Paris · Rot - Anna Gien - E-Book

Paris · Rot E-Book

Anna Gien

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Beschreibung

Ein dunkler Traum von der Erotik der Einsamkeit Ein Mädchen mit vielen Namen hat Zuflucht gefunden in einem Zimmer des Hotel D'Avalon. Nach einem Ereignis der Zerstörung wurde sie zurückgelassen – und alles, was ihr bleibt, ist ihr Traum von einer anderen Welt: Paris. Doch selbst dieser Traum droht in jener Nacht unterzugehen. Ein seltener Komet erscheint am Himmel, viele Namen erweisen sich als falsch. Erinnerungen einer Flucht durch den Wald führen sie an die dunkelsten Stellen des Traums. Das Mädchen begehrt ihren Lehrer, oder doch eher die Strafe, die er ihr zufügt. Im Inneren der zerstörten Welt leuchtet immer wieder die Farbe Rot auf: Das Herz der Stadt rebelliert. Ein Labyrinth aus Träumen, mal zaghaft verrätselt, mal überbordend und grell, führt uns ›Paris · Rot‹ von den Tiefen unseren Erlebens mitten in die vielschichtige Wirklichkeit und wieder zurück. Niemand wird unverändert zurückkehren.

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ANNA GIEN

ParisRot

Though your sins are as scarlet, they shall be as white as snow: though they be red, like crimson, they should be as wool. If ye be willing and obedient, ye shall eat the good of the land; but if ye refuse and rebel, ye shall be devoured with the sword; for the mouth of the Lord hath spoken it.

Joanna Southcott, The Book of Wonders

Für mich, als ich träumte.

Inhalt

MADELEINE

M. DELROUX I

LE MONDE VIEUX

MADELEINE

CINÉMA L’INFANT

ORAS TRAUM

L’ŒUVRE

EN 452/453

MISE EN PLACE

M. DELROUX II

CITY LIGHTS

AM WOLFGANGSEE

LA ROBE

M. DELROUX III

M. DELROUX IV

CAMILLE

M. DELROUX V

JULIETTE BINOCHE

MADELEINE

LE MEURICE

EVELYN MEYER

TÊTE DE CON

LA CHIENNE PARISENNE

ORAS TRAUM II

M. DELROUX VI

LA REINE ROUGE

MONPÈRE

OPHÉLIE

AUS GUTEM HAUS

REVLOVER

BLESSURES

JULIETTE ET LE LOUP

SHANGRI-LAH

L’INTRUSE

LE SYSTÈME DES CHOSES

FAKE FRENCH

LE TROU

M. DELROUX VII

M. DELROUX VIII

MADELEINE

LES BRUYÈRES

MADELEINE

HOTEL D’AVALON

1. September

Man hat mir gesagt, dass die Welt sterben wird. Ich stehe neben dem Bett und sehe aus dem Fenster. Eben habe auch ich noch dort gelegen, wo sich jetzt sein Körper im Dunkeln bewegt. Ich weiß seinen Namen, aber er bedeutet mir nichts. Er ist lebendig und er atmet. Das reicht mir.

Ich erinnere die blinde Katze, die ich gestern gesehen habe. Erinnere ihren feinen grauen Körper, wie er sich über das Kopfsteinpflaster drückt. Ich erinnere die Nacht und die Laternen über mir. Da waren tausend falsche Sterne über dem Eiffelturm. Die Dunkelheit des Zimmers fällt mir auf die Hände.

Ich glaube, bis genau jetzt, bis zu dieser Sekunde, hatte ich noch Angst. Ich höre das Rumoren auf den Straßen. Schwefelgeruch. Es ist Tag. Die Wolken ziehen so schnell vorbei, sie sind die Wirklichkeit. Ich will nichts erinnern. Ich erinnere nicht, wer ich gestern war. Ich erinnere nur mein Bein, wie es sich um das Balkongeländer schlang, als ich Ausschau nach der Katze hielt, während er drinnen ins Telefon redete. Natürlich war sie nicht da. Wieso sollte mir eine blinde Katze auch kilometerweit durch die Stadt folgen. Der Himmel ist so klar, so wirklich. Er hat sich noch immer nicht bewegt. Keinen Millimeter. Ganz still stehe ich im Dunkeln. Die Sonne scheint in einem schmalen Streifen auf den Boden und auf meine Füße. Vor mir irgendein Gemälde. Es ist weiß, und darauf sind rosafarbene Punkte zu erkennen.

Ich weiß, dass die Welt sterben wird. Ich sehe ihr zu. In der Dunkelheit des Morgens kann ich meine Augen wie Irrlichter glitzern spüren. Genug davon.

Er bewegt seinen Fuß, als ich den Mantel unter dem Laken hervorziehe. Es ist der lange, dunkle Mantel, den ich besitze, seit ich hier bin. Ich drücke ihn an mich. Ich besitze ihn, und er besitzt mich. Ich besitze alles an diesem Zimmer außer meinem Namen. Er, der Lebendige, er nennt mich Madeleine.

Dies ist mein Traum. Mein Wald. Meine Stille. Dies ist die Nacht, in der Paris vor den Fenstern dieses Zimmers unterging.

M. DELROUX I

Ich kann nichts dafür. Einiges spricht dagegen, aber im Grunde glaube ich wirklich, dass ich nichts dafür kann. Wenn nichts Außergewöhnliches geschieht, dann kann man einen solchen Zustand unter den gegebenen Umständen als Notlage beschreiben. Das ist natürlich gleichermaßen Unsinn, denn etwas wirklich Außergewöhnliches geschieht ja nie, es sei denn man macht es zum Ereignis. Ich habe ein Talent für Ereignisse, ich glaube, weil ich verwahrlost bin. Zumindest hat M. Delroux das zu mir gesagt.

Gerade brauche ich nichts dringender als ein Ereignis. Ich weiß, dass ich mich aus Langeweile sogar in einen Tisch verlieben könnte. Und ich würde daran zugrunde gehen. Darin liegt der Ernst dieser Sache, egal wie abstrus mir das mit dem Tisch vielleicht vorkommt. Ich bin, wenn ich darüber nachdenke, sogar sicher, dass ich mich wirklich schon einmal in einen Tisch verliebt habe. Es war in der Schule, einer von diesen Tischen, die so aussehen, wie man sich einen Schultisch wirklich vorstellt. Diese Holztische mit den Fächern darunter. So sehr war ich mit der Dunkelheit dieser Fächer beschäftigt, dass ich gar nicht erst bemerkte, dass diese Sache einen Namen hat. Dass meine Liebe von jemand anderem erfunden worden war. Dass sie den Untergang von allem bereits in sich trug.

»Sie wissen, warum Sie hier sind?«

»Ich bin hier, damit ich niemandem mehr wehtue.«

So habe ich mir immer ein Gespräch mit meinem Therapeuten vorgestellt. Ich glaube, dass das gut für mich wäre, wenn man mich in dieser Sache ernst nimmt. Wenn man verstehen würde, dass ich ja gerne weine. Sich ein Jahr lang nicht neu verliebt zu haben, nur immer zwischen den Dingen, zwischen den U-Bahn-Sitzen Hände von Jungen angesehen zu haben: Das ist eine Notlage. Ich mag diese Jungen nicht. Ihre Haut ist ganz weiß und fest, und ihre Hände liegen so hilflos auf ihren Jogginghosen. Vermutlich gibt es ohnehin nichts Langweiligeres, als über Genauigkeiten der Szene mit M. Delroux nachzudenken. Stattdessen denke ich also darüber nach, wie die Szene nicht geschieht. Ich liebe es, auf diese Art darüber nachzudenken, auch wenn es mich anstrengt. Heute Morgen dachte ich, ich könnte auch einfach aufhören, in ihn verliebt zu sein. Aber in wen würde ich mich dann verlieben? Ich kann kein billiges Deodorant mehr riechen. Statt es zu versuchen, spreche ich also mit ihm. In meinem Zimmer. Ich sehe ihm in die Augen und sage ihm dummes Zeug, Wortfetzen oder Einfälle, ich sage sie, als säßen wir uns nach der Stunde gegenüber.

Er würde rauchen und mich ansehen und dabei eben irgendwas reden. Nicht irgendwas. Wir würden zum Beispiel über Dvořáks Katze reden. Oder über das Wort »unvordenklich«.

Wir sprechen ja normalerweise nach den Stunden nicht. Die Stunde fällt aus, und ich vergesse ihn eine Woche lang, und plötzlich sehe ich eine Katze auf einem Fenstervorsprung sitzen, und dann ist es so, als hätten wir nie aufgehört zu sprechen. Dieses Gespräch, das immer so geht:

Ich komme vom Duschen, ich trockne mich ab und ziehe mich an. Entdecke mich im Spiegel, fahre mit den Fingern über meine Wangen und meine Lippen, streiche mir das Haar hinters Ohr und dann spreche ich etwas aus diesem Gespräch laut aus. Meine Lippen formen es und ich gestikuliere dazu, als hätte ich eine Zigarette in der Hand. Er antwortet bloß mit einer Handbewegung. Vielleicht darf ich gar nicht rauchen. Die Zigarette verschwindet, aber seine Handbewegung bleibt die gleiche. Es ist nicht nur eine einzelne Handbewegung, es ist mehr: die Handbewegung von allem. Er holt aus, und seine Hand berührt alles um mich, nur mich nicht. Das Zimmer erstarrt davon, die Fenster und der Wald hinter ihnen.

Manchmal stehe ich jetzt auf einer Lichtung, über der schreckliche Sterne glitzern. Wir müssen spazieren gegangen sein, und natürlich weiß ich, dass er weiß, dass ich will. Wie könnte er das nicht wissen. Vielleicht weiß er aber auch, dass ich es nicht tatsächlich will. Er ist blass. Er hat einen Bauchnabel und vermutlich merkwürdige Knie. Das sage ich ihm aber nicht, wenn wir zusammen in meinem Zimmer seine Handbewegung vollziehen. Ich sage stattdessen Dinge wie: »Ich weiß, dass das, was ich will, nicht möglich ist. Deshalb will ich nicht, was ich will. Aber würdest du vielleicht mit mir sprechen? Nur sprechen.«

Natürlich wird er das.

Jetzt steht er hinter mir. Er trägt ein Jackett oder einen Gürtel. Ich trage ein Kleid und sitze auf dem Boden. Es ist warm und Zweige drücken in meine Haut. Es ist immer Sommer. Er beugt sich über mich, und seine Wange ist in meinem Nacken, so nah, dass ich sie spüren kann. Seine Hand fährt, fast ohne ihn zu berühren, meinen Rücken hinab und unter mein Kleid. Fährt von hinten unter den Stoff meiner Unterhose. Zwischen meine Beine. Ich bin unendlich nackt. Ich kann seinen Atem spüren. Seinen Blick. Seine Stimme. Sprich mit mir. Sag mir etwas, das nur du sagen kannst. Du mit deinem vermaledeiten Bauchnabel. Nicht die dunkle Anwesenheit, die ich jede Nacht erfinde.

LE MONDE VIEUX

Im September berichtete ein Artikel der Zeitung Le Monde von einer Steintafel, die in der Nacht von Donnerstag, den 28., auf Freitag, den 29. September, auf dem Friedhof Père-Lachaise von einer Gruppe Jugendlicher entdeckt wurde, die aus bisher ungeklärten Gründen gerade im Begriff gewesen waren, ein Kaninchen auf dem Grab Jim Morrisons freizulassen. Die Steintafel ist, so berichtet Le Monde, noch am selben Tag zur Untersuchung in das archäologische Forschungsinstitut der Universität Paris gebracht worden.

Vor dem Fenster waren Äste herabgestürzt und Käfer herumgeflogen. Die Dunkelheit, die draußen herrschte, war erschreckend.

Adrian hörte auf, hinaus in den vom Sturm schwer bewegten Wald zu sehen, und blickte stattdessen auf die moosüberwucherte Steintafel hinab, die in dem grellen weißen Licht vor ihm auf dem Zellstofftuch lag.

Auf der unteren Hälfte konnte man noch Spuren der Flechten erkennen, die sich tief in die Lettern gegraben hatten. Der Laborant streifte die Erdreste von der Pinzette, strich seinen Kittel mit einer geübten Bewegung glatt und beugte sich zum Objektiv des Mikroskops hinab, um die erste Zeile des Schriftzugs zu betrachten, der auf dem verwitterten Stein lesbar geworden war:

LA VIOLATION DU MONDE

(Die Verletzung der Welt)

Adrian spannte sich innerlich zu einer erwartenden Haltung an. Die Tanne direkt vor dem Fenster neigte sich.

Oh dear. Das Fenster ist ja offen. Adrian hob den Kopf.

Hatte er etwa das Fenster geöffnet?

Von draußen blies die Dunkelheit in das Labor. Zweige wehten über den Boden. Ein Käfer schwirrte an Adrian vorbei. Die Lippen des Laboranten waren blutrot.

Adrian blickte aus sicherer Entfernung auf das Mikroskop, das in dem bläulichen Licht jetzt unheilvoll aufschimmerte. Von irgendwo weit weg konnte man es leise quietschen hören. Ja, ja, ja, es quietschte unserem Laboranten nun wirklich schrecklich in den Ohren … OH MY GOD! Adrian schrie laut auf. Er warf den Kittel über das Mikroskop wie über eine Ratte im Zimmer.

Da hob Adrian den Kopf, vorsichtig, und sah in den Wald. Ein bläulicher Umriss fing sich vor dem Dunkel der Bäume im Glas des Fensters. Da war ein Blinzeln in der Spiegelung, aber Adrian erkannte es nicht wieder.

Mit einer Stimme, die jedem, der den Laboranten Adrian kannte, eigenartig betörend erschienen wäre, begann er laut vorzulesen, was auf den Stein geschrieben stand:

ES WAR EINMAL,

VOR LANGER ZEIT,

DA STÜRZTE

EIN SCHWARZER KOMET

ÜBER DEM HIMMEL

VON PARIS

HERAB.

DIE EISERNE UHR IM ERDINNEREN SCHLUG NUN RÜCKWÄRTS.

DIE MENSCHEN AUF DEN STRASSEN FINGEN VON SELBST AN ZU BLUTEN.

ÜBERALL WAR BLUT, ABER NIEMAND KONNTE ETWAS DAFÜR.

DIE MENSCHEN SIND NUN LEBENDIGER, ALS SIE ES VORHER WAREN.

Aus Respekt vor dem französischen Volk und um die öffentliche Ordnung nicht über die Maßen zu gefährden, hat Le Monde sich dazu entschlossen, die Inschrift der Steintafel nicht weiter abzudrucken.

MADELEINE

AUF DER STRASSE

Ich wandere durch diese Zimmer. Ich denke all diese Dinge, aber sie bedeuten nichts. Es ist nur ein Rauschen, ein ewiges Rauschen, ich, meine Gedanken, die Straßen, diese Zimmer. Ich betrete einen Laden in der Rue Allent, probiere einen neuen Mantel an. Ich befühle den Kragen und sehe mir durch die Sonnenbrille hindurch in die Augen. Im Spiegel bin ich nur das, mein Blick, eine weitere Szene, die ich gestohlen habe. Ich verlasse den Laden, ich trete auf die Straße, und die ganze Dunkelheit der Stadt erfasst mich, in meinem alten Mantel, die Windstille lässt mich allein zurück. Ich erinnere einen Kronleuchter, der über allem schwebt, und ich weiß noch, dass ich von einer Hochzeit geträumt habe. Den ganzen Abend habe ich sein Russisch im Ohr, ein ewiges Gespräch am Telefon, ohne Höhen, nur mit immer weiteren Tiefen. Ein großer Tropfen Sauce béarnaise hing auf seiner Uhr. Der goldene Zeiger ging klock klock im Kreis. Er fuhr mir durchs Haar, und ich wollte ihn küssen, aber stattdessen streifte ich den Tropfen mit dem Finger von der Uhr. Er deutete an, mich zu ohrfeigen, und ich versank in seiner Schulter. Er sagt ein russisches Wort, irgendetwas mit einer bauchigen Mitte, und ich denke an Thauma, Thaumatrop, diese Papierkreise, die man zwischen den Fingern dreht und auf denen ein Vogel im Käfig abgebildet ist. Er zerbeißt jetzt sehr laut etwas in seinem Mund, und ich liebe alles an dieser Szene. Mein Verlangen nach diesem alten Mann. Meine absolute Einsamkeit. Er spricht jetzt von der Operation Amsterdam. Ich sehe zu dem Kronleuchter hinauf und versuche, an etwas zu denken, das wirklich ist.

CINÉMA L’INFANT

Ein Mädchen mit Katzenohren erzählt mir diese Geschichte. Im Traum heißt sie:

L’EGOÏSTE

Wenn die Schritte unter der Tür verschwunden sind, wenn nur noch das Licht darunter hindurchfällt und das Schwarz des Zimmers bald identisch mit dem Schwarz unserer Augen ist, dann sehen wir Palais.

Es ist Nacht und Grouillard ist ein Kind.

Ihre Füße sind nass von den Pfützen, und in diesem Augenblick wird ihr Kopf an ein kaltes Stück Metall gepresst. Sie kann durch das Schlüsselloch einer Hintertür sehen. Das Licht, in dem die Szene vor ihren Augen aufflammt, ist schwach, doch sie kann einen Umriss erkennen: Jemand streift einen Mantel ab, nimmt Platz auf einem tiefen, samtenen Sessel, und Grouillard sieht nun ein Stück Haut, das unter einem Kleid hervorblitzt, aber dann verdunkelt etwas ihren Blick, das Zimmer verschwimmt, und sie wird fortgerempelt, auf die Straße, und stürzt in die Pfütze, von wo aus sie weit oben die Sterne über dieser Schweinerei von einem Stadtviertel glitzern sehen kann.

Palais nannte man die Gegend, in der Grouillard aufgewachsen ist. Und die war das Abscheulichste, was diese Stadt je hervorgebracht hat: nichts als eine finstere Linie, auf der die Kinder mit Messern und Gift spielten. Ja, manche Menschen behaupten sogar, sie hätten hier Kinder auf wackeligen morschen Brettern über dem Abgrund der Straße spielen sehen. Und dort unten, über diesem Abgrund quoll ein dichter, leuchtend roter Rauch, aus dem tagein, tagaus die schlimmsten Hässlichkeiten splitternackt hervortraten. Und die Straße selbst, die war das Schlimmste. Ein Strom aus Matsch und flüssigem Abfall. Das war so, weil man hier, so sagen die Menschen, aus den Fenstern in den Mund lebte. Was das heißt? Alles, sagt man, warf man hier einfach zum Fenster hinaus. Hühnerknochen. Blutige Tücher, Erde. Es regnete Dreck. Und dazu muss man sich nun noch eine furchtbare Musik denken, die von überallher kam, von groben Instrumenten, gefertigt aus unergründlichen Resten von toten Dingen. Diese Musik, zeternd, leiernd, röchelnd, klang jede Nacht aus dem Untergrund von allem herauf wie ein entsetzliches Pfeifen aus einem schorfigen Mund. Und inmitten dieser Musik rannten die Menschen nackt und bewaffnet wild durcheinander.

Grouillard war nun lange kein Kind mehr. Sie stand auf der Straße. Die Sonne funkelte einnehmend in ihren Augen. Das Gesicht unserer Heldin war blutverkrustet.

Soeben hatte sie das Haus verlassen, in dem sie aufgewachsen war. Sie sah nach oben, wo Vögel flatternd kreisten, und dann nach unten, wo irgendetwas wuchs. Und dann sah sie geradeaus, wo sich alles vor ihr, das ganze Getümmel von Palais, hin zu einer kleinen Gasse bewegte. Diese Gasse hatte Grouillard zuvor nur ein einziges Mal betreten. Sie erinnerte sich noch an die Pfützen. Dieselben schwarz schlierigen Pfützen, die die Straßen schon seit Jahrzehnten überzogen. Grouillard schloss sich der Menge an und bewegte sich in die kleine Gasse hinein, vorbei an einer hölzernen Tür, die unscharf in dem Mauerwerk vertieft war. Auch sie glaubte Grouillard wiedererzuerkennen. Sie wendete noch ungeschickt den Kopf und sah ihr nach, doch da schoben die Menschen hinter ihr sie schon weiter in die Dunkelheit der Gasse. Die Gasse wurde tiefer und etwas leerer. Grouillard ging weiter, bis sie in eine weitere, noch dunklere Gasse mündete, auf der nun fast keine Menschen mehr waren, dann in noch eine, noch eine weitere, und da stand Grouillard plötzlich mitten auf einer großen Promenade. Die Straße war hell und breit, und einzelne Gestalten steuerten ihr entgegen, eine Zeitung oder einen Mantel über dem Kopf haltend, um sich vor der Sonne zu schützen. Beim Anblick der Menschen schwindelte es Grouillard. Sie hatte diese Straße noch nie gesehen, und die Ereignisse des Morgens pochten noch in ihr nach, vielleicht war es aber auch ihr Herz. Es funkelte ganz rot.

Grouillard hielt ihren Kopf gesenkt und trat in die Sonne. Sie ließ ihr Haar in das Gesicht fallen, damit die Menschen, die in dem grellen Licht über die Promenade eilten, nicht das Blut sehen konnten. Sie stand still und spürte die Wärme der Sonne auf ihrem Haar und ihrer Haut und beäugte das Gebäude, das sich auf der gegenüberliegenden Seite befand. Die Fassade dieses Gebäudes war so dunkel, als sei sie verrußt oder aus dunklem Schiefer gebaut. Wäre man jemand anderer gewesen als Grouillard, dann hätte man dieses Gebäude vielleicht übersehen. Für einen Ort wie diesen würde man sich ja einen ganz anderen Eingang vorstellen. Eine geheime Tür, eine goldene Klingel. Vielleicht ein Pferd. Doch dieses Gebäude hätte man ganz einfach für etwas Nichtiges, Unfertiges, nicht wirklich zum Leben Dazugehöriges halten können. Wie Baustellen oder Müllablagen mitten in der Stadt doch auch etwas Nichtiges, nicht wirklich zum Leben Dazugehöriges an sich haben. Nur an sehr heißen Sommertagen wie jenem, an dem die Menschen vor der Trockenheit der Stadt geflohen waren, bewegte sich nicht das Unwetter aus Jacken und Hüten und Schirmen vor dem Gebäude auf und ab, das für gewöhnlich die Promenade bevölkerte. So wäre ein vorbeistreifender Blick vielleicht zwischen den vereinzelten Füßen hindurch auf das vorsichtige rote Blinken gefallen, das sich aus dem kleinen Loch, das aus den falschen Barrikaden klaffte, auf die Straße warf.

Grouillard starrte auf das Licht. Es erinnerte sie an etwas. Sie versuchte, zu verstehen, was es war – es fühlte sich ganz eindeutig an, doch die Bewegung war wirr, und vielleicht war es auch nur die Erinnerung an eine wirre Form wie die der Vögel, dachte Grouillard, die sich in kleinen Schwärmen über die Dächer von Palais warfen. Vielleicht war es aber auch bloß eine neue, sogar für uns nun fühlbare Unruhe in ihr selbst, an die sie sich erinnerte. Das Licht, es zeichnete sich linienartig auf den Boden, eine konfuse Signatur, und Grouillard versuchte, sich nicht zu erinnern, an nichts zu erinnern. Sie wollte nicht daran denken, was an diesem Morgen geschehen war, nicht an dieses Haus, das sie verlassen hatte, diesen – so dachte Grouillard es jetzt, innerlich fluchend – Sumpf ihrer Verwahrlosung mit diesen beiden emotionslosen Schränken, die ihre Eltern waren und die Grouillard, so dachte sie weiter in diesem Moment, in dem sie den Schatten des Gebäudes auf sich spürte, nichts gegeben hatten. Nichts, außer vielleicht ihren Namen. »Grouillard« – ein Name, der absolut nichts bedeutete, zumindest nichts Besonderes. So schön dieser Name auch klang, so wenig hatten ihre Eltern sich dabei gedacht. Sie hatten überhaupt nie an sie gedacht, diese beiden Grobiane mit ihren dreckigen Fingernägeln. Es gab keine Großeltern, die den Namen getragen hatten, und keinen dazugehörigen Song. Nicht mal ein billiges Hotel, in dem die beiden sich einmal romantisch ineinandergerauft hätten, stand Pate für den Namen, nein, es gab nichts dergleichen. Nichts als die elende Wirklichkeit der Welt, die ihr Zuhause war. So dachte es Grouillard und betrachtete die herausgebrochene Öffnung, aus der das Licht fiel, die noch dunkler war als der Rest der Fassade. Ihr Rand war schwarz, als wäre er verkohlt. Hätte Grouillard lesen können, dann hätte sie den Schriftzug verstanden, der etwas über dem schwarzen Rand auf das Holz geschrieben stand. Aber Grouillard konnte nicht lesen. Sie sah nur etwas, das sie als Zeichen erkannte, wie von Kinderhand geschrieben:

ROUGE

Grouillard wollte die Zeichen noch etwas länger ansehen, doch sie spürte die Nähe eines Menschen neben sich. Es musste ein Mann sein, das erkannte Grouillard aus dem Augenwinkel an dem Saum eines dunklen, teuer aussehenden Mantels. Grouillard spürte, wie die Wut, die sie soeben schon gefühlt hatte, stärker in ihr wurde. Sie brauchte nicht hinzusehen, um seine Erscheinung zu begreifen. Die fühlbare Größe dieses Körpers. Das Gewicht seiner Kleidung. Sie würde den Kopf nicht heben, niemals. Sie hasste diesen Menschen, der da neben sie getreten war und sie ihre eigene Gestalt spüren ließ, wie sie dort kniete in ihrem zerrissenen Kleid, das Blut auf ihrer Stirn. Grouillard wartete, dass etwas geschah, doch der Mann bewegte sich nicht, und so blieb sie ganz still und fuhr konzentriert mit den Augen die Zeichen ab. Der Schatten des Gebäudes lag ruhig auf den beiden, Grouillard und dem Mann, und das kostbar eilige Treiben auf der Promenade ereignete sich so vage und klar zugleich, als geschähe es ganz ohne Zusammenhang zu den Gesetzen, die das Leben Grouillards bestimmten. Plötzlich bewegte der Mann seinen Fuß, vielleicht nur zwei wie von einem präzisen Getriebe betätigte Milimeter. Grouillard blinzelte vor Wut, als sich plötzlich ein Gedanke in ihr losbrach: »Nein«, dachte Grouillard. »Dies ist ein neuer Tag«, und wie von diesem Gedanken verändert, wandte sie den Kopf und lächelte nach oben.

Die Gesichtszüge des Mannes zerfuhren zu einem sich mit jeder Sekunde mehr ausweitenden Entsetzen – man muss sich ja vorstellen, wie Grouillard aussah, so von Blut überzogen und vor Dreck starrend. Doch Grouillard lächelte unverändert in das Entsetzen seines faltigen Gesichts hinein, und da, so plötzlich, als hätte man einen Tropfen Quecksilber in eine erkaltete Galaxie fallen lassen, löste sich etwas. Der Mann sah Grouillard nun anders an als eben noch. Er betrachtete langsam, seine von der Sonne gerötete Stirn im Schatten seines Hutes bewegend, Grouillards Gesicht. Nun streckte der Mann die Hand nach Grouillard aus. Sie biss sich auf die Zunge, sie fühlte eine grässliche Wut in sich aufsteigen, während die Finger des Mannes jetzt ihre Haarspitzen berührten, und da merkte Grouillard, wie etwas Großes hinter ihr nachgab, eine gewaltige Kraft schleuderte ihre Arme und Beine gleichzeitig nach vorne, und ihr Körper wurde in eine bodenlose Dunkelheit gerissen. Grouillard hatte noch die Schuhe des Mannes sehen können, schwere, schwarz polierte Lackschuhe, doch das Bild war jetzt verloren, stattdessen war da nur Dunkelheit, und dann waren da Stimmen und wieder Dunkel und hinter dem Dunkel noch mehr Dunkel und Gesichter, die sie nicht verstand, drängten sich an ihr vorbei, hinein in das Dunkel, das sie nicht wieder ausspie, nein, ein Ausgang war nirgends zu sehen, aber ohnehin hatte Grouillard keine rechte Zeit, diesem Gedanken weiter nachzugehen, denn jede ihrer Bewegungen fühlte sich bald wie etwas an, das man im Traum tat, etwas, dessen Sinn und Zweck und Funktionsweise zwar ahnbar, fühlbar war, aber eben nicht augenblicklich für die Träumende einsichtig, und dann war Grouillard da.

Wir befinden uns nun in einem großen Saal voller Menschen, die dicht gedrängt mit dem Rücken zu ihr standen und auf irgendetwas blickten, das sich auf der von hier aus kaum erkennbaren Bühne am Ende des Raums ereignen musste. Grouillard sah zu den Seiten auf und erahnte Galerien, Galerien über Galerien, die sich hochzogen, bis hinauf in ein unübersichtliches rot vernebeltes Oben. In der Dunkelheit um sich herum konnte sie keine Gesichter erkennen, nur Rücken und Mäntel und Hände, in einem fahlen Licht, das von irgendwo dort oben kommen musste. Und dazwischen schaukelte ebenfalls sehr weit oben ein winzig kleiner goldener Kronleuchter hin und her. Die Körper um Grouillard bewegten sich unruhig, und sie spürte noch, wie sich eine Hand von ihrer Schulter löste, doch Grouillard bemerkte es kaum mehr, denn sie war gemeinsam mit den anderen schon ganz im Sehen verschwunden.

Es war eine Art schwarzes Wabern, das sich dort vorne auf der Bühne hin- und herbewegte. Es verzerrte sich, jetzt noch mehr, wurde dabei zunehmend grenzenlos. Es schrumpfte, nun wuchs es wieder, und erst, als es bereits die Bühne eingenommen hatte, erkannte Grouillard, dass das, worauf sie da blickte, zwei riesengroße finstere Brüste beinhaltete. Der Körper knallte laut auf, und Grouillard blickte wie versteinert auf diese Brüste, über die wir kurz sprechen müssen, denn dies waren Brüste, ganz und gar nicht so, wie man sie sich vielleicht vorstellt. Nein, dies waren Brüste ganz so wie der Schwindel, der einen unter dem offenen Sternenhimmel erfasst. Brüste wie Nebel und Dunkel und Schreien. Brüste wie eine Geisterbahn! Sie, nein, viel mehr das alles, das da oben von einem winzigen Paillettenkostüm eingefasst wurde, von dem der anschwellende und noch immer laut knallende Körper nur wie von einem kleinen Serviettenring in der Mitte zusammengehalten wurde, Augen und Mund dazwischen wie kleine nasse Löcher, nur vom Glanz des Scheinwerferlichts am Leben gehalten, breitete sich jetzt zu ihrer vollen Größe aus, wirbelte in alle Richtungen über die Decke des Saals, beugte sich hinab, gab Grouillard einen Kuss, und da wurde es schon schwarz um sie.

Wir wollen das Rätsel auflösen. Es war Rossignol, die Grouillard dort gesehen hat. Rossignol, die Königin der Nacht