PUNKED - Yasmin Sibai - E-Book

PUNKED E-Book

Yasmin Sibai

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Beschreibung

Der Geruch von Kunstnebel und Schweiß, dröhnende Bässe und besetzte Häuser – ein angepasstes bürgerliches Leben war für Bey, Bassistin einer Avantgarde-Punkband, früher undenkbar gewesen. Nach der Geburt ihres Sohnes wohnt sie jetzt am Rand von Amsterdam, umgeben von gutsituierten Eltern ohne spätjugendliche Exzesse. Als ein kalkweißes Kuvert sie erreicht, gerät ihr Alltag aus dem Takt: Ihr Ex-Freund Iggy ist gestorben. Bey fährt zur Beerdigung nach Berlin, wo sie in Iggys Nachlass eine Tonaufnahme findet, die sie an den Umständen seines Todes zweifeln lässt. Ihre Nachforschungen stoßen auf Widerstand beim Rest der Alt-Punks, und als Karina, ihre verschollen geglaubte Erzfeindin, auftaucht, beginnt ein atemloser Wettlauf um alte Datenträger. Eine ungeheuerliche Wahrheit kommt ans Licht, die alles ins Wanken bringt, woran Bey und ihre Punk-Clique jemals geglaubt haben. PUNKED führt in dunkle Kellerclubs der Neunziger und geheime Hackersalons der Zweitausender, streift durch gentrifizierte Stadtlandschaften in Hannover, Berlin und Amsterdam und dringt vor ins schwarze Herz einer lebendigen Subkultur. Yasmin Sibai lässt eine Utopie implodieren und setzt ihre Protagonistin auf die Spur eines Kriminalfalls, der neues Licht auf ihre Punk-Vergangenheit wirft.

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Der Geruch von Kunstnebel und Schweiß, dröhnende Bässe und besetzte Häuser – ein angepasstes bürgerliches Leben war für Bey, Bassistin einer Avantgarde-Punkband, früher undenkbar gewesen. Nach der Geburt ihres Sohnes wohnt sie jetzt am Rand von Amsterdam, umgeben von gutsituierten Eltern ohne spätjugendliche Exzesse. Als ein kalkweißes Kuvert sie erreicht, gerät ihr Alltag aus dem Takt: Ihr Ex-Freund Iggy ist gestorben. Bey fährt zur Beerdigung nach Berlin, wo sie in Iggys Nachlass eine Tonaufnahme findet, die sie an den Umständen seines Todes zweifeln lässt. Ihre Nachforschungen stoßen auf Widerstand beim Rest der Alt-Punks, und als Karina, ihre verschollen geglaubte Erzfeindin, auftaucht, beginnt ein atemloser Wettlauf um alte Datenträger. Eine ungeheuerliche Wahrheit kommt ans Licht, die alles ins Wanken bringt, woran Bey und ihre Punk-Clique jemals geglaubt haben.

PUNKED führt in dunkle Kellerclubs der Neunziger und geheime Hackersalons der Zweitausender, streift durch gentrifizierte Stadtlandschaften in Hannover, Berlin und Amsterdam und dringt vor ins schwarze Herz einer lebendigen Subkultur.

Yasmin Sibai lässt eine Utopie implodieren und setzt ihre Protagonistin auf die Spur eines Kriminalfalls, der neues Licht auf ihre Punk-Vergangenheit wirft.

 

 

INHALT

Vor dreizehn Jahren. April 1998

Vor vier Tagen. Montag, 10. Januar 2011

Tag eins. Freitag, 14. Januar 2011

Tag zwei. 15. Januar 2011

Vor vier Jahren. August 2007

Tag drei. Sonntag 16. Januar 2011

Tag vier. Montag 17. Januar 2011

Vor dreizehn Jahren. Januar–April 1998

Tag vier. Montag 17. Januar 2011

Tag fünf. Dienstag, 18. Januar 2011

Vor zweiundzwanzig Jahren. 1989

Zwei Wochen später. Februar 2011

Playlist

 

Für N & M

 

From the cradle bars

Comes a beckoning voice

It sends you spinning

You have no choice

 

You hear laughter

Cracking through the walls

It sends you spinning

You have no choice

 

– Siouxsie and the Banshees

 

VOR DREIZEHN JAHREN. APRIL 1998

DAKTYLUS

Hannover

Notaufnahme.

Abgestandene Luft, niedrige Decken mit Neonbeleuchtung, müde Wände in orthopädischem Beige. Die Sitzgruppe mit den orangenen Plastikstühlen lag wie eine traurige kleine Insel in einem Linoleumozean. Umgeben von Gängen, die endlos schienen, und Türen wie Scheunentoren, deren Flügel mit lautem Summen die Besucher attackierten, ähnlich unerwartet wie die Klaviertastatur in einer Rebecca-Horn-Ausstellung.

Irgendwo hier in diesem antiseptischen Irrgarten befand sich Iggy, der seit heute Morgen nicht mehr sprechen konnte.

Bey rutschte auf ihrem Plastikstuhl hin und her. Ihr gegenüber saß Mariko. Zierlich, ermattet, familiengerahmt. Hauke zu ihrer Rechten, der ihre zarten, perfekt manikürten Finger zwischen seinen großen Handtellern hielt, die symmetrischen Zwillinge zu ihrer Linken. Sie formten eine Wand, und die Wand starrte Bey wortlos an.

Sie schloss die Augen, um den Blicken zu entgehen. Die Türflügel knallten in unregelmäßigen Intervallen auf und zu. Concert for Anarchy. Der Konzertflügel kopfüber von der hohen Decke, die Tasten, die plötzlich laut kreischend herausgeschossen kamen und wie lange Zungen die Luft leckten. Iggy hatte die Ausstellung gefeiert. Konzertflügel, Türflügel … ihr schwirrte der Kopf.

Sie hatte nicht geschlafen, war in der Uni geblieben, hatte die vergangene Nacht im Arbeitsraum durchgezeichnet. Abgabetermin in zwei Wochen. Diplom. Als sie morgens gegen zehn wie ferngesteuert nach Hause gekommen war, hatte er dagelegen. Lang ausgestreckt auf tiefblauem Wohnzimmerteppichboden, bekleidet mit nichts weiter als einer Unterhose, die blondierten Haarsträhnen wie wirre Striche auf seinem sehnigen Oberkörper. Sie hatte ihn angeschrien mit sich überschlagender Stimme, aber seine Augen sahen an ihr vorbei, er machte keinerlei Anstalten, zu reagieren.

Drei naheliegende Szenarien waren ihr wie grelle Lichtblitze durch den Kopf geschossen.

Erstens: Er war sturzbetrunken am frühen Morgen. Das wäre besorgniserregend, aber im Rahmen des Wahrscheinlichen gewesen.

Zweitens: Er war zusammengeschlagen worden von Faschos oder Drogendealern. Das wäre weitaus besorgniserregender, aber im Rahmen des Mittelwahrscheinlichen.

Drittens: Er hatte doch nicht auf sie gehört und war an Shore geraten. Das war das allerbesorgniserregendste, wenn auch allerunwahrscheinlichste Szenario, und sie hatte gehofft, dass es nicht wahr sein möge, nicht ahnend, dass es noch ganz andere, weitaus besorgniserregendere Szenarien gab.

Sie hatte ihn geschüttelt. Hatte seine Arme nach blauen Flecken oder Einstichlöchern abgesucht. Aber da war nichts gewesen. Nichts außer der fehlenden Körperspannung in seinen langen, dünnen, sich irgendwie zu weich anfühlenden Gliedmaßen.

Das Wohnzimmer musste sich währenddessen von ihr unbemerkt mit Wasser gefüllt, sich langsam aber stetig in ein Aquarium verwandelt haben, auf dessen wellig blauem Teppichbodengrund sie sich dann, mit Mühe gegen die unerwartete Viskosität ankämpfend, zum Telefon vorgearbeitet hatte. Es hatte offensichtlich schon länger geklingelt.

Mariko war dran gewesen. Warum sie nicht abnehmen würden, sie hätte schon ein paarmal angerufen.

Ich weiß nicht, was mit ihm los ist, hatte sie tonlos in den Hörer gesagt. Sie solle den Krankenwagen rufen, jetzt sofort, hatte Mariko geantwortet. Bey spürte die Kraft aus der Hand schwinden, die den Hörer umklammert hielt, und starrte auf irgendeinen Punkt des tiefblauen Teppichbodengrundes.

Vergiss es, ich mache das. Wir kommen vorbei. Marikos Stimme klang gereizt. Mit den schlafwandlerischen Bewegungen eines Tiefseetauchers hatte Bey aufgelegt.

Sie warteten lange auf den Plastikstühlen. Das musste man der Realität schon lassen, was Katastrophen anging, war sie immer überraschend filmreif.

Also gut, Mariko, Hauke und die Zwillinge waren wütend auf sie. Wahrscheinlich, weil sie nicht selbst auf die Idee gekommen war, den Krankenwagen zu rufen. Sinnlos, sich ihnen gegenüber zu rechtfertigen.

Du bringst meinen Sohn noch ins Grab, hatte Mariko vor zwei Wochen erst gesagt. Weil Bey sich nicht entscheiden konnte. Dabei war es nicht ihre Schuld, dass Iggy nachts immer öfter nicht nach Hause kam. Da konnte einem schon mal der Geduldsfaden reißen. Bey war ausgezogen. Er hatte Besserung gelobt, sie hatte ihm geglaubt und war wieder eingezogen. Bis er das nächste Mal wegblieb. Mariko sah die Dinge anders. Mariko erwartete von ihr mehr Loyalität. Das spürte sie ganz deutlich, während sie hier zusammen auf dem Linoleumozean saßen und das Summen der Türflügel die Stühle vibrieren ließ. Aber nach den sechs Jahren, die sie jetzt schon mit Iggy zusammen war, hätten Mariko und Hauke eigentlich besser im Bilde sein müssen. Und die Zwillinge auch.

Bey nahm keine Drogen. Soff nicht. Rauchte noch nicht mal. Jeder wusste das. Sie war, wenn auch aus anderen Gründen als ihre Peergroup vermutete, straight edge. Offensichtlich ignorierten ihre Quasi-Schwiegereltern das ebenso wie die Tatsache, dass sie sich in einem Affentempo durch ihr Studium rackerte, mit Nebenjobs sowohl die Uni als auch das gemeinsame Leben mit Iggy finanzierte und außerdem noch Bassistin bei Bodenkontrolle war.

Iggy, der jüngste Sohn von Mariko und Hauke, das Nesthäkchen, nahm Drogen. Multipler Substanzgebrauch. Pfiff sich alles rein, was knallte. Außer (zum Glück, fand Bey) Crack und Shore. Hauptamtlich unter Einfluss war er schon, als sie sich Hals über Kopf und wider besseres Wissen in ihn verknallt hatte. Die unausgesprochene Schuldzuweisung war anmaßend, ja lachhaft. Außerdem war es schlichtweg taktlos, sich vor ihren Augen in einem solchen Moment so ausgiebig aneinanderzuschmiegen, während ihr nichts weiter blieb, als auf ihrem verdammten Plastikstuhl hin und her zu rutschen und auf die runden Spitzen ihrer sehr hohen Plateaustiefel zu starren.

Nach einer Ewigkeit kam der Arzt. Er kam zu dritt, und sie stellten sich in einem unbeholfenen Halbkreis dazu, Mariko, Hauke und die Zwillinge auf der einen, Bey in sicherem Abstand auf der anderen Seite.

»Ihr Sohn ist in ein Wachkoma gefallen.«

Dieser Satz, der nicht für sie bestimmt war, drang in einer Klarheit an ihr Ohr, die sie an eiskalte Bergseen in frühen Morgenstunden denken ließ. Nach diesem Satz verspürte sie das dringende Bedürfnis, sich der Länge nach vornüber fallen zu lassen, einfach von ihren hohen Plateausohlen herab in diesen albernen Halbkreis hinein, auf das graugrüne, antiseptische Linoleum, das ihr plötzlich ungeheuer einladend erschien. Doch irgendetwas sagte ihr, dass niemand sie auffangen oder zumindest ihren Fall verlangsamen würde.

Die Gründe seien noch unklar, einige Untersuchungen stünden noch aus. Aber sie sollten sich keine allzu großen Hoffnungen machen.

Die bergseeklare Stimme des Oberarztes war nicht ohne Pathos, wie sie irritiert feststellte. Aber das Retikulärsystem sei noch intakt. Sie mochte den Klang dieses Wortes, es war in sich ein kleines Gedicht: Re-ti-ku-lär-sys-tem, daa-da-da-daa-da-da. Der gute alte Daktylus. Es war ein beruhigendes Wort, in ihm oszillierte die schwache Hoffnung, dass alles wieder werden konnte. Vielleicht.

Als sie zu ihm durfte, fühlte sie sich merkwürdig stumpf, entkoppelt. Er schlief, auch wenn dieses Schlafen ein trügerisches war. Ein Schlafen, das eine beängstigende Anzahl von Schläuchen notwendig machte, die jetzt in seinen willenlosen Körper hinein- und aus ihm herausführten. Das blondierte lange Haar, das schon wieder einen dunklen Ansatz zeigte, war schweißverklebt. Sie registrierte das alles mechanisch. Es gab kein Gefühl.

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There’s a shadow on the wall where the paint is peeling

My body’s moving forward but my mind is reeling

– Bad Religion

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VOR VIER TAGEN. MONTAG, 10. JANUAR 2011

TATTOO

Los Angeles

»Fuck! Fuckfuckfuck!«

Der Anlasser gab ein erbärmliches Wimmern von sich.

»Verdammt«, zischte Karina, »ausgerechnet jetzt!«

Der Anruf heute Morgen war nicht unerwartet gekommen, nicht nach der SMS vergangene Nacht, hatte aber trotzdem ihren Zeitplan durcheinandergebracht. Hoffnungslos verspätet hatte sie danach, in wehendem Mantel und routiniert balancierend auf Five Inch High Heels, mit einiger Kraftanstrengung das Garagentor geöffnet und war in den MG eingestiegen.

Sie drehte den Zündschlüssel wieder und wieder nach rechts. Das Wimmern wurde schwächer. Hoffnungslos. Sie stieß die Tür des olivgrünen Oldtimers auf und stieg aus.

Die Absätze ihrer Louboutins bohrten sich in den knirschenden Kies, als sie sich in der grellen Morgensonne mit zusammengekniffenen Augen suchend umsah.

»Gustav! Gus-tav!«

»Yes Ma’am?«

Ein rötlicher Lockenschopf tauchte zwischen den Ästen einer Strauchgruppe auf. Darunter ein hilfsbereites Lächeln in einem pockennarbigen Gesicht. Mit einer Heckenschere bewaffnet trat Gustav hinter dem Dickicht hervor, wo er sich am Wildwuchs der Maulbeersträucher zu schaffen gemacht hatte. Wie er das selbstgewählte Pensum aus Hausmeister, Gärtner und Fuhrparkmeister täglich bewältigt, ist ihr ein Rätsel. Auch, wie sie ohne ihn zurechtkommen würde.

»Fahr den Mustang raus, schnell!«

»Wie Sie wünschen, Ma’am.«

Der sanfte Ton seiner Stimme kann Karina nach dreizehn Jahren noch täglich irritieren. Was immer sie ihm aufträgt, die unmöglichsten Dinge, stets antwortet er mit demselben Gleichmut, demselben milden Lächeln.

Nur neun Sekunden!, dachte sie, während Gustav in einer der vielen Taschen seiner ausgebeulten Multifunktionsjacke wühlte, neun verdammte Sekunden! Länger war der Filmausschnitt nicht, zu dem der Link in der SMS führte. Und doch brauchte es nicht mehr Zeit als diese paar Sekunden, nicht eine Millisekunde mehr.

Gustav zog schließlich einen Schlüsselbund hervor und lief unter dem geöffneten Garagendach an dem unwilligen MG vorbei zum Cherokee, der vor dem Mustang parkte.

Keine Millisekunde mehr. Alles konnte ihr jetzt um die Ohren fliegen, wenn sie nicht schnell genug handelte. Der Innere Kreis würde sowieso toben.

Gustav setzte den Cherokee ein Stück zurück, stieg aus, fischte aus einer seiner vielen Jackentaschen einen Schlüsselanhänger in Form eines schwarzen galoppierenden Pferdes, an dessen Schnur ein einzelner Zündschlüssel mit langem schmalem Schaft baumelte.

Sie hatte die neun Sekunden Film ungläubig angestarrt, während sich von ihrem unteren Rücken eine eisige Kälte bis in die Fingerspitzen ausbreitete, die sich jetzt, Stunden später, immer noch taub anfühlten. Sie schob die Hände in die Manteltaschen. Obwohl dieser Wintertag nicht kälter war als alle anderen Wintertage in L.A., fröstelte sie.

Gustav öffnete die Fahrertür des Mustang und fuhr auch diesen aus der Garage heraus. Ein makelloser 71er Mach 1 in purpurschwarz, eine Sonderlackierung, die von weitem ein sattes Schwarz vermuten, doch bei näherem Hinsehen, besonders im Sonnenlicht, eine rotviolette Glut aufblitzen lässt. Ihr Baby.

Gustav stieg bei laufendem Motor aus.

»Don’t worry, Ma’am. Der MG ist heute Nachmittag wieder fit.«

Don’t worry. Seine Unbekümmertheit und Heckenschere gegen ihren Mustang. Ohne zu zögern hätte sie heute Morgen getauscht.

Sie stieg hastig ein, reckte sich, um einen überprüfenden Blick in den Spiegel zu werfen. Nicht, weil ihre Frisur einen Double Check gebraucht hätte. Sie trägt seit Jahren Glatze. Sie hat die Kopfform dafür, und ihr kahler Schädel gibt ihr die Ausstrahlung, die sie in ihrem Job braucht. Der feuerrote Tom-Ford-Lippenstift saß perfekt, die Sonnenbrille passte zum Outfit. Sie klappte den Spiegel hoch, drückte den Rücken in den ledernen Sitz, rollte die lange Auffahrt, gesäumt von Pinien und Palmen, über knirschenden Kies hinab, und fuhr durch die hohen hölzernen Flügel des geöffneten Tors hinaus auf die asphaltierte Marinette Road. Sie atmete ein.

Ihr Haus ist das letzte am Ende der Straße, hinter dichtem tropischem Strauchwerk und laubreichen Bäumen gut verborgen, selbst vom Nachbargrundstück aus ist ihr Anwesen nicht einsehbar.

Die Reifen quietschten, als sie das Gaspedal durchtrat. Nicht eine Wolke am Himmel. Der Innere Kreis würde sie fertigmachen. Sie atmete aus.

Der Mustang nahm geschmeidig die leichte Anhöhe, Karina würdigte die von treuen Gärtnerhänden gewissenhaft gepflegten Lorbeerhecken, Pinienwäldchen und wiesenbegrünten Hügel der nachbarlichen Anwesen rechts und links der ruhigen Straße keines Blickes, bog links ab auf die von Agaven gesäumten steileren Hänge der Paskenta Road bis zur T-Kreuzung mit dem Chautauqua Boulevard, wo andere Leute, mit Zeit und Muße und einem Sinn für landschaftliches Idyll, sicher ausgestiegen und auf ihr Autodach geklettert wären, um von dort aus in der klaren Luft dieses Morgens einen fantastischen Blick auf den Pazifischen Ozean zu genießen. Aber Karina ist nicht andere Leute. Karina startete nach der Kurve durch. Der Mustang jaulte beleidigt auf.

Neun verdammte Sekunden!

Auf Autodächer zu klettern verbietet sich ohnehin bei ihrem Schuhwerk, außerdem ist sie kein Strandtyp, Wasser in größeren Mengen ist ihr suspekt. Seesicht geht ihr sowas von am Arsch vorbei. Sie hat ihr Grundstück sorgfältig ausgewählt. Kondos mit Ocean View haben den Nachteil, meistens auch selbst weithin sichtbar zu sein. Sie blickt dagegen von ihrem Anwesen aus nur auf beruhigend regloses Gestein, Gestrüpp und undefiniertes Grün. Sie überlässt selten etwas dem Zufall.

Und trotzdem konnten sich diese neun Sekunden in ihr Leben schleichen. Mit einem schrillen Ping-Geräusch, begleitet von einer kurzen, aber bestimmten Vibration, waren sie vergangene Nacht wie ein Bumerang in ihr Schlafzimmer gekracht.

Der Mustang glitt katzenhaft den Berg hinab. Vor der Kulisse kleinerer, aber für einen durchschnittlichen Doppelverdienerhaushalt ebenso unerschwinglicher Grundstücke, trat sie wieder das Pedal durch. Sie vermeidet es normalerweise, zu ihren Meetings so gnadenlos zu spät zu kommen. Es ist nicht gut für die Moral der Männer. Nur für die macht sie sich jeden Montag auf den Weg, dabei wäre das alles prima übers Handy zu klären. Aber die Männer brauchen den direkten Kontakt, entgleiten ihr sonst.

Sie erreichte das Hafengebiet, bremste vor dem wuchtigen Warehouse One und parkte zwischen einigen Kleintransportern und LKWs. Männer in Arbeitsklamotten, ein Gabelstapler wie auf Speed vor der Betonfassade mit den ockerfarbenen Laderampen und Stahltoren. Am Kai gegenüber haushohe Palettenstapel, Seecontainer in rostigem Rot und Hellblau im Gegenlicht.

Natürlich war es ihr Fuck-up. Da gab es wenig zu diskutieren. Und der Innere Kreis war nicht blöd, der ließ sich nichts vormachen.

Sie stieg so schnell aus, wie die High Heels es zuließen, verriegelte die Fahrertür (das ist der einzige, aber auch wirklich der einzige Nachteil von Oldtimern: die fehlende Fernbedienung) und nahm mit schnellen Sätzen die Stufen der kurzen Stahltreppe hinauf ins Hochparterre des alten Lagerhauses. Hinter bodentiefen Fensterfronten konnte man eine Handvoll junger Leute erkennen, die an Tischen aus einfachen Holzplatten vor ihren iMacs saßen oder in dem riesigen hohen Raum herumliefen. Eine große Glasschiebetür bewegte sich beflissen zur Seite und präsentierte einen hochpolierten Betonfußboden: Yellow, Karinas PR-Agentur.

Sie grüßte ihre Angestellten flüchtig und lief mit ausladenden Schritten zum hinteren Teil der Halle, am riesigen knallgelben Holzblock mit der Pantry und dem Chillraum vorbei, umrundete den Tischkicker und die zwei hochgewachsenen Palmen, steuerte weiter auf die Rückwand der Halle zu, riss eine unscheinbare, graulackierte Tür auf und lief weiter durch einen stillen hellen Flur mit verglasten Wänden zu beiden Seiten. Sie blieb vor einem Raum stehen, dessen Jalousien von innen heruntergelassen waren, die Tür war verschlossen, sie zog eine Plastikkarte aus der Manteltasche, hielt sie gegen das Schloss, öffnete nach dem leisen Klicken die Tür und trat ein, verschloss sie von innen wieder und lief entlang des ausladenden ovalen Konferenztisches, um den artig viele teure Stahlrohrstühle standen, zur Regalwand an der linken Raumseite. Ihr Puls raste. Hämmerte bis in die Fingerkuppen.

Nach der SMS hatte sie nicht mehr schlafen können, hatte sich stattdessen ans Telefon gehängt (in Europa war es bereits Tag), und versucht zu retten, was hoffentlich noch zu retten war, hatte sich um halb acht die Augenringe mit deckender Foundation weggetupft und war gerade in Begriff gewesen, den Tom Ford aufzutragen, als ihr Handy geklingelt hatte.

Sie reckte sich, Wirbel für Wirbel richtete sie sich auf und schloss die Augen, zwang sich zu einigen beherrschten Atemzügen, zu einer Leere im Kopf. Ein-aus, ein-aus. Ihr Puls beruhigte sich. Als das Hämmern nachließ, zog sie ein altes 8210er Nokia aus der Manteltasche und schrieb eine Nachricht.

Mit einem metallischen Summen öffnete sich eine in der Regalwand verborgene Tür und gab den Blick in einen dunklen Gang frei. Dort stand Goran. Ihrer Vorschrift zufolge mit gesenktem Kopf, so dass sie freie Sicht auf das Tattoo hatte.

Ihr Mund verzog sich trotz allem zu einem unwillkürlichen Grinsen, wie immer beim Anblick dieses Tattoos. Es scheint aus seinem linken Ohr zu strömen und zieht sich als enigmatisch perspektivische Darstellung eines Gebäudeinneren, einem Escher nachempfunden, flächendeckend über seine Kopfhaut, um wie in einem Strudel im rechten Ohr wieder zu verschwinden. Die Umrisse seines Kopfes verschwimmen vor dem Hintergrund, so dass man Gorans Gesicht auf bestürzende Art, besonders bei der ersten Begegnung, wie ausgeschnitten, wie schwebend wahrnimmt.

Er trat einen abgemessenen Schritt zurück, sie nickte wortlos zum Gruß und schritt zielsicher an ihm vorbei in den muffigen dunklen Gang hinein, die Wände übersät mit Schimmelstellen und blasig abblätterndem Rauputz, auf dem Boden einige faulende Wasserstellen von einem alten Rohrbruch, denen sie routiniert auswich. Der Kontrast zu der hellen Aufgeräumtheit der Agentur könnte größer nicht sein. Sie zog im Gehen eine kleine Taschenlampe aus der Innenseite ihres Mantels hervor und schaltete sie ein, Goran schloss die Regaltür, die sich mit einem metallischen Klick selbst verriegelte, und folgte ihrem Lichtkegel. Es ging nach unten auf bröckelnden Betonstufen, im Keller nach links in einen weiteren schmalen Gang hinein. Nach einigen Schritten blieb sie stehen und ließ ihn wortlos vor.

Ihr Onkel war dran gewesen heute Morgen. Onkel Theo. Einziges Mitglied des Inneren Kreises, das einen Spitznamen duldete. Einziges Mitglied, das noch mit ihr sprach.

Die neun Sekunden, er wusste bereits davon. Und nicht nur er. Der gesamte Innere Kreis hatte dieselbe SMS mit dem Link erhalten und hatte den Filmausschnitt gesehen.

Goran zog sein eigenes Nokia aus der Tasche seiner extrem tiefsitzenden Skaterhose und tippte eine Zahlenkombination in das Tastenfeld. Ein elektronisches, unangenehmes Summen ertönte, dann schoben sich zwei Meter des vor ihnen liegenden Kellerfußbodens beinah lautlos zurück und gaben eine Stahltreppe in ein weiteres Untergeschoss frei.

Karina nahm gekonnt die Gitterroststufen mit ihren High Heels und zog den Kopf ein. Ein Bewegungsmelder ließ einige Wandlampen aufleuchten. Goran folgte ihr durch einen Being-John-Malkovich-artigen Gang mit einer Höhe von nur eins siebzig, ein Installationshohlraum unter dem eigentlichen Keller, im Schoß der Betonfundamente verborgen, die auf Pfeilern ruhen, die wiederum tief in den Huntington Fill gebohrt sind und von außen umschlossen vom ewig nagenden Salzwasser des Stillen Ozeans. Auf Bauzeichnungen taucht er nicht auf, Karina hatte sorgfältig die Originalzeichnungen des Neubaus von 1915 sowie die diversen Zeichnungen der Umbauten aus den Jahrzehnten danach geprüft, die sie damals über ihren Architekten hatte anfordern lassen.

Am Ende des Ganges ließ sie Goran vor einer Stahltür wieder den Vortritt. Sie hätte die Zahlenkombination selbst in ihr eigenes Handy eingeben können, doch sie kontrolliert ihre Männer gern, außerdem gibt es ihr Genugtuung, Goran bei der Arbeit zuzusehen. Wieder das elektronische Summen. Die Stahltür sprang auf.

Ein riesiger runder Tisch in der Mitte eines schilfgrünen Raumes, glänzendes, hochwertiges Holz, eine Maßanfertigung von Mira Nakashima. Darüber eine tiefhängende Fabriklampe. Karinas Meeting Room. Drei rasierte Männerköpfe schauten gleichzeitig auf. Sie saßen auf schlammgrauen Marcel-Breuer-Freischwingern, die farblich zum Teppichboden passten, und wirkten angespannt. Nur Männer. Karinas Männer. Sie fühlt sich wohler in männlicher Gesellschaft, genießt die ungeteilte Aufmerksamkeit. Andere Frauen verkomplizieren bloß alles, bringen einfache Verhältnisse in unnötige Schieflagen. Ihr Fokus war schon immer auf Männer gerichtet, soweit sie zurückdenken konnte.

Goran schob einen Stuhl für sie zurück und beeilte sich dann, seinen Platz einzunehmen. Karina nickte ihm kurz zu und setzte sich. Den langen Mantel behielt sie an in dem trotz seiner edlen Einrichtung feuchtkalten Raum. Sie sah die Männer einen nach dem anderen an.

»What’s the news?«

Goran räusperte sich: »We got two Belgian guys, die machen den Job. Sind top Kerle, Ma’am. Haben schon bei Trenner in Hannover alles gecheckt.«

»Und?«

»Nichts. Sorry, Ma’am.«

Karina atmete scharf ein. Sie spürte die zunehmende Spannung ihrer Rückenmuskulatur.

»Trenner hat keine Videokassetten. Nicht eine einzige.«

Die Männer sahen angestrengt auf die edle Holzmaserung der Tischplatte.

Fuck, dachte Karina. Sie stand unvermittelt auf, ihr Stuhl fiel hinter ihr mit einem dumpfen Geräusch auf den dicken Teppichboden. Das erzeugte die erwünschte Dramatik, Goran schnellte hoch und stellte ihr den Stuhl wieder hin. Führung ist zum großen Teil Choreografie.

»Losers!«

Ihre Hand knallte flach auf den Tisch, die Männer senkten die Augenlider.

»Das kann nicht sein! Irgendwas muss Trenner haben!«

Sie legte eine Kunstpause ein, die Männer zuckten wortlos mit den Schultern. Sie richtete sich auf, kontrollierte über ihre Atmung die Körperspannung. In nun wieder vollkommen beherrschtem Tonfall fuhr sie fort:

»Eure Belgier fahren mit Trenner heute noch nach Berlin und statten Iggy einen Besuch ab. Und Trenner sollen sie mitnehmen.«

Die rasierten Schädel nickten. Vier Augenpaare wechselten stumme Blicke.

»Noch eine Sache, Ma’am«, Goran hustete nervös, sah schräg von unten mit in viele Falten gelegtem Escher zu ihr auf.

»What?«

»Es gibt auch Probleme in Amsterdam.«

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We’ll sink with CaliforniaWhen it falls into the sea

– Youth Brigade

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TAG EINS. FREITAG, 14. JANUAR 2011

AURORA

Amsterdam

Vor dem Klingeln hat Bey an ihrem Rechner gesessen, Deadline in einer Woche. Die Nachmittagsstunden sind immer die kostbarsten und meistens zögert sie, wenn auch mit schlechtem Gewissen, den Moment hinaus, in dem sie im Nieselregen das Haus verlassen muss, um mit klammen Fingern fluchend an den schweren Fahrradschlössern herumzunesteln und dann bei Gegenwind den Deich hinab und durch den kleinen Wald zum Kindergarten zu strampeln. Es hat mit dem Wetter zu tun, davon ist sie überzeugt. Neben tausend anderen Gründen. Dass es sich nicht wirklich zu den vollen hundert Prozent integrieren lässt.

Hundert Prozent. So hatte sie sich das vor dreizehn Jahren vorgestellt. Aber da hatte sie noch keine wirkliche Ahnung gehabt von dieser nassen Kälte und von dem Wind, der keine Widerstände zu kennen schien.

Sie zoomt ein und dreht das 3D-Modell um die Z-Achse, der Fabrikant wartet schon auf die Zeichnungen.

Ihre misslungene Integration wird ihr täglich durch leichtbekleidete und unbekümmert vorbeiradelnde Einheimische vorgeführt. Deutsche Expats dagegen enttarnen sich mit saisonaler Regelmäßigkeit durch ängstliche Wollmützen und Handschuhe schon bei acht Grad über Null, Einheimische können es bis zu minus fünf aushalten. Auch bei starkem Regen und wind tegen lassen sich die sympathisch ungekämmten nordholländischen Lockenköpfe in unbedecktem Zustand bewundern. Gegen solch genetische Übermacht ist einfach nicht anzukommen.

Vor allem, wenn sich die eigenen Erbanlagen zur Hälfte aus orientalischem Material zusammensetzen und man auch noch die libanesische Hauptstadt als Vornamen trägt. Beyrouth. Weil sie das dauernde Nachfragen so nervte, hatte sie schon in der Grundschule die beiden Silben voneinander getrennt geschrieben, das o in der zweiten fallen gelassen und behauptet, dass es sich hierbei um einen Doppelnamen handele: Bey Ruth. Bey klang cool, enigmatisch irgendwie, und mit Ruth konnten alle leben. Nordeuropäer brauchen Orientierungshilfen.

Das mit den ungeeigneten Erbanlagen kann weitreichende Konsequenzen haben. Jeder Besuch beim Hausarzt der soundsovielten Grippe wegen (da man aus dem unbedingten Willen zur Assimilation wiederholt und vergeblich versucht hat, ohne Mütze und Schal das Haus zu verlassen) wird zu einer Herausforderung, will man sich nicht abwimmeln lassen. Oder schlimmer noch, als Hypochonder gelten. Sie hat innerhalb der vergangenen Jahre fünf Hausärztinnen verschlissen. Bei ihrer jetzigen hatte sie erstmal um ein Kennenlerngespräch gebeten.

»Ich komme aus Deutschland, und habe vielleicht etwas andere Bedürfnisse …«

»Das geht schon klar«, hatte ihr die freundliche doktortitellose Dame in den Fünfzigern mit dem grauen Kurzhaarschnitt und dem resoluten Auftreten versichert. »Wir haben hier einige deutsche Frauen, die wollen immer einmal im Jahr zum Gynäkologen. Gar kein Problem.«

Bey ändert die Anschrägung der Tischplattenkante im Drahtmodell, lässt dann das Rendering laufen.

Draußen türmen sich Wolkenberge über Gartenzaunspitzen, der Regen dreht sich im Wind. Auf der Wetter-App hängt er als blauer Schleier über Amsterdam Noord, sind aber hoffentlich gleich vorbeigezogen. Sie sollte wirklich demnächst los.

Der Umzug zum Deich vor drei Jahren hatte nicht gerade zur Verbesserung ihrer Wetterempfindlichkeit beigetragen. Und sie hatte ihre Zweifel gehabt. Amsterdam Noord war ihr viel zu weit ab vom Schuss, zu all-white, zu all-Dutch, zu sehr reine Wohngegend gewesen, sie würden beide die Innenstadt vermissen. Aber in der Innenstadt war schon seit Jahren keine bezahlbare Dreizimmerwohnung mehr zu bekommen, wenn man nicht ein feuchtes Souterrain beziehen wollte, unter dessen neu aufgetragenem Putz sich schon wieder die ersten Blasen bildeten. Außerdem hatte Nikki sich in das Haus verliebt, auf den ersten elektronischen Blick ins Portal einer Immobilienseite. Er wohnt gern großzügig, und auch wenn sie angesichts der Verschuldung von einer guten Viertelmillion pro Kopf immer noch schlaflose Nächte hat, versichert er ihr stets in seiner unerschütterlich sonnigen Art, dass alles gut werden wird.

Sie musste ihm beim ersten Besichtigungstermin letztendlich Recht geben, das Haus war fantastisch: ein klassisches Deichhaus mit alten Balken, knarrenden Böden und sonnenübergossener Terrasse. Ein kleiner Wald war nur ein paar Spazierminuten entfernt. Außerdem war es Juni, die Sonne schien, die Vögel sangen, die Nachbarn schienen nett, ihren Zweifeln ging die Luft aus.

Als sie schließlich das Haus bezogen, war es November geworden. Einer der nassesten seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Die Terrasse ersoff im Regen, wurde in der salzhaltigen und feuchten Luft glitschig und verfärbte sich grün. Bey trat nur vor die Tür, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Das hieß also zweimal täglich, denn Béla ging da immer noch in die Krabbelstube in der Innenstadt, das Berkenbosje. Der Weg von hier aus bis ins Zentrum ist weit für eine wie sie, die jahrelang dort gelebt hat und von den geringen Entfernungen verwöhnt ist. Der Wind auf der langen geraden Strecke über den Deich bis zur Fähre hinunter ist gnadenlos, er peitscht den Regen volle zwanzig Minuten lang auf frisch gewaschenes Haar, gerade aufgetragenen Mascara und neue Wildlederschuhe. Auf der Rückfahrt hat er sich dann auf magische Weise gedreht. Sie unterstellt ihm einen gewissen Hang zum Sadismus.

Als im Jahr darauf endlich ein Platz frei wurde in dem Kindergarten in Noord, praktisch um die Ecke ihres neuen Zuhauses (nur durch den kleinen Wald, wirklich nur fünf Minuten mit dem Rad), hatte sie gehofft, dass sich ihr Gesundheitszustand bessern würde. Aber der holländische Wind gewinnt immer.

Draußen stürmt es jetzt, Regentropfen klatschen horizontal an die Scheiben. Bestimmt gleich vorbei. Sie legt schnell noch ein neues Detailblatt im Maßstab 1:5 an für die Verankerung der Tischbeine.

Nach drei Jahren Deich vermisst sie die Innenstadt noch immer. Das Haus am Singel mit den hohen Stuckdecken, das Rotlichtviertel, die Enge der Grachtenstraßen, durch die jeden Morgen ein hoffnungslos verspäteter Berufsverkehr quillt, das Gemütliche des Jordaan, die sexy Studenten im De Pijp, das lebensgefährliche Radfahren auf dem Haarlemmerdijk, die kleinen Boutiquen und winzigen Cafés, die wie eine Handvoll schimmernder Perlen über die gesamte Stadt südlich des Ij ausgestreut sind. Amsterdam Noord ist dagegen eine inspirationslose Wüste, eine Le-Corbusianische Vergewaltigung des öffentlichen Raumes. Auch Rem Koolhaasens ratlos rosane Würfelhäuser entlang des nördlichen Ij-Ufers haben nicht wirklich geholfen, die desolate Atmosphäre zu verbessern.

Der Sommer war nach dem ersten nassen Winter auch in Noord wiedergekehrt, um alles in ein versöhnliches Goldgelb zu tauchen. Die Nachbarn sind wirklich nett und ihre Kinder zu Bélas Freunden geworden. An den Nachmittagen fallen sie als Rudel in jedes Haus in der Nachbarschaft ein, um die neuen DVDs zu begutachten, Bob de Bouwer oder Sesamstraat, den Kühlschrank und das Süßigkeitenfach zu plündern, um dann als vernichtende Staubwolke zum nächsten Haus zu ziehen. Béla ist hoffentlich glücklich hier.

Und ist es nicht so, dass glückliche Kinder auch glückliche Eltern machen?

Vielleicht tickt sie selbst nicht so. Vielleicht ist sie einfach ein bisschen selbstsüchtiger als all die anderen Eltern hier auf dem Deich. Altersheim in spe schimpft sie seit Kurzem, weil sich immer mehr abzeichnet, dass die netten Nachbarn sich einrichten auf einen zukünftigen Lebensabend bei Grillfeuerchen am Deich und Spaziergängen durchs Wäldchen, in der Hoffnung, hier später mal mit den Füßen voran weggetragen zu werden. Auf Grund dieser Langzeitperspektive wird investiert in das Kennenlernen eines jeden Vorbeigängers, vorzugsweise mit Hund. Jeder kennt jeden, weiß alles über jeden und dementsprechend wird gelästert. Sogar unter den jungen Newcomer-Familien. Die lachen über die alten Noorderlinge, die ehemaligen Hafenarbeiter von Noord, die sich die vergangenen Jahrzehnte im Schiffsbau auf der NDSM die Seele aus dem Leib malocht und jeden Cent in ein eigenes Häuschen auf dem Deich gesteckt hatten, bis die Werft pleite ging. Viele sind schon gegangen, andere ziehen gerade erst weg, nach Purmerend, weg vom Deich, den sie bis hierher als ihr Lebensziel formuliert hatten, sich aber nun mit dem Unglück konfrontiert sehen, mehr und mehr von politisch korrekten Yuppies umgeben zu sein. Besonderes Objekt des Geschwätzes unter den Neuzugezogenen sind die Notebooms auf der anderen Straßenseite. Die mit dem kleinen fetten Köter und dem Hang zu eigenartigen Hausverzierungen, aber dem Herz an der richtigen Stelle. Nikki findet, sie übertreibt.

Ihre eigenen Freunde sind immer noch über alle Stadtteile auf der anderen Ij-Seite verstreut. Zu den Partys kommen sie, aber Bey vermisst die unkomplizierten Verabredungen an Wochentagen in einem suspekten Café auf dem Zeedijk oder zu einem sehr spontanen Eintopf in einem unaufgeräumten Wohnzimmer im Jordaan. Wasser als psychologische Barriere. Sie sieht ihre Freunde deutlich seltener jetzt.

Natürlich ist es ein bisschen ungerecht, alles auf Noord zu schieben, der Einfluss des Familienzuwachses ist bei ihren Innenstadtfreundinnen ebenfalls ungeheuerlich. Wie Meteoriten aus fernen Sonnensystemen schlagen die Kleinen ein ins Leben ehemals hedonistischer Nachtvögel und verwandeln alle, die das Aufziehen der Nachkommenschaft auch nur ansatzweise seriös betreiben wollen, auf magische Weise in proaktive Befürworter von regelmäßigen Mahlzeiten und Zu-Bett-geh-Ritualen. Neue Zwänge, die man jahrelang dankbar und mit Begeisterung annimmt. Eine spannende Reise zu den kleinsten Partikeln der Kernfamilie. Cocooning to the max.

Vielleicht liegt es am sinkenden Oxytocin-Spiegel, oder einfach an der Langeweile, die sie bei den sich andauernd um die Kinder kreisenden Gesprächen mit anderen Müttern empfindet, dass sie sich in letzter Zeit so rastlos fühlt. Kaum eine der anderen Mütter hier scheint eine Partyvergangenheit zu haben, geschweige denn zu vermissen. Oder, frivolste aller Hoffnungen, eine solche offen zuzugeben. Über spätjugendliche Exzesse sollte man besser schweigen, wenn das eigene Kind noch eine Chance auf Verabredungen zum Spielen haben will. Musik spielt keine zentrale Rolle im Leben der meisten hier auf dem Deich. Vom Konzertpianisten ein paar Häuser weiter und der Opernsängerin am Ende der Straße mal abgesehen. Ein Leben jenseits von guten Beats, zwielichtigen Clubs wie dem Vaaghuyzen, dem Sammelbecken aller angesagten Underground-DJs der Stadt, und Partys an geheimen Orten oder irgendwelchen besetzten Häusern war vor Béla undenkbar gewesen. Sie hatte 1998 im stockfinsteren OLVG, einem leerstehenden besetzten Krankenhaus, ihre düstersten D’n’B-Scheiben (aus dem hoffnungslos chaotischen Distortion Records) aufgelegt. Oder bei einer von Merlijn Twaalfhovens Performances, in den Kalenderpanden. Über das gesamte Geschoss der besetzten ehemaligen Lagerhallen aus dem 19. Jahrhundert hatte er Musiker verteilt, die im Stockdunkeln und jeweils außerhalb der Sicht- und Hörweite der anderen mit Grubenlampe und Stoppuhr ausgerüstet, eine seiner ersten Kompositionen spielten. Unter dem historischen Gebälk verrenkten sich dazu sehr professionell eine Handvoll junger vielversprechender Modern-Dance-Studentinnen inmitten der Zuschauer. Es war magisch. War so neu, so inspirierend, dass sie das Gefühl hatte, zu schweben. Auf der Party danach knarrten die alten Eichenböden dermaßen unter der tanzenden Meute, dass sie kaum auflegen konnte, weil die Nadeln dauernd von ihren Plattentellern sprangen.

Der Sturm legt sich wieder, gleich hört sicher der Regen auf. Kurz vor fünf. Sie zeichnet noch schnell die Schrauben ein, fügt Maße hinzu.

Und doch lebt sie jetzt in einem Paralleluniversum aus Puppentheater und Pausenbroten. Nur ihre Plattenkisten scheinen wie ein Porthole aus dieser anderen Welt zu winken. Wobei auch die täglich kleiner zu werden scheint. Die ehemals als Geheimtipps gehandelten Institutionen der Nacht finden immer öfter an den Stadträndern weitab vom Zentrum eine neue Bleibe, wenn sie nicht für immer schließen müssen. Der Exodus hat schon in den späten Neunzigern schleichend eingesetzt. Die Kalenderpanden sind längst geräumt zugunsten von unbezahlbaren Luxusappartements mit viel Glas, das Vaaghuyzen ist seit einiger Zeit verrammelt, wie sie vor Kurzem bei einem sentimentalen Abstecher in den kleinen Steg in der Fußgängerzone feststellen musste. Auch das besetzte Kaufhaus in der Kalverstraat, inmitten der shoppingbesessenen Massen, dessen Innenleben einer Filmkulisse aus Themroc oder Planet of the Apes glich, ist verschwunden, das Pakhuis Afrika einem Designer-Möbelladen gewichen, einer der schmerzhaftesten Verluste echter Subkultur: Das gähnende Kellerfenster eines ehrwürdigen Lagerhauses, aus dem noch um vier Uhr morgens der Nebel drang, inmitten der dystopisch anmutenden Landschaft eines aufgegebenen Binnenhafens mit seinen schlafenden Landzungen und dem dazwischen an den Kaimauern leckenden, stumpf glänzenden Ij-Wasser. Eine steil abfallende Laderampe als einziger Zugang, über der ein kurzes Schiffstau baumelte. Gut festhalten und der Schwerkraft vertrauen. Drinnen alles schwarz, keine Hand vor Augen sichtbar, geschweige denn die anderen Tanzenden, dafür umso mehr Körperkontakt. Die Nebelmaschine auf Full Blast, ebenso die Speakertürme, die unter dem plötzlich einsetzenden Stroboskoplicht zuckend aufblitzten. Aggro-Jungle mit dröhnenden Bässen, die jeden Knochen im Inneren pulverisierten. Sie hatte den Geruch von Kunstnebel und Schweiß tief in ihre Lungen gesogen. Am liebsten hätte sie in jeder einzelnen solcher Nächte die Luft angehalten und erst zu Hause wieder ausgeatmet, um ein paar Moleküle der Nacht in den Morgen zu retten. Der Weg hinaus war dann ein kleines Kunststück gewesen, eine Kraftanstrengung für die verschwitzten, übernächtigten Leiber, die sich mühsam mithilfe des Seils die Rampe wieder hinaufziehen mussten und, geblendet vom frühen Morgenlicht, aus dem Kellerloch stolperten.

Oder das alte Graansilo: Ein besetzter Komplex mit Künstlerateliers und einer Galerie im Erdgeschoss, vom Ij-Wasser umschlossen, vor deren bodentiefen Fenstern, die fast bis zu den Wellen reichten, majestätisch die nächtlich erleuchteten Schiffe vorbeiglitten, drinnen eklektische Tanzperformances zwischen irren Kunstobjekten, der Raum vibrierte, Horizonte verschoben sich, und über allem thronten, wie überdimensionale Stalaktiten, die mächtigen Getreidetrichter aus massivem Beton, gebaut für die siebzehntausend Tonnen Korn, die hier seit 1898 hindurchgerauscht waren. Unser täglich Brot. Ein surrealer Ort, der bald verschwunden war zugunsten neuer Wohneinheiten. Immerhin hatte man das Ganze nicht abgerissen.

Dafür gab es später unter anderem die Kirche an der Zuidas und das Kingkong an der A10, dem Autobahnring rund um Amsterdam. Wobei die Kirche auch schon wieder zum Edelrestaurant mutiert ist, und die Technopartys in dem okkulten runden Raum im Untergeschoss mit Carl Cox und seinesgleichen nur noch in der verblassenden Erinnerung einiger verhuschter Nachtfreunde existieren. Das Kingkong, ein besetzter Appendix eines leerstehenden gigantischen Versicherungskomplexes, in Beys Erinnerung ein Wirrwarr an Durchgeknalltheit, das sich über vier oder fünf Geschosse erstreckte und sich ihr aufgrund von Alkoholpegel und fortgeschrittener Uhrzeit nie komplett erschlossen hatte, konnte sich brüsten, die weltbeste Aussicht zu haben, die ein illegaler Club je hatte. Die Fenster lagen direkt am Autobahnring, Formel-Eins-Gucken beim Feiern. Vom ehemaligen Corneroffice aus, das als geheimes Restaurant diente, war der Blick am spektakulärsten gewesen. Sie hatte da aufgelegt für eine Handvoll illustrer Gäste. Auch dieser Ort verschwunden. Das Kingkong geräumt, der megalomane Büroklotz geschlossen. Das heterogene Ensemble steht schon seit Jahren ungenutzt an der A10 herum.

Der Vorteil der Clubmigration zu den Rändern der Stadt ist unbestritten, man kann Krach machen bis in die Puppen. Aber so werden auch die schrägen Gestalten der Nacht nach und nach aus dem Stadtzentrum hinauskomplimentiert. Die Stadt, das wilde Agglomerat, der Kessel Buntes, um eine Farbschattierung ärmer.

Selbst wenn sie wollen würde, den Anschluss an die Wege der sich stetig weiterbewegenden Karawane der ewig Feiernden würde sie nicht mehr so ohne weiteres finden. Sie hatte vor ein paar Wochen zu Nikkis Geburtstagsparty mal wieder ein paar Scheiben auf ihre 1210er gelegt und mit leichtem Schock festgestellt, dass seit dem letzten DJ-Gig in der Republiek mit schwangerem Sieben-Monats-Bauch mehr als vier Jahre vergangen waren. Vier Jahre.

Andererseits wäre es zu jedem denkbaren Moment während dieser langen Zeit utopisch gewesen, um fünf Uhr morgens aus einem verrauchten Club nach Hause zu kommen und um sechs schon wieder die erste Raubtierfütterung abhalten zu müssen. Oder sie Nikki aufzubürden, und dann selbst verkatert, unausgeschlafen und entsprechend schlecht gelaunt daneben und in den Seilen zu hängen. Es ist schon okay so. Ein gutes Opfer.

Ein Blick in den Himmel zeigt neue Wolken, selben Regen. Auf der Wetter-App hängt der blaue Schleier immer noch über Noord. Das Warten hat keinen Zweck, höchste Zeit, loszufahren. Béla wird sie ohnehin durch blonde Strähnen hindurch mit vorwurfsvollen Blicken begrüßen und ihr sein Warumkommstduimmersospät entgegennuscheln, denn die anderen Kinder werden immer schon um vier von ihren Mamas abgeholt.

Sie hat den Regenmantel schon an, schlüpft gerade in die Gummistiefel, als es auch noch an der Tür klingelt. Béla wird diesmal zurecht sauer sein.

Es ist einer der üblichen DHL-Kuriere, die ab und zu Repros für ihre Projekte vorbeibringen, in diesem unvermeidlichen Aurora-Haushaltsmehl-Outfit aus Sonnengold und Morgenrot. Diesmal drückt er ihr nur einen Briefumschlag in die Hand, tippt auf seinem Gerät herum und hält ihr das Plastikstäbchen vor die Nase.

»Für den Brief?«

»Express International, Zustellung selber Tag«, zucken die sonnengelben Schultern des Kuriers.

Seltsam, sie erwartet nichts …

Beyrouth Hammadi-Zoom. Sie unterschreibt hastig in dem digitalen Fensterchen und während sie die Tür schließt, wirft sie einen schnellen Blick auf den Briefumschlag. Für gewöhnlich lässt sie die Post einfach auf ihren überfüllten Arbeitstisch fallen. Doch sie hält inne. Express International. Ihr fällt jetzt erst auf, dass die Hausnummer nicht stimmt. Kompliment an den Kurier, meistens reicht für diesen privatisierten Verein ein winziger Patzer schon aus, um Sendungen als unzustellbar zu klassifizieren. Sie dreht den Brief um und der Absender lässt ihren Atem stocken. Ihre Hände fühlen sich plötzlich schwitzig an, sie starrt auf die zierlichen Lettern, die ihr so bekannt vorkommen. Ganz langsam sinken ihre Knie auf die Holzdielen.

Mariko und Hauke und die Zwillinge auf abgenutzten Plastikstühlen, er wie immer besonnen in seinen Bewegungen, sie haltend in dieser schweren Stunde. Und sie selbst im selben Raum, ein taumelndes Gefühl im Körper, den sich gegenseitig Haltenden gegenüber, die ihr vorwurfsvolle Blicke zuwerfen.

Sie streicht nervös über das kalkweiße Papier. Der Brief kommt aus Berlin. Warum Berlin? Hasste Mariko die Stadt nicht? Diese hässliche, dreckige, dunkle Stadt. Und was um alles in der Welt soll nach solch langer Zeit ein Brief an sie? Dreizehn Jahre her. Wie zum Teufel hat Mariko ihre Anschrift herausgefunden? Na ja, teilweise herausgefunden. Von denen, die damals die ganze Geschichte mitbekommen hatten, weiß seit dreizehn Jahren keiner, wo sie wohnt. Nur Stella (ach, Stella!), aber Stella lebt schon lange in Schweden, sie haben seitdem keinen wirklichen Kontakt mehr. Was die beste Lösung für beide ist. Iggy selbst kann nicht dahinterstecken.

Der Umschlag beginnt langsam feucht zu werden in ihrer schweißnassen Hand.

Sie dreht ihn immer wieder um, als ob es irgendein verborgenes Zeichen gäbe. Aber da ist weiter nichts. Nur Marikos feine Handschrift.

Sie gibt sich einen Ruck, steht vom Fußboden auf und legt den Brief beiseite, sie ist jetzt schon eine Viertelstunde zu spät.

Béla ist sauer. Der arme Junge ist immer völlig ermattet nach einem langen Tag im Kindergarten mit dem ständigen Gekreische. Wenn sie den Ausführungen der Betreuerinnen Glauben schenken darf, tobt er die ersten Stunden fröhlich mit, bevor er wirklich nur die letzte halbe Stunde im Wii-Raum sitzt. In einem Zustand, der sie jedes Mal erschreckt, wenn sie ihn in allen Räumen gesucht hat und ihn dann endlich als kleines ferngesteuertes Bündel in einem der großen Sessel vor der riesigen, flimmernden Leinwand findet, die Augen weit aufgerissen, gläsern.

Sie macht sich Sorgen. Natürlich macht sie sich Sorgen. Seit in den Tageszeitungen immer wieder die Rede ist von einem Erzieher, der angeblich in Kindergärten sein Unwesen treiben soll. Es werden keine Namen genannt. Weder der des Kindergartens noch des Verdächtigen. Es lasse sich noch nichts Konkretes sagen, es helfe nur, Ruhe zu bewahren und auf Verhaltensauffälligkeiten beim eigenen Kind zu achten. Leicht gesagt, bei einem durchgehend verhaltensauffälligen Kind. Den Termin beim Kinderpsychiater hatten sie vor zwei Wochen gehabt. Das Testergebnis sollte jeden Moment kommen.

Sie kniet sich hin, streicht ihm die blonde Mähne aus dem feinen Gesicht. Dieses Blond, das sie immer wieder erstaunt. Das ihr so fremd erscheint. Sie war bis zu seiner Geburt fest davon überzeugt, dass Béla, getreu der Mendelschen Lehre, zumindest braunes Haar bekommen würde. Doch er ist und bleibt noordhollandsblond. Eine Kopie von Nikki. Auf dem Spielplatz wird sie oft gefragt, ob das wirklich ihr Kind sei. Sie sucht seinen Blick.

»Tut mir leid, mein Schatz, mir ist was dazwischengekommen.«

»Jaja, bestimmtwiedersowaslangweiliges …«

Er schiebt eine schmollende Unterlippe vor, auf seiner kleinen Stirn bildet sich eine steile Falte, die viel zu groß wirkt, die dünnen Ärmchen hat er wütend vor der Brust verschränkt.

»Na komm, lass uns mal schnell nach Haus.«

Es dauert sicher noch zwanzig Minuten im Gedränge des kleinen Windfangs, mit viel Getrete auf fremde Füße anderer genervter Elternteile und durchgedrehter Kinder, durchsetzt mit dem unbekümmerten Gequatsche der besorgniserregend jungen Betreuerinnen, ehe er in behandschuhtem und bemütztem Zustand auf seinem kleinen Fahrrad sitzt. Diesmal liegt es nicht nur an Bélas Müdigkeit und Unwille zur Kooperation. Sie ist abgelenkt, der Brief geht ihr nicht aus dem Kopf.

Zu Hause muss gekocht werden, während Béla sich, hoffentlich ohne frühabendliches Tantrum, irgendeinem ruhe- und sinnstiftenden Spiel widmet. Nikki kommt erst in einer Woche aus New York zurück, sie wird das abendliche Zeremoniell aus Zähneputzen und Zubettgehen allein bestreiten müssen sowie das bisschen Haushalt, wie immer, wenn Nikki sich in der Welt herumtreibt auf seinen Fachtagungen, bevor sie sich wieder mit dem Brief aus Berlin auseinandersetzen kann. Obwohl eigentlich das Tischbeindetail dringend zu Ende gezeichnet werden will.

Sie serviert, nicht ohne das sich wiederholt meldende schlechte Gewissen der arbeitenden Mutter, eine äußerst uninspirierte Kombination aus Nudeln mit Erbsen und Möhren aus der Dose. Ansonsten bemüht sie sich wirklich um gute Ernährung, aber es gibt Ausnahmesituationen.

Béla isst mit halbem Appetit, auch sie lässt den Teller nach einigen Bissen stehen.

Sie bringt ihn unter dem üblichen Protest nach oben und hilft ihm beim Ausziehen, obwohl er das mit seinen beinah vier Jahren hervorragend selbst kann. Das Zähneputzen geschieht nachlässig, aber sie lässt es ihm heute Abend durchgehen. Natürlich kommt sie nicht um die Gutenachtgeschichte und ein, zwei Schlaflieder herum. Erst gegen zehn schleicht sie nach unten, in der Hoffnung, dass er wirklich gleich einschläft.

Im Wohnzimmer, das gar nicht als solches im klassischen Sinne eingerichtet ist, sondern eher als großzügiges Atelier mit zwei riesigen quadratischen Arbeitstischen und vier klobigen hölzernen Laborschränken, die Nikki ihr eines Nachmittages unvermittelt vor die Nase gestellt hatte (weil sie sonst einen sicheren Sperrmülltod gestorben wären, wie er strahlend versicherte), umkreist sie zögernd den Brief, der mittlerweile ganz zerknittert ist.

Sie erwägt, ihn einfach nicht zu öffnen und die Geschichte die Geschichte sein zu lassen, fertig. Sie hat ihr Leben hier, Zeit und Raum trennen sie wie ein Kontinent auf Drift von allem, was damals geschehen ist. Sie ist sich nicht sicher, ob sie sich von der Sturzflut der Bilder erfassen lassen will, die unweigerlich droht mit dem Öffnen des Umschlags. Die Erinnerungen, die sie jetzt schon heimsuchen, reichen ihr eigentlich völlig.

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Shooting galleries. Shot down galaxies.

The sea like turpentine, strike a match and blow a fire.

– The Leaving Trains

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SAFE I

Los Angeles

Karina kocht. Sie starrt auf die nackte, von wenigen Fettgewächsen bewohnte Felslandschaft hinter ihrem Haus, die getrost zu den teuersten Gesteinsformationen der Welt gezählt werden kann. Teurer sind wahrscheinlich nur die Granitfelsen von Lower Manhattan, die ihren Marktwert dadurch rechtfertigen, dass sie als Fundamente unter neuen Hochhäusern mit unbezahlbaren Apartments verschwinden. Tragende Basis der Immobilienblase.

Sie lehnt sich in ihrem weich gepolsterten Eames Chair zurück, schließt kurz die Augen, atmet tief durch. Das hätte nie passieren dürfen. Bei dem winzigen Zeitfenster, das gerade schmilzt unter den nichtsnutzigen Griffeln dieser Loser.

Als sie vor vier Tagen die SMS mit dem Filmausschnitt erhielt, waren ihr zwei Dinge sofort klar: Erstens, woher dieser Filmausschnitt stammte, nämlich von einer ganz bestimmten Art von VHS-Kassetten. Zweitens, wem sie das Desaster vermutlich zu verdanken hatte: Iggy – der vor dreizehn Jahren hatte aussteigen wollen und sich deshalb geweigert hatte, auch nur eine weitere dieser VHS-Kassetten auszuliefern. Eine Unregelmäßigkeit, die sie nicht mehr beheben konnte, weil sie da schon im Flieger saß, der sie weit, weit weg über den Atlantik tragen sollte. Sie und ihren kleinen Sohn Elia. Sie hatte das Risiko, dass ihr das alles irgendwann um die Ohren fliegen würde, erkannt und verdrängt.