Plötzlich sah die Welt ganz anders aus - Ronald Henss - E-Book

Plötzlich sah die Welt ganz anders aus E-Book

Ronald Henss

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Beschreibung

Dieses Buch enthält eine Auswahl der besten Beiträge zum Kurzgeschichtenwettbewerb „Schlüsselerlebnisse“. 14 Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz erzählen von Situationen, in denen die Welt in einem anderen Licht erschien.

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Seitenzahl: 143

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Plötzlich sah die Welt ganz anders aus

Schlüsselerlebnisse

Herausgegeben von Ronald Henss

Dr. Ronald Henss Verlag

Sudstraße 2

66125 Saarbrücken

www.ronald-henss-verlag.de

[email protected]

© Alle Rechte bei den Autoren

Umschlaggestaltung: Ronald Henss unter Verwendung des Gemäldes „Leute am blauen See“ von August Macke

eBook im epub-Format

ISBN 978-3-939937-65-4

Weitere Ausgaben

ISBN 978-3-9809336-6-7  (Buch)

Inhalt

Reinhard H. Kludas: Als jedes Ende ein Beginnen war

Bernadette Reichmuth: Das Lied des Monitors

Heike Schwarze: Missis Sippi’s Blues

Evelyn Brandt: Antonia

Stefan Seifert: Die Stadt

Sandra Henke: Inzwischen da

Antonia Stahn: Bankgeheimnis

Dorothea Stiller: Mehr als nur Kartoffeln

Susanne Weinhart: Metamorphosen

Cornelia Koepsell: Prickelpit

Ronald Henss: Und sie tanzen einen Tango ...

Ralf Schwob:  Nick

Jutta Baur: Ein Tag im Juli

Karin Reddemann: Nur dein Butterbrot

Über die Autoren

Reinhard H. Kludas

Als jedes Ende ein Beginnen war

Ein sternenklarer Februarhimmel spiegelte sich in der schneelosen Eisfläche. Der aufgehende Wintermond mit seinem kalten Licht begleitete uns auf dem glitzernden Eis bis zum vermeintlichen Ende, da, wo am Horizont eine aus Eichenpfählen grob gezimmerte mächtige Brücke die beiden Ufer des Wintersees überspannte. Einst rollten mit Feldfrüchten beladene Lorenzüge darüber. Nun aber rosteten die Gleise vor sich hin. Gespenstisch wirkten die Silhouetten der niedrigen Weidenbüsche, die im Sommer, wenn die Wiesen nicht überschwemmt waren, die Schlängellinie des Flusslaufs kennzeichneten. Wir mieden jetzt diese Stellen, da um sie herum das Eis meistens nicht trug. Am Abend, wenn die Jüngeren bereits zu Hause waren, gehörte uns das riesige Eismeer, auf dem wir unsere beginnenden Kräfte erprobten und mit unserem Können wetteiferten. Wiederholt spürten wir, dass uns die Mädchen aufmerksam beobachteten. Sie spornten uns zu unglaublichen Leistungen und manchen waghalsigen Kunststücken an. Ihre durchdringenden Blicke faszinierten uns, besonders wenn sie einem Bestimmten galten, der dann mit vergrößerter Willlensanstrengung den Empfang bestätigte. Sobald sich jedoch ein Blick gezielt wiederholte, war man so erregt, dass für Sekunden alle Aktivitäten gelähmt waren. Noch konnten wir mit dem Gefühl nichts anfangen, doch die Freude auf den nächsten Abend war plötzlich so ganz anders. Nicht das Schlittschuhlaufen zog uns aufs Eis, sondern das Zusammentreffen mit den Mädchen.

Auch an diesem Abend drehten wir, die Mädchen sehnlichst herbeiwünschend, wie zufällig und vorgeblich mit uns selbst beschäftigt, einige Runden, bis sie endlich vor uns standen und uns mit beiläufigen Bemerkungen zu einem Gespräch animierten. Wir redeten zumeist nur über Nebensächliches oder ganz Allgemeines und waren peinlich darauf bedacht, unser wahres Streben zu verhüllen. Nur ganz verborgen wurde Interesse für jemanden gezeigt. Dennoch machte alles, was gesagt wurde, neugierig, jedes Wort war für uns wichtig und fesselte uns so, dass man manchmal sogar sein eigenes Herz schlagen hörte. Welch ein Augenblick! „Verweile doch, du bist so schön!“ Als wir uns vom Ufer entfernten, herrschte eine atemlose Spannung. Das Gefühl für Zeit und Raum war uns verloren gegangen. Fünf Mädchen und fünf Jungen trieb die Weite des Eises und das noch Unerklärliche. Die Schlittschuhe hatten wir längst abgeschnallt, als unser Dialog immer mehr versiegte und wir wortlos fragend dahinschlitterten. Der nun schon höher stehende Mond mag den Mädchen die befreiende Idee eingegeben haben, ein Lied anzustimmen. Sie sangen ein in den 50er Jahren oft gehörtes und gesungenes Liebeslied, zweistimmig und alle drei Strophen. Wir lösten uns von der bedrückenden Stille und lauschten dem Gesang. Die Loreley auf dem Rheinfelsen hat wohl kaum eine größere Macht entfaltet. Unter dem frostigen Sternenhimmel erstrahlten fünf anmutige Augenpaare und gingen auf in den unbefangenen, fast noch kindlichen Stimmen. Kein Widerspruch zwischen diesem frühlingshaften Frohlocken und der so eiskalten Zeit störte unser erstes Sehnen nach einem noch unbekannten Vereinen.

Die Brücke, die vorhin noch so fern war, stand plötzlich vor uns. Obwohl sich die Eisfläche dahinter immer weiter zog, stiegen wir die Böschung hinauf. Alles war wie gewollt, niemand fragte nach dem Wohin, wir gingen einfach, es war unsere Bestimmung. Als wir voneinander schieden und je zwei ihrem eigenen Ziel zustrebten, erahnten wir nicht, dass es wohl der endgültige Abschied von der Kindheit war.

Um uns zwei war es nun ganz still geworden, es bedurfte auch keiner Worte, keiner Frage, sie wäre sicher ohne Antwort geblieben. Wir standen neben dem Feldbahngleis und schauten ratlos auf die ausgedienten Schienenstränge, als könnten wir aus ihrem unauflöslichen Miteinander unsere Zweisamkeit begreifen. Die leblosen, kalten Schienen konnten uns freilich keine Antwort geben. Da berührte mich ganz zaghaft eine Hand. Wie ein Wollen ohne Willen griff ich zu, ich musste ergreifen, was ohne Sehnsucht war und doch sehnsüchtig erwartet wurde. Es war ein nicht enden wollendes Fühlen. Wir schauten einander an und ahnten, dass mit uns etwas geschehen war. Unsere Hände waren fest ineinander gefügt, als wollten sie verhindern, dass sie sich verlieren, und eine wohltuende Wärme strömte durch unsere aufgewühlten Körper. Immer noch schweigend gingen wir unseren Weg, den Weg, der erste Liebe hieß. Und wir trennten uns an der Stelle, wo die Gleise die bisherige Richtung änderten, um in der Ferne scheinbar zusammenzufinden. Mit einem zufriedenen Lächeln und dem Versprechen, uns am nächsten Abend wieder zu sehen, zur gleichen Zeit und am gleichen Ort, verabschiedeten wir uns.

Von Engeln getragen schwebte ich nach Hause. Weltabgewandt und in mich gekehrt habe ich dem lieben Gott gedankt, aber wofür, ich weiß es nicht mehr. Etwas Neues, von dem ich früher noch nichts wusste, war in mir geboren. Zu der Liebe, die mich mit meiner Mutter verband, war eine andere hinzugetreten, eine Liebe, die erwartungsvoll schön war, nicht mit dem Verstand zu erfassen, nicht zu ergreifen, nur ganz einfach zu fühlen. Ein nicht zu stillendes Begehren erfüllte mich und bestimmte mein Hoffen. So manchem Mädchen habe ich zuvor zum Gruß die Hand gegeben, aber die eine hat mich nur berührt, und ich musste ihre Hand nehmen und festhalten. Nun war nichts mehr so wie vorher, ein Mensch war in mein Leben getreten, der für mich einen ungewohnten, nicht mehr wegzudenkenden Wert gewann.

Mit Freude erwarteten wir jedes Zusammensein und waren von dem Wunsch beseelt, den anderen zu spüren, ihn zu betrachten und seinen Zauber einzuatmen. Die Abende wurden heller und wärmer. Der Frühling kündigte sich an, und das erste Grün war nicht mehr zu übersehen. Die Knospen an den Fliederbüschen waren so prall, als wollten sie jeden Augenblick aufspringen. Wir trafen uns wie einst an dem großen Wiesensee, aber das Wasser war längst wieder in den Bach zurückgeflossen. Nichts erinnerte mehr an das riesige Eismeer. Doch der unermesslich weite Sternenhimmel war immer noch über uns und spiegelte sich in den freudestrahlenden Mädchenaugen. Ich wollte mich satt sehen an diesen Sternenaugen, als sie meinen Kopf in ihre Hände nahm und sich unsere Lippen berührten, sekundenlang, als wollten sie beieinander bleiben. Wir waren eins geworden. Das Glücksgefühl wollte überfließen, so unendlich viel wollte man sagen und war doch stumm. Meine Gedanken hatten sich in dem soeben Erlebten verloren, als sie sich an mich lehnte und zu singen begann, ganz leise, ganz andächtig. Mit dem letzten Satz des Liedes „… und du weißt, ich liebe dich“ hob sie ihren Kopf, sah mich viel sagend an und schmiegte sich noch enger an mich. Jedes weitere Wort war überflüssig, der Zukunftsglaube war so vorurteilsfrei und ohne Zweifel, wie er wohl nie wieder werden sollte.

Es war Sommer geworden und wir hatten nach den Abenden nun auch den Tag für uns erobert. Nicht mehr der Mond, die Sterne und die kalte Winternacht waren unsere Begleiter, sondern die blühenden Wiesen und die wogenden Getreidefelder. Wir saßen am Hang und schnipsten mit den kugeligen Sandknöpfchen um die Wette, so wie wir es als Kinder gemacht hatten. An der Flussbiegung beobachteten wir die immer wiederkehrenden Strudel, saßen im Schatten unter dem schützenden Blätterdach oder pflückten am Feldrain die blauen und roten Blumen, die die geschickten Mädchenhände zu einem Kranz wanden. Glücklich, mit geschmücktem Kopf wie ehedem zum Kinderfest rief sie: „Sieh, ich bin die Königin, gefall ich dir?“ Schön wie unser gemeinsamer Sommer war an uns und um uns so vieles wichtig geworden. Es war ein Geschenk, wie wir die erste Liebe im Erblühen der Wälder, Felder und Auen erleben durften. Nie zuvor hat uns das Wundervolle in der Natur so berührt, nie zuvor war der Liebreiz des anderen so gegenwärtig und noch nie war das Bedürfnis so groß, von allem Besitz zu ergreifen, nichts mehr herzugeben. Und doch war alles vergänglich: die erste Liebe, der erste Schwur, das erste Verlangen.

Glückselig bemerkten wir kaum, wie der Sommer sich neigte. Ein herrlicher Tag ging zu Ende, als wir wieder einmal an unserem Feldbahngleis standen und die beiden Schienenstränge unendlich weit zusammengehen sahen. „Ob sie sich womöglich doch vereinen?“ Sie hatte wohl erraten, was ich dachte. „Dort finden sie sich noch nicht, vielleicht jedoch ganz am Ende. Wir können es nur nicht sehen, aber …“ Hier brach sie ab. Ihre Stimme klang fremd, wie aus einer anderen Welt. Erst nach einer bedrückenden Pause sah sie mich an und ihr versonnener Gesichtsausdruck wandelte sich. Wie immer in einer schwierigen Situation suchte sie den Beistand in einem Lied. Aber ihr Gesang war anders als sonst, als ob sie sich aus tiefer Traurigkeit befreien wollte. „Übers Jahr, wenn die Kornblumen blühen, komm ich wieder.“ Kornblumen unseres Sommers, so blau wie ihr Blumenkleid, die Farbe der Treue, an der ich nicht zweifelte. Der weitere Text ging an meinem Ohr vorbei, ihre betörend liebliche Stimme verführte mich. Nur das letzte „Ich hab dich gern, warte nur auf mich“ blieb haften. Gernehaben war die Hauptsache für mich, deshalb verschwendete ich keinen Gedanken daran, ihr Singen könnte mehr bedeuten. Ihr drittes Lied aber war ihr letztes.

Bernadette Reichmuth

Das Lied des Monitors

„Ich habe Angst“, sagte meine Mutter und ihr Kinn zitterte.

Zuerst glaubte ich, mich verhört zu haben. Ein Blick in ihr zerknittertes Gesicht bestätigte jedoch meine Wahrnehmung.

Es war ja nicht so, dass sie keinen Grund zur Angst gehabt hätte – eine große Operation in ihrem hohen Alter mit einem völlig ungewissen Ergebnis, wer würde sich davor nicht fürchten?

Das Ungewöhnliche war also nicht, dass sie Angst hatte. Sondern dass sie es zugab, wenn auch nur für die kurzen Augenblicke einiger Herzschläge. Wie eine Tür, die sich für Sekunden einen Spaltbreit öffnet und einen Blick auf das gestattet, was dahinter verborgen liegt.

Gleich darauf verschloss sich ihr Gesicht wieder und sie zog in vertrauter Bewegung die mageren Schultern hoch und den Rücken gerade.

Ich weiß nicht, ob ich sie in dieser einen Sekunde wirklich in die Arme hätte nehmen können. Ihre Augen baten darum. Doch der Augenblick war vorüber, noch ehe ich mich mit der Frage auseinandersetzen musste, ob ich es für dieses eine Mal doch gekonnt hätte.

Ich konnte meine Mutter nie umarmen. Wenigstens nicht aus freien Stücken.

Man kann nicht geben, was einem gestohlen wurde. Diebstahl bleibt Diebstahl, auch wenn der Beweggrund dafür Hunger ist. Aber ein Kind kann den Hunger eines Erwachsenen niemals stillen.

Als ich alt genug war, um meine Erinnerungen allmählich zu klären und einzuordnen, habe ich gelernt, mich zu verweigern und das Unmögliche nicht mehr von mir verlangt. Allmählich entwickelte ich die Kunst des unauffälligen Ausweichens bis zur Perfektion. Ich denke, sie hat es dennoch gemerkt. Und der Hunger in ihren Augen blieb. Die ganze Zeit, die ganzen Jahre hindurch. Ich wusste es, sah es; ich war auf der Hut und fühlte mich schuldig.

Ich glaube, dass Schuldgefühle den Platz für das Mitgefühl versperren. Bei mir war es jedenfalls so. Bis zu jenem Augenblick, als sie diesen einen unerwarteten Satz sagte – ich habe Angst.

In diesem Augenblick musste ich mich nicht vor ihr hüten. In diesem Augenblick konnte ich ihre kalten, papierhäutigen Hände in meine nehmen. Ganz flüchtig und am Rande meines Bewusstseins stellte ich fest, wie verloren und hilflos sie waren, diese Hände.

„Wir gehen morgen zusammen ins Krankenhaus. Und übermorgen bin ich bei dir, bis du in den Operationssaal kommst. – Und wenn alles vorbei ist und du wieder aufwachst, werde ich wieder da sein.“ Ja, sie fühlten sich richtig an, diese Worte. Und gut. Genauso gut wie ihre Hände zu halten und zu streicheln. Ihren Körper konnte ich nicht halten, aber ihre Hände.

Wir schliefen beide nicht besonders viel in dieser Nacht. Mehrmals hörte ich sie aufstehen. Sie rumorte in den Schränken, zog Schubladen auf und zu und humpelte vom Schlafzimmer in die Küche und wieder zurück. Hin und her und hin und her, obwohl die Tasche für den Spitalaufenthalt längst gepackt und auch sonst alles Nötige erledigt war.

Ich lag in der Stube auf dem ausgezogenen Sofa und stellte mich schlafend.

Irgendwann zwischen Wachsein und Dösen wehte die Frage durch mein Bewusstsein, ob ich das vertraute Geräusch ihres ruhelosen Herumgeisterns vielleicht zum letzten Mal hörte ... die möglichen Antworten darauf gefielen mir nicht.

In den frühen Morgenstunden schlief ich doch noch ein. Der telefonisch bestellte Wecker riss mich aus einer wirren Traumfolge. Noch völlig benommen tappte ich in die Küche. Meine Mutter war bereits fixfertig angezogen. Sie stand am Spülbecken und rieb mit einem Lappen am längst makellos glänzenden Chromstahl herum.

Eigentlich hätte ich gerne noch eine Tasse Kaffe getrunken, ließ es dann aber bleiben.

Es war ohnehin bald Zeit zu gehen.

Als ich sie eine Stunde später im Krankenhaus verließ, weil nun die Eintrittsuntersuchungen begannen, hatte ich das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben.

Es war ein sehr, sehr altes Gefühl.

Als ich am darauf folgenden Morgen wiederkam, stand sie bereits unter der Wirkung der vorbereitenden Medikation. Ihre Augen hatten einen rührenden, dämmerig verschwommenen Ausdruck. Jetzt trug sie auch eines der üblichen Spitalhemden, deren Schnitt mich immer irgendwie an Sträflingsuniformen erinnert hatte. Für ein paar Augenblicke lugte ihr mageres Gesäß aus dem steifen, geteilten Stoff. Dann wurde sie auf ein rollbares Gestell gebettet und davongefahren.

„Kommen Sie etwa um 11 Uhr wieder“, gab mir die Schwester mit professionell mitfühlender Miene Bescheid, „Ihre Mutter wird um diese Zeit zwar noch nicht wieder auf der Abteilung sein, aber dann können wir Ihnen immerhin bereits sagen, wie alles verlaufen ist.“

Das stimmte allerdings nur bedingt. Ob sie nach dieser Operation wie erhofft weiterhin gehen konnte und ihr damit wenigstens für eine weitere Zeitspanne der Rollstuhl erspart blieb oder ob ihr Gehirn die große Narkose unbeschadet überstand, würde sich erst später zeigen.

Ich brachte es nicht über mich, in ihre Wohnung zurückzukehren.

Also streifte ich zuerst durch die Quartierstraßen, kehrte dann aber bald auf das Spitalareal zurück.

Natürlich war um 11 Uhr noch gar nichts klar. Auch um halb zwölf nicht. Oder um halb eins. Oder um zwei. Ich wanderte durch den Spitalgarten und betrachtete eingehend die von einem unbekannten Gärtner liebevoll angelegten Pflanzen, die da in fröhlicher Selbstverständlichkeit vor sich hin blühten, Bienenbesuch empfingen und sich von der warmen Frühlingssonne verwöhnen ließen.

In halbstündlichem Rhythmus stieg ich in den Lift und fuhr in die vierte Etage. Doch dort wusste man mir noch immer nichts Neues zu berichten.

Außer dass die Operation gut verlaufen sei, dass es ihr gut gehe, man sie aber noch ein wenig – wo auch immer – zurückbehalte.

Meine Mutter wurde gegen halb fünf in das Überwachungszimmer auf der Abteilung gebracht.

In den sich endlos hinziehenden Stunden des Wartens hatte sich bei mir eine merkwürdige Lethargie breit gemacht. So als hätte sich meine Spannung durch die schon nicht mehr gezählten Nachfragen irgendwie abgeschliffen.

Ich war geradezu überrascht, als die Schwester mir entgegeneilte und mir Bescheid gab, dass ich meine Mutter nun sehen konnte.

In dem Aufwach-Zimmer befanden sich vier Betten. Die Stille im Raum war gesättigt vom gleichförmigen Piepen und Gluckern der Monitore, die an der Längsseite der Betten standen und über die Lebensfunktionen ihres jeweiligen Schützlings wachten und Auskunft gaben.

Meine Mutter lag in der Nähe des Fensters. Die Dienst habende Schwester brachte mir einen Stuhl.

Ich setzte mich und wagte einen vorsichtigen Blick auf ihre schmale, in dem überwältigenden Weiß nahezu verschwindende Gestalt. Ihr kleines Gesicht wirkte ohne ihre künstlichen Zähne noch eingefallener, als es ohnehin war.

Übergroß ragten Nase und Kinn in die Höhe und verliehen ihren Zügen einen Ausdruck von erhabener, uralter Weisheit.

Eigenartigerweise war mir dieser Ausdruck ihres Gesichtes nicht fremd, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, ihn jemals zuvor bemerkt zu haben.