One-Eyed Royals - Cordelia Kingsbridge - E-Book

One-Eyed Royals E-Book

Cordelia Kingsbridge

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Beschreibung

"One-Eyed Royals" ist der vierte Band der fünfteiligen Thriller-Serie von Cordelia Kingsbridge. Die Bücher sollten in der richtigen Reihenfolge gelesen werden. Detective Levi Abrams und Privatdetektiv Dominic Russo stehen sich plötzlich als Gegner gegenüber, obwohl sie sich jetzt wohl am dringendsten brauchen würden. Dominic ist immer noch in einem Teufelskreis gefangen, und Levi verzweifelt fast, weil er die Pik-Sieben einfach nicht zu fassen bekommt. Die Opferzahlen des grausamen Serienmörders steigen weiter an, und Levi muss machtlos zusehen. Als Levi und Dominic feststellen, dass sie beide am Fall eines Entführer-Rings mit einer Vorliebe für Verstümmelungen arbeiten, scheint sich die Vergangenheit zu wiederholen. Wieder einmal hat sie das Schicksal zusammengeführt, und bei der Jagd nach dem Kopf der Entführerbande verbünden sie sich – wenn auch widerstrebend. Der Pik-Sieben hasst es jedoch, das Scheinwerferlicht zu teilen, und sie hat noch ein Ass im Ärmel: Opfer mit besonderer Beziehung zu Levi. Die Morde versetzen erneut ganz Las Vegas in Angst und Schrecken und verändern die Regeln des Spiels. Die Pik-Sieben hat den Einsatz erhöht. Und das bedeutet: Wenn Levi und Dominic auch nur einen falschen Zug machen, werden sie am Ende alles verlieren.

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Seitenzahl: 484

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CORDELIA KINGSBRIDGE

ONE-EYED ROYALS

DIE PIK-SIEBEN-MORDE 4

Aus dem Amerikanischen von Peter Friedrich

Über das Buch

Detective Levi Abrams und Privatdetektiv Dominic Russo stehen sich plötzlich als Gegner gegenüber, obwohl sie sich jetzt wohl am dringendsten brauchen würden. Dominic ist immer noch in einem Teufelskreis gefangen, und Levi verzweifelt fast, weil er die Pik-Sieben einfach nicht zu fassen bekommt. Die Opferzahlen des grausamen Serienmörders steigen weiter an, und Levi muss machtlos zusehen.

Als Levi und Dominic feststellen, dass sie beide am Fall eines Entführer-Rings mit einer Vorliebe für Verstümmelungen arbeiten, scheint sich die Vergangenheit zu wiederholen. Wieder einmal hat sie das Schicksal zusammengeführt, und bei der Jagd nach dem Kopf der Entführerbande verbünden sie sich – wenn auch widerstrebend.

Die Pik-Sieben hasst es jedoch, das Scheinwerferlicht zu teilen, und sie hat noch ein Ass im Ärmel: Opfer mit besonderer Beziehung zu Levi. Die Morde versetzen erneut ganz Las Vegas in Angst und Schrecken und verändern die Regeln des Spiels.

Die Pik-Sieben hat den Einsatz erhöht. Und das bedeutet: Wenn Levi und Dominic auch nur einen falschen Zug machen, werden sie am Ende alles verlieren.

Über die Autorin

Cordelia Kingsbridge hat einen Master in Sozialarbeit von der Universität Pittsburgh, doch bereits während ihres Studiums schrieb sie Romane. Schon bald entschied sie, ihr Hobby zum Beruf zu machen. Inzwischen erkundet sie ihre Faszination für das menschliche Verhalten und die Psychopathologie durch die Fiktion. Sie hat eine Schwäche für gegensätzliche Paare und bissige Sticheleien.

Als Ausgleich zum Schreiben macht sie Kraftsport, fährt Fahrrad und praktiziert Krav Maga. Sie lebt in Südflorida (und schreibt am liebsten drinnen bei laufender Klimaanlage).

Die amerikanische Ausgabe erschien 2018 unter dem Titel »One-Eyed Royals« bei Riptide Publishing.

Deutsche Erstausgabe Mai 2022

© der Originalausgabe 2018: Cordelia Kingsbridge

© Verlagsrechte für die deutschsprachige Ausgabe 2022:

Second Chances Verlag

Inh. Jeannette Bauroth, 98587 Steinbach-Hallenberg

Published by Arrangement with RIPTIDE PUBLISHING LLC

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder

auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten

mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Umschlaggestaltung: Frauke Spanuth, Croco Designs,

unter Verwendung von Motiven von legrodu95, VRD, gemenacom, Swapan, Rawpixel.com, starlineart

alle stock.adobe.com

Lektorat: Anne Sommerfeld

Korrektorat: Julia Funcke

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

ISBN 978-3-948457-31-0

 

www.second-chances-verlag.de

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

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J. J. Q. T. C. P.Cousins und Cousinen, Geschwister im Geiste

KAPITEL 1

Dominic stöhnte, als Sirenengeheul die Luft zerriss und flackerndes Blaulicht in seinem Rückspiegel auftauchte. Er fuhr noch ein paar Sekunden lang in der Hoffnung weiter, der Cop würde ihn überholen. Aber nein, Pech gehabt.

Er lenkte seinen Pick-up an den Straßenrand und warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Verdammt, er würde zu spät kommen. Schon wieder.

Die Polizistin, die sich dem Wagen näherte, war eine junge Weiße mit blonden Haaren, die sie unter ihrer Mütze zu einem Zopf geflochten hatte. Dominic richtete seine Jacke, um die Ausbeulung vom Schulterholster zu verbergen – er durfte zwar eine versteckte Waffe tragen, aber wozu gegenüber der Polizei ein Risiko eingehen? Dann legte er die Hände wieder aufs Lenkrad und schenkte ihr das entwaffnendste Lächeln, das er zustande brachte. Was ihm in letzter Zeit nicht leichtfiel.

»Gibt es ein Problem, Officer?« Er wusste genau, dass er nicht zu schnell gefahren war.

»Ihr rechtes Rücklicht ist defekt, Sir.«

Dominics Hände spannten sich so fest um das Lenkrad, dass es knackte. Die Polizistin bemerkte es und zog die Augenbrauen hoch.

»Das weiß ich«, sagte er und versuchte, gelassen zu klingen. »Das ist das dritte Mal in den letzten fünf Tagen, dass ich deswegen rausgewinkt werde.«

»Dann sollten Sie es besser reparieren lassen.«

»Das werde ich. Es ist nur so, dass ich im Moment ein bisschen knapp bei Kasse bin.«

Sie musterte ihn unbeeindruckt. »Das Geld wird noch knapper werden, wenn Ihnen jemand hintendrauf fährt, weil er nicht mitbekommt, dass Sie bremsen.«

»Haben Sie wirklich nichts Sinnvolleres zu tun, als sich um defekte Rücklichter zu kümmern?«, fragte er wider besseres Wissen. »Was ist mit dem Serienkiller, der die Stadt seit fast einem Jahr in Atem hält? Oder den Neonazis, die im ganzen Valley verrücktspielen?«

Er deutete mit dem Kopf auf das nächstliegende Gebäude. Das Symbol von »Utopia« – einer Gruppe weißer Rassisten, die im Handumdrehen von einer Straßengang zu einer regelrechten Miliz angewachsen war – war in pechschwarzer Farbe auf die Wand geschmiert.

Die Polizistin wandte den Blick ab, und er konnte sehen, dass er einen Nerv getroffen hatte. Als er ihr Profil betrachtete, stellte er noch etwas fest.

»Wir kennen uns doch«, sagte er verblüfft. »Sie sind dieser Rookie, von dem Levi Abrams so viel gehalten hat – Kelly Marin, stimmt’s? Die letzten April aufgeflogen ist, weil sie die Geschichte der Pik-Sieben an das Review-Journal hat durchsickern lassen.«

Sie blinzelte und wich einen Schritt zurück. Er nutzte ihr kurzes Zögern.

»Levi hat Sie auf mich angesetzt, nicht wahr? Er hat Sie gebeten, mich zu drangsalieren.«

»Das LVMPD drangsaliert keine Bürger, Sir«, entgegnete sie steif.

Dominic schnaubte. »Dann ist es also bloß Zufall, dass ich in den etwas über drei Monaten, seit Levi und ich uns getrennt haben, mehr Strafzettel und Verwarnungen bekommen habe als in meinem ganzen Leben zuvor? Einer Ihrer Kumpels hat mir letzten Monat ein Bußgeld aufgebrummt, weil ich bei Rot über die Straße gegangen bin, und das als Einzigem, mitten in einem Pulk von Leuten. Sie können mir doch nicht weismachen, dass Levi nicht eine Art heimlichen Aufruf erlassen hat, mich und meinen Pick-up im Auge zu behalten und mich beim kleinsten Anlass zu belästigen.«

Kelly antwortete nicht, aber das war auch nicht nötig. Als ihre Beziehung im November so spektakulär geendet hatte, hatte Levi geschworen, Dominic das Leben zur Hölle zu machen – und er hielt sein Versprechen. Dominic hatte nicht nur jedes Mal einen Cop hinter sich, wenn er sich umdrehte, er war auch ziemlich sicher, dass Levi das Rücklicht zerschmettert hatte. Eines Morgens hatte er den Pick-up mit eingeschlagener Leuchte, aber sonst völlig intakt vor seiner Wohnung vorgefunden, inmitten vieler anderer geparkter Autos, die allesamt unbeschädigt gewesen waren.

»Hören Sie, schreiben Sie mir jetzt einen Strafzettel oder nicht?«, fragte Dominic. »Ich komme zu spät zu einem Meeting bei der Arbeit.«

Tatsächlich würde er selbst ohne Kelly zu spät kommen. Auch das war Levis Schuld. Seit der Trennung hatte er Dominic bei einem Casino nach dem anderen auf die schwarze Liste setzen lassen. Als er sich dann nicht ganz so legalen Spielhöllen zuwandte, hatte auf geheimnisvolle Weise in jeder von ihnen am nächsten Tag eine Polizeirazzia stattgefunden.

Innerhalb weniger Wochen war Dominic in fast allen Casinos in und um Las Vegas zur Persona non grata geworden. Lediglich bis zum Railroad Pass in Henderson reichte Levis Einfluss nicht, eine halbe Stunde Fahrt vom Strip entfernt. Wenn sich Dominic also nicht mit Online-Glücksspiel zufriedengab – was einfach nicht dasselbe war –, musste er sich die Mühe machen, dorthin zu fahren, und er unterschätzte regelmäßig den Verkehr auf dem Rückweg.

»Ich lasse Sie diesmal noch mit einer Verwarnung davonkommen«, sagte Kelly. »Sorgen Sie dafür, dass die Rückleuchte repariert wird.«

»Selbstverständlich.«

Dominic drehte den Schlüssel im Zündschloss. Er wusste, dass Levi glaubte, das Richtige zu tun. Doch es war diesmal nicht dasselbe wie die anderen Male, als Dominics Spielsucht außer Kontrolle geraten war. Jetzt hatte er alles im Griff. Er hatte keine Probleme, aber Levi war zu stur, um das zu kapieren.

»Übrigens«, wandte er sich noch einmal an Kelly, als sie von seinem Wagen zurücktrat. »Vielleicht erinnern Sie Detective Abrams daran, dass er sein Handyladegerät bei mir vergessen hat, als ich ihn letzten Samstag gefickt habe.«

Dominic fädelte sich geschickt in den Verkehr ein, während sie ihm mit offenem Mund nachstarrte.

* * *

»Das ist ein neuer Tiefpunkt«, sagte Levi und betrachtete den letzten Tatort der Pik-Sieben.

»Es wirft kein gutes Licht auf die Gebäudesicherheit, so viel ist sicher«, meinte Martine.

Sie standen im Raum von Richter Cameron Harding vom Bezirksgericht, der im zentralen Justizgebäude der Stadt ermordet worden war – einem Bauwerk voller Menschen, Kameras und bewaffneter Sicherheitsleute. Mitten am Nachmittag, und doch hatte erst Stunden später jemand gemerkt, dass etwas nicht stimmte.

Wie die überwiegende Mehrzahl der mittlerweile zweiundzwanzig Opfer der Pik-Sieben war auch Harding ruhiggestellt worden, bevor man ihm von hinten die Kehle aufgeschlitzt hatte. Der Killer hatte ihm höchstwahrscheinlich sein bevorzugtes Mittel, Ketamin, in der Kaffeetasse verabreicht, die halb geleert auf dem Schreibtisch stand. Allerdings musste das erst ein Test bestätigen.

Harding saß noch an seinem Tisch, aber es waren die Objekte darauf, die Levis Aufmerksamkeit fesselten. Zwei Miniaturstatuen der Justitia, das Schwert in der einen, eine Waage in der anderen Hand, waren auf jeder Seite so aufgestellt worden, dass sie in Hardings Richtung zeigten. Kleine Plastikaugen klebten auf ihren Augenbinden, sodass sie den Richter anzustarren schienen.

An einer Ecke des Schreibtischs stand ein Bronzemodell der Waage der Justitia, gut ausbalanciert mit einer Pik-Sieben-Spielkarte in jeder Schale. Und in der Mitte der Tischplatte lag direkt vor Harding ein Blatt Papier, auf dem seine blutige Hand ruhte. An der Verteilung des Bluts an Brust und Hals erkannte Levi, dass der Killer Hardings Hand auf die Halswunde gepresst hatte, bevor er sie auf das Papier legte.

Wenn Levi und Martine nebeneinanderstanden, musste er den Kopf senken, um ihr in die Augen zu sehen – sie war eine zierliche Frau, obwohl sie mit ihrer Persönlichkeit mühelos einen Raum ausfüllen konnte. »Weißt du etwas über diesen Typen?«

»Nee.«

Levi umrundete den Schreibtisch, die behandschuhten Hände in den Taschen, während er Abstand vom Tatortfotografen hielt. Die Spurensicherung war noch bei der Arbeit, und der Gerichtsmediziner ließ auf sich warten, daher war es besonders wichtig, nichts zu verändern.

Er beugte sich über Hardings Schulter und konnte ein paar Worte am Kopfende des blutbefleckten Blatts unter der Hand des Mannes entziffern.

»Das ist der Amtseid, den die Bezirksrichter von Clark County ablegen«, sagte er zu Martine.

Sie schnaubte. »Die Pik-Sieben ist echt übertrieben extra.«

Er warf ihr einen verwirrten Blick zu.

»Das sind Mikaylas Worte«, erklärte sie, womit sie eine ihrer Töchter meinte.

Sie hatte nicht unrecht. Die Pik-Sieben stilisierte sich gern zum Kämpfer gegen die Ungerechtigkeit und zielte nur auf solche Menschen ab, die irgendeine Form von Verrat begangen hatten und damit davongekommen waren. Und der Mörder machte sich ein besonderes Vergnügen daraus, die Szenen so zu arrangieren, dass der Fehltritt des Opfers herausgestellt wurde.

Die Details und die Inszenierung von Hardings Ermordung enthielten eine klare Botschaft. Levi wusste allerdings nicht, inwiefern der Mann seinen Amtseid gebrochen hatte. Er war ihm nie begegnet und hatte seine Karriere nicht verfolgt.

Martine bewegte sich auf der anderen Seite um den Tisch herum und musterte Hardings Leiche. »Wenigstens hält sich der Killer an seine übliche Vorgehensweise. Keine Anzeichen von Gewalt oder einem Kampf.«

Levi nickte. Die Pik-Sieben – die auf dem besten Weg war, eine der erfolgreichsten ununterbrochenen Mordserien in der modernen Geschichte zu begehen – hatte einen unverkennbaren Stil. Der Killer war in der Lage, so vertrauenswürdig zu wirken, dass er seine Opfer mittels mit Drogen versetzter Getränke ausschalten konnte. Dann brachte er einen einzigen leidenschaftslosen Schnitt an der Kehle an.

Erst drei Mal war die Pik-Sieben von dieser Vorgehensweise abgewichen. Einmal, als sie einen Scharfschützen engagiert hatte, um einen Mann auf den Stufen dieses Gebäudes hier zu erschießen. Es war die Vergeltung dafür gewesen, dass er versucht hatte, der Pik-Sieben die Ermordung seiner Frau anzuhängen. Bei einer anderen Gelegenheit hatte der Mörder fünf Menschenhändler zugleich abgeschlachtet, war dann in Raserei verfallen und hatte die Leichen post mortem verstümmelt. Und einmal – ein einziges Mal – hatte er ein Opfer getötet, ohne es vorher zu betäuben, es stattdessen mit einem Taser kampfunfähig gemacht und ihm dann mit Gewalt eine Überdosis Ketamin injiziert.

Später hatte der Killer Levi gestanden, dass er diese Ausübung von aktiver Gewalt genossen habe, und eine Weile lang hatten sie befürchtet, die Mordserie würde immer mehr eskalieren. Doch jede einzelne Tat seitdem glich dem ursprünglichen Muster. Nur die aufwendige Inszenierung wechselte.

Levi wandte sich dem Streifenpolizisten zu, der als Erster am Tatort gewesen war und ein paar Schritte entfernt stand. »Dieses Gebäude ist mit Kameras gepflastert. Wie ist es dem Killer gelungen, herein- und wieder hinauszukommen, ohne aufzufallen?«

»Der Sicherheitschef hat sich schon damit befasst«, antwortete der Polizist. »Das gesamte System wurde gehackt und auf eine raffinierte Schleife geschaltet, sodass niemand etwas gemerkt hat. Sie konnten es noch nicht wieder reparieren – dazu sind Spezialisten nötig.«

»Carmen«, murmelte Martine.

Levi schloss die Augen und massierte sich die Nasenwurzel. Nicht lange nach ihrem Debüt hatte sich die Pik-Sieben einen Maulwurf in der Mordkommission herangezogen – Carmen Rivera, eine brillante junge Technikerin. Sie war vor ein paar Monaten verhaftet worden, nachdem Levi und Martine ihr auf die Schliche gekommen waren, doch dank der Straßengang »Los Avispones«, die mit der Pik-Sieben zusammenarbeitete, hatte sie wenige Tage später fliehen können. Wo immer sie jetzt war, mit ihrer Hilfe hatte der Killer Zugang zu Computersystemen und Informationen, die ihm ohne sie verschlossen geblieben wären.

»Okay, wir müssen …«

»Levi Abrams«, blaffte eine eisige Stimme.

Er zuckte zusammen und drehte sich um.

Die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin Leila Rashid stand mit verschränkten Armen hinter dem Tatortband, das die Bürotür versperrte. Wie immer trug sie die schwarzen Haare zu einem schlichten Pferdeschwanz zurückgebunden, und ihr einfacher Hosenanzug betonte die harten, schlanken Linien eines athletischen Körpers. Sie winkte ihn mit gekrümmtem Zeigefinger zu sich.

Trotz seiner Verärgerung darüber, wie ein Hund zu seinem Herrchen gerufen zu werden, trat Levi zu ihr. Martine folgte ihm mit neugierigem Blick.

»Haben Sie nicht vielleicht eine Kleinigkeit vergessen?«, fragte Leila mit so dick aufgetragenem Sarkasmus, dass ein anderer Mann in die Knie gegangen wäre.

»Um Himmels willen, Leila, ein städtischer Richter ist ermordet worden …«

»Cameron Harding?« Sie spähte an ihm vorbei zu der Leiche und winkte ab, anscheinend unbeeindruckt von der grausigen Szene. »Den Idioten konnte keiner leiden. Seine Urteile waren offen rassistisch. Ich bin nur überrascht, dass die Pik-Sieben ihn nicht früher erwischt hat.« Sie richtete den Zeigefinger auf Levi. »Sie hätten vor einer halben Stunde in meinem Büro sein sollen, um sich auf die Verhandlung vorzubereiten.«

Er machte den Mund auf, aber sie redete weiter, ohne ihm die Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben.

»Jason Wilsons neuer Verteidiger ist ein hinterlistiger Schleimer. Sie können nicht unvorbereitet ins Kreuzverhör, vor allem angesichts Ihrer Probleme mit der Aggressionskontrolle.«

»Jason Wilson?«, hakte Martine nach, während Levi vor Ärger kochte. »Ist das nicht einer von den Utopia-Gangstern, die wegen des Überfalls auf Sergei Volkovs illegales Casino verhaftet worden sind? Ich dachte, die Verfahren hätten schon vor ein paar Wochen anfangen sollen.«

»Regen Sie mich bloß nicht auf«, antwortete Leila. »Die Verhandlungen der ganzen Dreckskerle von Utopia, die im Gefängnis sitzen oder auf Kaution draußen sind, werden ständig verschoben, weil pausenlos die Verteidiger wechseln, sodass die Gerichtstermine ein einziges Chaos sind. Ein Anwalt nach dem anderen gibt sein Mandat ab.«

Martine summte nachdenklich vor sich hin. »Ich glaube, ich habe darüber gelesen. Sie erhalten Morddrohungen, oder?«

»Ja. Schlimmer noch aus Sicht der Anwälte, ein Haufen hochkarätiger Klienten droht damit, die Kanzlei zu wechseln, wenn sie Nazis vertreten.«

»Sie sind selbst Anwältin«, erinnerte Levi sie.

»Ich bin Staatsanwältin. Das ist was anderes. Und versuchen Sie nicht, vom Thema abzulenken.« Leila trat näher an das Absperrband heran. »Sie haben nicht einmal angerufen, um abzusagen, und auch keinen einzigen meiner Anrufe oder Nachrichten beantwortet, was bedeutet, dass ich eine Menge Zeit damit vergeuden musste, Sie aufzuspüren.«

Levi wand sich innerlich. Das war tatsächlich mies von ihm gewesen. »Ich weiß, tut mir leid. Mein Akku ist seit Stunden leer. Ich habe das Ladegerät verloren und noch keine Zeit gehabt, ein neues zu kaufen.«

Bei Leila hätte das vielleicht funktioniert. Aber Martine kannte ihn zu gut. Sie war seine Partnerin, seine beste Freundin, eine bessere Schwester als seine biologische, und sie ließ sich nicht so leicht täuschen.

Sie verengte die Augen. »Du verlierst nichts. Und das heißt, du weißt genau, wo dein Ladegerät ist, kommst aber aus irgendeinem Grund nicht ran …« Ihre Augen wurden groß. »Oh mein Gott, du hast es in Dominics Wohnung vergessen!«

»Du bist unmöglich«, sagte Levi.

»Sie haben wieder mit ihm geschlafen?«, fragte Leila so laut, dass der Streifenpolizist neben der Tür hellhörig wurde.

Levi funkelte ihn an, und der Mann wich hastig außer Hörweite zurück. »Das war nicht geplant! Es ist einfach passiert. Wir sind uns zufällig beim Einkaufen begegnet …«

»Ihr wohnt doch nicht einmal in der Nähe voneinander …«

»Und dann hat eines zum anderen geführt«, fuhr er fort und ignorierte standhaft ihren Einwurf. »Ich dachte … Ach, egal, was ich gedacht habe. Ich habe mich geirrt.«

Es war nicht das erste Mal, dass er sich in dieser peinlichen Lage befand. Er und Dominic liefen sich eben über den Weg, manchmal, weil er dafür sorgte, und manchmal, weil Dominic es so einfädelte. Sie begannen eine Unterhaltung, und wenn sie die ersten fünf Minuten ohne Streit überstanden, fühlte es sich wieder an wie früher. Dominic wirkte wieder wie der charmante, rücksichtsvolle, unbeschwerte Mann, in den Levi sich verliebt hatte. Levi fing an, zu glauben, dass es doch noch Hoffnung für ihre Beziehung gab, und am Ende landeten sie im Bett.

Dann passierte auf unvermeidliche Weise etwas, das Levi die brutale Wahrheit ins Gesicht schmetterte – Dominic war ein zwanghafter Spieler und hatte gerade einen kompletten Rückfall, sodass er jedes Hilfsangebot ablehnte. Solange das so blieb, konnten sie nicht auf eine irgendwie bedeutungsvolle Art zusammen sein.

»Weißt du«, warf Martine ein, »wenn ein Paar Schluss macht, hat es normalerweise keinen Sex mehr miteinander.«

»Was zum Teufel weißt du schon?«, gab Levi zurück. Martine hatte in ihrem ganzen Leben nur eine einzige Beziehung gehabt. Sie und ihr Mann kannten sich seit dem Sandkasten, waren zusammen in einem Viertel von haitianischen Immigranten in Flatbush aufgewachsen und hatten während des Studiums geheiratet.

»He, lassen Sie es nicht an ihr aus«, sagte Leila. »Sie ist nicht diejenige, die immer wieder mit Russo ins Bett hüpft.«

Martine stieß einen missmutigen Laut aus. »Ich verstehe ja, dass du und Dominic euch weiter zueinander hingezogen fühlt. Ihr seid immer noch verliebt, die Trennung hat daran nichts geändert. Aber das ist eine ausgesprochen ungesunde Art, darauf zu reagieren.«

»Und das hier ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort für diese Diskussion.« Levi wies auf die keine fünf Meter entfernte Leiche. »Ein Richter dieser Stadt ist am helllichten Tag in einem Regierungsgebäude ermordet worden. Der Bürgermeister wird durch die Decke gehen.«

»Als ob die Dinge nicht schon schlimm genug wären«, meinte Martine niedergeschlagen.

Der Tourismus in Las Vegas war abgesackt, seit die Pik-Sieben landesweites Interesse erlangt hatte, selbst wenn sie nie einen Touristen getötet hatte. Utopias explosives Wachstum hatte alles noch schlimmer gemacht, und unter dem wachsenden Druck war ein politischer Flächenbrand ausgebrochen, bei dem der Bürgermeister, der Stadtrat und der Sheriff mehr daran interessiert waren, sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben, als die Probleme zu lösen.

Martine und Leila verfielen in eine Debatte über Schadensbegrenzung, und erleichtert seufzte Levi leise. Soweit es ihn anging, gab es keinen richtigen Zeitpunkt oder Ort dafür, seine Beziehung mit Dominic zu diskutieren. Er konnte es kaum ertragen, auch nur daran zu denken.

Dominic war sein bashert, sein Seelenverwandter. Ohne ihn fühlte Levi sich, als ob man ihm in den Bauch geschossen hätte und er langsam verbluten würde.

»Detective Abrams?«, sprach ihn eine Mitarbeiterin der Spurensicherung von hinten an. »Da ist etwas, das Sie sich ansehen sollten.«

Martine und er folgten ihr. Leila, die sich nicht für den Tatort eingetragen hatte, blieb hinter dem Absperrband zurück.

»Es hat irgendwie unpassend gewirkt, daher haben wir es uns näher angeschaut. Und … na ja, Sie werden sehen.« Sie deutete auf eine Grußkarte, die zwischen gerahmten Fotos von Hardings Familie stand. »Ist schon gekennzeichnet und fotografiert.«

Levi ergriff die Karte vorsichtig mit den Fingerspitzen, obwohl er immer noch Handschuhe trug. Die Vorderseite war ein schimmerndes Ombré-Design mit den Worten Tut mir leid, dass ich es verpasst habe in Silberfolie. Innen stand Happy Birthday über einer getippten Nachricht.

Lieber Detective Abrams,

ich weiß, dass Ihr Geburtstag schon im Januar war, aber es braucht seine Zeit, ein perfektes Geschenk zu finden. Seien Sie versichert, dass ich es nicht vergessen habe. Ich werde bald etwas ganz Besonderes für Sie haben.

Eine Pik-Sieben-Spielkarte war am Fuß der Seite daruntergestempelt.

Levi bekam eine Gänsehaut, und ihn packte plötzlich der irrationale Drang, die Karte in Fetzen zu reißen. Stattdessen blickte er Martine an, die sie beäugte wie eine giftige Spinne.

»Was zum Teufel soll das bedeuten?«, fragte sie.

»Keine Ahnung«, antwortete Levi. »Aber ich bin ziemlich sicher, dass es mir nicht gefallen wird.«

KAPITEL 2

Dominic betrat den Double Down Saloon, eine lärmende Kneipe, deren Motto lautete: Klappe halten und trinken! Gleich an der Tür musste er einem würgenden Betrunkenen ausweichen, der hinaustaumelte. Dominic verdrehte die Augen und versuchte blinzelnd, das Chaos zu durchdringen. In weniger als fünf Sekunden hatte er seinen Klienten erspäht.

Der Double D war ein Magnet für die raubeinige Punk-Rock-Szene, und Nathan Royce fiel dazwischen auf wie eine einzelne Karo-Spielkarte in einem Blatt voller Pik. Er war ein adretter Silberfuchs mit einem guten Anzug und einer teuren Uhr. Beides schrie geradezu Obere Mittelklasse, was nicht gerade die Klientel der Bar war. Zusätzlich fiel er durch seine Zappeligkeit auf, er blickte nervös um sich, wippte mit dem Fuß und trommelte mit den Fingern auf den Stehtisch.

Dominic drängte sich rücksichtslos durch die Menge zu ihm durch – nicht allzu schwierig für einen Mann von seiner Größe und Statur. »Wir hätten uns auch anderswo treffen können«, meinte er und beugte sich dicht zu seinem Klienten, um sich über den Krach hinweg verständlich zu machen, den die schlechte, aber enthusiastische Band veranstaltete.

Royce schüttelte den Kopf. »Hier besteht nicht das Risiko, jemanden zu treffen, den ich kenne.«

»Sie sind der Boss«, sagte Dominic schulterzuckend. Er hievte seine Kuriertasche auf den Tisch. In dieser Umgebung erregte sie weniger Aufmerksamkeit als ein Aktenkoffer.

»Haben Sie etwas herausgefunden?«

»Wissen Sie, ich hätte den Job wesentlich schneller erledigen können, wenn Sie ein bisschen präziser erklärt hätten, wonach ich suchen soll.«

»Ich habe Ihnen genug erzählt«, erwiderte Royce ungeduldig. »Höchst wertvolle firmeninterne Informationen sind auf eine Art und Weise durchgesickert, die meiner Firma innerhalb einer verdächtig kurzen Frist schwere finanzielle Verluste zugefügt hat. Es ist entweder eine Verschwörung zum Versicherungsbetrug oder Sabotage durch die Konkurrenz. Was mussten Sie denn sonst noch wissen?«

»Die Natur der durchgesickerten Informationen beispielsweise.«

»Das kann ich Ihnen nicht verraten.«

Dominic unterdrückte ein Seufzen. Royce war der Direktor für Firmenhaftpflicht-Versicherungen innerhalb der Kensington Insurance Group, einer landesweit tätigen Versicherungsgesellschaft, die Top-Klienten und Firmen unter den Fortune-500-Unternehmen betreute. Er hatte McBride Investigations vor drei Wochen angeheuert, und auch wenn es sich um einen hochkarätigen Vertrag handelte, war es frustrierend, dass er sich weigerte, das ganze Ausmaß des Problems zu enthüllen.

Dominic legte den Kopf schief und musterte den Mann. Es war heiß im Double D, wie in jeder Bar, die bis zum Bersten mit betrunkenen, aufgegeilten Idioten vollgestopft war, aber Royce schwitzte noch viel stärker, als sich damit rechtfertigen ließ. Und seine Hände zitterten leicht.

»Es ist wieder etwas passiert«, stellte Dominic fest. »Heute. Deshalb dieses kurzfristige Treffen.«

»Ich …« Royce warf ihm einen verblüfften Blick zu. »Ja. Ja. Es hat, äh … besorgniserregende neue Entwicklungen gegeben. Aber das ist alles, was ich sagen darf.«

»Na schön.« Dominic nahm einen dicken Stapel Aktenmappen aus seiner Kuriertasche und schob sie über den Tisch. »Ich habe die Namen, die Sie mir genannt haben, gründlich durchleuchtet. Ich bin noch nicht ganz durch mit der Liste, aber bis jetzt sind alle sauber.«

»Sie haben sich noch nicht um alle gekümmert?«

»Es ist eine lange Liste, Mr Royce.«

Die möglichen Verdächtigen, die Royce genannt hatte, teilten sich in zwei Lager: Klienten von KIG, die in einen Versicherungsbetrug verwickelt sein könnten, und Führungskräfte von Konkurrenzunternehmen, die möglicherweise die Firma zu sabotieren versuchten. Angesichts der Menge der Namen war Royce entweder extrem paranoid, oder er steckte tief in der Scheiße.

Als er sicher war, dass Royce ihn nicht noch mal unterbrechen würde, fuhr Dominic fort: »Ich habe keins der Warnsignale gefunden, die man bei Betrug oder Sabotage erwarten würde. Keine Verbindung zu Kriminellen. Niemand ist plötzlich zu Geld gekommen oder hat ungewöhnlich hohe Ausgaben. Keine Anzeichen für unberechenbares Verhalten, etwa unentschuldigte Abwesenheit von der Arbeit oder uncharakteristische Ängstlichkeit. Nur eine Sache fällt ein kleines bisschen aus dem Rahmen. Sie haben mich Ethan Deering überprüfen lassen, den Finanzchef von Aphelion Innovations.«

Royce nickte mit großen Augen.

»Vor zwei Wochen fehlte ihre Geschäftsführerin Rose Nguyen unerwartet für ein paar Tage wegen Krankheit. Deering musste bei Meetings mit wichtigen Klienten kurzfristig für sie einspringen. Aber jetzt ist sie wieder bei der Arbeit, und alles ist beim Alten, also erscheint die Sache unverdächtig.«

Royce leckte sich über die Lippen, schaute beiseite und wich Dominics Blick aus. Er krallte sich so fest an den Stapel mit Aktenmappen, dass Dominic trotz des schlechten Lichts in der Bar sehen konnte, wie seine Fingerknöchel weiß wurden.

Jetzt wirkte es verdächtig.

»Was ist mit den Angestellten von KIG?«, fragte Royce.

Dominic tat diskret so, als hätte er nicht bemerkt, dass Royce absichtlich das Thema wechselte. »Es gab keinen Alarm von der Spyware, die wir in Ihrem Auftrag in den Computern installiert haben – allerdings sollten Sie vielleicht erwägen, Facebook zu blockieren. McBride hat Ihr Betriebssystem von einem Spezialisten durchkämmen lassen, und er konnte keine Hintertüren oder Schwachstellen entdecken, die sich ein gewöhnlicher Hacker zunutze machen könnte. Soll ich Ihr Büro erneut auf Wanzen und Überwachungsgeräte überprüfen?«

»Erst einmal nicht. Es hat schon beim ersten Mal zu viele Fragen gegeben.« Royce fischte sein Handy aus der Jackentasche. »Ich maile Ihnen noch einen zusätzlichen Namen zu der Liste – er muss Priorität vor allen anderen erhalten, die noch übrig sind.«

»Verstanden.«

Royce klopfte auf die Aktenmappen. »Kann ich die mitnehmen?«

»Sicher. Es sind nur Kopien von meinen Originalen.«

»Großartig, danke. Melden Sie sich wieder.«

»Mr Royce …«

Zu spät. Royce hatte die Akten bereits zusammengerafft und drängte sich auf dem Weg zum Ausgang fluchtartig durch die feiernde Menge.

Dominics Haut kribbelte vor Ärger, und er erwog kurz, Royce zu folgen und zur Abwechslung mal ihn unter Beobachtung zu stellen, nur um ein paar ehrliche Antworten zu bekommen. Lediglich die Befürchtung, seine Chefin könnte es herausfinden, hielt ihn davon ab. Seit seine Spielsucht vor einigen Monaten fast eine Ermittlung torpediert hätte, bewegte er sich bei ihr auf dünnem Eis.

Er hatte das Spielen inzwischen komplett von seiner Arbeit als Privatdetektiv abgekoppelt, damit es ihm nicht in die Quere kam. Aber McBride war nicht gerade für ihre Nachsicht berühmt, deshalb durfte er sich keinen weiteren Fehltritt leisten.

Seufzend schlang er sich die Kuriertasche über die Schulter. Für einen Tag hatte er genug von dem Royce-Fall. Mit dem neuen Namen konnte er sich morgen früh befassen. In der Zwischenzeit würde er nach Hause gehen, zu Abend essen, vielleicht einen Spaziergang mit Rebel machen und ein bisschen Online-Poker spielen.

Aber die Blackjack-Tische im Railroad Pass waren heute Abend heiß gewesen. Er hatte eine Glückssträhne unterbrechen müssen, um es zu diesem Treffen zu schaffen. Wenn er zurückfuhr, konnte er weiter auf der Erfolgswelle reiten und richtig absahnen …

Nein. Kam nicht infrage. Er hatte gerade Stunden im Casino verbracht und würde um diese Zeit nicht noch einmal nach Henderson zurückfahren. Das wäre lächerlich. Das würde er hundertprozentig nicht tun.

* * *

Dominic wurde um sechs Uhr morgens von seinem schrillen Handywecker aus dem Schlaf gerissen. Er stöhnte unwillig, schlug mit einem Arm um sich und tastete blindlings danach, bis er das Ding zum Schweigen gebracht hatte.

Er war völlig groggy, und sein Kopf fühlte sich an, als wäre er voll Watte. Er war erst … wann? Um zwei Uhr morgens aus dem Railroad Pass zurückgekommen? Um drei? Der größte Teil der Nacht war verschwommen.

Das Einzige, was ihn daran hinderte, sofort wieder einzuschlafen, war ein leises Winseln neben dem Bett. Er öffnete die Augen und sah, wie Rebel, seine Schäferhund-Rottweiler-Hündin, ihn aus wenigen Zentimetern Entfernung mit traurigem und seelenvollem Blick anschaute.

Schuldgefühle krampften ihm den Magen zusammen. Er streckte die Hand aus, um Rebel an den Ohren zu kraulen, und beugte sich vor, damit sie ihm das Gesicht ablecken konnte.

Als er sich noch mit Kopfgeldjagd über Wasser gehalten hatte, hatte er sie bei fast jedem Job mitgenommen. Jahrelang war sie praktisch vierundzwanzig Stunden am Tag an seiner Seite gewesen. Doch seit dem Praktikum bei McBride hatte er sie immer wieder für längere Zeit zu Hause gelassen, und inzwischen verbrachte sie mehr Zeit allein oder bei den Nachbarn als mit ihm.

Er hatte sie vor ein paar Stunden, als er heimgekommen war, Gassi geführt, daher wusste er, dass sie nicht rausmusste. Sie war vermutlich nur einsam.

Mein Gott, was war er doch für ein wertloses Stück Scheiße!

»Wollen wir laufen gehen?«, fragte er. Rebel wedelte so begeistert mit dem Schwanz, dass ihr ganzer Körper wackelte. Er lachte und schlug die Bettdecke zurück. »Okay, gehen wir.«

Sie fuhren hinaus zur Universität von Nevada, um ihren üblichen Fünf-Meilen-Lauf über den Campus zu machen. Während sie nebeneinander dahinjoggten, nutzte Dominic die Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen und sich wieder auf die Royce-Ermittlungen zu konzentrieren.

Einer der größten Stolpersteine, die Dominic daran hinderten, mit voller Effizienz zu arbeiten, war, dass er nicht wusste, welche Art von Versicherungsbetrug Royce’ Klienten eigentlich begehen konnten. Royce weigerte sich, ihm den Inhalt der Policen zu enthüllen.

Die Klienten, die er von Dominic hatte überprüfen lassen, waren alle hochkarätige Führungskräfte von erfolgreichen Firmen mit Niederlassungen in Vegas. Der Name, den er Dominic gestern Nacht gegeben hatte, lautete beispielsweise Cindy Barnes, Verwaltungsdirektorin einer Investmentfirma mit Sitz in Vegas.

Dominic schloss daraus, dass es sich wohl um Firmenpolicen handeln musste. Aber er hatte sich alle Gesellschaften angesehen, und keine von ihnen schien in jüngster Zeit in Schwierigkeiten geraten zu sein – keine Diebstähle, keine Prozesse, keine unzufriedenen Arbeitnehmer, nichts dergleichen. Sie hatten keinen Grund, Forderungen aus Firmenversicherungen zu erheben.

Aber vielleicht ging es ja gar nicht um Versicherungsbetrug. Royce schien davon überzeugt zu sein, dass Sabotage eine ebenso wahrscheinliche Möglichkeit war. Da er nicht genau wusste, vor welchem Problem er eigentlich stand, stellte sich die Situation besonders verworren dar.

Als Dominic mit Rebel zurückkam, waren sie beide angenehm erschöpft von dem harten Lauf, aber er war einer zufriedenstellenden Antwort keinen Schritt näher. Hinter der Maschendrahtumzäunung des Geländes ließ er Rebel von der Leine. Am Pool im Zentrum des u-förmigen Gebäudes trafen sie auf Jasmine Anderson, seine Nachbarin und eine seiner engsten Freundinnen.

»Hey«, begrüßte er sie und beugte sich zu ihr, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Tut mir leid, ich bin ganz verschwitzt.«

»Das macht nichts.« Jasmine hatte ihre Dutzende von bunten Zöpfen zu einem Knoten geschlungen, wie sie es immer tat, wenn sie etwas Wichtiges vorhatte. Sie kauerte sich hin und kraulte Rebel hinter den Ohren. »Ich bin gerade auf dem Weg zur letzten Besprechung mit dem Hochzeits-DJ.«

»Soll ich mitkommen?«

»Nein, ich treffe mich dort mit meiner Mom. Aber danke.« Sie richtete sich wieder auf. »Ist für Carlos’ Junggesellenabschied alles vorbereitet?«

Wie viele Paare heutzutage hatten auch Carlos und Jasmine entschieden, ihre Junggesellenabschiede Wochen vor der eigentlichen Hochzeit zu feiern. Dominic war entschlossen, Carlos als dessen Trauzeuge nicht wieder so im Stich zu lassen wie schon einmal. Und da Carlos das durch und durch amerikanische Erlebnis eines klassischen Junggesellenabschieds – ohne versautes Beiwerk – sehr wichtig war, hatte Dominic sich richtig reingehängt.

»Ja. Wir fangen mit einem traditionellen Steak-Dinner an, dann kommt eine Partybike-Tour durch ein paar der schrillsten Bars in Las Vegas, und anschließend treffen wir uns mit dir und deinen Freundinnen im Stingray, um den Abend abzurunden. Ich habe allen Jungs befohlen, Carlos keine Einzelheiten zu verraten.«

»Klingt toll. Also …« Jasmine blickte durch ihre dichten Wimpern zu ihm hoch und kaute auf dem Ring in ihrer Unterlippe. »Wir dachten, wir hätten in der Nacht vom Samstag Levis Stimme gehört.«

Oh ja, und wie sie ihn gehört hatten. Dominics Schlafzimmer grenzte an das von Carlos und Jasmine, und Levi war beim Sex alles andere als leise.

»Er hat vorbeigeschaut, ja.«

»Kommt ihr Jungs wieder zusammen?«

Dominic versteifte sich. Rebel hatte bei der Erwähnung von Levis Namen die Ohren gespitzt und hechelte glücklich.

»Ich glaube nicht«, antwortete er gepresst. Es war unglaublich gewesen, Levi wieder in den Armen zu halten, zu sehen, wie er sich entspannte und Freude in ihm aufblühte, seine keuchenden Liebeserklärungen zu hören, während Dominic sich in ihm bewegte und sie erwiderte.

Aber am nächsten Morgen hatten sie einen langen, niederschmetternden Streit gehabt, genauso schlimm wie die zuvor. Es hatte damit geendet, dass Levi einen Teller an die Wand schmiss und hinausstürmte. Eine sehr reife und erwachsene Sache.

Levi würde nie glauben, dass Dominic das Spielen unter Kontrolle hatte. Er hielt ihn für zu schwach. Damit musste Dominic sich früher oder später abfinden.

»Du weißt ja, dass wir ihn zur Hochzeit eingeladen haben«, fuhr Jasmine fort. »Er hat zugesagt. Ist dir das recht?«

»Klar«, erwiderte Dominic und tat so, als würde ihm der Gedanke an Levi bei der Hochzeit seines besten Freundes nicht mehr wehtun als die Kugel, die er sich in Afghanistan eingefangen hatte.

»Großartig. Und, äh … mit dir ist alles in Ordnung?«

Dominic sträubten sich die Nackenhaare, und er starrte sie finster an. Jasmine, Carlos und er waren zu einer unausgesprochenen Übereinkunft gelangt: Er ließ sein Spielen ihre Beziehung nicht beeinflussen, und sie brachten es nicht zur Sprache. Niemals.

»Warum sollte es das nicht sein?«, fragte er mit warnendem Unterton.

Sie ruderte sofort zurück. »Nur so. Hör mal, ich muss los. Sehen wir uns später?«

»Sicher. Viel Spaß.«

Er schaute ihr nach, während sie zum Parkplatz ging, und erstickte das schlechte Gewissen, das in ihm aufstieg. Gefühle der Scham und der Schuld verstärkten seinen Drang zum Spielen, aber diesmal hatte er alles im Griff. Er würde sich nicht wieder davon beherrschen lassen.

Er pfiff nach Rebel und wandte sich zur Treppe.

KAPITEL 3

Das Zuknallen von Levis Autotür verlor sich in der ihn umgebenden Weite. Er stand in einem Vorstadt-Wohnviertel ganz am nordwestlichen Rand des Las Vegas Valley. Wenige Ecken weiter nördlich endete die Zivilisation abrupt in meilenweiter Wüste und Bergen, durch die sich in der Ferne ein paar einsame Straßen schlängelten.

Die Häuser hier waren im Ranchstil auf weitläufigen viereckigen Grundstücken gebaut worden. Nur eines davon am Rand des Gebiets lag brach – eine leere Fläche aus Sand und Gestrüpp, auf der es im Moment von Polizei wimmelte. Die Gegend befand sich zwar außerhalb der Stadtgrenze von Vegas, aber als Polizeidepartment und Sheriffbüro in einem war das LVMPD für Tötungsdelikte in ganz Clark County zuständig.

Hier handelte es sich nicht zwangsläufig um Mord, auch wenn die Streife, die den Toten gefunden hatte, es als verdächtigen Todesfall eingestuft hatte. Das bedeutete, es konnte nicht das Werk der Pik-Sieben sein, was Levi als Erleichterung empfand. Er wartete seit Tagen darauf, dass der Killer sein gruseliges Versprechen wahr machte, und grübelte darüber nach, welche Schrecken ihn erwarten mochten, sodass er jedes Mal zusammenzuckte, wenn das Telefon klingelte …

STOPP, dachte er, verdrängte seine sorgenvollen Gedanken und visualisierte stattdessen das Bild eines Stoppschilds mit jedem einzelnen Detail. Hör sofort auf damit.

Dieses Stoppen der Gedanken war eine Technik, die ihn seine Therapeutin Alana gelehrt hatte. Seine Freundin Natasha, die ebenfalls klinische Sozialarbeiterin war, hatte ihn vor einigen Monaten an Alana verwiesen, um kognitive Verhaltenstherapie gegen seine Depressionen und zur Aggressionsbewältigung auszuprobieren. Es half, auch wenn es anscheinend ein Prozess war, bei dem er zwei Schritte vor und einen zurück machte.

Mit dem Thermobecher in der Hand wollte er gerade über die Straße gehen, als ein anderer Wagen hinter ihm anhielt. Er trank ein paar Schlucke Kaffee und wartete, bis Martine ausgestiegen war. Normalerweise fuhren sie gemeinsam zu den Tatorten, aber heute hatte man sie so früh alarmiert, dass sie direkt von zu Hause kamen und nicht vom Revier.

»Schöner Tag für einen Mord«, begrüßte sie ihn, als sie zu ihm trat.

Er schnaubte. Es versprach tatsächlich ein wunderschöner Frühlingstag zu werden – klarer blauer Himmel, angenehm kühle Luft. An die Erinnerung an solche Tage klammerte er sich während der Monate, in denen die Stadt zu einem erstickenden Höllenloch wurde und er sich fragte, welcher Teufel ihn geritten hatte, als er mitten in die Wüste gezogen war.

»Hast du schon gefrühstückt?«, erkundigte sie sich, als ob es nicht gereicht hätte, dass eine Mutter ihn ständig wegen seines schlanken Körperbaus nervte.

»Unmittelbar bevor ich einen Tatort aufsuche? Nein.« Sie wussten beide, dass das nicht der Grund war, warum er das Frühstück ausgelassen hatte, aber es war eine gute Ausrede.

Sie griff nach seinem Becher, trank einen Schluck und drückte ihn Levi mit einer Grimasse wieder in die Hand. »Ich schwöre bei Gott, dein Kreislauf funktioniert nur durch pures Koffein. Eines Tages explodiert dein Motor.« Normalerweise hätte er auf ihr Gefrotzel mit einer schlagfertigen Erwiderung reagiert, aber an diesem Morgen war er dazu nicht fähig. Er zuckte die Achseln und wollte die Straße überqueren.

Sie hielt ihn am Ellbogen zurück, um ihn sich genauer anzusehen. »Scheiße. Wieder der Albtraum?«

»Ja«, murmelte er.

Den größten Teil seines Lebens über hatte er sich mit sich wiederholenden Albträumen herumgeschlagen, in denen er hilflos in der Falle saß, während ein unsichtbarer, unbarmherziger Feind ihn jagte. Inzwischen aber war er der Jäger, der jedes Mal hinter seiner panischen Beute her war.

Martine und Alana waren die Einzigen, die von der Veränderung der Träume wussten. Nicht einmal Dominic hatte er davon erzählt.

»Mir geht’s gut«, versicherte er ihr und hasste sich für die Sorge, die er in ihrem Gesicht las. Er schwenkte seinen Becher. »Bloß Schlafmangel. Deshalb mit einem dreifachen Espresso.«

»Igitt.« Sie sparte sich jeden weiteren Kommentar, was eines der vielen Dinge war, die er an ihr liebte.

Sie überquerten die Straße, und ein Streifenpolizist kam ihnen entgegen, während sie sich ins Tatortbuch eintrugen und Handschuhe und Überschuhe überstreiften. »Guten Morgen, Detectives«, sagte er.

»Morgen, Daley«, erwiderte Levi. »Sie waren als Erster hier?«

»Ja.« Er hob das Absperrband an, damit sie darunter hindurchschlüpfen konnten. »Das Opfer wurde vor ungefähr zwei Stunden von den Leuten gefunden, die nebenan wohnen. Sie haben wie üblich am Morgen ihren Hund rausgelassen, und er ist direkt zu der Leiche gerannt. Hat ein bisschen daran herumgezerrt, bevor sie ihn wegziehen konnten, aber keinen Schaden angerichtet.«

Levi folgte Daleys Zeigefinger mit dem Blick zu einem Paar mittleren Alters auf der anderen Seite des Grundstücks, das ins Gespräch mit einigen Streifenpolizisten vertieft war. Ein Golden Retriever tigerte am Ende seiner Leine hin und her und wirkte fasziniert von der ganzen Betriebsamkeit. »Wir brauchen Haare und Speichelproben von dem Hund.«

Martine nickte. »Ich spreche mit den Zeugen, und du kümmerst dich um die Leiche?«

»Klingt gut.«

Sie entfernte sich, und Levi folgte Daley durch den Sand.

Das Opfer war ein Weißer, Ende vierzig oder Anfang fünfzig, von durchschnittlicher Größe und Statur. Er lag auf dem Rücken und war leger mit T-Shirt, Trainingshose und Turnschuhen bekleidet. Es fanden sich keine offensichtlichen Verletzungen und keine klar erkennbare Todesursache. Das einzige Bemerkenswerte an der Leiche war, dass ihr linkes Auge dick bandagiert war.

»Der Name des Opfers lautet Joel Buckner«, sagte Daley. »Einundfünfzig Jahre alt, wohnhaft in Summerlin.«

»Hatte er Papiere bei sich?«

»Ja. Und eine Brieftasche voller Bargeld und Kreditkarten.«

Das schloss Raub als Motiv aus und bedeutete, dass es dem Mörder egal gewesen war, ob man Buckner identifizieren konnte. Vorausgesetzt natürlich, es gab einen Mörder.

Aber Levi vermutete Mord, denn Buckners Leiche war offensichtlich hier abgelegt worden. Es gab nichts als Sand und bröckelnden, staubigen Boden, doch die Sohlen der Turnschuhe des Mannes waren blütenweiß. Tatsächlich sahen sie so aus, als wären sie noch nie getragen worden.

»Handy?«, wollte Levi wissen.

»Bisher haben wir keines gefunden.«

»Danke.« Er löste sich von Daley, trat näher zu der Leiche und kniete sich auf der anderen Seite hin, gegenüber der Gerichtsmedizinerin, die eifrig bei der Arbeit war.

Nachdem sie ein paar Begrüßungsfloskeln ausgetauscht hatten, sagte sie: »Meiner Schätzung nach ist er innerhalb der letzten zwölf Stunden gestorben. Die Todesursache lässt sich unmöglich ohne eine vollständige Autopsie feststellen, aber ich vermute eine Art von Vergiftung oder eine Überdosis. Ich würde sogar natürliche Ursachen nicht für ausgeschlossen halten, wären da nicht der Fundort und, na ja …« Sie wies auf das bandagierte Auge.

»Ja, dazu wollte ich gerade kommen. Was ist da passiert?«

Sie griff nach dem Rand des Verbands und zögerte. »Haben Sie schon gefrühstückt?«

Sie hatte einen anderen Grund für die Frage als Martine. »Nein«, antwortete er vorsichtig.

»Gute Idee.« Sie schälte den dicken Verband ab und legte eine leere Augenhöhle frei, nicht ganz bedeckt von einem halb geschlossenen Lid.

»Mein Gott«, sagte Levi und zuckte zurück. Das war bei Weitem nicht das Schlimmste, was er in seiner Laufbahn als Cop gesehen hatte, aber eine leere Augenhöhle hatte etwas zutiefst Abstoßendes an sich.

»Enukleation.« Die Gerichtsmedizinerin ließ den Verband offen. »Eine vollständige Entfernung des gesamten Augapfels. Definitiv vor dem Tod, aber erst kürzlich – innerhalb der letzten vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden, nach dem Fortschritt des Heilungsprozesses zu schließen.«

»Folter?«

»Das bezweifle ich. Das Auge wurde ihm nicht herausgerissen, sondern chirurgisch von jemandem entfernt, der genau wusste, was er tat. Die Wunde ist sachgemäß gereinigt und verbunden worden. Es gibt keinerlei Anzeichen einer Entzündung.«

Bei Folter hätte Levi Spuren eines Kampfes erwartet, Abwehrverletzungen und Abschürfungen von Fesseln. Buckner wies nichts dergleichen auf – natürlich musste er noch einen Blick unter seine Kleidung werfen, aber die bloßen Arme waren unverletzt. Nur auf dem rechten Handrücken waren ein roter Punkt und ein kleiner blauer Fleck zu sehen.

»Was halten Sie davon?«, fragte er.

»Tja. Das stammt mit großer Wahrscheinlichkeit von einem intravenösen Zugang. Er könnte benutzt worden sein, um das Opfer während der Operation zu narkotisieren und um danach Schmerzmittel und Antibiotika zu verabreichen. Oder um ihn zu töten.«

Das wurde ja immer merkwürdiger. Levi bedankte sich bei der Gerichtsmedizinerin, stand auf und trat von der Leiche zurück, um einen Überblick zu gewinnen.

Der Ablageort war bewusst gewählt worden. Das hier war eine abgelegene Stelle, keine Kameras weit und breit. Kein Problem, mit einem Fahrzeug herzukommen und die Leiche unbemerkt auszuladen.

Aber nicht so isoliert, dass sie lange unentdeckt hätte bleiben können. Der Mörder hätte Buckner auch in der Wüste gleich nebenan ablegen können. Stattdessen hatte er es vorgezogen, ihn mit allen Papieren in einem Wohngebiet zurückzulassen. Er hatte gewollt, dass er gefunden wurde. Das konnte eine Botschaft für jemanden sein, oder sogar ein Zeichen des Respekts für den Verstorbenen oder seine Familie.

Aber warum sein Auge entfernen, wenn nicht aus dem Grund, dass man ihn hatte foltern wollen? Levi hatte noch nie eine Verstümmelung erlebt, die nicht von Anzeichen der Wut oder des Hasses auf das Opfer begleitet gewesen wäre. Was hatte es für einen Sinn, etwas Derartiges so leidenschaftslos durchzuführen? Möglicherweise Organdiebstahl, aber das war unwahrscheinlich, da der restliche Körper intakt geblieben war.

Die Gerichtsmedizinerin hatte angedeutet, dass zwischen der Entfernung des Auges und Buckners Tod ein Zeitraum von ein oder zwei Tagen gelegen hatte, also … Hatte man es als Drohung gegen eine dritte Person oder Buckner selbst eingesetzt? Wenn jemand etwas von Buckner hatte haben wollen, das dieser ihm nicht geben wollte, hatte man ihm vielleicht ein Auge herausgeschnitten, um ihm zu zeigen, dass man keinen Spaß verstand. Falls es so war, musste allerdings etwas gründlich schiefgegangen sein angesichts dessen, dass Buckner als Leiche geendet war.

Eines war sicher – es handelte sich nicht um eine zufällige Gewalttat. Irgendwo hatte jemand ein sehr persönliches Motiv für den Mord an Buckner gehabt. Nun musste Levi nur noch herausfinden, wer das war.

* * *

Stunden später lehnte sich Levi auf dem Revier in seinen Bürostuhl zurück und rieb sich die juckenden Augen. Er machte endlich ein paar Fortschritte – minimal, aber immerhin.

Joel Buckner war Gründer und geschäftsführender Partner von Buckner Partners LLC gewesen, einer Investmentfirma mit Sitz in Las Vegas und multiplen Interessen im Ausland. Er hatte keine kriminelle Vergangenheit und hatte nicht in Verbindung mit irgendwelchen Verbrecherorganisationen gestanden, genauso wenig wie seine unmittelbaren Familienmitglieder. Seine Firma war nie illegaler Machenschaften verdächtigt worden, das hatte sich Levi von der Abteilung für Finanzkriminalität und der Börsenaufsicht bestätigen lassen.

Doch trotz seiner herausragenden Position war Buckner bis über beide Ohren verschuldet gewesen. Seine Firma hatte zwar innerhalb der Grenzen von Gesetz und Ethik gehandelt, stand aber am Rande des Ruins. Er und seine Frau waren mit ihren Hypothekenzahlungen um Monate im Rückstand, und alle Kreditkarten waren bis zum Anschlag belastet.

War es möglich, dass sich Buckner mit einem Kredithai eingelassen hatte? Schulden trieben Menschen in die Verzweiflung, und verzweifelte Menschen trafen schlechte Entscheidungen. Die Kredithaie in Las Vegas waren sich nicht zu schade dafür, sich ihre Schuldner zu schnappen und ihnen Schmerzen zuzufügen, um ihr Geld zurückzubekommen. Aber Levi hatte noch nie davon gehört, dass sie jemandem ein Auge herausgeschnitten hätten. Tatsächlich war ihm diese Art der Verstümmelung im ganzen Valley bisher nie begegnet. Außerdem war es unwahrscheinlich, dass ein Kredithai einen Mann umbrachte. Tote zahlten keine Schulden zurück.

Ein Schritt nach dem anderen. Sosehr Levi es hasste, sich mit den arroganten Arschlöchern von der Organisierten Kriminalität abzugeben, wussten sie besser darüber Bescheid, was aktuell in der Szene der örtlichen Kredithaie vorging. Er seufzte tief und griff nach dem Schreibtischtelefon.

In dem Moment klingelte sein Handy, ein guter Vorwand dafür, den lästigen Anruf noch um ein paar Minuten aufzuschieben. Er sah Martines Namen auf dem Display und fragte: »Wie läuft es bei dir?«

Martine war zu Buckners Familie gefahren, hatte ihr die Nachricht von seinem Tod übermittelt und sie dann einen nach dem anderen vernommen. »Sie rücken nicht mit der Sprache heraus«, sagte sie frustriert. »Lassen mich bei jeder Frage gegen eine Wand laufen. Es ist ganz offensichtlich, dass sie etwas zu verbergen haben.«

»Tatsächlich?« Seine Neugier war geweckt. »Zum Beispiel?«

»Ich bin nicht sicher. Als ich ihnen mitgeteilt habe, dass Buckner tot ist, wirkten sie aufrichtig erschüttert, aber … ich weiß nicht. Ich hatte den Eindruck, als wüssten sie schon Bescheid. Sie waren überhaupt nicht überrascht.«

»Glaubst du, sie hatten etwas mit seinem Tod zu tun?«

»Hm …« Martine war eine gute Ermittlerin und lehnte keine Theorie von vornherein ab, so weit hergeholt sie auch erscheinen mochte. »Das bezweifle ich. Die Kinder sind neun und sieben Jahre alt, und sie haben genauso reagiert wie die Mutter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sie in eine Verschwörung verwickelt hat, bei der es darum ging, ihren Vater zu töten.«

Levi war derselben Ansicht. Er berichtete Martine von Buckners Schulden, und sie stieß einen überraschten Laut aus.

»Bevor ich dich angerufen habe, habe ich in der Schule der Kinder nachgefragt. Sie waren seit drei Tagen nicht im Unterricht. Ihre Mutter hat behauptet, sie hätten die Grippe, aber davon konnte ich keinerlei Anzeichen entdecken.«

»Nun, von dem Zeitraum zwischen Buckners Tod und der Entfernung seines Auges wissen wir, dass sein Mörder ihn mindestens vierundzwanzig Stunden in seiner Gewalt hatte, vermutlich länger.« Levi starrte ins Leere und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Seiner Familie musste klar sein, dass er verschwunden war, also kannten sie vielleicht auch den Grund dafür. Möglicherweise haben sie Angst vor Vergeltungsmaßnahmen und wollen deswegen nichts sagen.«

»Das würde ihre Nervosität erklären. Hör mal, heute kriege ich nichts mehr aus diesen Leuten raus. Ich fahre rüber zu Buckners Firma und spreche mit seinen Mitarbeitern. Vielleicht wissen die etwas, das uns weiterhilft. Mal sehen, was sich ergibt, wenn ich seine Schulden erwähne.«

»Gute Idee. Ich schließe mich gleich mit den Jungs von der OK kurz, um zu überprüfen, ob er sich mit einem Kredithai eingelassen hatte. Ich gebe dir Bescheid, wenn ich was herausfinde.«

Als Levi auflegte, hörte er eine Stimme: »Das da ist Detective Abrams, gleich da drüben.«

Er blickte auf. Ein Streifenpolizist kam auf seinen Schreibtisch zu, begleitet von einer leger gekleideten Asiatin, an deren Hoodie ein Besucherausweis hing. Ihre langen schwarzen Haare waren so frisiert, dass sie die gesamte linke Gesichtshälfte verdeckten. Die Absicht war deutlich erkennbar, sodass Levi vermutete, sie wollte damit irgendwelche Narben verbergen.

Der Beamte nickte Levi zu und verschwand wieder. »Ich bin Detective Abrams«, stellte er sich vor, erhob sich und streckte die Hand aus. »Sie wollen mich sprechen?«

»Ja. Rose Nguyen.« Sie schüttelte ihm kräftig die Hand. »Es tut mir leid, dass ich einfach so hereinschneie, aber ich wusste nicht, wie ich sonst Kontakt mit Ihnen aufnehmen sollte.«

Martines Schreibtisch war mit dem von Levi zusammengerückt, sodass sie sich gegenübersaßen. Da sie nicht da war, schnappte sich Levi ihren Stuhl und rollte ihn zu Nguyen herum. Er bedeutete ihr, sich zu setzen, und nahm selbst wieder Platz.

»Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte er und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Wenn Nguyen namentlich nach ihm gesucht hatte, konnte es nur mit der Pik-Sieben zu tun haben.

Was für ein Irrsinn würde es diesmal sein? Eine Verschwörungstheoretikerin, die überzeugt war, ihr Freund/Kollege/Nachbar wäre die Pik-Sieben? Ein Serienkiller-Groupie, das hoffte, Details herauszubekommen, indem es vorgab, wichtige Informationen zu besitzen? Eine verärgerte Bürgerin, die Levi persönlich für die anhaltende Mordserie der Pik-Sieben verantwortlich machte?

»Ich habe gerade online von Joel Buckners Tod erfahren«, begann Nguyen. »Ein Blogger mit Kontakten zur Gerichtsmedizin hat die Details durchsickern lassen.«

Moment mal. Was? Levi schüttelte leicht den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen. »Haben Sie Mr Buckner gekannt?«

»Nein, keineswegs, aber ich weiß vielleicht, was ihm zugestoßen ist.«

»Wie das?«, fragte Levi verblüfft.

Sie schob ihre Haare beiseite und enthüllte ein ebenmäßiges Gesicht mit verbundenem linken Auge. »Weil mir dasselbe passiert ist.«

KAPITEL 4

»Kann ich Ihnen etwas bringen?«, fragte Levi, während er die Tür zu dem bequemeren – und abgeschiedeneren – Vernehmungszimmer hinter sich schloss, das an das Großraumbüro angrenzte. »Wasser, Kaffee?«

»Nein, danke.« Nguyen hatte auf der dick gepolsterten Couch Platz genommen, die den Raum seit den frühen 1990ern zierte.

Levi setzte sich ihr gegenüber und zog Stift und Notizblock heraus. »Warum fangen Sie nicht ganz am Anfang an?«

»Es passierte vor fast einem Monat, am 20. Februar«, erzählte sie. »Ich war als Letzte im Büro, wie üblich, und ich arbeite ziemlich lang. Auf dem Nachhauseweg bin ich in eine Umleitung wegen Straßenbauarbeiten geraten und in einer kleinen Seitenstraße gelandet. An einer Stelle war auf jeder Seite eine riesige Baumaschine geparkt, und sobald ich zwischen den beiden angekommen war, fuhren vor und hinter mir große schwarze SUVs heraus, um mich einzukesseln.«

Eine verbreitete Entführungstechnik, die allerdings strategische Planung und Präzision erforderte. Er bedeutete ihr mit einem Nicken, fortzufahren.

»Maskierte Männer sind aus den SUVs gesprungen, haben mich aus dem Auto gezerrt und mir etwas injiziert, das mich das Bewusstsein verlieren ließ. Es ging so schnell, dass ich nicht einmal richtig gemerkt habe, wie mir geschah. Als ich aufgewacht bin, waren meine Augen verbunden, und ich war an ein Bett gefesselt.« Sie hielt inne und holte zitternd Luft.

»Wurden Sie, abgesehen von Ihrem Auge, verletzt?«, fragte Levi, so sanft er konnte.

»Nein. Ich meine, ich hatte Todesangst, dass sie mich … Sie wissen schon. Aber nachdem sie mich entführt hatten, haben sie mich kaum noch angerührt. Sie haben mich weitgehend allein gelassen, und wenn sie mit mir gesprochen haben, waren sie … höflich. Geschäftsmäßig würde ich es nennen.«

Profis also, die nur wegen ihres Honorars an Nguyen interessiert gewesen waren.

»Sobald ich aufgewacht bin, sagten sie, es ginge um Lösegeld und ich würde unbeschadet freikommen, sobald es bezahlt würde«, fuhr sie fort. »Dann haben sie mir die Fesseln abgenommen, und ich konnte mich in dem Raum, in dem ich eingesperrt war, frei bewegen.«

Levi runzelte die Stirn. Einen erwachsenen Menschen zu entführen und ihn ohne Folter oder sexuelle Motive nur für Lösegeld festzuhalten? Das war zwar in einigen Teilen der Welt Alltag, aber in den Vereinigten Staaten ungewöhnlich. »Haben Sie die Augenbinde abgenommen?«

»Das konnte ich nicht. Sie war irgendwie abgeschlossen. Wenn ich raten sollte, würde ich meinen, es war so ein Fetisch-Ding.« Sie drehte den Kopf hin und her und ließ die Halswirbel knacken. »Wissen Sie, ich glaube, jetzt hätte ich doch gerne etwas Wasser.«

Er stand auf und holte eine Flasche aus dem Kühlschrank in der Ecke. Sie trank ein paar zaghafte Schlucke, bevor sie sich zusammenriss und weitersprach.

»Ich hatte ein Sicherheitstraining für den Fall einer Entführung durchlaufen, deshalb wusste ich, dass ich ruhig bleiben und den Anordnungen Folge leisten musste. Aber ich tat auch, was ich konnte, um mich mit dem Raum vertraut zu machen und so viel wie möglich an der Tür zu lauschen. Darum fand ich sofort heraus, dass meine Firma sich geweigert hatte, zu verhandeln.«

»Ihre Firma?«

»Aphelion Innovations. Wir sind noch recht klein, aber kürzlich haben wir einen großen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium an Land gezogen. Ich bin Geschäftsführerin und Chefingenieurin. Die Kidnapper haben sich wegen des Lösegelds direkt an meinen Vorstand gewandt.«

»Und die haben sich geweigert, zu zahlen?«

»Ja. Später habe ich herausgefunden, dass sie das Ganze für einen Schwindel gehalten und jeden Kontakt mit den Entführern abgebrochen haben. Danach konnte ich eine Menge Getuschel und Diskussionen durch die geschlossene Tür hören, doch das meiste war nicht zu verstehen. Dann erhielten die Kidnapper einen Anruf. Ein paar Minuten später tauchten sie in meinem Zimmer auf und sagten mir, sie müssten mich betäuben. Ich hatte Angst, sie würden mir etwas Schlimmes antun, wenn ich mich weigerte, also habe ich gehorcht. Sie haben mir etwas injiziert, und als ich wieder zu Bewusstsein kam …« Sie schluckte schwer, und ihr Atem ging schneller. »War mein … mein Auge weg. Ich denke, sie wollten eine Botschaft schicken, die sich nicht ignorieren ließ.«

Sie atmete zitternd ein, und Tränen tropften aus ihrem verbliebenen Auge. Levi reichte ihr eine Schachtel Taschentücher und wartete schweigend, bis sie sich wieder gefangen hatte.

Er wusste, wie es war, zum Opfer zu werden – er kannte nicht nur den Schmerz und die Angst, sondern auch die Scham, dieses tiefe Gefühl der Hilflosigkeit und des bitteren Selbsthasses, das folgte. Solche Erfahrungen hinterließen eine klebrige Schicht, die sich nicht durch die Plattitüden anderer Menschen wegwaschen ließ, egal wie oft sie einem sagten: Es war nicht deine Schuld, oder: Es gab nichts, was du hättest tun können.

Solche Worte hatten Levi nie geholfen, und er sprach sie jetzt auch nicht aus.

Irgendwann versiegten Nguyens Tränen, und sie wirkte ruhiger. »Verzeihen Sie.«

»Kein Grund, sich zu entschuldigen. Es war mutig von Ihnen, herzukommen und mir all das zu erzählen.«

Sie lächelte schwach und ballte das Taschentuch in der Hand zusammen.

»Könnten Sie mir schildern, wie es weiterging, nachdem …« Er deutete vage auf ihr Auge.

»Nachdem Sie mir das Auge genommen hatten, war ich weiter sediert, darum ist der Rest verschwommen. Ich weiß, dass sie mir Schmerzmittel verabreicht haben, und die Ärzte, bei denen ich später war, meinten, dass sie mir Antibiotika gegeben haben müssen.« Sie zerfetzte das Taschentuch in kleine Stücke, die wie flauschig weißer Schnee auf die Couch regneten. »Etwa einen Tag später meinten sie, das Lösegeld sei bezahlt worden und sie würden mich jetzt in die Stadt zurückbringen. Aber sie würden wiederkommen, wenn irgendjemand die Polizei verständigte. Sie betäubten mich ein weiteres Mal. Diesmal bin ich in einem Rollstuhl vor der Notaufnahme eines Krankenhauses aufgewacht.«

Levi beugte sich vor. »Haben die Kidnapper genau diese Worte benutzt? Dass sie Sie ›in die Stadt zurückbringen‹ wollten?«

»Äh …« Sie dachte kurz nach und nickte dann. »Ja, das haben sie wörtlich so gesagt. Ich erinnere mich daran, weil ich so erleichtert war.«

Das hieß, die Kidnapper hatten Nguyen außerhalb der Stadt festgehalten. Allerdings waren sie sicher in der Nähe geblieben, um Transport und Kommunikation zu erleichtern. Levis Gedanken glitten zu den Wüstenstraßen, die den Sand in der Umgebung des Ablageorts von Buckner durchschnitten.

»Sie haben erwähnt, dass Sie ein Sicherheitstraining für den Entführungsfall absolviert haben. Lag das an dem Vertrag Ihrer Firma mit dem Verteidigungsministerium?«

»Nein, überhaupt nicht. Aphelion befasst sich intensiv mit der Verbesserung der Infrastruktur von Informationssystemen in Entwicklungsländern. In manchen davon ist Kidnapping für Lösegeld eine regelrechte Industrie – Mittelamerika, gewisse Regionen in Asien und im Nahen Osten. Als die Firma bekannter wurde, bestand der Vorstand darauf, dass ich für alle Fälle ein solches Training absolviere. Und wie ich später herausgefunden habe, haben sie deshalb auch diese Kidnapping-und-Lösegeld-Police für mich abgeschlossen.«

Er hob den Blick von seinen Notizen. »Eine was?«

»Eine Versicherungspolice gegen Kidnapping, die das Lösegeld umfasst«, erwiderte sie. »Man hört nicht oft davon, aber es gibt sie. Gott sei Dank, sonst wäre meine Firma daran pleitegegangen. Das hat meine Gedanken die ganze Zeit beherrscht, während die Männer mich festgehalten haben. Es war eine Erleichterung, herauszufinden, dass wir noch solvent waren.«

Levi versuchte, diese neue Information einzuordnen. »Sie haben also erst nach der Entführung erfahren, dass Ihr Vorstand diese Police für Sie abgeschlossen hatte?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich selbst durfte nichts davon wissen. Anscheinend ist es eine Bedingung für die Police, dass derjenige, den sie betrifft, nichts von ihrer Existenz ahnt – so läuft es jedenfalls bei KIG. Das soll wohl Versicherungsbetrug verhindern.«

»Wie funktioniert das?«

»Wenn die Inhaber der Police eine Lösegeldforderung erhalten, schickt KIG ein professionelles Krisenteam, sodass die Polizei nicht einbezogen werden muss. Nach dem Austausch ersetzen sie einem alle Kosten – nicht nur das Lösegeld, auch die verlorene Arbeitszeit, sogar medizinische Ausgaben.« Nguyen strich befangen über ihren Verband. »Sie kommen für ein künstliches Auge auf. Fürs Erste trage ich eine medizinische Prothese, und nachdem alles ein paar Monate lang abheilen konnte, passen sie das eigentliche Auge an.«

Levi machte sich Notizen in Steno, während seine Gedanken rasten. Er verstand die Notwendigkeit solcher Maßnahmen in anderen Ländern, aber er hätte darauf gewettet, dass die Versicherungsgesellschaft nie damit gerechnet hatte, dass der Versicherungsfall auf US-amerikanischem Boden eintreten könnte.

»Sie sagten, man hätte Ihre Police bei KIG abgeschlossen – das ist die Kensington Insurance Group, richtig?«

Sie nickte. Er kritzelte den Namen in sein Notizbuch und unterstrich ihn mehrfach.

»Warum haben Sie sich jetzt gemeldet, obwohl die Kidnapper Sie davor gewarnt haben, die Polizei einzuschalten?«, fragte er.