Organisationskultur der katholischen Kirche - Paul F. Röttig - E-Book

Organisationskultur der katholischen Kirche E-Book

Paul F. Röttig

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Beschreibung

Die Erwartungen, die in den fünf Jahrzehnten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in die Erneuerung der Kirche allseits gehegt wurden, versandeten vielfach in teils berechtigten, jedoch auch in überspannten Forderungen nach struktureller Umgestaltung kirchlicher Administration und pastoraler Rahmenbedingungen. Bei diesen Prozessen wurde der Kultur aller kirchlichen Organisationsebenen (von der römischen Kurie bis zur Pfarrebene) vielfach wenig Augenmerk geschenkt. Um Denk- und Handlungsweisen des Volkes Gottes auf das missionarische Ziel neu zu fokussieren, bedarf es eines Culture Change, d. h. eines Leitungsstils, der das synodale Prinzip stärker beachtet, einer offeneren Kommunikation, einer mehr ergebnisbezogenen Leistungsorientierung, einer glaubhaften Vertrauensbasis zwischen dem "Fußvolk Gottes" und der Hierarchie, eines weniger quantitativen und mehr qualitativen Wachsens und einer authentischen Identität kirchlichen Lebens und Zusammenarbeitens.

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Paul F. Röttig

Organisationskultur der katholischen Kirche

Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

99

Herausgegeben vonErich Garhammer und Hans Hobelsbergerin Verbindung mitMartina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock

Paul F. Röttig

Organisationskultur der katholischen Kirche

Kulturwandel als notwendiges Kriterium der Kirche in der sich verändernden Welt von heute

echter

Für Christine,die mir seit achtundvierzig Jahren bei der „Entzifferung des Alphabets des Reiches Gottes“ stets zur Seite steht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: ew-print-medien, Würzburg

ISBN 978-3-429-04344-5 (Print)

978-3-429-04913-3 (PDF)

978-3-429-06333-7 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Ein persönliches Wort

Behutsam wachsender Glaube und daraus sich kristallisierende christliche Werte, aber auch persönliches, sich inmitten der menschlichen Gesellschaft mit allen Höhen und Tiefen angeeignetes Wissen und Erfahren färben, dirigieren und interpretieren mein „volles“ Leben von mehr als siebzig Jahren. Eigene Erkenntnis ermahnt jedoch: Erworbenes Wissen in Philosophie, Sozialpsychologie, Organisationspsychologie und -entwicklung, Kunstgeschichte, Ökonomie, Leadership und Organisationsmanagement mögen mit dem fortschreitenden Alter eines mit Christus und seiner Kirche eingeschlagenen Lebenswegs ihre Glaubwürdigkeit verblassen sehen, wenn sie nicht praktisch-theologisch reflektiert wően, wenn dieses erlebte und erfahrene Wissen nicht im Dialog mit Gott, der mit uns in Raum und Zeit unterwegs ist, auf seine Richtigkeit überprüft und auf den „theologischen Prüfstand“ gestellt werden möchte.

Der aus der Taufe des Geistes Gottes geborene Auftrag, Jesus Christus nachzufolgen und seiner und meiner Schwester und seinem und meinem Bruder auf denselben Weg, der „Kirche“ heißt, zu verhelfen, wird von den Vätern des Zweiten Vatikanums in Erinnerung gerufen: „Zugleich ist sie [die Kirche] der festen Überzeugung, dass sie selbst von der Welt, sei es von einzelnen Menschen, sei es von der menschlichen Gesellschaft, durch deren Möglichkeiten und Bemühungen viele und mannigfache Hilfe zur Wegbereitung für das Evangelium erfahren kann“ (GS 40). Sich auf diese angebotene Hilfe von der Welt auch tatsächlich einzulassen, kann allerdings nicht darin bestehen, sie nur zur eigenen Selbstbestätigung umzufunktionieren.

In diesem Buch geht es also um den Menschen in seiner sozialen Bedingtheit im Licht der Frohen Botschaft, die seines Lebens Sinngebung geworden ist und in der Gemeinschaft der Kirche weitergereicht werden soll. Im Berufsleben Erlebtes, das in der Communio des Volkes Gottes auf dem Weg zum eigentlichen Leben zum Erfahrenen fürs eigene Denken und Tun geworden ist, soll praktisches Beispiel sein für das hier Skizzierte.

Das im Jahr 2003 persönlich geleitete Projekt für die Institution der Catholic Relief Services (CRS) der Vereinigten Staaten (der „Caritas“ der USA) in Südost-Europa und der Kaukasusregion, setzte sich zum Ziel, eine im Rahmen der katholischen Kirche operierende multinationale karitative Organisation in ihrer Ganzheit neu auszurichten. Der Beratungsauftrag war klar definiert: das „sozial orientierte Unternehmen“, das im Auftrag und „im Schoß“ der Kirche handelt, von seiner Aufgabe im Bereich der Katastrophenhilfe in den betroffenen Kriegsgebieten zu neuen Tätigkeitshorizonten für die in verbrecherischen Auseinandersetzungen zwischen benachbarten Volksgruppen verletzten und geschundenen Menschen zu begleiten. In der Vergangenheit hatten die CRS auf dem Balkan vor allem für Überlebenschancen der Bevölkerung durch Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und für Bereitstellung menschenwürdigen Wohnraums gesorgt. Es war ums nackte Überleben der Menschen gegangen. In Zukunft sollte es der karitativen Organisation ums Leben in erhoffter Fülle gehen; zum neuen Ziel der CSR wurde es, mit Mitteln, die durch Spenden der Glaubenden bereitgestellt wurden, wieder Hoffnung für Gestaltung und Bewältigung der Zukunft zu schenken: Es galt, vergewaltigten Frauen wieder zu ihrer menschlichen Würde zurück zu helfen, Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe zu stärken, mit Kleinkrediten gesicherte Lebensbedingungen für Familien aufzubauen und in ein zerstörtes Bildungssystem zu investieren. Diese neuen Zielsetzungen bedurften nicht nur neuer Organisationsstrukturen der karitativen Organisation, sondern ganz wesentlich eines radikal unterschiedlichen Ansatzes menschlicher Zusammenarbeit und Kommunikation, das heißt einer neuen Organisationskultur im Licht der jesuanischen Option für die Armen und die Ärmsten am Rand der Gesellschaft.

Um den ersten Einstieg in die Gedanken der Abhandlung zu erleichtern, soll dem Leser quasi als vorausweisende Lesehilfe eine vereinfachte, dann jedoch im Laufe der Ausführungen systematisierte Begriffsbestimmung von Organisationskultur angeboten werden: Darin kann die Gesamtheit jener charakteristischen Werte und Überzeugungen einer Gruppe von Menschen verstanden werden, die sichtbar machen, wie die einzelnen Gruppenmitglieder im sozialen Zusammenspiel leben, zusammenarbeiten und einander behandeln. Wenn sich gesellschaftliche Werte ändern, folgt diesen meistens ein Kulturwandel der Institution, der allerdings auch von äußeren Ponderabilien durch die Führungskräfte angestoßen werden kann. Bewusste Veränderungen der gelebten Kultur in einer Organisation, die oft von den Führungskräften initiiert werden, können allerdings nur dann effizient und effektiv angestrebt werden, wenn diese auch in allen Nuancen ins Bewusstsein gerufen werden. In anderen Worten: Ohne eine Organisationskultur analysiert und somit für den Betroffenen bewusst erfahrbar gemacht zu haben, wird eine Kulturveränderung schwer durchzuführen sein. Hinterfragen und Verstehen der eigenen Kultur ermöglichen die Annäherung an eine andere Kultur und bilden die Basis dafür, die eigene Kultur in die gewünschte Richtung zu verändern.

Die Analyse der Organisationskultur der CRS und die daraus resultierende Notwendigkeit eines kulturellen Veränderungsprozesses stehen als Beispiel für viele ähnliche Projekte in profit- und sozial orientierten Institutionen, die ich im Laufe meines Berufslebens begleiten konnte. So sind in den letzten Jahren meiner weltweiten Beratungs- und Lehrtätigkeit und auf dem Weg durch diese Arbeit Erkenntnis und Wissen zu Begleitern geworden, die überzeugen, dass nicht nur „harte“, das heißt strukturelle Faktoren das Leben einer Organisation bedingen, sondern ihr Überleben ganz wesentlich auf „weichen“, nämlich kulturellen Faktoren gegründet ist.

Genau diese Erfahrungen möchte ich in einer Zeit offensichtlicher und grundsätzlicher Neuorientierung in und für die Kirche Jesu Christi einbringen und fruchtbar machen – allerdings ohne den Fokus auf Strukturfragen zu konzentrieren, die in den letzten Jahrzehnten zum Liebkind kirchlicher, hier vor allem progressiver Erneuerer geworden sind. Seit der Wahl von Kardinal Jorge Mario Bergoglio zum Nachfolger des heiligen Petrus am 13. März 2013 hat sich der Schwerpunkt des Bemühens um eine ecclesia reformanda von einem häufigen Streit um neue kirchliche Strukturen auf die Betonung einer notwendigen missionarisch-pastoralen Neubesinnung verlagert (EG 26), ohne allerdings den Strukturwandel zu vergessen (EG 27, 32, 33, 108, 189). Das Pontifikat von Franziskus zwingt die Kirche gleichsam zu einer Relecture einer schon Jahrzehnte andauernden Diskussion um einen glaubhaften innerkirchlichen Wandel. Da viele der von Papst Franziskus erhofften, angestrebten und eingeforderten kulturellen Veränderungen aus zeitlichen Gründen erst teilweise von der Fachliteratur aufgegriffen sind, wird in der Studie auf elektronische Dienste wie die der vatikanischen Medien, der österreichischen Kathpress oder des National Catholic Reporter zugegriffen. Die Taten und Worte von Franziskus lassen die Bedeutung seiner historischen Sendung erahnen. Sie führen nicht zu seiner Person, sondern wollen helfen, den Weg zum gemeinsamen Ziel zu ebnen.1

Mein besonderer Dank gilt Dr. Johann Pock, Professor für Praktische Theologie an der Universität Wien, für seine fachliche Begleitung, meinem Freund und verständnisvollen IT-Fachmann Ing. Gerhard Haider, meinem engagierten und sorgfältigen Lektor, Dr. Wolfgang Bahr, und vor allem meiner Frau Christine für ihre geduldige Begleitung und ihr kritisches Mitdenken.

1 Vgl. Werlen, Heute im Blick, 28.

Inhalt

1 Hinführung

1.1 Strukturelle Hinführung

1.1.1 Anliegen und Grenzen der gestellten Aufgabe

1.1.2 Forschungsstatus

1.1.3 Forschungsfragen

1.2 Methodisches Vorgehen

1.3 Arbeitshypothesen

1.4 Struktureller Aufbau

1.5 Thematische Hinführung

1.5.1 Praktisch-theologischer Ansat

1.5.2 Anthropologisch-biblischer Ansatz

1.5.3 Pastoral-biblische Arbeitsinitiativen

1.5.4 Pastoral-ekklesiologischer Ansatz

1.5.5 Theologen mit dem Geruch nach „Volk und Straße“

2 Begriffliche Interpretation und Fokussierung

2.1 Von welcher Kirche ist die Rede?

2.1.1 Kirche als Missionsauftrag Jesu

2.1.2 Die Zeitlosigkeit des Sendungsauftrags

2.1.3 Unterwegs als Volk Gottes

2.1.4 Kirche als komplexe Wirklichkeit

2.1.5 Kirche als homogene oder heterogene Organisation

2.1.6 Kirche, Gottes Kraft in menschlicher Schwäche

2.1.7 Das Kirchenbild von Papst Franziskus

2.2 Was ist Kultur?

2.2.1 Organisationskultur

2.2.2 Kirche als Subjekt und Studienobjekt

2.2.3 Kirche – eine Gesellschaft mit hierarchischen Organen

3 Organisationskultur der Kirche als Zeichen der Zeit

3.1 Dem Zeitgeist nicht ausweichen

3.1.1 „Kultur“ als gesellschaftliches und kirchliches Modewort?

3.1.2 Organisationskultur als Leistungs-Katalysator

3.1.3 Kulturelle Orientierung als Lebensmetapher

3.2 Mit dem Maßstab des Evangeliums

3.2.1 Weshalb Organisationskultur auch für die Kirche ein Thema ist

3.2.2 „Kultur“ im Sprachgebrauch von Papst Franziskus

3.2.3 Balance der Organisationskultur der Kirche

3.2.4 Wertschöpfung in der Kirche

3.3 Die vier Hofstede-Kultur-Dimensionen – Modell für die Kirche?

4 Organisationstheoretische Interdependenzen

4.1 Die Kirche als „sichtbare Versammlung“ von Menschen

4.1.1 Vom neuen Denken zum neuen Handeln

4.1.2 Kann die Kirche als Organisation bezeichnet werden?

4.1.3 Ein „neues Geschäftsmodell“ für die Kirche?

4.1.4 Die Kunst des gemeinsamen Ziel-Erreichens

4.2 Korrelation von Strategie, Struktur und Kultur

4.2.1 Ein Beispiel aus der Wirtschaft

4.2.2 Strategie, Struktur und Kultur der Kirche

4.2.3 Der „kirchliche Eisberg“

4.3 Leitlinien sind geduldig

4.3.1 Kirchliche Leitlinien

4.3.2 Ein neues Mission Statement für die Kirche?

4.4 Gemeindeentwicklung als evangelisierender Wandel

5 Sechs Dimensionen einer kirchlichen Organisationskultur

5.1 Die Steuerung der Kirche

5.1.1 Das Schiff der Kirche steuern

5.1.2 Verantwortung und Pflicht des Volkes Gottes

5.1.3 Mitarbeiter kontrollieren oder Kirche steuern

5.1.4 Autorität und Macht

5.1.5 Machtmissbrauch und Manager-Funktionalismus

5.1.6 Entscheidungen vorbereiten

5.1.7 Autokratische oder konsultative Entscheidungen

5.1.8 Entscheidungen treffen, wo sie anfallen

5.1.9 Konsens statt Kompromiss

5.2 Kommunikation in der Communio

5.2.1 Nachfolge Jesu in der praktisch-theologischen Kommunikation

5.2.2 Der Kommunikationsprozess

5.2.3 Dialog als Basis christlichen Zusammenlebens und -arbeitens

5.2.4 Dialogisches Miteinander

5.2.5 Kommunikation als christliche Herausforderung

5.2.6 Die Kirche als lernende Organisation

5.2.7 Digitale Interessen und Kompetenzen

5.3 Leistungsorientierung in der Kirche

5.3.1 Tayloristische Ansätze in der Kirche?

5.3.2 Eine V ision kirchlichen Handelns für morgen

5.3.3 Herausforderungen des Pareto-Prinzips

5.3.4 Prozess- oder Output-Orientierung

5.4 Die Kirche als Subjekt und Objekt des Vertrauens

5.4.1 Vertrauen als organisationspsychologische Prämisse

5.4.2 Hierarchische Werte des V ertrauens

5.4.3 Vertrauen als pastorale Dimension

5.4.4 Vertrauensschwund „der Kirche“ in die Kirche

5.4.5 Misstrauen ist mehr als Nicht-Vertrauen

5.4.6 Authentische Persönlichkeiten oder Windfahnen?

5.5 In der Communio wachsen können

5.5.1 Wachstum als Essenz kirchlichen Lebens

5.5.2 Eine „talentierte“ Kirche

5.5.3 … und dennoch Fehler machen dürfen

5.5.4 Verhaltens- und Wissensfenster für das Wachstum öffnen

5.6 Identität als Kulturmerkmal

5.6.1 Kollektive Identität

5.6.2 Der immaterielle Wert der Identität

5.6.3 Identifikation als Engagement-Katalysator

5.6.4 Identitätsverweigerung

5.6.5 Einheit – Heiligkeit – ganzheitliche Fülle – Apostolizität

6 Kulturanalyse zweier österreichischer Diözesen

6.1 Keine bewusste Polarisierung

6.2 Basisdaten der Online-Umfrage

6.3 Ergebnisse der sechs organisationskulturellen Dimensionen

6.3.1 Hierarchische oder eigen-initiative Steuerung

6.3.2 Offenes oder geschlossenes Kommunikationsverhalten

6.3.3 Prozess- oder resultat-orientierte Leistung

6.3.4 Vertrauen in Normen oder in Flexibilität

6.3.5 Quantitatives oder qualitatives Wachstum

6.3.6 Exklusive oder inklusive Identität

6.4 Eine renovierungsbedürftige Bildergalerie

7 Culture Change der Kirche

7.1 Die Kirche lebt und wirkt in der Welt

7.1.1 Krise als Auslöser eines Kulturwandels?

7.1.2 Effizienz eines Veränderungsprozesses

7.1.3 Veränderungen bedeuten immer ein Risiko

7.1.4 Einzementierte Organisationskulturen

7.1.5 Bewahrung der eigenen Machtposition

7.2 Ecclesia semper reformanda

7.2.1 Ekklesiogenesis

7.2.2 In Christus das Unmögliche möglich machen

7.2.3 Die Forderung des Evangeliums nach Wandel

7.2.4 Radikal die Dinge wieder auf die Füße stellen

7.2.5 Zwei Aspekte des kirchlichen Erneuerungsprozesses

7.2.6 Der Gnade Gottes Raum geben

7.2.7 „Heiße Räume“ kirchlicher Machtausübung

7.2.8 Von den Rändern „unserer eigenen“ Kirche

7.2.9 Culture Change als authentisches „Aggiornamento“

7.2.10 Die Mitte suchen

7.3 Werteorientierung der Zehn Gebote

8 Ein Blick zurück und voraus

8.1 Eine praktisch-theologische Roadmap des kulturellen Wandels

8.1.1 Evangelium des Nein

8.1.2 Ent-Klerikalisierung des gemeinsamen Wegs

8.1.3 Ziel einer menschlichen Gesamtkultur

8.1.4 Diversität als integrales Quantum der universalen Kirche

8.2 Evangelisierung der Kirche

8.2.1 Vision einer menschgewordenen Spiritualität

8.2.2 Rückblick auf Forschungsfragen und Arbeitshypothesen

8.2.3 Sich vom Geist Gottes leiten lassen

8.2.4 Ein Schlusswort

Anhang 1: Fragebogen

Anhang 2: Dekalog für den organisationskulturellen Alltag

Abkürzungen

Bibliographie

1 Hinführung

1.1 Strukturelle Hinführung

1.1.1 Anliegen und Grenzen der gestellten Aufgabe

Die Thematik des Einflusses der Organisationskultur, die Studien zufolge und somit statistisch nachweislich auf den Erfolg wirtschaftlicher Unternehmen, die Zielerreichung politischer Körperschaften, die Effektivität sozial orientierter Einrichtungen oder die Effizienz wissenschaftlicher Institutionen Einfluss hat,2 beschäftigt zunehmend auch kirchliche Gemeinschaften jeglicher pastoraler Ausrichtung und Größen, wie beispielsweise Gemeinden, Pfarreien, Seelsorgeräume, Ordensgemeinschaften, Ordinariate der Ortskirchen, karitative Einrichtungen und selbst die römische Kurie in ihrer Aufgabe für die Weltkirche.

In profit-orientierten Unternehmen der Gesellschaft spielen Analyse und Messbarkeit unternehmenskultureller Elemente und Erscheinungsformen eine essentielle Rolle in der angestrebten Umgestaltung oder geplanten Neuaufstellung der eigenen Unternehmenskultur oder im Wettbewerb um eine beherrschende Marktposition, die in der modernen Informationsgesellschaft zunehmend vom arbeitenden Menschen und weniger vom finanziellen Potential oder dem technischen Know-how bestimmt ist. Eine amerikanische Studie aus dem Jahr 1997, die den Marktwert von Unternehmen untersucht, kommt zum Schluss, dass die intangable assets wie beispielsweise der interne und externe Informationsfluss, das Wissen und die Kompetenzen der Mitarbeiter oder Marktkenntnisse und Kundenbeziehungen in den meisten Branchen deren buchhalterischen Wert übersteigen.3 Das diese Prozesse umspannende unternehmerische Schlagwort heißt: Organisationsentwicklung, ein Begriff, der vor kurzem auch von kirchlichen und hier vor allem im Zusammenhang mit der Schaffung größerer Seelsorgeräume von pastoralen Kreisen zu Eigen gemacht wurde.4 So spricht Christian Hennecke im Kontext von Weg und Ziel pastoralen Handelns von „Kirchen-Entwicklung“5, die sowohl die geistliche Entwicklung als auch die Struktur- und Personalentwicklung mit einschließt.

Die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist die wissenschaftliche Aufbereitung der kirchlichen Organisationskultur und des möglichen kirchlichen Organisationswandels (Culture Change)6, nicht jedoch der kirchlichen Organisationsstrategien und der Organisationsstrukturen, wenn diese auch von der Organisationskultur maßgeblich beeinflusst werden und somit nicht völlig von der kulturellen Dimension einer Organisation oder Institution separiert betrachtet werden können.7 Dem analytischen Teil dieser Überlegungen, vor allem dem Kapitel 5, das das kirchliche Kulturprofil generell betrachtet, wird die Kirche als die von Jesus gewollte Communio aller Getauften zugrunde gelegt, während sich der empirische Teil im Kapitel 6 aus praktischen Gründen eine Grenze setzen muss, kirchliche Organisationskultur also am Beispiel eines bestimmten ortskirchlichen Samples beschreiben wird.

1.1.2 Forschungsstatus

Im Bereich der Ökonomie und des Managements ist die Thematik der Unternehmenskultur gemeinsam mit der Unternehmensstrategie und Unternehmensstruktur in den letzten Jahrzehnten aus Gründen eines Wandels der sozioökonomischen Lebensbedingungen und, damit zusammenhängend, mit einem umfassenden Wandel der Wirklichkeit (vgl. GS 5) intensiv analysiert und in wissenschaftlichen Publikationen dargestellt worden.

In der Kirche und ihren zugeordneten kirchlichen Bereichen ist das Thema der Organisationskultur bis dato eher selektiv behandelt, jedoch nicht ganzheitlich wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Einen nicht zu übersehenden Bereich bilden die vielen Leitbilder von Diözesen, Ordensgemeinschaften, Laienverbänden, kirchlich-karitativen Organisationen und Bildungsinstitutionen, aus denen zumindest theoretische Rückschlüsse auf die jeweilige Kultur der Organisation gezogen werden können. Auch die weit gestreute Literatur über christliche Lebensspiritualität berührt immer wieder, eher indirekt, die Art und Weise, wie Glaubende gemeinsam auf das eine Ziel hinarbeiten und hinleben, wie Organisationskultur einmal flüchtig umschrieben werden mag, jedoch fehlt eine ganzheitliche Sicht, auch eine solche im Blickwinkel von Organisationsstrategie und -struktur.

Zweifellos sind Überlegungen im Bereich administrativ kirchlicher Tätigkeiten leichter zu artikulieren als in pastoralen Belangen, was jedoch nicht bedeuten kann, dass beispielsweise Fragen der Steuerung, der Kommunikation oder der Leistung in der pastoralen Arbeit keine Rolle spielten.

1.1.3 Forschungsfragen

Die sorgende Frage nach der Erneuerung der Kirche und ihrer pastoralen Aufgabe, ob von bewahrenden, restaurativen oder visionsgetragenen Kräften gestellt, mündet heute vielfach sofort in eine Diskussion, bestenfalls in einen Dialog, der sich auf strukturelle Gestaltungsmöglichkeiten kirchlicher Arbeit konzentriert. Eine solche Bedingung der Möglichkeit nach der Frage, welche Strukturen für die Kirche im 21. Jahrhundert relevant sind, um ans gemeinsame Ziel zu gelangen, ist dem Grundsatz nach nicht zu verleugnen. Allerdings wird der Fokus auf Strukturen sehr schnell in eine von reinem Aktivismus getragene Sackgasse münden, wenn dazu nicht parallel Fragen nach dem „Wie“ gestellt werden: Welchen Weg hat Jesus in seinem irdischen Leben als ganzer Gott und ganzer Mensch (Phil 2,6-11) seiner Kirche vorgegeben? Wie wollen wir als Menschen, die nur wenig geringer geschaffen sind als ihr Schöpfer (Ps 8,6),

(1) hier, in unserer konkreten Pfarre und in einer kulturbedingten Ortskirche als Teil der universalen Kirche, und

(2) heute, am Beginn des dritten Jahrtausends nach Seinem Leben und Sterben, den gemeinsamen Weg zum Ziel hin gehen?

Wenn das Zweite Vatikanische Konzil in der Konstitution über die Kirche in der Welt von heute davon überzeugt ist, dass „die von früheren Generationen überkommenen Institutionen, Gesetze, Denk- und Auffassungsweisen […] aber den wirklichen Zuständen von heute nicht mehr in jedem Fall gut zu entsprechen [scheinen]“ und es somit „zu schweren Störungen im Verhalten und sogar in den Verhaltensnormen [kommt]“ (GS 7), so muss die Frage gestellt werden, ob die irdische Kirche als die von Menschen getragene Versammlung – trotz ihres Beschenktseins mit himmlischen Gaben (LG 8) – sich aus dieser Erkenntnis ausschließen kann und darf. Die Konzilsväter verstehen die Kirche als eine „Kirche in der Welt von heute“ (GS 2). „Es gilt also, die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen“ (GS 4). Dieser Anspruch für die konkrete Kirche in der konkreten Welt schließt von der Organisation her gesehen nicht nur deren Strukturen, sondern auch deren Kulturen und Subkulturen mit ein, deren Hinterfragung, Analyse und Herausforderung Anliegen und Grenze dieser Überlegungen sein sollen.

Basierend auf und inspiriert von langjähriger Erfahrung im Bereich der globalen Wirtschaft soll der geschärfte Blick mit vier Forschungsfragen auf die Organisationskultur der Kirche gerichtet werden:

(1) Weshalb ist es für die Kirche zunehmend wichtig, sich mit der Frage der Organisationskultur zu beschäftigen und in der Folge nach der richtigen Organisationskultur zu fragen? Die Kirche existiert nicht außerhalb der Welt, sie ist Teil dieser Welt und dennoch ist sie nicht diese Welt (vgl. GS 1).

(2) Was kann die Kirche – ohne ihre Gleichschaltung mit säkularen Unternehmen – von der Welt, d.h. von weltlichen sowohl profit-als auch sozial orientierten Unternehmen lernen? Hier wird die Kirche in pastoralen Dimensionen vor allem als lernende Organisation gesehen werden müssen.

(3) Worin liegen die Unterschiede zwischen weltlichen Unternehmen und der Kirche als Organisation, die den Menschen in seiner konkreten Welt als Subjekt und Objekt hat? Und welche sind die Gründe für diese Unterschiede? Diese vor allem pastoral-ekklesiologischen Fragen werden mit dem Blickwinkel auf die Weltkirche und die Ortskirchen zu überlegen und beantworten sein.

(4) Last, but not least: Gibt es eine Roadmap zu einer veränderten Organisationskultur der Kirche? Wie sieht es mit der Fähigkeit, der Bereitschaft und dem Willen zur Veränderung in der Kirche aus? Hat sie die notwendigen Ressourcen zum Wandel? Benötigt sie professionelle Begleitung? Oder genügt die Weihegnade, den Erneuerungsprozess effektiv zu gestalten und das Ziel effizient zu erreichen? Oder braucht eine Organisation wie die Kirche nicht auch persönliche, fachliche und Führungs-Kompetenzen, um ihrem Sendungsauftrag in dieser Welt effizient gerecht zu werden?8

1.2 Methodisches Vorgehen

Ausgehend von dem praktisch-theologischen Ansatz „Sehen – Urteilen – Handeln“ des Begründers der Katholischen Arbeiterjugend Joseph Kardinal Cardijn für seine pastoralen Dienste im Arbeitermilieu, zunächst in Belgien und Frankreich, nach dem II. Weltkrieg dann auch in ganz Europa, wurde dieser so genannte „Dreischritt“ dann auch von Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Mater et Magistra (1961) zur methodischen Umsetzung der katholischen Soziallehre aufgegriffen und empfohlen.9

Für die geplante Arbeit soll eine Weiterentwicklung dieser in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts entstandene und pastoral bewährten Methodologie, nämlich der „Vierschritt“ angewandt werden, der dieselbe Logik enthält, aber das ursprüngliche Vorgehen verfeinert:10

(1) Der erste Schritt wird mit dem Begriff Orientierung umschrieben, der vor allem die Erfassung des pluralen Umfeldes, die Kontextualisierung, die Fokussierung auf das Ziel und die Verortung in der kirchlichen Tradition umschließt.

(2) Die Phase des Wahrnehmens, die am ehesten mit der Phase des Sehens im Dreischritt vergleichbar ist, geht allerdings über diese hinaus; denn mag das Sehen noch als neutraler Vorgang eingestuft werden, muss mit dem Wahrnehmen schon eine Deutung und eine Einordnung in die von dem Wahrnehmenden erfahrene Zeit und den ihm bekannten Raum verbunden sein. Dem wahrgenommenen Kairos wird die Frage zugrunde liegen, ob die Kirche sich als Teil der Welt hier und heute sieht, ohne mit der Welt von hier und heute ident zu sein.

Am Ende seines Buchs The Desert is Fertile goss kein Geringerer als Erzbischof Helder Camara diese zweite Phase des „Vierschritts“ in einen einfachen konkreten Satz: „Lasst uns Information über die Situationen zusammentragen, die wir verändern wollen.“11 In Prosa und Lyrik formulierte Camara 1974 in dem kleinen Werk seine tiefste Hoffnung nach Frieden und Gerechtigkeit in der Welt.12 2015 wird Papst Franziskus in seiner Ansprache an die katholischen Bischöfe Armeniens anlässlich des hundertsten Gedenktags des armenischen Genozids im Jahr 1915 seiner pastoral orientierten, jesuitischen Spiritualität gerecht, wenn er diese ermahnt, die Realität mit neuen Augen lesen zu lernen.13 Es geht ihm dabei um das persönliche Bemühen, die Realität von gestern mit den eigenen Augen in die konkrete Wirklichkeit von heute zu übersetzen.

(3) Der dritte methodische Schritt, d.h. die kriteriologische Phase des Deutens und Bewertens der in den ersten beiden Schritten erfahrenen und analysierten Zeichen des Raumes und der Zeit, soll einen Diskurs eröffnen, der das Wahrgenommene sowohl soziologisch, organisationspsychologisch als auch theologisch und hier vor allem praktisch-theologisch, d.h. disziplinär übergreifend analysiert. Keine Einzelwissenschaft, sondern vielmehr bunt zusammengesetzte Teams von Wissenschaftlern sind heute nicht nur im profanen, sondern auch im theologischen Umfeld gefragt, um den Herausforderungen unserer komplexer werdenden Realität glaubhaft entgegentreten zu können. Letztlich wird in diesem Schritt zu konkretisieren sein, ob die Kirche ganzheitlich zielorientiert denkt und handelt.

(4) Die unterschiedlichen Handlungsoptionen, die Kluft der von Jesus Christus „gemeinten“ und der nach zweitausend Jahren in der Kirche verstandenen oder missverstandenen Organisationskultur zu überbrücken wird Moment des letzten der vier methodischen Schritte sein. Hier darf und kann nicht der Fehler gemacht werden, wie er oft in weltlichen Organisationen erfahren wird, nämlich bei der theoretischen Analyse eines Problems oder einer Herausforderung stehenzubleiben, ohne den Mut aufzubringen, der Erkenntnis auch Taten folgen zu lassen.

Erfahrungsgemäß gewinnen diese vier Schritte nicht an Systematik und Wissenschaftlichkeit, wenn sie klinisch sauber auseinandergepflückt werden. So würde eine Erkenntnis im kriteriologischen Schritt nichts bringen, wenn die Möglichkeit des Handelns apriori weder für möglich gehalten noch angedacht werden darf.

1.3 Arbeitshypothesen

Die fünf Hypothesen, von denen die Arbeit ausgeht, sollen systematisch wissenschaftlich hinterfragt, bestätigt oder – wenn nachweisbar – auch widerlegt werden.

(1) Zunächst geht es um die Wirkung, die eine bestimmte Organisationskultur auf die beiden anderen Vollzugselemente einer Organisation, nämlich die Strategie und die Struktur der Institution, ausübt. Aus dem speziellen Blickwinkel der kirchlichen Organisation werden demnach sowohl die pastoralen Wege und Ziele als auch die Strukturen der Kirche von der organisationskulturellen Orientierung beeinflusst – erste Arbeitshypothese.

(2) Restrukturierungprozesse in der Wirtschaft starten häufig mit der Neuausrichtung der strategischen Vision und mit der Struktur der Organisation, denen dann aber auch die Re-Adjustierung der Unternehmenskultur folgen muss. Sollten jedoch Mitarbeiter nicht die richtigen Kompetenzen für diese veränderten Strukturen mitbringen, kommt es in der Regel zu einem right sizing, einem Prozess, in dem Mitarbeiter einfach „ausgetauscht“ werden. Die Realität der Kirche aber lässt einen solchen Prozess aufgrund der Personalknappheit geweihter Seelsorger (zumindest in Europa und den beiden Amerika) nicht zu. Daraus folgert die zweite Arbeitshypothese, dass ein erfolgreicher Erneuerungsprozess in der Kirche immer mit der Erneuerung der Organisationskultur beginnen muss, bevor Strukturveränderungen vorgenommen werden können.

(3) Im empirischen Teil der Arbeit soll mit der systematischen Analyse der Einstellung „kirchennaher“ Gläubiger aus den zwei österreichischen Diözesen Wien und Eisenstadt die Hypothese der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, der ersehnten Soll- und der tatsächlichen Ist-Situation dokumentiert werden.

(4) Als logische Konsequenz der Analyse der Organisationskultur, die mit dem organisatorischen Ziel und der bestmöglichen Struktur den eigentlichen Organisationsvollzug (erste Hypothese) mitgestaltet, und dem Auseinanderklaffen von organisationskulturellem Ist und Soll (zweite Hypothese) stellt sich die Frage nach Fähigkeit (Können) und Bereitschaft (Wollen), notwendige Veränderungen durchzuführen. Kann die Hypothese, dass das Zusammenspiel von Wandlungsfähigkeit und -bereitschaft auf unterschiedlichen Sendungsebenen der Kirche auch unterschiedlich zu Tage tritt, auf Grund empirischer Daten untermauert werden?

(5) Basierend auf den langjährigen Erfahrungen in der Wirtschaft kann angenommen werden, dass Veränderungen in der Organisationskultur der Kirche noch mehr Zeit und professioneller Begleitung als säkulare Unternehmen bedürfen. Als wesentlicher Grund dafür kann die seit 2000 Jahren unveränderte, wenn auch nicht immer und überall voll artikulierte und akzeptierte pastorale „Mission“ der Kirche verstanden werden.

1.4 Struktureller Aufbau

Vorwort und Hinführung fokussieren auf den situativen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Zusammenhängen, die die Frage der Unternehmenskultur in wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, sozialen und politischen Institutionen zum Thema ihres Denkens, Sprechens und Handelns machen. Die Schwerpunkte der Arbeit sind in sechs Kapitel (Kap. 2 bis 7) gefasst:

(1) Aus der Vielfalt nicht-kirchlicher Ansätze ergibt sich die Notwendigkeit einer begrifflichen Definition und Interpretation des Begriffs „Organisationskultur“ in der und für die Kirche und in den und für die auf sie zugeordneten Institutionen.

(2) Die mit der Wahl des neuen Bischofs von Rom am 13. März 2013 fast über Nacht einsetzende pastorale Neuakzentuierung der Kirche, die seither die Einstellung zur Kirche (von innen und von außen her), vielfach jedoch noch nicht das Verhalten der Mitglieder des Volkes Gottes verändert hat, drängt nach dem Sichtbarmachen der Zeichen der Zeit, die der Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zwar stets begegnet sind, die jedoch nicht von ihr im allgemeinen Sinn des Wortes, d.h. in ihrer Katholizität im Licht des Evangeliums erforscht und gedeutet wurden (GS 4).

(3) In der nahen Vergangenheit ist nicht zu übersehen gewesen, dass sich kritische Stimmen in der Kirche meistens mit strukturellen Fragen beschäftigt haben und noch immer beschäftigen, die organisationskulturellen Fragen, das heißt verkürzt definiert das wertgeleitete Verhalten und Handeln aller Mitglieder des Volkes Gottes hier auf Erden, jedoch oft gar nicht angesprochen haben. Strategien und Strukturen einer Organisation müssen als organisationskulturelle Interdependenzen gesehen werden, was nichts anderes bedeutet, als dass die Organisationskultur einen direkten Einfluss auf Struktur und Strategie einer Institution hat – und natürlich vice versa. Dieses Kapitel wird versuchen, diese Interdependenzen zwischen Strategie, Struktur und Kultur im kirchlichen Bereich zu definieren, ohne die Strukturdiskussion zum eigentlichen Thema der Arbeit zu machen. Allerdings kann die Konvergenz der drei Organisationselemente menschlicher Zusammenarbeit (Strategie, Struktur und Kultur) nicht außer Acht gelassen werden. Der tiefgehende Wandel der Situation, wie er in Gaudium et spes angesprochen wird (GS 5) und der unter anderem im Wandel der gesellschaftlichen Werte, der Technologie, Demographie, Wirtschaft, Politik, Gesetzgebung und vielem mehr seinen Ausdruck findet, bedingt die Notwendigkeit einer ständigen Neu-Adjustierung der komplexen Organisationssteuerung.

(4) Die konkreten Elemente des organisationskulturellen Profils eines Unternehmens oder einer Institution – und somit auch der Kirche – sind horizontal sowie vertikal vielschichtig; in anderen Worten: Sie umfassen, wie schon oben erwähnt, die Gesamtheit der nach innen und außen hin sicht- und greifbaren, jedoch oft unreflektierten und unbewussten Denk-, Verhaltens- und Handlungsweisen aller Mitglieder der Kirche und können diese innerhalb ihrer eigenen Grenzen in extremen Divergenzen verwirklichen, was auch an Hand zweier diözesaner Organisationen empirisch aufgezeigt werden soll.

Das Profil der Unternehmenskultur umschließt soziale Dimensionen wie Steuerung, Kommunikation, Leistungsorientierung, Vertrauen, Entwicklung und Identität der Organisation nach innen und außen hin. Als einzige dieser sechs Organisationsdimensionen seien hier beispielshaft die Extreme im Kommunikationsverhalten einer Organisation und somit auch der Kirche oder den ihr zugeordneten Institutionen erläutert:

a. In einer eher geschlossenen Organisationskultur werden solche Persönlichkeitstypen favorisiert, die Standpunkte und Kommunikationsstile in kirchlicher Linientreue signalisieren. Die Verwaltung der Organisation erhält einen höheren Stellenwert als ihr inneres Wachstum.

b. Andrerseits wird in Organisationen mit einem offenen Kommunikationsstil die Diversität von Mitarbeitern mit eigenen Meinungen und Überzeugungen gefördert; neue Mitarbeiter fühlen sich sehr schnell wohl, engagieren sich voll und begleiten die Organisation mit ihrer Kreativität und Innovation auf dem Weg in die Zukunft.

(5) Mit diesem Ansatz ist beabsichtigt, die Hypothese des Auseinanderklaffens von tatsächlicher und angestrebter Organisationskultur, das heißt der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit praktisch zu untermauern.

(6) Um der methodischen Vorgangsweise des „Vierschritts“ (Orientieren – Wahrnehmen – Bewerten – Handeln) gerecht zu werden müssen letztlich sowohl die Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft als auch die praktischen Umsetzungschancen in den pastoralen und administrativen Tätigkeitsbereichen der Kirche in Form einer möglichen Roadmap der Erneuerung angezeigt werden. Nach der begrifflichen Klärung und der praktisch-empirischen Diagnose geht es zuletzt um die kritische Frage, wie die Kirche als pilgerndes Volk Gottes mit den Erkenntnissen über Anspruch und Wirklichkeit des gemeinsamen Wegs durch Raum und Zeit umgeht.

Mit einem Resümee und einem Ausblick vor allem auf die vom derzeitigen Pontifikat initiierten Veränderungsprozesse sollen sowohl das ekklesiologische Bild der ecclesia semper reformanda als auch die pastoralen Praktiken einer ecclesia discens (einer lernenden Kirche) gefestigt werden.

1.5 Thematische Hinführung

Wie das korporative Volk Gottes, das heißt die Kirche als organisatorische Einheit in ihrer ganzen Komplexität, und das kollektive Volk Gottes, das heißt die Kirche als Kollektive der einzelnen Ortskirchen und ihrer individuellen Mitglieder ineinander greifen, miteinander umgehen und für einander da sind, wird schon in ihren ersten Anfängen sichtbar. Beim Apostelkonzil von Jerusalem (zwischen 44 und 49), der Zusammenkunft der Apostel der Jerusalemer Urgemeinde mit Paulus von Tarsos und seinen Begleitern, in der es letztlich um die Identität der Kirche Christi der Heiligen und die Gemeinden im jüdischen und griechischen Umfeld ging (Apg 15,1-35), wird die Spannung zwischen dem korporativen und dem kollektiven Ganzen der Kirche ihres einen Hauptes Jesus Christus sichtbar (Kol 1,18). Diese Aktualität hat sich durch zwei Jahrtausende hindurch nicht geändert, vor allem in den regionalen Synoden und den einundzwanzig ökumenischen Konzilien der katholischen Kirche. So hat die Diskussion um die Hermeneutik des Zweiten Vatikanums14 bis in die Gegenwart herauf zwischen restaurativen und „liberaleren“ Theologen Gräben aufgerissen, die die Kirche als korporatives und als kollektives Gottesvolk spaltet. Die einen, vor allem die „Massenmedien und auch ein […] Teil […] der modernen Theologie“, verteidigen die „Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches“, die anderen sprechen von einer „‚Hermeneutik der Reform‘, der Erneuerung des einen Subjekts Kirche, die der Herr uns geschenkt hat, unter Wahrung der Kontinuität“.15 Die Substanz bleibt unverändert, weil ihre Identität in ihrem Gründer wurzelt. Die Art und Weise der Erkenntnis, wie diese Substanz zu den Menschen in die konkrete Welt hineingetragen wird, ist jedoch sowohl räumlich als auch zeitlich kulturell bestimmt. Die Stärkung des kollektiven Aspekts des Volkes Gottes, vor allem durch die Betonung der Rolle des Bischofskollegiums und die Ermächtigung der „Laien“ aufgrund ihrer Taufe in der Kirchenkonstitution Lumen gentium, wird auch von der Festigung der Würde des Menschen und seiner Selbstbestätigung nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs begleitet und bedeutet einen organisationskulturellen Wandel, wie das ganze korporative Volk Gottes, durch Raum und Zeit wandernd, sein Ziel in Zukunft erreichen sollte. Allerdings erlebte diese im Frühchristentum verwurzelte und nun erneuerte Vision der Kirche in den Jahrzehnten nach dem Konzil bittere Enttäuschungen über das von den Konzilssynodalen Formulierte und das von der Kirchenbasis Erhoffte. Somit bleibt die Thematik der Organisationskultur der Kirche auch heute brennende Aktualität.

1.5.1 Praktisch-theologischer Ansatz

Mit dem Blick auf die eigentliche Thematik der Studie, nämlich der Organisationskultur, muss trotz des Bezugs auf die Kirche mit Recht nach ihrem theologischen Charakteristikum gefragt werden. Als „zugleich ‚sichtbare Versammlung und geistliche Gemeinschaft“‘ (LG 8; zitiert in GS 40) geht die Kirche „den Weg mit der ganzen Menschheit gemeinsam und erfährt das gleiche irdische Geschick mit der Welt und ist gewissermaßen der Sauerteig und die Seele der in Christus zu erneuernden und in die Familie Gottes umzugestaltenden menschlichen Gesellschaft“ (GS 40). Auch wenn die „sichtbare Versammlung“ der Kirche in dieser Arbeit mit organisationspsychologischen Konzepten analysiert und mit systemischen Prämissen verglichen werden soll, kann sie als „irdisches und himmlisches Gemeinwesen […] nur in dem Glauben begriffen werden“ (GS 40), dass es in ihr um den Weg aller Menschen zum Ziel der Vereinigung mit Gott geht, der sie zugleich trotz ihrer Sündhaftigkeit ohne Wenn und Aber auf ihrem Pilgerweg begleitet. Im jesuanischen Kontext des Neuen Bundes mündet die Frage nach der Kultur der Kirche in der bedingungslosen Nachfolge Christi, der ihr in ihrem „Ineinander des irdischen und himmlischen Gemeinwesens“ (GS 40) mit seiner Geburt, seinem Leben und Wirken, seinem Leiden, seinem Tod und seiner Auferweckung Beispiel und Anregung für ihre missionarische Sendung gegeben hat. Die Väter des Konzils sprechen im ersten Kapitel von Lumen gentium, der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche“, vom Mysterium, dem Geheimnis der Kirche, an dessen Grenzen wir so lange stoßen, solange wir an unsere irdische Geschichtlichkeit gebunden sind.

Nach dem „Weltbild Gottes“, das die Rolle des Schöpfergottes und alles von ihm Geschaffene aufeinander bezieht, ist alles Irdische vergänglich, auch die „sichtbare Versammlung“ der Kirche. Der Vergänglichkeit kirchlicher Strukturen, auch wenn diese von Jesus selbst durch sein Leben hier auf Erden initiiert wurden, liegt zugleich die Bedingung ständigen Wandels zugrunde. Die ecclesia semper reformanda weist auf keinen Zu- oder Unfall hin, sondern auf das im Gottes- und Menschenbild verwurzelte Kirchenbild, das das 2. Vatikanische Konzil (wieder) sichtbar gemacht hat. Die menschliche Gesellschaft, die in der Kirche mit der Gnade Gottes aufs engste verwoben und von ihr befruchtet wird, unterliegt einer ständigen Umgestaltung; freilich nicht um ihrer selbst, sondern in Christus und um Christi willen (GS 40).

Das theologische Gerüst der vorliegenden Studie über die Kultur der Kirche wird auch in den Quellen jesuanischen Handelns und christlicher Werte deutlich, die dem Volk Gottes auf seiner Pilgerschaft durch Raum und Zeit Wegweiser und „den am Rand lebenden Völkern“ ein spiritueller Kompass sein sollten. Kultur basiert immer auf einem ererbten geistigen oder materiellen Gut, das dazu beitragen kann und soll, aus dem Wissen um erprobte Entscheidungen in der Vergangenheit Lösungen für zukünftige Lebenssituationen aktiv zu gestalten, nicht jedoch passiv, d.h. fraglos zu übernehmen.

Aktivitäten, die auf strukturelle Umgestaltungen kirchlicher Organisationseinheiten abzielen, mögen zwar Einfluss auf die Organisationskultur der Kirche oder kirchennaher Institutionen haben, werden allerdings nicht direkt Gegenstand dieser Untersuchungen sein. Im Kapitel 4 über organisationskulturelle Interdependenzen wird des Näheren auf die gegenseitige Beeinflussung bzw. das Zusammenspiel von Strategie, Struktur und Kultur einer Organisation eingegangen, die im Kern auch die Kirche betreffen. So griff die internationale Presse im November 2007 hastig die Meldung auf, dass Papst Benedikt XVI. ein Bonussystem für exzellente Leistung seiner vatikanischen Mitarbeiter sanktioniert hat. Eine Neugestaltung der Vergütungsstruktur zu verkünden ohne entsprechende Begleitmaßnahmen einer Effizienzsteigerung in der administrativen oder pastoralen (Mit-)Arbeit der vatikanischen Kurie anzudenken kann letztlich nur zu einer Verfestigung der althergebrachten Strukturen – allerdings mit erhöhten Kosten – führen.16

Auch die interne Redaktion pastoraler Leitbilder für Diözesen, Ordinariate, Ordensgemeinschaften, kirchliche Krankenhäuser oder Schulen etc. sind gut gemeinte Bemühungen um mehr Engagement für die Organisation und um eine tiefere Identifikation mit den Zielen, allerdings nur so lange und dann, wenn solche Leitbilder nicht von anderen Organisationen einfach kopiert wurden und somit eher schnell wieder in den Schreibtischladen verstaubten, da ihnen der Konnex zur tatsächlich gelebten Kultur fehlte, in anderen Worten, weil den (mit)arbeitenden Menschen die übernommenen Denk-, Verhaltens- und Handlungsweisen ohne Erklärung, professionelle Begründung und didaktische Hinführung strittig gemacht wurden. In Bezug auf die von Benedikt XVI. geplanten Reformen fanden kritische Medien eher Spott, weil die betroffenen Personen – vom Gärtner bis zum Kurienkardinal – trotz der Veränderungen von Strukturen ihre Arbeitsweise nicht zu ändern beabsichtigten.17 Leitbilder werden schnell zu „Leidbildern“, wenn sie zwar schriftlich festgehalten sind, aber nicht gelebt werden oder Veränderungswille und Veränderungsbereitschaft nicht vorhanden sind.

Demographische Veränderungen in der Welt machen auch vor den Türen der Kirche nicht Halt. Auswirkungen auf allen Ebenen der Verwaltung und Pastoral der Kirche, von der römischen Kurie bis in die kleinste Pfarrgemeinde, rufen nach einem grundlegenden Wandel, wie sich Kirche in der heterogener sich gestaltenden Welt von morgen als Communio auf dem gemeinsamen Pilgerweg zum Ziel hin identifizieren und glaubhaft manifestieren kann. Zunehmender Priestermangel, nicht in allen, aber in vielen Teilen der Welt; weniger Glaubende in den Kirchen; getaufte Kinder und Jugendliche ohne Verständnis ihrer missionarischen Sendung; alte und einsame Menschen, an denen Seelsorger vorbeigehen; Frauen und Männer, die in ihrer Ehe scheiterten; Migranten und Flüchtlinge; Drogensüchtige und Terroristen … Dieses soziale und sozialpsychologische Szenario des beginnenden dritten Jahrtausends verlangt nach neuen Ansätzen eines gemeinsamen Vorwärtsgehens aller Menschen guten Willens mehr als nach neuen Strukturen. Denn veränderte Strukturen, ohne dass diese von veränderten Menschen getragen werden, gleichen einem Haus ohne Fenster und Türen, durch die es von seinen Bewohnern betreten und bewohnt werden kann.

Die vielleicht am unmittelbarsten erlebte praktisch-theologische Herausforderung in vielen, nicht allen Teilen der Weltkirche ist der Trend zu größeren Pastoral- und Seelsorgeräumen, die von allen Betroffenen, d.h. den pastoralen und administrativen Kräften sowie den Glaubenden, mehr Professionalität, Teamfähigkeit und -bereitschaft verlangen. Wollen die Kirche und ihre kirchennahen Institutionen nicht wie viele profit-orientierte Unternehmen in das menschliche Abseits von Überforderung, Stress und Burnout geraten, wird es eines neuen „psychologischen Arbeitsvertrags“ für jene bedürfen, die ihre Arbeitskraft haupt- oder auch nebenamtlich in die Hände der Kirche legen.

1.5.2 Anthropologisch-biblischer Ansatz

In Verbum Domini, dem von Benedikt XVI. verfassten „Nachsynodalen Apostolischen Schreiben“ vom 30. September 2010, reflektiert der Papst die Ergebnisse der 12. Ordentlichen Bischofssynode, die vom 5. bis 23. Oktober 2008 zum Thema „über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche“18 in Rom tagte. In dieser päpstlichen Exhortatio weist Benedikt auf die „Bibel als großen Kodex für die Kultur“19 hin, wobei er hier selbstverständlich primär den „Wert der [nationalen] Kultur für das Leben des Menschen“20 anspricht.

Da eine Organisationskultur – auch die der Kirche – nicht losgelöst von der nationalen Kultur gedacht werden kann, in die sie eingebettet ist und aus der heraus sie lebt, haben sich die Synodenväter für ihre kirchliche Zusammenarbeit bewusst oder unbewusst ein hohes Ziel gesetzt. Sie fordern „unter den Kulturträgern eine angemessene Bibelkenntnis […], auch in säkularisierten Umfeldern und unter den Nichtgläubigen; in der Heiligen Schrift sind anthropologische und philosophische Werte enthalten, die die ganze Menschheit positiv beeinflusst haben.“21 Unter „Kulturträger“ müssen wohl Führungspersönlichkeiten verstanden werden, zu denen sich die Synodenmitglieder als Vertreter des Weltepiskopats auch selbst zuzuordnen haben. Die Kenntnis der biblischen Werte wird somit Vorausbedingung und Fundament „der Begegnung zwischen Wort Gottes und Kulturen“.22

Mit Fug und Recht darf erwähnt werden, dass wohl kein anderes Dokument ein profunderes Bild der anthropologisch-biblischen Dimension der Kirche in der Welt – und darum geht es ja letztlich, wenn die Organisationskultur der Kirche fokussiert wird – zeichnet als die „Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute“. Dem ersten Hauptteil von Gaudium et spes liegt in 4 Kapiteln mit insgesamt 35 Artikeln die Berufung des Menschen, der in diese konkrete Welt hineingeboren ist, in der Kirche von heute zugrunde. Da sich insbesondere diese Pastoralkonstitution nicht nur an die Kinder der Kirche, sondern an alle Menschen richtet (GS 2), nimmt ganz bewusst erst das vierte und letzte Kapitel Bezug auf die Aufgabe der Kirche in der Welt von heute.23 In der Einleitung zum eigentlichen Text der Konstitution weisen Karl Rahner und Herbert Vorgrimler darauf hin, dass die Konzilsväter ganz bewusst einer Situations- oder Auffassungsanalyse zunächst eine Bewertung aus dem allgemeinen menschlichen Blickwinkel folgen lassen, die für alle Menschen akzeptabel erscheint, bevor sie sich mit speziellen lehramtlichen Instrumentarien den möglichen Konsequenzen für das Leben in und mit der Kirche zuwenden. Gegen diesen in vielen Kapiteln und Artikeln von Gaudium et spes angewandten Prozess wehrte sich so mancher Bischof, der eher eine theologische Analyse oder (zumindest) einen biblischen Bezugspunkt bevorzugt hätte.24

Alles, was in Raum und Zeit geschah, geschieht und geschehen wird, erlebt das Volk Gottes nicht in kirchlicher Isolation, sondern es teilt alles und jedes dieser Welt „zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit“; zugleich aber erinnern die Konzilsväter an die Verpflichtung der pilgernden Kirche, in dem Geschehenen „die wahren Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes“, alles im Glauben mit einem neuen Licht zu erhellen und „auf humane Lösungen hin“ zu orientieren (GS 11). Es widerspräche wohl dem Geist des Konzils, gewisse innerhalb der Menschheit geteilte „Ereignisse, Bedürfnisse und Wünsche“ einfach im Fragenkatalog „der Zeichen der Zeit“ negieren zu wollen. Die Bischöfe des Zweiten Vatikanums sprechen ausdrücklich vom „gegenseitigen Dienst“ des Volkes Gottes und der Menschheit, „der es eingefügt ist“ (GS 11). Von einem Ausschluss eines bestimmten menschlichen Lebensbereichs können und wollen die Konzilsväter nicht sprechen, schon gar nicht vom Ausschluss einer gegenseitigen Beleuchtung artverwandter Kompetenzen25, die für die effiziente und effektive Leitung einer Organisation – ob gesellschaftlich, politisch, sozial oder religiös – vonnöten sind. Somit wird die Erhellung der Kultur einer Organisation, vor allem jener der Kirche, ein „wahre[s] Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes“ (GS 11).

„Was denkt die Kirche vom Menschen? Welche Empfehlungen erscheinen zum Aufbau der heutigen Gesellschaft angebracht? Was ist die letzte Bedeutung der menschlichen Tätigkeit in der gesamten Welt?“ (LG 11) Diese Fragen der Synodenväter schließen kirchliche Tätigkeiten nicht aus, sondern beantworten die Fragen kurz für die gesamte Welt, in der die Kirche ihre Sendung erfüllt: Beide stehen in einem unteilbaren und gegenseitigen Dienst (LG 11). In diesem Kontext gilt der Mensch, der Bild Gottes ist, als Mittel- und Höhepunkt in dieser Welt, in der er jedoch seine Aufgaben nur als soziales Wesen erfüllen kann.26

Die Verwundbarkeit des von Gott nach seinem Bild geschaffenen Menschen zeugt davon, dass dieser auf der ihm vom Schöpfergott zur Verfügung gestellten Welt „vom Anfang der Geschichte an“ (GS 13) immer wieder versucht war, seine eigenen Wege zu gehen. Dazu heißt es: „Der Mensch erfährt sich, wenn er in sein Herz schaut, auch zum Bösen geneigt und verstrickt in vielfältige Übel, die nicht von einem guten Schöpfer herkommen können“ (GS 13). Die Konzilsväter weisen auf die Zwiespältigkeit des Menschen hin, die ihn in einem ständigen und dramatischen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Dunkelheit fesselt, aus dem er sich selbst nicht als Sieger hervorzugehen weiß. Der Herr ist der, der aus diesem menschlichen Desaster herausführt, das „den Menschen selbst [mindert], weil sie [d.h. die Sünde] ihn hindert, seine Erfüllung zu erlangen“. Diese Worte umfassen „das gesamte Leben der Menschen, das einzelne wie das kollektive“ (GS 13), wie die Bischöfe in diesem grundlegenden Text der Pastoralkonstitution betonen.

Weil die irdische Kirche aber als eine „mit hierarchischen Organen der Gesellschaft“ klar konstituierte „sichtbare Versammlung“ (LG 8) nicht außerhalb der Welt von gestern, heute und morgen existiert, sondern als pilgerndes Volk Gottes immer im Raum dieser Welt, aber nur in den ihr gewährten Äonen unterwegs ist, darf und kann sie sich diesem Kampf zwischen Gut und Böse nicht entzogen glauben. Bleiben die Synodalen des Konzils in diesen Aussagen auch ihrer kirchlichen Sprache treu, wird kaum geleugnet werden können, dass es sich in der Diktion der Organisationswissenschaft bei dieser „sichtbaren Versammlung“ um eine (auch) von Menschen getragene Organisation und bei den „hierarchischen Organen der Gesellschaft“ um deren Führungskräfte handelte.

Nach den Artikeln über den Menschen als Bild Gottes und der Verwundbarkeit dieses Bildes durch die Sünde erinnern die Konzilsväter in diesem einleitenden Kapitel der Pastoralkonstitution nicht nur an die bloße Leiblichkeit des Menschen, sondern an seine Einmaligkeit und in ihr an seine Einheit von Leib und Seele. Die vereinfachende Eingrenzung der Leiblichkeit auf den eigenen Körper und noch zugespitzter auf die körperliche Sexualität des Menschen würden dem Artikel 14 des Konzilstextes nicht gerecht werden. Es geht letztendlich um die gesamte „stoffliche Welt“, die Teil des menschlichen Lebens als solches ist, „wo Gott ihn [den Menschen] erwartet“. Die Herleitung des Lebens von „bloß physischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen“ verwehrt dem Menschen ein In-die-Tiefe-Gehen (GS 14). In diesen Spiegel der Erkenntnis des „Wesensstandes des Menschen“, wie dieser Artikel 14 der Pastoralkonstitution (wohl in Klammern gesetzt) überschrieben ist, kann und muss sich auch die irdische Kirche schauen: Die „stoffliche“ Seite des Lebens der Kirche „darf also der Mensch nicht geringachten“. Als getauftes Glied der Kirche verlangt seine Würde als Mensch das Gegenteil – um den Gedanken des Konzils der Bischöfe nicht nur auf die Welt, sondern synonym eben auf „die Kirche in der Welt von heute“ zu richten –, „nicht den bösen Neigungen seines Herzens“ zu dienen, sondern Gott in der „sichtbaren Versammlung“ zu verherrlichen (GS 14).

Der geheimnisvolle Leib Christi der irdischen Kirche darf und kann als geistliche Gemeinschaft aus seinem Wesen heraus nicht auf einen gesunden Leib und auf gesunde hierarchische Organe verzichten; diese machen die stets auf ihrem missionarischen Weg pilgernde Kirche sowohl nach innen als auch nach außen hin erkenntlich und sichtbar. Wenn immer und wo immer die gottgewollte „komplexe Wirklichkeit“ der Kirche aus dem Gleichgewicht zu geraten droht, ist sie entweder mit der Illusion einer welt- und somit menschenfremden Esoterik oder aber mit der oft knallharten Versuchung eines wirtschaftlichen Utilitarismus, der ohne Gott auszukommen scheint, konfrontiert.

Es wundert nicht, dass die Konzilsväter diesem Artikel – verkürzt gesagt – über Leib und Seele Worte über die Vernunft des Menschen und „deren Vollendung in der Weisheit“ (GS 15) folgen lassen, geht es doch um einen Gedanken, der dem US-amerikanischen protestantischen Pastor Reinhold Niebuhr zugesprochen wird: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“.27 Im letzten geht es in diesem „Gelassenheitsgebet“ mit dem Blick auf die Kirche und ihre göttlichmenschliche Bedingtheit darum, das Göttliche in ihr in Demut hinzunehmen, das Menschliche immer wieder mit Mut und ohne Angst auf seine zeitliche und räumliche Gültigkeit hin zu überprüfen, „und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Das Konzil würdigt die Vernunft des Menschen, in der er „in Teilnahme am Licht des göttlichen Geistes […] die Dingwelt überragt“ und schätzt die menschliche Entwicklung in den empirischen Wissenschaften, der Technik und der geistigen und künstlerischen Bildung (LG 15). Es mag verwundern, dass die Kirche diesen Konzilsgeist bis heute eher selektiv rezipiert hat. So akzeptiert sie ohne weiteres die Erkenntnis der modernen Medizin- und Kommunikationstechnik, solange sie ihren eigenen ethischen Normen nicht entgegenlaufen, verweigert sich jedoch offensichtlich den Fortschritten mancher anderer Wissensgebiete wie etwa des operativen oder strategischen Finanz-Controllings und der Wirtschafts- oder Organisationswissenschaften. Die Würde der menschlichen Vernunft kann auch eine vertiefte Wahrheit ergründen, auch dann, wenn sie aus menschlichem Fehlverhalten teilweise verdunkelt und geschwächt ist (LG 15).

Ihre Vollendung findet die Vernunftnatur der menschlichen Person in der Weisheit. Der Menschenglaube bezeugt schon im Alten Testament, dass alle Weisheit vom Herrn stammt und auch ewig bei ihm ist; auch lehrt Erfahrung, dass Gott seine Weisheit über all seine Werke ausgegossen hat, sie den Menschen jedoch unterschiedlich zugeteilt ist: „Er [der Herr] spendet sie denen, die ihn fürchten“ (Sir 1,10). Auch in Gaudium et spes stellt das Konzil klar, dass die Verteilung der Weisheit in dieser Welt nicht mit der wirtschaftlichen Situation korrelieren muss; oft seien verhältnismäßig arme Nationen reicher an Weisheit als vermögende (GS 15). Die Erfahrung des Lebens bestätigt, dass diese Aussage der Synodalen ohne Abkürzung auf die menschliche Person wie auch auf eine soziale oder wirtschaftliche Institution übertragen werden kann. So mag die Weisheit und somit das Überlebenspotential eines kurzfristig finanziell prosperierenden Konzerns bisweilen dürftiger sein als die Weisheit einer kleinen Organisation, die langfristig und damit nachhaltig denkt und handelt.

Bevor die Konzilsväter in der Pastoralkonstitution auf den Atheismus im Allgemeinen und im Besonderen zu sprechen kommen, fokussieren sie noch die Würde des sittlichen Gewissens (GS 16) und die hohe Bedeutung der menschlichen Freiheit (GS 17). In Bezug auf die organisationskulturellen Fragestellungen dieser Arbeit spielen sowohl sittliches Gewissen als auch menschliche Freiheit im Zusammenleben und gemeinsamen zielgerichteten Handeln einer Organisation eine essentielle Rolle. Gewissen muss sich (weiter)bilden, will es nicht irregehen oder abstumpfen. Und mit einem solchen gebildeten Gewissen vermag der Christ eine Brücke bauen zum Gewissen anderer Menschen, die zwar Christus nicht (an)erkennen, aber ihrer inneren Stimme gehorchen, die ihnen mitteilt, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen. Eine solche Prämisse genügt oft in einer menschlichen Organisation als erster bewusster Schritt, divergierende Meinungen ins Lot zu bringen. So wie die menschliche Person kann auch eine Organisation mit einem abgestumpften Gewissen ihre Würde verlieren, was nicht selten in blinder Willkür endet (GS 16). Die Vorausbedingung des Hinwendens des Menschen zum Guten ist seine von Gott gewollte Freiheit, die damit zur unabdingbaren Würde seiner selbst wird. Blinden inneren Drang oder bloßen äußeren Drang zu einem gewissen Handeln bezeichnen die Konzilsväter als einer Person unwürdig, gleichgültig ob sie Mitglied der Kirche ist oder nicht. So stellt sich auch in diesem wesentlichen Attribut menschlichen Lebens heute die Frage, wie viele Organisationen ihren Mitarbeitern oder Mitgliedern in einer bis in die kleinsten Details regulierten Arbeitsumwelt ihre persönliche Freiheit nicht nehmen. Diese Frage müssen sich auch die Kirche und die von ihr abhängigen Organisationen gefallen lassen.

Die von Gott initiierte und gewollte Würde des Menschen braucht ständiges Ringen (LG 48), nicht nur in der Welt, auch in der Kirche, die nicht mit ihr identisch ist, aber die Gestalt dieser Welt trägt, mahnte der steirische Caritasdirektor Franz Küberl im März 2015 in seinem Festvortrag bei der Verleihung des Menschenrechtspreises des Landes Steiermark ein. Er spricht von einer „‘Verwertung„ des Menschen auf allen Ebenen“ des heutigen Lebens im Gegensatz zu „seinen geistigen Werten, von der Freude an der Entwicklung des eigenen kreativen Potentials – vom Gesamtkunstwerk Mensch, dem vor allen Nutzungs- und Verwertungsstrategien Würde und Einzigartigkeit zukommt.“28 Schaffung und Wahrung von Gerechtigkeit, Menschenwürde und -rechten seien die Aufgaben der Staaten, für deren Gestaltung jeder einzelne Mensch mit verantwortlich ist.

Menschenwerte wie Glaubwürdigkeit, Toleranz, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Dienst am Nächsten, Würde und Rechte aller Menschen sind jedoch nicht auf die systemisch-gesellschaftliche Ebene begrenzt, sondern erheben auf- und absteigenden kaskadenförmigen Anspruch genauso auf politische, soziale und kirchliche Organisationen und somit auf den einzelnen Menschen als Person. Konflikte entstehen dort, wo menschliche Werte auf einer dieser Ebenen mit Füßen getreten werden, das mag die persönliche Wertedimension tangieren, aber auch die institutionell-organisatorische und die gesamte gesellschaftliche Kultur.

Erst im letzten Artikel des ersten Kapitels der Pastoralkonstitution kommen die Konzilsväter auf Christus, den neuen Menschen zu sprechen, „in dem allein ‚sich das Geheimnis des Menschen wahrhaft aufklärt„ (GS 22), freilich in das Geheimnis Gottes hinein.“29 Das verlangt von jedem einzelnen Christen und jedem menschlichen Kollektiv, das sich christlich nennt, die unbedingte Nachfolge Christi.

1.5.3 Pastoral-biblische Arbeitsinitiativen

Wie und auf welche Weise die Kirche Jesu Christi als Communio auf ihrem Pilgerweg ans Ziel gelangt, d.h. auf welchen Glaubenswerten und Wertvorstellungen sie dahinschreitet und welche Denk-, Verhaltens- und Handlungsweisen sie daraus adaptiert, kann nicht ohne Konsultation des Lebens Jesu geschehen, das von authentischen Zeugen im Neuen Testament tradiert wird.

„Jesus verkündete das Reich Gottes und gekommen ist die Kirche.“30 Die Hermeneutik dieser von zeitkritischen Kreisen der katholischen Kirche heute gerne argumentativ verwendeten Worte des französischen Priesters und Theologen Alfred Loisy (1857–1940) kann in zwei kontroverse Richtungen deuten. So wird diese Aussage einerseits dahin interpretiert, dass die Wirklichkeit des von Jesus verkündeten Reiches Gottes von sozial-kirchlichen und somit menschlichen, bewussten und unbewussten Struktur- und Kulturelementen im Laufe der zweitausendjährigen Kirchengeschichte überlagert wurde. Andrerseits – und das war wohl die ursprüngliche Intention31 des gewiss hierarchie-kritischen Modernisten-Theologen Loisy – sah dieser „in der Umwandlung der Reichshoffnung zur Kirche einen legitimen geschichtlichen Vorgang“.32 Diese Worte antizipieren gleichsam die vom Zweiten Vatikanischen Konzil in der Kirchenkonstitution formulierte Ekklesiologie: „Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst“ (LG 8). Was der Theologe offen kritisierte, war das Nachahmen oder sogar das Kopieren weltlicher Macht- und Regierungsstrukturen durch die Kirche Jesu Christi.33

Der Fokus dieser Arbeit wird die Kirche, beziehungsweise werden Teilorganisationen dieser Kirche, als „die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft“, also „die sichtbare Versammlung“ (LG 8) sein, deren Betrachtung und Analyse jedoch „die geistliche Gemeinschaft“, nämlich „die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche“ (LG 8) mit ihrem jesuanischen Sendungsauftrag miteinschließen und mitdenken muss. Da die Kirche jedoch nicht diese Welt bedeutet, sondern „sie [die Gläubigen] in dieser Welt auch den Tempel Gottes errichten können“ (GS 21), bedarf es einer authentischen Übersetzung des in der menschlichen Welt Werte-vollen für die Kirche und in diese Kirche hinein, denn „… diese Gemeinschaft [der Kirche erfährt] sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden“ (GS 1).

Die Erkenntnis der Bischöfe und Theologen des Zweiten Vatikanischen Konzils, dass die Welt mit ihren wahren Werten Lehrmeisterin der Kirche Jesu Christi sein kann, macht der kirchenzentrierten Sicht des 19. und 20. Jahrhunderts ein Ende:

Mit großer Achtung blickt das Konzil auf alles Wahre, Gute und Gerechte, das sich die Menschheit in den verschiedenen Institutionen geschaffen hat und immer neu schafft. Es erklärt auch, dass die Kirche alle diese Einrichtungen unterstützen und fördern will, soweit es von ihr abhängt und sich mit ihrer Sendung vereinbaren lässt (GS 42).

Wenn Hugo Rahner seine Rede „am hohen Festtag der deutschen Katholiken“ im Jahr 1956, also sechs Jahre vor dem Beginn des Zweiten Vatikanums, mit dem markanten Satz beginnt „Die katholische Kirche ist ein Haus voll Glorie, weit über alle Lande dieser Erdenwelt“34, schimmert in diesen Worten noch die über alles erhabene und petrifizierte Kirche der Vergangenheit durch, die von der Welt nur Negatives, aber nichts Positives lernen kann.35 Aber schon im Titel dieser später publizierten Ansprache klingt die Realität an: „Die Kirche, Gottes Kraft in menschlicher Schwäche“36, ein Gedanke, den Hugo Rahner dann mit den Worten konkretisiert: „Die heilige Kirche Gottes ist in Kraft ihrer Nachbildung des Herrenleibes hienieden immer beides: Kraft und Schwäche, Glorie und Verächtlichkeit, sie ist Herrin und Magd, thronende Königin und arme Pilgerin.“37

Es ist einerseits die göttliche Communio, die geistliche Gemeinschaft, die die Kirche mit himmlischen Gaben der Kraft und Glorie beschenkt, und es sind andrerseits das sichtbare hierarchische Gefüge und das organisatorische Gesamtbild hier auf Erden, welche sie, nämlich die aufgrund dieser göttlichen Geschenke geliebte Kirche, in ihrem Denken, Handeln und Zusammenleben bisweilen schwach und verächtlich erscheinen lassen (LG 8). Als Arbeitsinitiativen mit vorläufigem Charakter und ohne Anspruch auf letztgültige Vollständigkeit sollen sechs Bilder aus dem Neuen Testament und somit aus den pastoralen Worten Jesu selbst auf das authentische Leben, also auf den getreuen Kern des Lebens, und wohlgemerkt nicht auf die Struktur der Kirche verweisen. Menschliche Zusammenarbeit in der Kirche und somit pastorale Ausrichtung des Sendungsauftrags Jesu (Mt 28,19) haben ihr Fundament in seinen Worten und Taten, was strikte bedeutet, dass Taten und Worte der Kirche heute, wenn sie glaubwürdig gelebt werden wollen, die Taten und Worte Jesu widerspiegeln müssen.

Fragen nach der „richtigen“ Organisationskultur und Antworten darauf müssen in allen Facetten „auf dem Niveau des Evangeliums“38 gestellt und formuliert werden. Es ist Überzeugung der christlichen Kirchen, dass sich Gott der ganzen Menschheit räumlich und zeitlich in der Geburt, dem Leben, dem Leiden, dem Tod und dem neuen Leben der Person Jesus geoffenbart hat. Seine Jüngerinnen und Jünger schrieben das Leben ihres Rabbi und ihr Zusammenleben mit ihm nieder, um ihren apostolischen Nachfolgern in ihrer missionarischen Sendung das Erbe Jesu authentisch weiterzureichen. Allerdings ist die Heilige Schrift keine Enzyklopädie für Argumente, wie viele evangelikale oder fundamentalistische kirchliche Gemeinschaften es gerne sehen wollen.39 Die Bibel ist eine Art Roadmap für eine Nachfolge Jesu, die nicht nur Aufgabe des einzelnen „Heiligen“ ist (Röm 16,2; 1 Kor 1,2; Eph 4,3;5,3; Hebr 13,24), wie die ersten Christen genannt wurden, sondern des ganzen Volkes Gottes, das durch Raum und Zeit zum Vater im neuen Jerusalem unterwegs ist (Offb 3,12; 21,10).

Im Folgenden sollen sechs neutestamentliche Meilensteine organisationskultureller Werte und Verhaltensweisen exemplarisch erläutert werden, die Jesus denen beispielhaft mit auf den Weg geben will, die seine Nachfolge ernst nehmen. Diese biblischen Highlights nehmen Bezug auf die im 5. Kapitel dargelegten Dimensionen einer Organisationskultur: Steuerung, Kommunikation, Leistung, Vertrauen, Wachstum und Identität.

Steuerung – die Verwandlung der geschockten Jünger

Nach der Verurteilung durch den Hohen Rat der Juden und der Kreuzigung Jesu durch die römische Besatzungsmacht vor den Toren Jerusalems schien für seine Freunde der Traum eines gemeinsamen Wegs zu Ende gegangen zu sein. Jesus hatte die Frohe Botschaft von der Barmherzigkeit seines Vaters nicht auf die Frommen und die im sozialen Scheinwerferlicht angesiedelten Juden eingeschränkt, sondern auch die am Rand der Gesellschaft Stehenden angesprochen: Aussätzige und Sünder, Dirnen und Zöllner. Dieses Szenario war für die Jünger Jesu unerträglich und sie alle ergriffen die Flucht (Mk 14,15). Sie waren schockiert, ratlos und am Boden zerstört: „Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde“ (Lk 24,21). Dann aber stand er wieder inmitten seiner Jünger, die ihm einen Fisch zu essen gaben (Lk 24,42). Und er begann mit ihnen über das zu sprechen, was mit ihm in Jerusalem geschehen war. Ihre geöffneten Augen (Lk 24,45) waren Voraussetzung dafür, sie zu Zeugen seines neuen Lebens zu machen und sie auf den Weg zu schicken, allen Völkern die Umkehr zu predigen (Lk 24,45-47).

Nach der Dramatik der Tage in Jerusalem war die Eigeninitiative der Jünger auf null gesunken. Sie verschanzten sich hinter verschlossenen Türen (Joh 20,24-29), bis ihr wieder lebender Freund die Initiative übernahm. Die letzten Worte Jesu, die Johannes in seinem Evangelium berichtete, sind an Petrus gerichtet: „Du aber folge mir nach!“ (Joh 20,22). Damit war es klar, welche Aufgabe Jesus ihm und allen seinen Jüngern übertrug. Sie sollten seine Initiative weitertragen. Der neutestamentliche Exeget Thomas Söding spricht von einem „österlichen Motivationsschub“, der die Geburt der ersten christlichen Gemeinden erst ermöglichte.40

Die Erzählung der beiden Jünger, die von Jerusalem nach Emmaus unterwegs sind und denen sich auf ihrem Weg ein offensichtlich Fremder anschließt, gipfelt im gemeinsamen Brotbrechen, bei dem ihnen schlagartig die Augen aufgehen und sie in diesem Fremden ihren Freund Jesus erkennen (Lk 24,13-35). Mut- und Ratlosigkeit hatten die beiden in den letzten Stunden in eine Passivität abdriften lassen, die erst im gemeinsamen Essen durchbrochen wurde. Und der Evangelist fügt die Unmittelbarkeit ihrer Initiative an: „Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück …“ (v.33).Kleopas und sein im Evangelium namenloser Freund setzen das spontan in die Tat um, was Jesus ihnen auf dem Weg dargelegt hatte (v.27).

Der notwendige Wandel von einer passiven Fremd- zu einer aktiven Selbststeuerung41 scheint den Jüngern von Jesus auch im Gleichnis vom anvertrauten Geld vermittelt worden zu sein (Mt 25,14-30). Ein Mann bricht zu einer Reise auf und hinterlässt seinen Dienern einen Teil seines Verdienstes. Der, dem er fünf Silbertalente anvertraut, erwirtschaftet weiter fünf Talente. Jener, der zwei Talente von seinem Herrn erhalten hat, verdoppelt das ihm Anvertraute auch. Nur der, der ein Talent überantwortet bekommt, gräbt dieses ein und gibt es seinem Herrn bei dessen Rückkehr von der Reise unangetastet zurück. Aus Angst, er hätte etwas falsch machen können. Es genügt nicht, Verantwortung übertragen zu bekommen ohne Bereitschaft, darauf auch eine Antwort zu suchen.

Die Übertragung eines kirchlichen Amtes durch Handauflegung oder Beauftragung bedeutet die Übernahme von administrativer und/oder pastoraler Verantwortung in der Diakonie, der Verkündigung, der Liturgie und im Leben der Gemeinde, für die am Ende des Tages auch Rechenschaft abzulegen ist. Kirchliche Sendung, die a priori persönliche Anstrengung und Erfolg ausschließt, bremst das Volk Gottes auf seinem heilsgeschichtlichen Weg.

Kommunikation als Grundwert der Communio

Um „Menschen fischen“ zu können, müssen die apostolischen Fischer ihren Mund auftun, ihre Füße und Hände aktivieren und ihre Herzen auf Empfangsmodus stellen, d.h. sie müssen die „Kunst“ des Kommunizierens besitzen, diese zumindest anstreben. Diese für die Kultur der Kirche notwendige Fähigkeit beschränkt sich nicht nur auf die Mitarbeiter der römischen Kurie, sondern auf alle Teilbereiche kirchlicher Sendungsarbeit bis hin zu den kleinsten im Namen Jesu versammelten Gemeinschaften.

Einige der Jünger Jesu waren Fischer. So erzählt Matthäus über die Berufung der beiden Brüder aus Betsaida am See von Galiläa, über Simon und seinen Bruder Andreas. Und ein wenig später näherte sich Jesus mit ähnlichen Worten dann auch Jakobus, dem Sohn des Zebedäus, und seinem Bruder Johannes; in Mt 4,21 heißt es schlicht: „Er rief sie …“. Auch sie waren Fischer. Die einen waren gerade dabei, ihre Netze in den See auszuwerfen, die anderen hatten offensichtlich ihren Fang schon eingeholt und saßen am Strand in ihrem Boot und besserten ihre Netze aus. Beide Brüderpaare waren sozusagen mit ihrer Arbeitsvorbereitung beschäftigt. Jesus aber schlug ihnen einen Rollenwechsel vor: Wenn ihr mit mir kommt, dann „werde [ich] euch zu Menschenfischern machen“ (Mt 4,18). Und sie willigten ein, „verließen […] das Boot und ihren Vater und folgten Jesus“ (Mt 4,22), ohne noch im Entferntesten zu ahnen, was die Worte Jesu für sie und ihre Nachfolger bedeuten würden.