliche Villa im Stadtpark und sicher auch noch ein sattes Barvermögen. Was die Schwarzgeldaffäre anbetrifft, die kann er mit einer Selbstanzeige aus der Welt schaffen. Er kriegt ‘ne saftige Nachzahlung aufgebrummt, behält aber den größeren Batzen, und alles ist gut. Für die Selbstanzeige wird den Delinquenten übrigens noch einige Zeit eingeräumt. Das ist ja Sinn der Sache. Man soll sich freiwillig melden, um möglichst viele Strafverfahren zu vermeiden. Und selbst wenn Sandmann sich nicht meldet und ein Strafverfahren bekommt: Bei der anliegenden Summe steht allenfalls eine Geldstrafe im Raum.“

„Und dafür gibt natürlich keiner seine Existenz, seinen Lebenskreis und seine verbleibenden Vermögenswerte auf, um irgendwo im Ausland ein Leben im Untergrund zu führen“, spann Hermann den Gedanken weiter.