Pferdeflüsterer-Academy, Band 7: Flammendes Herz - Gina Mayer - E-Book

Pferdeflüsterer-Academy, Band 7: Flammendes Herz E-Book

Gina Mayer

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Beschreibung

Im wilden Kanada steht ein weißes Schloss: Snowfields. Auf dem Internat werden die weltbesten Reiter ausgebildet und verletzte Pferdeseelen geheilt. Zoes Herz ist eine einzige brennende Wunde. Ihr Lehrer, der berühmte Pferdeflüsterer Caleb Cole, verlässt Snowfields. Und er nimmt Zoes Freund mit! Dabei werden beide dringend gebraucht. Wie aus dem Nichts taucht ein roter Hengst auf dem Schulgelände auf. Er scheint traumatisiert zu sein und lässt nur eine einzige Person an sich heran: Calebs Nachfolger. Doch diesem traut Zoe überhaupt nicht … Entdecke alle Abenteuer an der "Pferdeflüsterer-Academy": Band 1: Reise nach Snowfields Band 2: Ein geheimes Versprechen Band 3: Eine gefährliche Schönheit Band 4: Verletztes Vertrauen Band 5: Zerbrechliche Träume Band 6: Calypsos Fohlen Band 7: Flammendes Herz Band 8: Zoes größter Sieg Band 9: Cyprians Rückkehr Band 10: Die dunkle Wahrheit

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Seitenzahl: 180

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2020

Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2020 Ravensburger Verlag

Text © Gina Mayer

Vermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, Berlin

Umschlaggestaltung unter Verwendung von Bildern von © Viktoriia Bondarenko / shutterstock (Pferd); © Christian / AdobeStock (Landschaft); © kavram / shutterstock (Landschaft, Berge); © Parfonovaluliia / iStock (Gesicht Mädchen); © Aleshyn_Andrei / Shutterstock (Körper Mädchen)

Pferdevignette: © Seamartini / VectorStock

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51079-5

www.ravensburger.de

Jemand hatte ihn in einen Abgrund gestoßen. Die Wände, die ihn umgeben hatten, waren weg. Die Decke war unendlich weit oben, am Anfang leuchtete sie blau, dann verfärbte sie sich grau. Schließlich wurde sie schwarz und überzog sich mit flimmernden Punkten. Jeder Punkt war ein Käfer, der reglos auf ihn herabstarrte.

Er stand stocksteif da, drehte die Ohren in alle Richtungen. Fing Geräusche ein, die er nicht hören wollte. Ein Rascheln, ein Stampfen, ein Vibrieren. Er fragte sich, ob die Leuchtkäfer diese Geräusche machten.

Er trippelte von einem Huf auf den anderen und spürte den weichen Boden unter ihm. Jeder Schritt war ungewiss und konnte der letzte sein.

Seine Nüstern blähten sich, er roch die eigene Angst.

Er wäre gerne geflohen, aber er wusste nicht wohin.

„Habt ihr schon das Neuste über unsere Lieblingslehrerin gehört?“ Cathy hob einen Kiesel auf und schleuderte ihn flach über den See, der in der Sonne glänzte wie flüssige Seide. Der Stein hüpfte über die Wasseroberfläche, jeder Absprung malte sich vergrößernde Kreise aufs Wasser.

Shaman, der neben Zoe vor sich hin gedöst hatte, hob seinen schwarzen Kopf und sah dem Stein nach, bis er im Wasser versank. Zoe streichelte seine samtige Nase. Er schnaubte warmen Atem durch ihre Finger.

„Du meinst Mrs. de Cesco?“ Isabelle zog die Augenbrauen hoch.

Unsere Lieblingslehrerin. Das war natürlich blanke Ironie. Keine andere Lehrerin in der Snowfields Academy war unbeliebter als die stellvertretende Direktorin Ellen de Cesco. Die ehemalige Turnierreiterin wurde nicht nur wegen ihrer Strenge gefürchtet, sondern vor allem, weil sie so gnadenlos und grausam war.

„Was hat sie denn jetzt wieder angestellt?“, fragte Zoe.

Die drei Freundinnen saßen an ihrem Lieblingsort, einer einsamen Bucht am See, die außer ihnen kein anderer Schüler kannte. Nach einem ausgedehnten Ritt durch den Wald genossen sie hier die warme Herbstsonne.

„Sie hat Audrey gekillt“, sagte Cathy.

„Gekillt?“, fragte Zoe entsetzt.

„Na ja, sie fliegt raus. Sie packt gerade ihre Sachen.“

„Das kann nicht wahr sein.“ Zoe sah ihre Freundin ungläubig an. „Audrey war doch Feuer und Flamme für Mrs. de Cesco. Und hat immer alles getan, was sie wollte.“

„Das war offensichtlich nicht genug.“ Cathy schleuderte noch einen Kiesel ins Wasser, aber dieser Stein versank sofort.

„Krass.“ Isabelle kämmte mit der Hand durch ihre braunen Haare, die wie immer wirkten, als hätte sie sie gerade eben erst gewaschen und dann stundenlang geföhnt. Glatt und glänzend fielen sie über ihre Schultern. „Audrey ist bestimmt vollkommen fertig.“

„Sie heult sich die Augen aus“, sagte Cathy. „Dabei sollte sie froh sein, dass sie die Hexe endlich los ist.“

Niemand in der Schule verabscheute Mrs. de Cesco mehr als Cathy. Und ihre Abneigung wurde genauso leidenschaftlich erwidert. Mrs. de Cesco hätte Cathy am liebsten gleich von der Schule geschmissen, aber zum Glück hatte sie darüber nicht zu bestimmen.

Cathy, Zoe und Isabelle gingen in Caleb Coles Pferdeflüsterer-Klasse. Die Klasse gab es erst seit einem Jahr und sie war Ellen de Cesco von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen. Natural Horsemanship – wie man die Pferdeflüsterei offiziell nannte – hatte ihrer Meinung nach an einem Eliteinternat für angehende Reitprofis nichts verloren. Hier ging es nur um Disziplin, Einsatz und den bedingungslosen Willen zum Sieg.

„Erst Natasha, nun Audrey.“ Zoe tätschelte gedankenverloren Shamans Hals. „Wenn Mrs. de Cesco so weitermacht, hat sie bald keine Schüler mehr.“

„Es kommt ja Nachschub“, meinte Cathy. „Nächste Woche fangen zwei neue an, hab ich gehört.“

„Mitten im Schuljahr?“ Isabelle sah sie verwundert an. „Warum das denn?“

„Tja, die Warteliste ist lang. Die Leute stehen Schlange, um mit der berühmten Ellen de Cesco zu arbeiten.“ Cathy spuckte verächtlich aus.

„Der Erfolg gibt ihr leider recht“, sagte Isabelle. „Im vergangenen Jahr hat wieder eine ihrer Schülerinnen das Texas Tournament gewonnen. Und die letzten drei Goldmedaillensieger für Dressur sind alle durch ihre Schule gegangen.“

„Wer auf Mrs. de Cesco hört, kann es bis ganz nach oben schaffen“, stimmte Cathy ihr zu. „Vorausgesetzt, er bringt sich nicht vorher um.“

„Oder wird von ihr gekillt.“ Isabelle stand auf und wischte sich den Sand ab, der an ihrer cremefarbenen Reithose klebte. „Wir sollten los, sonst kommen wir zu spät zum Meeting.“

„Ach verflixt, das Meeting!“ Zoe hatte völlig vergessen, dass Caleb seine Schüler vor dem Abendessen noch mal ins Klassenzimmer bestellt hatte. Bestimmt ging es um ihre Mitarbeit an der großen Thanksgiving-Party, die in zwei Wochen stattfinden sollte. Jede Klasse musste sich in irgendeiner Weise an dem Event beteiligen.

„Cyprian und ich sind an Thanksgiving eh nicht da“, sagte sie. „Meine Mum gibt ein Konzert, wir fliegen übers Wochenende nach Vancouver.“

„Stellst du deinen Eltern ihren Schwiegersohn vor?“ Cathy lachte spöttisch.

„Du bist so bescheuert.“ Zoe zog eine Grimasse. Die Vorstellung, dass Cyprian sie im Oktober nach Hause begleiten würde, erfüllte sie gleichermaßen mit Vorfreude, Stolz – und Angst.

Die Welt ihrer Eltern war ganz anders als die, in der Cyprian aufgewachsen war. Zoes Mutter war eine berühmte Sologeigerin und gab Konzerte in aller Welt. Auch Zoe war Profimusikerin gewesen, bevor sie in die Snowfields Academy gekommen war. Als Wunderkind an der Querflöte war sie in allen großen Konzertsälen aufgetreten. Aber dann hatte ein Zufall sie nach Snowfields und zu Shaman gebracht, und sie hatte begriffen, dass das ihre eigentliche Berufung und ihre Zukunft war.

Ihre Mutter hatte lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass Zoe nicht mehr auftreten würde. Inzwischen hatte sie jedoch ihren Frieden mit Zoes Entscheidung gemacht und gab selbst wieder Konzerte, und Zoe war froh darüber.

Wie ihre Mutter und Cyprian sich wohl verstehen würden? Nach dem Wochenende in Vancouver würde Zoe es wissen. Als sie Cyprian vorgeschlagen hatte, sie nach Vancouver zu begleiten, hatte sie fest damit gerechnet, dass er ablehnen würde. Aber zu ihrer Überraschung hatte er sofort zugestimmt.

„Wird schon gut gehen“, sagte Isabelle und lächelte Zoe an. Wie so oft wusste sie genau, was in Zoe vorging.

„Ihr seid auf jeden Fall fein raus.“ Cathy stand ebenfalls auf. Ein paar Sonnenstrahlen fielen auf ihren Kopf und brachten die weißen Haare zum Funkeln. Vor ein paar Tagen waren sie noch neongrün gewesen. Cathy wechselte ihre Haarfarben wie andere die Unterwäsche. „Ich hab überhaupt keinen Bock auf den Schwachsinn. Wahrscheinlich erwarten die, dass wir uns irgendwie in Schale werfen und den Gästen Fingerfood und Champagner servieren.“

„Von dir erwartet das bestimmt keiner.“ Isabelle schwang sich in den Sattel ihrer Schimmelstute Chenoa. „Aber vielleicht kannst du den Leuten ja gegen eine Spende Piercings stechen. Kommt bestimmt super an.“

„Gute Idee.“ Cathy grinste. Sie hatte mehrere Ringe in den Augenbrauen, in der Nase und in den Ohren, und ständig schienen neue hinzuzukommen. „Dann mal los! Wir wollen unseren Meister ja nicht warten lassen.“

Die Snowfields Academy war in einem wunderschönen schlossähnlichen Gebäude untergebracht, das inmitten der kanadischen Wildnis lag. Hinter den spitzen Giebeln und runden Türmen des Hauptgebäudes, in dem sich das Internat und die Schulräume befanden, erstreckte sich eine hohe Bergkette. Die Gipfel waren auch im Sommer von Schnee bedeckt und hatten der Schule ihren Namen gegeben.

Das Klassenzimmer der Pferdeflüsterer war in der ehemaligen Remise der Schlossanlage, die vor einem guten Jahrhundert von einem Eisenbahnmillionär erbaut worden war. Als die drei Freundinnen den hellen Raum mit den weiß getünchten Wänden betraten, waren ihre Mitschüler schon da. Nur Caleb fehlte noch.

Zoe ließ sich auf ihrem Stuhl neben Cyprian nieder.

„Hi.“ Sie schob ihre Hand in seine. Seine Finger schlossen sich um ihre und hielten sie fest. „Puh, gerade noch geschafft. Wir waren am See. Es war herrlich da draußen.“

Cyprian erwiderte ihr Lächeln nicht. Sein Gesicht war ernst und angespannt, und in seiner rechten Schläfe zuckte ein Nerv.

„Alles klar?“, fragte Zoe.

Seine fast unnatürlich blauen Augen musterten sie einen Moment lang. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich muss dir was …“

Weiter kam er nicht, weil jetzt Caleb den Raum betrat.

Ihr Lehrer war wie immer ganz in Schwarz gekleidet. Auch seine langen Haare waren schwarz, er hatte sie im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden.

Täuschte sich Zoe oder war Caleb heute besonders blass? Das Hochgefühl, das sie nach dem Ausritt zum See gespürt hatte, war plötzlich weg.

Auch Caleb begrüßte sie, ohne zu lächeln. Dann senkte er den Blick und starrte auf die Spitzen seiner schwarzen Cowboystiefel.

Zoe spürte, wie sich eine große Beklemmung in ihrer Brust ausbreitete. Hier ging es nicht um das Schulfest, das war ihr längst klar. Ein schrecklicher Gedanke formte sich in ihrem Kopf, ein Gedanke, den sie auf keinen Fall denken wollte. Sie verdrängte ihn mit aller Macht.

Cyprian ließ sich auf seinem Stuhl nach hinten fallen, ohne dabei ihre Hand loszulassen. Seine Kieferknochen mahlten. Was immer Caleb ihnen mitteilen würde, Cyprian wusste bereits Bescheid.

Caleb räusperte sich. „Okay“, sagte er. „Machen wir es kurz. Es gibt keinen guten Weg, euch das zu sagen. Ich werde Snowfields verlassen.“

Zoe war, als hätte ihr jemand einen Eimer über den Schädel gestülpt. Calebs Worte und die bestürzten Ausrufe und Fragen ihrer Klassenkameraden drangen seltsam gedämpft an ihre Ohren.

Caleb hatte sich entschlossen, seine Stelle als Lehrer aufzugeben, um sich künftig ganz auf seine Arbeit als Pferdetherapeut zu konzentrieren. Die Entscheidung kam nicht vollkommen überraschend, Caleb hatte schon im Sommer angedeutet, dass er darüber nachdachte, aus Snowfields wegzugehen. Aber Zoe hatte die Hinweise einfach ignoriert. Weil die Vorstellung unerträglich war. Snowfields ohne Caleb.

„Cyprians Unfall vor einigen Wochen hat mir gezeigt, dass es Wahnsinn ist, die traumatisierten Pferde hierherzubringen. Dass ein Pferd während der Arbeit scheut und ausbricht, lässt sich nie ganz ausschließen. Deshalb ist das nicht der richtige Ort für meine Arbeit.“ Caleb trat ans Fenster, hinter dem der Round-Pen lag, in dem er die Klasse unterrichtete. „Ich war mir lange unsicher, was mir wichtiger ist – meine Arbeit als Lehrer oder als Pferdeflüsterer“, fuhr er fort, den Rücken zur Klasse gewandt. „Aber ich glaube, die Pferde brauchen mich einfach mehr.“

Caleb hatte recht. Er war ein wunderbarer Lehrer, im Umgang mit traumatisierten und schwierigen Pferden war er jedoch einzigartig. Obwohl die Snowfields Academy so abgelegen lag, brachten Pferdebesitzer aus aller Welt ihre Tiere zu ihm, damit er sie von ihren Ticks und Ängsten befreite.

Manchmal dauerte es Wochen, bis er es schaffte, das Vertrauen eines Pferdes zu gewinnen. Aber es gelang ihm nahezu immer. Und jeder seiner Trainingserfolge trug dazu bei, dass er noch bekannter wurde. Caleb hatte längst viel mehr Anfragen, als er bewältigen konnte.

„Was wird denn dann aus uns?“ Es war Isabelle, die das gefragt hatte. Ihr schönes schmales Gesicht mit den mandelförmigen Augen war so weiß wie Cathys Haar.

Caleb drehte sich wieder um und lächelte ein dünnes Lächeln. „Ihr bekommt einen neuen Lehrer“, sagte er. „Und zwar einen richtig tollen. Ich habe heute Morgen mit Wilson Mackeray telefoniert und bin unglaublich froh, dass es klappt. Er wird meine Stelle übernehmen.“

Wilson Mackeray. Den Namen kannte sogar Zoe, die im Gegensatz zu den meisten ihrer Klassenkameraden nicht in der Pferdewelt groß geworden war.

Mackeray war Australier und ebenfalls ein berühmter Pferdeflüsterer. Er hatte mehrere Bücher über seine Arbeit mit verstörten Pferden geschrieben, zwei davon hatte Zoe auch schon verschlungen. Und seinen Video-Kanal im Internet hatte sie abonniert.

Wilson Mackeray war ein Hüne mit Vollbart, blond und breitschultrig. Äußerlich das totale Gegenteil von Caleb. Aber beide waren ähnlich charismatisch, das wurde schon in den Videos deutlich.

Ich will keinen Ersatz, dachte Zoe. Ich will Caleb behalten.

Plötzlich kam ihr ein anderer, ein noch viel schrecklicherer Gedanke, der das ganze Klassenzimmer um sie herum rotieren ließ. Ihre Finger krampften sich um die von Cyprian, den sie immer noch festhielt. Er sah sie alarmiert an.

„Was?“, formten seine Lippen lautlos.

„Shaman“, flüsterte Zoe.

Und weil gerade Totenstille im Klassenzimmer herrschte, hörten alle ihr Flüstern, das in Wirklichkeit ein verzweifelter Schrei war.

Shaman war Calebs Pferd. Caleb war mit ihm aufgewachsen, er hatte auf ihm reiten gelernt. Auf Shamans Rücken hatte er als Turnierreiter große Erfolge gefeiert. Bis Shaman den Druck und den Stress nicht mehr ertragen und Caleb abgeworfen hatte.

Danach hatte Caleb seine Karriere als Profireiter beendet und war Pferdeflüsterer geworden. Shaman hatte ihn zu dem gemacht, was er heute war. Er würde ihn nicht in Snowfields lassen, sondern mitnehmen, wo immer er auch hinging.

Aber Shaman gehört zu mir, dachte Zoe.

Sie war die Erste gewesen, die der Mustang nach dem Zusammenbruch an sich herangelassen hatte, die Erste, die der Hengst wieder auf sich reiten ließ.

Heute akzeptierte Shaman auch Caleb auf seinem Rücken. Doch Zoe hatte ihn ins Leben zurückgeholt.

Keinem vertraut Shaman so wie mir, dachte sie. Und ich vertraue niemandem so sehr wie Shaman. Caleb darf ihn mir nicht wegnehmen.

Ihre Augen suchten den Blick ihres Lehrers. Ein paar schreckliche Sekunden lang sahen Zoe und Caleb einander einfach nur an, während der Rest der Klasse den Atem anhielt.

„Er bleibt hier, Zoe“, sagte Caleb schließlich mit heiserer Stimme. Dann senkte er erneut den Blick, atmete ein paarmal aus und ein, bevor er ohne ein weiteres Wort zur Tür ging und den Raum verließ.

„Komm“, sagte Cyprian und stand auf.

Auch die anderen erhoben sich von ihren Stühlen, alle redeten wild durcheinander. Cyprian führte Zoe zur Tür, durch den Vorraum nach draußen, wo noch immer die Sonne schien. Als wäre nicht gerade eben die Welt untergegangen.

Wie in Trance folgte sie ihm den Weg entlang, der zu der Steinbrücke über den Schlossgraben führte. Ihr Körper fühlte sich seltsam schwerelos an. Wenn Cyprian sie nicht festgehalten hätte, wäre sie wie ein Ballon aufgestiegen und in den blauen Abendhimmel geflogen.

Sie gingen die schmale Straße entlang, an deren Ende die beiden großen Koppeln lagen. Hinter dem Zaun der Stutenweide stand Mrs. de Cescos Stute Calypso und säugte ihr Fohlen. Beim Anblick des kleinen Caspar hob sich Zoes Stimmung sofort wieder ein bisschen. Das Fohlen war so süß!

„Du wusstest es schon“, sagte sie zu Cyprian, als sie das Gatter der zweiten Koppel erreicht hatten.

Jetzt drehte er sich zu ihr um und sah sie an.

Seine Iris waren so unglaublich blau, ihr wurde jedes Mal ein bisschen schwindlig, wenn sie in diese Augen blickte.

Neben ihr erklang ein tiefes, rollendes Geräusch, wie ein Räuspern. Shaman war ans Gatter getreten und neigte seinen pechschwarzen Kopf zu ihr herunter. Sie ließ Cyprian los und umarmte den Mustang.

Er bleibt hier.

Aber wie lange?, fragte sie sich. Bis Caleb sich an einem anderen Ort eingerichtet hatte? Shaman gehört zu mir, dachte Zoe wieder. Du kannst ihn mir nicht wegnehmen.

„Caleb weiß, dass Shaman dich braucht“, sagte Cyprian. „Er wird euch niemals auseinanderreißen.“

Zoe legte ihre Wange an den Hals des Hengstes und atmete seinen unverwechselbaren würzigen Duft ein.

„Warum kann Caleb nicht einfach hierbleiben?“, fragte sie mit dumpfer Stimme. „So was wie im Sommer passiert bestimmt nicht mehr.“

Cyprian schnaubte leise. „Mir musst du das nicht sagen. Ich hab wie verrückt auf ihn eingeredet. Aber da war nichts zu machen.“ Er seufzte leise. „Er geht nach Kalifornien.“

„Nach Kalifornien?“ Zoe löste sich von Shaman und blickte Cyprian verwundert an. „Was will er denn da?“

„Er hat da schon vor Jahren eine Ranch gekauft, die bis vor Kurzem verpachtet war. Mitten in den Rocky Mountains. Ich hab Bilder gesehen, es ist traumhaft. Dort will er sich niederlassen.“

Zoe nickte traurig. „Traumhaft. Und was wird aus uns hier? Ich will keinen neuen Lehrer.“

Cyprian zuckte mit den Schultern. „Wilson Mackeray ist echt in Ordnung. Ich hab ihn mal kennengelernt. Cooler Typ, sehr sympathisch.“

„Er ist niemals so gut wie Caleb.“

„Nein.“ Cyprian trat einen Schritt auf sie zu. Er legte seine Arme um ihre Schultern und zog sie an sich. „Zoe“, sagte er leise. „Da ist noch was.“ Seine Stimme war mit einem Mal total belegt.

Sie wich ein Stück zurück und sah ihn misstrauisch an. „Was?“

Er lächelte ein schiefes, unendlich trauriges Lächeln, während er sie unverwandt ansah. Ihre Knie waren plötzlich so weich, sie musste sich am Tor festhalten, um nicht zu fallen.

„Nein“, sagte sie tonlos.

Die Dunkelheit war mächtig. Sie umschlang ihn und drang in ihn ein. Sie füllte ihn aus.

Er wusste, dass er in großer Gefahr war. Der Feind kam immer in der Nacht, er liebte die Dunkelheit. Er war ganz in der Nähe und wartete auf den richtigen Zeitpunkt.

Er hatte keine Ahnung, was der Feind vorhatte. Er sehnte sich nach den Wänden, die sich zwischen ihn und den Feind gestellt hatten. Sein Gefängnis. Seine Sicherheit.

Die Käfer saßen immer noch an der Decke und rührten sich nicht. Sie blinkten und funkelten, sie wussten mehr als er.

„Cyprian wird Caleb begleiten.“ Zoe saß auf der Steinbank hinter dem alten Stall, der vor einem halben Jahr abgebrannt war. Sie hatte die Beine an den Körper gezogen und den Kopf auf die Knie gelegt.

„Was?“ Isabelles dunkle Augen starrten Zoe voller Entsetzen an. „Das ist ein Witz, oder?“ Wie immer, wenn sie aufgeregt war, war ihr französischer Akzent noch stärker als sonst. Isabelle stammte aus Quebec, ihre Muttersprache war Französisch.

„Denkst du, mir ist nach Scherzen zumute?“ Zoe blinzelte ein paarmal, um die Tränen zurückzudrängen, die sie plötzlich in den Augen hatte. Sie räusperte sich und straffte gleichzeitig die Schultern.

„Warum macht er das?“, fragte Isabelle. „Wegen Eclipse?“

Eclipse war Cyprians Pferd, ein Appaloosa-Hengst, den Cyprian verloren hatte, weil sein Vater ihn beim Pokern verspielt hatte. Über ein Jahr lang hatte Cyprian nach Eclipse gesucht, bis er ihn endlich wiedergefunden und nach Snowfields gebracht hatte. Aber auch jetzt, Monate nach seiner Ankunft, war Eclipse noch misstrauisch und verängstigt.

Caleb und Cyprian hatten es beide nicht geschafft, ihm sein Vertrauen in die Menschheit zurückzugeben.

Cyprian, für den der Hengst Vater und Mutter ersetzte, litt schrecklich unter dem gestörten Verhältnis.

„Vielleicht ist der Umzug nach Kalifornien für uns ein Neustart und danach wird alles besser“, hatte er vorhin zu Zoe gesagt.

„Und was, wenn nicht?“, fragte sie.

Er zuckte nur mit den Schultern. „Ich muss es einfach versuchen.“

„Was ist mit uns?“, hatte Zoe gefragt.

Auch danach hatte er eine Weile geschwiegen. „Wir bleiben zusammen“, sagte er schließlich.

Sie schnaubte verächtlich. „So ein Bullshit! Du bist in Kalifornien, ich bin in Kanada. Wie sollen wir da zusammenbleiben? Indem wir jeden Abend skypen? Das will ich nicht.“

„Du kommst mich besuchen, sooft es geht. Und ich komme hierher.“

„Bleib hier“, flüsterte Zoe. „Bitte, geh nicht weg.“ Aber noch während sie die Worte aussprach, wusste sie, dass sie sinnlos waren. Cyprian hatte seine Entscheidung getroffen, genau wie Caleb. Und nichts, was sie sagte oder tat, würde daran etwas ändern.

„Es tut mir so leid.“ Isabelle legte den Arm um Zoe und zog sie an sich. „Ich verstehe Cyprian nicht. Und Caleb auch nicht. Es ist einfach …“ Ihre Stimme brach und sie verstummte mitten im Satz.

Zoe, deren Kopf auf Isabelles Schulter lag, spürte plötzlich etwas Nasses in ihrem Gesicht. Sie hob die Hand und wischte eine Träne weg. Isabelles Träne, die auf ihre Wange gefallen war.

„Sorry.“ Isabelle zog eine Grimasse und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.

Trotz ihrer Verzweiflung spürte Zoe, wie es in ihrer Brust warm wurde. Isabelle war von Anfang an genauso verliebt in Cyprian gewesen wie sie selbst. Aber als er sich für Zoe entschieden hatte, hatte sie es einfach so akzeptiert.

Zoe fragte sich oft, ob sie selbst genauso großzügig gewesen wäre. Wahrscheinlich nicht.

Die Freundschaft mit Isabelle würde ihr bleiben, dachte sie jetzt.

Egal was passierte, Isabelle und sie würden einander niemals im Stich lassen.

Isabelle schob Zoes Kopf behutsam von ihrer Schulter und stand auf. „Ich muss jetzt leider los“, sagte sie. „Wir haben noch eine Besprechung wegen diesem blöden Fest.“

Zoe nickte. Bei der Schulfeier war auch eine kleine Reitshow geplant und Isabelle sollte mit Chenoa daran teilnehmen.

Sie war erst vierzehn, aber in der internationalen Reitszene hatte sie sich bereits einen Namen gemacht. Isabelles Familie gehörte eines der größten Gestüte Nordamerikas – das Dufresne Stud & Stallion Breeding in Quebec – und Isabelle hatte schon als Kleinkind mit dem Reiten begonnen. Sie war eine erfolgreiche Nachwuchsreiterin gewesen, bevor sie sich für die Pferdeflüsterer-Klasse in der Snowfields Academy entschieden hatte.

Isabelle gab Zoe noch einen Kuss auf die Haare, dann verschwand sie im Gestrüpp.

Zoe stützte das Gesicht in ihre Hände und starrte auf den Boden. Caleb und Cyprian wollten schon in der übernächsten Woche abreisen, sie würden zusammen mit Eclipse nach Kalifornien fliegen.

„Ich kann jetzt leider doch nicht mit dir nach Vancouver“, hatte Cyprian vorhin gesagt. Zoe hatte das Bedauern in seiner Stimme gehört und die Erleichterung, dass ihm der Familienbesuch erspart blieb. Sie spürte auch die Spannung, die ihn erfüllte. Seine Zukunft lag vor ihm und alles war neu und ungewiss.

Zoes Leben ging hingegen weiter wie bisher, nur dass auf einmal alles schrecklich war.

„Ich bin’s. Mom.“ Irmhild Sullivans Stimme klang so heiser und schwach, dass Zoe sie fast nicht wiedererkannte. Sie saß im Aufenthaltsraum ihrer Klassenstufe, in dem die Schüler ihre Hausaufgaben machten. Eigentlich war hier Telefonieren verboten, aber gerade war nur eine Handvoll Schüler im Raum.

„Was gibt’s?“, fragte Zoe leise.

„Mir geht’s furchtbar. Ich hab eine schlimme Grippe. Fieber, Kopfschmerzen und dieser …“ Ihre Mutter brach in einen bellenden Husten aus, der so laut war, dass Zoe ihr Handy vom Ohr nehmen musste. „Du hörst es ja“, röchelte sie schließlich. „Mich hat’s richtig erwischt.“