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Dick Francis

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Beschreibung

Wenn ein Jockey seine Lizenz verliert, ist er erledigt. Um so mehr, wenn ihm Betrug im Rennen vorgeworfen wird. Kelly Hughes läßt sich nicht einfach vom Turf verjagen. Er weiß, daß er reingelegt worden ist, und versucht auf eigene Faust herauszufinden, warum. Seine Untersuchung fördert eine Intrige zutage, die die konservative britische Rennwelt in ihren Grundfesten erschüttern würde ...

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Dick Francis

Peitsche

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Diogenes

{5}Teil I Februar

1

Gestern habe ich meine Lizenz verloren.

Seine Lizenz zu verlieren und von Newmarket Heath verwiesen zu werden ist für einen professionellen Steeplechase-Jockey genauso wie für einen Arzt der Rausschmiß aus der Ärztekammer, nur schlimmer.

Rennverbot und Rennbahnverbot. Außerdem Rennstallverbot, was mich vor ein ziemliches Problem stellt, da ich in einem Rennstall wohne.

Kein Einkommen und vielleicht auch keine Wohnung mehr.

Die vergangene Nacht war richtig mies, und ich würde die gräßlichen schlaflosen Stunden am liebsten vergessen. Entsetzen und Verwirrung, das Gefühl, daß es einfach nicht wahr sein konnte, daß alles ein Irrtum war – das hielt bis nach Mitternacht an. Aber das Stadium der Ungläubigkeit bot wenigstens einen gewissen Trost. Der Schock der vollen Erkenntnis bot überhaupt keinen mehr. Mein Leben glich den verstreuten Scherben einer kaputten Teetasse, und ich war total aus dem Leim.

Heute morgen nach dem Aufstehen habe ich mir Kaffee aufgebrüht und vom Fenster aus den Stallburschen zugesehen, wie sie sich im Hof zu schaffen machten, dann aufsaßen und auf der Straße zu den Downs davontrabten, und dabei spürte ich zum erstenmal so richtig, was es heißt, ein Ausgestoßener zu sein.

Fred bellte nicht wie sonst zu meinem Fenster hoch: »Willst du den ganzen Tag in deiner Bude rumhängen?«

{6}Diesmal ja.

Keiner von den Stallburschen blickte auf – sie hielten mehr oder weniger angelegentlich den Blick gesenkt. Und sie waren still. Totenstill. Ich sah zu, wie Bouncing Bertie seine knapp vierundsechzig Kilo auf den Wallach hievte, den ich in letzter Zeit ritt, und die Art, wie er seinen dicken Hintern in den Sattel pflanzte, hatte fast etwas Abbittendes.

Und auch er hielt den Blick gesenkt.

Bis morgen würden sie sich wohl wieder einkriegen. Morgen würden sie neugierig sein und Fragen stellen. Mir war klar, daß sie mich nicht verachteten. Sie empfanden Mitleid. Wahrscheinlich zuviel Mitleid, um sich wohl zu fühlen. Und sie waren verlegen: das auch. Und vermieden es aus instinktivem Feingefühl, der totalen Katastrophe allzu rasch ins Gesicht zu sehen.

Als sie fort waren, trank ich langsam meinen Kaffee und überlegte, was ich als nächstes tun sollte. Ein scheußliches, absolut scheußliches Gefühl von Leere und Verlust.

Die Zeitungen waren wie üblich durch meinen Briefschlitz gesteckt worden. Was wohl der Zeitungsjunge, der ja schließlich wußte, was er da ablieferte, gedacht hatte? Ich zuckte die Achseln. Konnte genausogut lesen, was sie geschrieben hatten, die verdammten Pressehengste, zum Teufel mit ihnen.

Von Sporting Life bekamen wir aus Nachrichtenknappheit die Schlagzeilen und die volle Behandlung.

»Cranfield und Hughes disqualifiziert.«

Oben auf der Seite war ein Bild von Cranfield, und in der Mitte eins von mir, breit lächelnd, eine Aufnahme von dem Tag, an dem ich den Hennessey Gold Cup gewonnen hatte. Irgendein kleiner Redakteur hatte seiner Ironie freien Lauf gelassen, dachte ich vergrätzt, und das fröhlichste Bild gedruckt, das er im Archiv hatte ausbuddeln können.

Die dicht bedruckten Zentimeter nördlich und südlich von meinem glücklichen Gesicht waren ungeminderte Düsterkeit.

{7}›Die Stewards haben gesagt, daß meine Erklärung sie nicht zufriedenstellt‹, meinte Cranfield. ›Sie haben mir meine Lizenz entzogen. Ich habe keinen weiteren Kommentar abzugeben.‹

Hughes, so der Artikel, habe fast genau das gleiche gesagt. In Wirklichkeit hatte Hughes, wenn ich mich recht erinnerte, gar nichts gesagt. Hughes war viel zu fassungslos gewesen, um ein Wort geordnet hinter das andere setzen zu können, und wenn er überhaupt etwas gesagt hätte, wäre es nicht druckreif gewesen.

Ich las nicht den ganzen Artikel. Ich hatte das alles schon über die anderen gelesen. Anstelle von ›Cranfield und Hughes‹ konnte man jeden anderen Jockey und Trainer einsetzen, der schon einmal gesperrt worden war. Die Zeitungsberichte darüber waren jedesmal gleich: von keinerlei Faktenkenntnis getrübt. Da es sich bei der Überprüfung eines Rennens um ein Privatverfahren handelte, war die Entscheidungsinstanz nicht verpflichtet, die Öffentlichkeit oder die Presse zum Verfahren zuzulassen, und da sie nicht dazu verpflichtet war, tat sie es auch niemals. Wie so mancher andere zur Nabelschau neigende Betrieb schien sie vielmehr ständig darum bemüht zu verhindern, daß allzu viele Leute dahinterkamen, was wirklich vor sich ging.

Der Daily Witness stocherte genauso im Nebel herum, außer daß Daddy Leeman an seinen üblichen Wallungen von hochtrabender Prosa litt. Er schrieb:

Kelly Hughes, bislang aussichtsreicher Mitbewerber um die diesjährige Krone der Hindernisjockeys und im vergangenen Jahr Fünfter der Rangliste, wurde gestern zu Lizenzentzug auf unbegrenzte Zeit verurteilt. Der dreißigjährige Hughes verließ die Verhandlung zehn Minuten nach Cranfield. Mit blassem, grimmigem Gesicht bestätigte er den Verlust seiner Lizenz und fügte hinzu: ›Ich habe keinen weiteren Kommentar abzugeben.‹

{8}Sie hatten ganz schön scharfe Ohren, diese Pressefritzen.

Ich legte seufzend die Zeitung hin und ging ins Schlafzimmer, um meinen Bademantel gegen eine Hose und einen Pullover zu vertauschen. Danach machte ich mein Bett, und danach setzte ich mich drauf und starrte ins Leere. Ich hatte sonst nichts zu tun. Ich hatte nichts zu tun, soweit das Auge reichte. Leider konnte ich auch an nichts anderes als die Untersuchung denken.

Grob gesagt hatte ich meine Lizenz verloren, weil ich ein Rennen verloren hatte. Ich hatte in der letzten Januarwoche im Lemonfizz Crystal Cup in Oxford einen heißen Favoriten auf den zweiten Platz geritten, und gewonnen hatte ein Außenseiter, den niemand auf der Rechnung hatte. Reines Pech, nur war es leider so, daß beide Pferde von Dexter Cranfield trainiert wurden.

Der Zieleinlauf war von der Tribüne mit empörtem Geschrei bedacht worden, und man hatte mich den ganzen Weg bis zum Absattelring ausgebuht. Dexter Cranfield hatte angesichts der Tatsache, daß er in einem der größten gesponserten Jagdrennen der Saison den ersten und zweiten Platz belegte, eher besorgt als erfreut dreingeschaut, und die Rennleitung hatte uns beide aufgefordert, eine Erklärung abzugeben. Man sei, hatten sie dann verkündet, mit unseren Erklärungen nicht zufrieden. Man werde die Sache an den Disziplinarausschuß des Jockey Club weiterleiten.

Der Disziplinarausschuß hatte vierzehn Tage später ebenso starke Zweifel daran, daß der kuriose Ausgang des Rennens Zufall gewesen war. Absichtlicher Betrug am Wettpublikum, hieß es. Skandalös, unehrlich, empörend, hieß es. Der Pferderennsport müsse auf seinen guten Ruf bedacht sein. Wir beide seien nicht zum erstenmal unter Verdacht geraten. Um andere abzuschrecken, müßten strenge Strafen verhängt werden.

Weg, hieß es. Gesperrt. Auf euch können wir verzichten.

In Amerika wäre das nicht passiert, dachte ich deprimiert. Dort deckte eine Wette auf einen Starter zugleich sämtliche {9}Starter desselben Stalles oder auch desselben Besitzers ab. Wenn also der Stall-Außenseiter statt des Stall-Favoriten gewann, kamen die Wetter trotzdem an ihr Geld. Höchste Zeit, daß diese Regelung auch auf dieser Seite des Atlantiks eingeführt wurde. Nein, falsch: nicht höchste Zeit, sondern längst überfällig.

In Wahrheit war Squelch, mein heißer Favorit, auf der Zielgeraden regelrecht unter mir verhungert, und daß ich noch den zweiten und nicht den fünften oder sechsten Platz belegt hatte, war das reinste Wunder. Und wenn nicht so viele Leute auf ihn gesetzt hätten, hätte ich ihn niemals so rangenommen, wie ich es getan hatte. Daß mich dann ausgerechnet Cranfields anderer Starter Cherry Pie drei Meter vor dem Ziel überholte, war einfach wahnsinniges Pech.

Bewaffnet mit Unschuld und in der begründeten Annahme, daß zwar die Stewards in Oxford sich von der feindseligen Reaktion des Publikums hatten beeinflussen lassen, der Disziplinarausschuß dagegen die Angelegenheit in einer Atmosphäre kühler Vernunft behandeln würde, war ich ohne die geringsten Befürchtungen zu der Verhandlung gegangen.

Die Atmosphäre war denn auch kühl. Geradezu eisig. Daß sie selbst mit Vernunft gesegnet waren, betrachteten die Stewards als ausgemacht. Mir und Cranfield dagegen schienen sie überhaupt keine zuzubilligen.

Der erste leise Hinweis darauf, daß uns der Himmel auf den Kopf fallen würde, ergab sich, als sie eine Liste von neun früheren Rennen verlasen, in denen ich für Cranfield einen geschlagenen Favoriten geritten hatte. In sechs dieser Rennen hatte ein anderer von Cranfields Startern gewonnen. In den anderen drei hatte Cranfield ebenfalls noch andere Starter gehabt.

»Das heißt«, sagte Lord Gowery, »es handelt sich keineswegs um den ersten derartigen Fall. Es ist immer wieder vorgekommen. Früher sind diese Ergebnisse anscheinend nicht aufgefallen, aber diesmal haben Sie den Bogen eindeutig überspannt.«

{10}Ich muß ziemlich dumm ausgesehen haben, als mir vor Verblüffung der Mund aufklappte, und das Problem war, daß sie offenbar glaubten, ich wäre verblüfft darüber, wieviel sie zum Beweis meiner Schuld ausgegraben hatten.

»Aber das ist teils schon Jahre her«, protestierte ich. »Sechs bis sieben, in einigen Fällen.«

»Was ändert das?« fragte Lord Gowery. »Es ist nun mal passiert.«

»So etwas passiert jedem Trainer von Zeit zu Zeit«, sagte Cranfield hitzig. »Das müssen Sie doch wissen.«

Lord Gowery bedachte ihn mit einem emotionslosen Blick. Dieser Blick rief irgendeine atavistische Reaktion in meinen Drüsen hervor, und ich spürte, wie es mir kalt den Rücken hinunterlief. Er glaubt es allen Ernstes, dachte ich aufgeregt, er glaubt allen Ernstes, daß wir schuldig sind. Erst in diesem Moment ging mir auf, daß wir uns zur Wehr setzen mußten, und da war es schon viel zu spät.

»Wir hätten uns doch einen Anwalt nehmen sollen«, sagte ich zu Cranfield, und sein zustimmender Blick hatte etwas beinahe Verschrecktes.

Kurz vor dem Lemonfizz hatte der Jockey Club endlich dem zwanzigsten Jahrhundert Rechnung getragen und sich entgegen einer uralten autokratischen Tradition damit einverstanden erklärt, daß Leute, die Gefahr liefen, ihren Lebensunterhalt zu verlieren, sich im Verfahren juristisch vertreten lassen konnten. Diese Konzession war so neu, daß es noch keine bewährte Praxis gab, nach der man sich hätte richten können. Ein, zwei Leute waren mit Hilfe eines Anwalts freigesprochen worden, aber sie hätten es vermutlich auch so geschafft; und wenn ein Beschuldigter einen Anwalt zu seiner Verteidigung engagierte, mußte er das Honorar in jedem Fall selbst bezahlen. Der Jockey Club erstattete keinem Beschuldigten die Kosten, ob der Betreffende nun seine Unschuld beweisen konnte oder nicht.

{11}Zunächst war Cranfield mit mir einig gewesen, daß wir uns einen Anwalt suchen sollten, obwohl uns beide die Ausgabe ärgerte. Dann hatte Cranfield auf einer Party zufällig den neugewählten Steward für Disziplinarangelegenheiten, einen Freund von ihm, getroffen und mir hinterher berichtet: »Wir brauchen uns nicht für einen Anwalt in Unkosten zu stürzen. Monty Midgeley hat mir im Vertrauen gesagt, daß der Disziplinarausschuß findet, die Stewards in Oxford seien nicht ganz bei Trost gewesen, uns zu melden; er wüßte, daß so etwas wie das Ergebnis des Lemonfizz nun mal vorkommt, und wir sollten uns keine Sorgen machen, die Verhandlung ist eine reine Formalität. Zehn Minuten oder so, und wir haben es überstanden.«

Diese Versicherung hatte uns beiden ausgereicht. Wir hatten auch dann noch keinen Grund zur Beunruhigung gesehen, als sich Colonel Sir Montague Midgeley drei, vier Tage später mit Gelbsucht ins Bett gelegt hatte und bekanntgegeben worden war, daß Lord Gowery, ein Mitglied des Ausschusses, ihn in den nächsten Wochen in etwaigen Verfahren vertreten würde.

Monty Midgeleys Leber war für einiges verantwortlich. Was immer er beabsichtigt hatte, mittlerweile war erschreckend deutlich geworden, daß Gowery nicht damit einverstanden war.

 

Die Verhandlung fand in einem großen, üppig möblierten Raum in der Zentrale des Jockey Club am Portman Square statt. Vier Stewards, jeder mit einem Stapel Papieren vor sich, saßen in bequemen Lehnstühlen hinter einem Tisch mit polierter Platte, und an einem kleineren Tisch rechts von ihnen war ein Stenograph postiert. Als Cranfield und ich den Raum betraten, hantierte der Stenograph gerade mit einem Tonbandgerät herum, das auf seinem Tisch stand, wickelte ein Kabel davon ab und führte es über den Boden zu den Stewards. Er stellte vor Lord Gowery ein Mikrophon samt Ständer auf, schaltete es ein, blies ein paarmal dagegen, ging zu seinem Gerät zurück, betätigte ein {12}paar Schalter und verkündete, daß alles ordnungsgemäß funktionierte.

Hinter den Stewards, und durch ein paar Meter plüschigen, dunkelroten Teppich von ihnen getrennt, waren noch einige Lehnstühle aufgestellt. Hier saßen die drei Stewards, die wir in Oxford nicht hatten überzeugen können, der Geschäftsführer der dortigen Rennbahn, der Handicapper, der im Lemonfizz die Aufgewichte zugemessen hatte, und zwei Stipendiary Stewards, hauptamtliche Angestellte des Jockey Clubs, die bei Rennveranstaltungen als eine eigenartige Mischung aus Botenjungen für die Stewards und Privatpolizei des Gewerbes fungierten. Falls sie glaubten, daß ein Regelverstoß vorlag, war es ihre Aufgabe, ihn den Stewards der jeweiligen Veranstaltung zu melden und eine Untersuchung zu empfehlen.

Wie in jedem anderen Beruf auch gab es bei den Stipendiaries vernünftige und unvernünftige Leute. Der Stipendiary, der am Lemonfizz-Tag in Oxford amtiert hatte, war bekanntermaßen der allerschwierigste.

Für Cranfield und mich waren Plätze vor dem Tisch der Stewards, aber ein Stück weit davon entfernt, vorgesehen. Auch wir bekamen die gleichen luxuriösen Lehnstühle. Alles sehr zivilisiert. Nirgendwo war ein Kriegsbeil zu sehen. Wir setzten uns, und Cranfield schlug mit zuversichtlichem, entspanntem Gesicht lässig die Beine übereinander.

Wir waren alles andere als Busenfreunde, Cranfield und ich. Sein Vater, ein ehemaliger Seifenfabrikant, dem der heißersehnte Adelstitel irgendwie versagt geblieben war, obwohl er wie ein Wilder für schlichtweg alles gespendet hatte, was gerade im Schwange war, hatte ihm ein Vermögen vererbt, und die Verbindung von Reichtum und enttäuschten gesellschaftlichen Ambitionen hatte Cranfield den Jüngeren zu einem fürchterlichen Snob gemacht. Für ihn gehörte ich, weil er mich bezahlte, zum Personal; und mit Personal umgehen konnte er nicht.

{13}Er war allerdings ein ziemlich guter Trainer. Noch besser war, daß er reiche Freunde hatte, die sich gute Pferde leisten konnten. Ich ritt schon fast acht Jahre praktisch regelmäßig für ihn, und obwohl mich seine snobistischen Unarten zunächst geärgert hatten, war ich mittlerweile erwachsen genug, mich darüber zu amüsieren. Wir verkehrten auch nach so langer Zeit ausschließlich beruflich miteinander. Von Freundschaft keine Spur. Ihn hätte die bloße Vorstellung empört, und ich mochte ihn nicht genug, um es schade zu finden.

Er war zwanzig Jahre älter als ich, ein ziemlich hochgewachsener, magerer angelsächsischer Typ mit schütterem, dünnem, mausgrauem Haar, graublauen Augen mit hellen Wimpern, einer gutentwickelten, geraden Nase und aufdringlich perfekten Zähnen. Sein Knochenbau war für die gesellschaftlichen Kreise, in die er aufzusteigen versuchte, durchaus akzeptabel, aber die Furchen, die ihm seine Lebensperspektive in die Haut gegraben hatte, waren eine Warnung für jeden, der nach Toleranz oder Großzügigkeit Ausschau hielt. Cranfield war aus Gewohnheit kleinlich, und freigebig nur gegenüber denen, die ihm nach oben helfen konnten. Sein Umgang mit Menschen, die in seinen Augen einer niedrigeren Schicht angehörten, rief regelmäßig heftige Abneigung und Groll hervor. Er war charmant zu seinen Freunden und in der Öffentlichkeit höflich zu seiner Frau, und seine drei halbwüchsigen Kinder spiegelten seinen Superioritätskomplex auf beinahe mitleiderregende Weise wider.

Einige Tage vor der Verhandlung hatte Cranfield beiläufig zu mir gesagt, die Oxford Stewards seien allesamt prima Kerle und zwei hätten sich sogar persönlich bei ihm dafür entschuldigt, daß sie den Fall an den Disziplinarausschuß hatten weiterleiten müssen. Ich nickte nur schweigend. Cranfield mußte genausogut wie ich gewußt haben, daß alle drei Oxford Stewards ausschließlich aus gesellschaftlichen Gründen gewählt worden waren; daß einer von ihnen keine Ergebnistafel lesen konnte, und {14}wenn er fünf Schritte davor stand; daß der zweite das Lot Rennpferde seines verstorbenen Onkels, nicht aber dessen Sachverstand geerbt hatte; und daß man den dritten einmal während eines Rennens seinen Trainer hatte fragen hören, welches denn sein Pferd sei. Kein einziger von ihnen konnte ein Rennen auch nur annähernd auf dem Niveau eines Rennbahnkommentators beurteilen. Prima Kerle mochten sie durchaus sein, aber als Richter eine Horrorvorstellung.

»Wir werden jetzt den Film von dem Rennen vorführen«, sagte Lord Gowery.

Sie projizierten ihn von der Rückwand des Raums aus auf eine Leinwand hinter Cranfield und mir. Wir drehten unsere Stühle um, um ihn uns anzusehen. Der Stipendiary Stewart aus Oxford, ein aufgeblasenes Großmaul, stand neben der Leinwand und zeigte mit einem langen Stock auf Squelch.

»Das ist das fragliche Pferd«, sagte er, während die Pferde sich zum Start aufstellten. Ich überlegte nachsichtig, daß sich die Stewards, wenn sie ihr Geschäft verstanden, den Film wohl schon mehrmals angesehen hatten und wußten, welches Pferd Squelch war, ohne daß man sie darauf hinweisen mußte.

Der Stipendiary zeigte praktisch den ganzen Film über auf Squelch. Das Rennen war nicht weiter bemerkenswert und wurde nach wohlerprobtem Muster gelaufen: sich beim Start zurückhalten, jemand anders die Pace machen lassen; sich auf den vierten Platz vorschieben und für zwei Meilen oder länger dort bleiben; sich kurz vor dem vorletzten Hindernis zügig an die Spitze setzen und dann volles Tempo gehen. Wenn dem Pferd ein solches Rennen lag und es gut genug war, gewann es.

Squelch haßte es, anders geritten zu werden. An einem guten Tag war Squelch auch gut genug. Es war nur leider nicht sein Tag gewesen.

Der Film zeigte, wie Squelch kurz vor dem vorletzten {15}Hindernis die Führung übernahm. Er schlingerte bei der Landung ein bißchen, ein sicheres Zeichen von Ermüdung. Ich hatte ihn aufnehmen und auf das letzte Hindernis zutreiben müssen, und das war in dem Film deutlich zu sehen. Zwischen dem letzten Hindernis und dem Zielpfosten hatte er sich unter mir abgequält und wäre in Trab verfallen, wenn ich nicht so rücksichtslos gewesen wäre. Cherry Pie kam im Finish überraschend schnell heran und zog an ihm vorbei, als hätte er stillgestanden.

Die Leinwand verdunkelte sich abrupt, und irgendwer machte das Licht wieder an. Ich dachte, daß der Film schlüssig und die Sache damit ausgestanden war.

»Sie haben die Peitsche nicht benutzt«, sagte Lord Gowery vorwurfsvoll.

»Ganz recht, Sir«, bestätigte ich. »Squelch scheut vor der Peitsche. Er muß mit den Händen geritten werden.«

»Sie haben sich nicht bemüht, ihn voll auszureiten.«

»Doch, das habe ich, Sir. Er war zu Tode erschöpft, das ist im Film deutlich zu sehen.«

»Ich kann in dem Film lediglich sehen, daß Sie sich überhaupt nicht bemüht haben zu gewinnen. Sie haben einfach nur dagesessen, ohne die Arme zu bewegen, und sich überhaupt nicht bemüht.«

Ich starrte ihn an. »Squelch ist nicht leicht zu reiten, Sir. Er gibt immer sein Bestes, aber nur, wenn er sich nicht aufregt. Er muß ruhig geritten werden. Er bleibt stehen, wenn er geschlagen wird. Er reagiert nur auf Schenkeldruck, auf kleine Zügelhilfen und auf die Stimme seines Jockeys.«

»Genauso ist es«, sagte Cranfield zahm. »Ich gebe Hughes stets Anweisung, das Pferd nicht hart anzufassen.«

Als hätte er kein Wort gehört, sagte Lord Gowery: »Hughes hat nicht zur Peitsche gegriffen.«

Er sah die beiden Stewards, die ihn flankierten, fragend an, wie um ihre Meinung einzuholen. Der zu seiner Linken, ein {16}jüngerer Mann, der als Amateur geritten war, nickte unverbindlich. Der andere schlief.

Ich hatte den Verdacht, daß Gowery ihn unterm Tisch anstieß. Er erwachte mit einem Ruck, sagte: »Wie? Ja, ganz eindeutig« und beäugte mich argwöhnisch.

Es ist eine Farce, dachte ich ungläubig. Das Ganze ist eine verdammte Farce.

Gowery nickte zufrieden. »Hughes hat nicht zur Peitsche gegriffen.«

Der dicke, großmäulige Stipendiary troff förmlich vor Selbstgefälligkeit. »Ich bin sicher, Sie werden den nächsten Film aufschlußreich finden, Sir.«

»Gewiß«, pflichtete Gowery bei. »Zeigen Sie ihn jetzt bitte.«

»Was ist das für ein Film?« erkundigte sich Cranfield.

»Der Film zeigt, wie Squelch am 3. Januar in Reading gewinnt«, sagte Gowery.

Cranfield überlegte. »An dem Tag war ich nicht in Reading.«

»Richtig«, bestätigte Gowery. »Nach unseren Informationen sind Sie statt dessen zum Meeting nach Worcester gefahren.« So wie er es sagte, hörte es sich verdächtig anstatt völlig normal an. Cranfield hatte in Worcester einen heißen jungen Hurdler am Start gehabt und sehen wollen, wie er sich machte. Squelch, der anerkannte Star, brauchte keine Beaufsichtigung.

Wieder ging das Licht aus. Der Stipendiary zeigte mit seinem Stock auf Kelly Hughes, wie er in Squelchs auffälligen Farben – schwarze und weiße Winkel und eine schwarze Mütze – ein Rennen ritt. Ein ganz anderes Rennen als der Lemonfizz Crystal Cup. Ich hatte mich frühzeitig an die Spitze gesetzt, um die Hindernisse deutlich zu sehen, mich auf halber Strecke zum Verschnaufen so etwa auf den dritten Platz zurückfallen lassen und erst nach dem letzten Hindernis wieder die Führung übernommen, wobei ich die Peitsche energisch an der Schulter des Pferdes vorbeischwang und ihn kräftig mit den Armen antrieb.

{17}Der Film war zu Ende, das Licht ging wieder an, und es herrschte ein lastendes, anklagendes Schweigen. Stirnrunzelnd wandte sich Cranfield mir zu.

»Sie werden ja wohl zugeben«, sagte Gowery sarkastisch, »daß Sie hier Ihre Peitsche benutzt haben, Hughes.«

»Jawohl, Sir. Welches Rennen, sagten Sie, war das?«

»Das letzte Rennen in Reading«, antwortete er gereizt. »Tun Sie doch nicht so, als wüßten Sie das nicht.«

»Ich bin mit Ihnen darin einig, daß der Film, den wir gerade gesehen haben, das letzte Rennen in Reading zeigt, Sir. Aber Squelch ist nicht im letzten Rennen in Reading gestartet. Das Pferd in dem Film war Wanderlust. Es gehört Mr. Kessel, genau wie Squelch, deshalb sind die Farben die gleichen; außerdem stammen beide Tiere von demselben Hengst ab, was ihre Ähnlichkeit erklärt, aber das Pferd, das Sie gerade gezeigt haben, ist Wanderlust. Der, wie Sie selbst sehen konnten, gut reagiert, wenn man ihm die Peitsche zeigt.«

Totenstille trat ein. Cranfield unterbrach sie schließlich mit einem Räuspern.

»Hughes hat völlig recht. Das ist Wanderlust.«

Es war ihm überhaupt nicht klar, dachte ich belustigt, bis ich ihn darauf hingewiesen habe. Die Leute glauben nur allzu gern, was man ihnen sagt.

Es folgte ein längeres, hastiges Geflüster. Ich half ihnen nicht. Das sollten sie ruhig selber auseinanderklamüsern.

Endlich fragte Lord Gowery: »Hat jemand die Rennberichte da?«, und ein Offizieller in der Nähe der Tür ging hinaus, um ein Exemplar zu holen. Gowery schlug es auf und besah sich ausgiebig die Ergebnisse von Reading.

»Offenbar«, meinte er dann gezwungen, »haben wir den falschen Film. Squelch ist in Reading im sechsten Rennen gestartet, und das ist normalerweise das letzte. Anscheinend aber hat es in Reading an diesem Tag sieben Rennen gegeben, weil {18}man das Nachwuchs-Jagdrennen geteilt und in zwei Läufen am Anfang und am Ende der Veranstaltung gestartet hat. Wanderlust hat also das siebte Rennen gewonnen. Eine durchaus verständliche Verwechslung, wie ich finde.«

Ich glaubte nicht, daß es meiner Sache nützen würde, wenn ich sagte, daß ich es für eine skandalöse, ja kriminelle Verwechslung hielt.

»Könnten wir jetzt bitte den richtigen Film sehen, Sir?« fragte ich höflich. »Den von Squelchs Sieg?«

Lord Gowery räusperte sich. »Ich, äh, glaube nicht, daß wir den hierhaben. Allerdings« – er erholte sich rasch – »brauchen wir ihn auch nicht. Er ist unerheblich. Wir befassen uns schließlich nicht mit dem Ergebnis von Reading, sondern mit dem von Oxford.«

Mir blieb die Spucke weg. Ich war vollkommen baff. »Aber Sir, wenn Sie sich Squelchs Rennen ansehen, werden Sie feststellen, daß ich ihn in Reading genauso geritten habe wie in Oxford, nämlich ohne die Peitsche zu benutzen.«

»Das gehört nicht zur Sache, Hughes, weil Squelch die Peitsche in Reading vielleicht gar nicht gebraucht hat, in Oxford aber schon.«

»Das gehört sehr wohl zur Sache, Sir«, protestierte ich. »Ich habe Squelch in Oxford auf genau die gleiche Weise geritten wie bei seinem Sieg in Reading, nur daß er in Oxford müde wurde.«

Lord Gowery ignorierte das völlig. Statt dessen blickte er nach links und rechts auf die neben ihm sitzenden Stewards und meinte: »Wir dürfen keine Zeit mehr vergeuden. Schließlich haben wir vor dem Lunch noch drei oder vier Zeugen aufzurufen.«

Der verschlafene älteste Steward nickte und sah auf seine Uhr. Der jüngere nickte ebenfalls und wich meinem Blick aus. Ich kannte ihn noch recht gut aus seiner Zeit als Amateur-Jockey und war oft gegen ihn geritten. Wir hatten uns alle gefreut, als {19}man ihn zum Steward wählte, weil er aus erster Hand wußte, welche eigenartigen, auch für den Intelligentesten irreführenden Situationen beim Pferderennsport immer wieder entstehen, und wir hatten geglaubt, er würde stets unseren Standpunkt vertreten oder wenigstens darlegen. Seinem verlegenen, fast entschuldigenden Gesicht konnte ich nun entnehmen, daß wir uns zuviel erhofft hatten. Er hatte bislang noch kein einziges Wort zu dem Verfahren beigetragen und machte, so seltsam das auch war, einen eingeschüchterten Eindruck.

Als schlichter Andrew Tring war er unbekümmert, amüsant und an Hindernissen nachgerade verwegen gewesen. Die in jüngster Vergangenheit geerbte Baronetswürde und die in noch jüngerer Vergangenheit erfolgte Wahl zum Steward hatten ihn, wie es im Moment aussah, anscheinend regelrecht zu Boden geschmettert.

Von Lord Plimborne, der älteren Schlafmütze, wußte ich außer dem Namen so gut wie gar nichts. Er wirkte wie Mitte siebzig, und viele seiner Bewegungen hatten etwas leicht Zittriges, als ob das Alter an seinen Fundamenten wackelte und ihn bald umgeworfen haben würde. Von dem, was bisher gesagt worden war, hatte er nach meinem Dafürhalten nicht mehr als ein Viertel richtig gehört oder verstanden.

Eine Untersuchung wurde normalerweise von drei Stewards durchgeführt, doch an diesem Tag waren sie zu viert. Der vierte, der links von Andrew Tring saß, gehörte, soviel ich wußte, nicht einmal dem Disziplinarausschuß an, geschweige denn daß er Disciplinary Steward war. Aber er hatte einen genauso großen, wenn nicht größeren, Stapel von Aufzeichnungen vor sich liegen wie die anderen und folgte jedem Wort mit scharfem, hitzigem Blick. Ich kam nicht dahinter, was genau er eigentlich mit der Sache zu tun hatte, aber es bestand kein Zweifel daran, daß Wykeham, dem zweiten Baron Ferth, das Ergebnis nicht gleichgültig war.

{20}Er war der einzige von den vieren, den es wirklich zu stören schien, daß sie den falschen Film gezeigt hatten, und er sagte leise, aber so nachdrücklich, daß es bis zu mir und Cranfield trug: »Ich habe mich dagegen ausgesprochen, das Rennen von Reading zu zeigen, wenn Sie sich erinnern.«

Gowery durchbohrte ihn mit einem Eisspeer von einem Blick, der einen Dünnhäutigeren gefällt haben würde, an Ferths innerem Hochofen jedoch wirkungslos zerschmolz.

»Sie haben sich damit einverstanden erklärt zu schweigen«, sagte Gowery mit dem gleichen schneidenden Unterton. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich auch daran hielten.«

Neben mir war Cranfield vor Erstaunen leicht hochgezuckt, und als ich nun, einen Tag später, darüber nachdachte, kam mir der giftige Wortwechsel noch eigenartiger vor. Wieso, fragte ich mich nun, war Ferth überhaupt dagewesen, wo er dort im Grunde doch gar nichts zu suchen hatte und man seine Anwesenheit eindeutig nicht zu schätzen wußte?

Das Klingeln des Telefons riß mich aus meinen Gedanken. Ich ging ins Wohnzimmer, um abzunehmen, und stellte fest, daß es ein Kollege war, der mir sein Mitgefühl aussprechen wollte. Ihm selbst, so erinnerte er mich, sei vor drei, vier Jahren auch einmal eine Zeitlang die Lizenz entzogen worden und er wisse genau, wie es mir gehe.

»Nett von dir, Jim, daß du extra anrufst.«

»Aber ich bitte dich, Mann. Wir müssen doch zusammenhalten und so. Wie ist es denn gelaufen?«

»Beschissen. Cranfield und ich konnten sagen, was wir wollten, die haben überhaupt nicht zugehört. Daß wir schuldig sind, hatten die schon entschieden, ehe wir überhaupt dort waren.«

Jim Enders lachte. »Das wundert mich gar nicht. Weißt du, was mir damals passiert ist?«

»Nein, was denn?«

»Na ja, als sie mir meine Lizenz zurückgegeben haben, haben {21}sie das Verfahren für Dienstag angesetzt, verstehst du, und dann haben sie’s aus irgendeinem Grund auf Donnerstag nachmittag verschieben müssen. Ich also am Donnerstag nachmittag hin, und sie haben eine Weile rumgedruckst, mich vor künftigem Fehlverhalten gewarnt und ein bißchen zappeln lassen, ehe sie gesagt haben, ich könnte meine Lizenz wiederhaben. Tja, hab ich gedacht, hol ich mir am besten gleich einen Rennkalender und nehm ihn mit nach Hause, man muß ja schließlich auf dem laufenden bleiben und so, jedenfalls, ich meinen Rennkalender geholt, der donnerstags um zwölf erscheint – um zwölf, wohlgemerkt! –, und wie ich ihn aufschlage, was sehe ich da als erstes? Die Meldung, daß ich meine Lizenz zurückbekommen habe. Was sagt man dazu? Die hatten schon zwei Stunden bevor die Verhandlung überhaupt angefangen hat, das Ergebnis veröffentlicht.«

»Das glaube ich einfach nicht.«

»Es stimmt aber. Und dabei haben sie mir damals meine Lizenz zurückgegeben, nicht weggenommen. Jedenfalls sieht man daran, daß alles schon vorher ausgemauschelt war. Ich hab mich immer gefragt, wieso die sich überhaupt die Mühe gemacht haben, die zweite Verhandlung abzuhalten. Reine Zeitverschwendung, Mann.«

»Unglaublich«, sagte ich. Aber ich glaubte ihm, was ich vor meiner eigenen Verhandlung nicht getan hätte.

»Wann geben sie dir deine Lizenz zurück?« fragte Jim.

»Das haben sie nicht gesagt.«

»Haben sie dir etwa nicht gesagt, wann du sie wieder beantragen kannst?«

»Nein.«

Jim schickte ein sehr unflätiges Wort durch die Leitung. »Darauf mußt du übrigens auch achten, daß du den richtigen Moment erwischst, wenn du sie beantragst.«

»Wieso?«

{22}»Als ich meine beantragt habe – und zwar genau zu dem Zeitpunkt, den die mir genannt hatten –, hieß es, der zuständige Steward wäre auf einer Kreuzfahrt nach Madeira und ich müßte mich gedulden, bis er wieder da ist.«

{23}2

Als die Pferde gegen Mittag von der zweiten Morgenarbeit zurückkamen, stampfte mein Cousin Tony die Treppe hoch und trat Matsch und Stroh in meinen Teppich. Es war sein Stall, nicht Cranfields, in dem ich wohnte. Er hatte dreißig Boxen, zweiunddreißig Pferde, ein Haus, eine Frau, vier Kinder und ein ständig überzogenes Konto. Im Augenblick wurden gerade zehn weitere Boxen gebaut, das fünfte Kind war in vier Monaten fällig, und das Konto driftete ins Dunkelrote ab. Ich lebte allein in der Wohnung über dem Hof und ritt alles, was mir unterkam.

Alles ganz normal. Und in den drei Jahren, seit wir eingezogen waren, zunehmend erfolgreich. Meine Sperre bedeutete, daß Tony und die Besitzer sich nach einem anderen Jockey umsehen mußten.

Er ließ sich trübsinnig in einen mit grünem Samt bezogenen Sessel plumpsen.

»Bist du in Ordnung?«

»Ja«, sagte ich.

»Gib mir was zu trinken, Herrgott noch mal.«

Ich goß ihm eine halbe Tasse J and B in ein klobiges Glas.

»Eis?«

»Nein.«

Ich reichte ihm das Glas, und er machte damit kurze Fünfzehn. Entspannung setzte ein.

Unsere Mütter waren zwei Schwestern aus Wales. Meine hatte einen Einheimischen geheiratet, so daß ich ganz und gar keltisch geraten war: ziemlich klein, dunkel, kompakt. Meine Tante war mit einem einsneunzig großen, lässigen blonden Hünen aus {24}Wyoming durchgebrannt, der Tony fast alles von seiner Physis, aber doppelt soviel Verstand mitgegeben hatte. Nach seiner Entlassung aus der U.S. Air Force war Tonys Vater wieder Rancharbeiter geworden – nicht Ranchbesitzer, wie er seiner angeheirateten Verwandtschaft hatte weismachen wollen –, und er hatte es für wichtiger gehalten, daß sein einziges Kind gut reiten lernte, als daß es sich mit überspannter Bücherweisheit vollstopfte.

Tony schwänzte daher jahrelang mit Begeisterung die Schule und hatte es nie bedauert. Als ich ihn kennenlernte, war er fünfundzwanzig, das Herz seines Vaters hatte gerade schlappgemacht, und er begleitete seine aufrichtig trauernde Mum nach Wales zurück. In den sieben Jahren seither hatte er sich mit beachtlicher Geschwindigkeit eine englische Frau, einen nicht ganz englischen Akzent, objektive Kenntnisse des englischen Pferderennsports, einen Job als Trainerassistent und einen eigenen Stall zugelegt. Und irgendwo unterwegs auch einen nicht zu stillenden englischen Durst. Nach Scotch.

»Was willst du jetzt machen?« fragte er mit einem Blick auf seinen dezimierten Drink.

»Das weiß ich noch nicht genau.«

»Willst du nach Hause fahren?«

»Nicht, um dort zu leben. Dafür bin ich schon zu weit weg.«

Er hob leicht den Kopf und blickte sich lächelnd im Zimmer um. Schlichte weiße Wände, ein dicker brauner Teppich, samtbezogene Sessel in zwei oder drei Grüntönen, antike Möbel, pink und orange gestreifte Vorhänge, schwer und prächtig. »Das kann man laut sagen«, stimmte er zu. »Ganz schön weit weg von der Coedlant Farm, mein Lieber.«

»Auch nicht weiter als deine Prärie.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe dort immer noch Wurzeln. Du hast deine ausgerissen.«

Scharfsinniger Bursche, dieser Tony. Eine eigenartige {25}Mischung aus reiner Intelligenz und Stroh in den Haaren. Er hatte recht: ich hatte mir die Strohhalme aus den Haaren geschüttelt. Wir kamen prima miteinander aus.

»Ich will mit jemandem reden, der in letzter Zeit mal bei einer Verhandlung war«, sagte ich unvermittelt.

»Es wäre besser, du würdest die Sache einfach abhaken und vergessen«, riet er. »Totaloperationen zu vergleichen bringt gar nichts.«

Ich lachte, was in Anbetracht der Umstände eine echte Leistung war. »Es geht nicht darum, sich gegenseitig was vorzujammern«, erklärte ich. »Ich will einfach nur wissen, ob das, was gestern abgelaufen ist … na ja, ungewöhnlich war. Das Verfahren, meine ich. Die Form der ganzen Geschichte. Mal ganz abgesehen davon, daß die meisten Beweise getürkt waren.«

»War’s das, was du auf dem Heimweg vor dich hingemurmelt hast? Die paar Worte, die du in einer Wüste von Schweigen von dir gegeben hast?«

»Nein, die lauteten im wesentlichen: ›Sie haben uns kein Wort geglaubt.‹«

»Und wer hat was getürkt?«

»Das ist die Frage.«

Er hielt mir sein leeres Glas hin, und ich goß ihm noch etwas ein.

»Meinst du das ernst?«

»Ja. Ausgehend von Punkt A – daß ich Squelch auf Sieg geritten habe –, gelangen wir zu Punkt B – daß die Stewards überzeugt sind, ich hätte es nicht getan. Irgendwo dazwischen haben sich drei, vier kleine Vögelchen die Seele aus dem Leib gezwitschert und wie gedruckt gelogen.«

»Wie ich sehe, rührt sich in den Ruinen von gestern wieder was.«

»Was für Ruinen?«

»Du.«

{26}»Ach so.«

»Du solltest mehr trinken«, sagte er. »Bemüh dich. Fang am besten gleich an.«

»Ich denke darüber nach.«

»Tu das.« Er rappelte sich hoch. »Zeit zum Lunch. Zeit, zu den kleinen Nestlingen mit ihren nach Würmern aufgesperrten Schnäbeln zurückzukehren.«

»Gibt’s heute Würmer?«

»Weiß der Himmel. Poppy sagt, du bist eingeladen, wenn du willst.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Du mußt aber was essen«, protestierte er.

»Ja.«

Er sah mich nachdenklich an. »Ich denke, du kommst schon klar«, meinte er. Er stellte sein leeres Glas ab. »Wir sind hier, falls du was brauchst, weißt du. Gesellschaft. Was zu essen. Revuegirls. Solche Kleinigkeiten eben.«

Ich nickte dankend, und er stapfte die Treppe hinunter. Er hatte nichts von seinen Pferden, deren Rennen und den Jockeys gesagt, die er würde engagieren müssen. Er hatte nicht gesagt, daß mein Verbleib in der Wohnung ihn in Verlegenheit bringen würde.

Ich wußte nicht, wie ich mich da verhalten sollte. Die Wohnung war mein Zuhause. Mein einziges Zuhause. Von mir entworfen, umgebaut und eingerichtet. Ich mochte sie und hatte keine Lust auszuziehen.

Ich ging ins Schlafzimmer.

Ein Doppelbett, aber Kissen für einen.

Auf der Frisierkommode, im silbernen Rahmen, ein Foto von Rosalind. Wir waren zwei Jahre verheiratet, als sie einen ihrer routinemäßigen Wochenendbesuche bei ihren Eltern machte. Ich hatte an dem Samstag in Market Rasen fünf Rennen zu reiten, und am Ende des Nachmittags war ein Polizist in die Waage {27}gekommen und hatte mir emotionslos mitgeteilt, mein Schwiegervater sei mit seiner und meiner Frau losgefahren, um Freunde zu besuchen, habe sich bei heftigem Regen beim Überholen verschätzt und sei frontal mit einem Lastwagen zusammengeprallt; alle drei seien auf der Stelle tot gewesen.

Das war jetzt vier Jahre her. Recht häufig erinnerte ich mich nicht einmal mehr an ihre Stimme. Dann wieder war mir, als säße sie im Zimmer nebenan. Ich hatte sie leidenschaftlich geliebt, aber es tat nicht mehr weh. Vier Jahre sind eine lange Zeit.

Jetzt wünschte ich, sie wäre da, mit ihrem aufbrausenden Temperament und ihrer glühenden Loyalität, damit ich ihr von der Verhandlung hätte erzählen, das Elend mit ihr teilen und mich trösten lassen können.

Diese Verhandlung …

Gowerys erster Zeuge war der Jockey, der im Lemonfizz zwei, drei Längen hinter Squelch dritter geworden war. Zirka zwanzig Jahre alt, rundgesichtig und unreif, war Master Charlie West ein Junge mit viel angeborenem Talent und wenig Selbstdisziplin. Er hatte eine hohe Meinung von sich selbst und lief dank seiner augenfälligen Überzeugung, daß Regeln nur für die anderen galten, Gefahr, sich seine Zukunft zu verbauen.

Die Pracht von Portman Square und das Drum und Dran der Verhandlung hatten ihn offenbar zahm gemacht. Nervös betrat er den Raum und stellte sich, wie geheißen, an einem Ende des Tisches der Stewards auf: links von ihnen und rechts von uns. Er hielt den Blick auf den Tisch gesenkt und hob während seiner gesamten Aussage nur ein-, zweimal die Augen. Zu mir und Cranfield sah er überhaupt nicht hin.

Gowery fragte ihn, ob er sich an das Rennen erinnere.

»Ja, Sir.« Ein leises, kaum hörbares Genuschel.

»Sprechen Sie lauter«, sagte Gowery gereizt.

Der Stenograph kam von seinem Tisch herüber und rückte das Mikrophon näher an Charlie West heran. Der räusperte sich.

{28}»Was ist während des Rennens passiert?«

»Tja, Sir … Soll ich ganz von vorn anfangen, Sir?«

»Sie brauchen nicht unnötig ins Detail zu gehen, West«, sagte Gowery ungeduldig. »Erzählen Sie uns einfach, was in der zweiten Runde auf der Gegengeraden passiert ist.«

»Verstehe, Sir. Tja … Kelly, das heißt, ich meine Hughes, Sir … Hughes … also … das war so …«

»Kommen Sie zur Sache, West.« Gowerys Stimme hätte einen Toten aufgeweckt. Eine tiefe, unregelmäßige Röte stieg Charlie West in den Nacken. Er schluckte.

»Auf der Gegengeraden, Sir, da wo man ein paar Sekunden lang die Tribüne nicht sieht, tja, also da, Sir … da zieht Hughes auf einmal kräftig die Zügel an, Sir …«

»Und was hat er gesagt, West?«

»Sir, er hat gesagt: ›Okay, Jungs, Bremsen anziehen‹, Sir.«

Obwohl jeder es schon beim ersten Mal verstanden hatte und man eine Stecknadel hätte fallen hören können, sagte Gowery angelegentlich: »Wiederholen Sie das bitte, West.«

»Hughes, Sir, hat gesagt: ›Okay, Jungs, Bremsen anziehen.‹«

»Und was hat er Ihrer Ansicht nach damit gemeint, West?«

»Tja, Sir, daß er’s gar nicht richtig probiert. Das sagt er immer, wenn er einen zurückhält und es nicht richtig probiert.«

»Immer?«

»Na ja, so was Ähnliches jedenfalls, Sir.«

Es herrschte tiefes Schweigen.

Dann sagte Gowery förmlich: »Mr. Cranfield … Hughes … Sie können den Zeugen befragen, wenn Sie es wünschen.«

Ich stand langsam auf.

»Wollen Sie ernsthaft behaupten«, fragte ich erregt, »daß ich Squelch zu irgendeinem Zeitpunkt während des Lemonfizz Cup zurückgehalten und gesagt habe: ›Okay, Jungs, Bremsen anziehen?‹«

Er nickte. Er hatte zu schwitzen angefangen.

{29}»Bitte antworten Sie laut«, sagte ich.

»Ja. Das haben Sie gesagt.«

»Das habe ich nicht.«

»Ich habe es gehört.«

»Das können Sie nicht gehört haben.«

»Habe ich aber.«

Ich schwieg. Ich hatte schlicht und einfach keine Ahnung, was ich als nächstes sagen sollte. Das Ganze ähnelte zu sehr einem Wortwechsel auf dem Kinderspielplatz: Hast du doch, hab ich nicht, hast du doch, hab ich nicht …

Ich setzte mich. Sämtliche Stewards und sämtliche hinter ihnen aufgereihten Offiziellen sahen mich an. Ich konnte erkennen, daß sie allesamt West glaubten.

»Benutzen Sie diese Formulierung häufiger, Hughes?«

Gowerys Stimme war wie trockene Säure.

»Nein, Sir.«

»Haben Sie sie je benutzt?«

»Nicht im Lemonfizz Cup, Sir.«

»Ich sagte, haben Sie sie je benutzt, Hughes?«

Lügen oder nicht lügen …»Ja, Sir, ich habe sie ein-, zweimal benutzt. Aber nicht auf Squelch im Lemonfizz Cup.«

»Daß Sie es überhaupt gesagt haben, reicht schon, Hughes. Was die Frage angeht, wann Sie es gesagt haben, werden wir unsere eigenen Schlüsse ziehen.«

Er schob ein Blatt Papier unter den vor ihm liegenden Stapel und nahm ein neues zur Hand. Während er es mit dem leeren Pro-forma-Blick dessen betrachtete, der sein Thema auswendig kennt, fuhr er fort: »Und nun erzählen Sie uns bitte, West, was Hughes getan hat, nachdem er diese Worte gesagt hatte.«

»Sir, er hat sein Pferd zurückgehalten, Sir.«

»Woher wissen Sie das?« Die Frage war eine reine Formalität. Er stellte sie im Ton eines, der die Antwort bereits kennt.

»Ich war genau neben Hughes, Sir, als er das mit den Bremsen {30}gesagt hat. Dann hat er irgendwie die Schultern krumm gemacht, Sir, hat die Zügel angezogen, tja, und dann war er auf einmal hinter mir, regelrecht ausgestiegen.«

Cranfield sagte wütend: »Aber er hat im Ziel vor Ihnen gelegen.«

»Ja, Sir.« Charlie West ließ den Blick zu Lord Gowery hinaufhuschen und sprach nur mit ihm. »Mein altes Pferd hatte nichts mehr zuzusetzen, Sir, und kurz vor dem vorletzten hat Hughes mich dann wieder überholt.«

»Und wie hat Squelch dieses Hindernis übersprungen?«

»Mühelos, Sir. Hat’s genau richtig getroffen. Genau den richtigen Abstand gehabt, Sir.«

»Hughes behauptet, Squelch wäre zu diesem Zeitpunkt völlig erschöpft gewesen.«

Charlie West zögerte kurz. Schließlich sagte er: »Also das weiß ich nicht, Sir. Ich hab jedenfalls gedacht, daß Squelch gewinnen würde. Ich denke immer noch, daß er eigentlich hätte gewinnen müssen, bei seiner Klasse, Sir.«