Rache - Der verwaiste Thron 3 - Claudia Kern - E-Book

Rache - Der verwaiste Thron 3 E-Book

Claudia Kern

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Beschreibung

Die Schrecken der Vergangenheit ...

Es herrscht Krieg! Und während sich die Armeen der Nachtschatten und der Menschen gegenseitig vernichten, kehren die Vergangenen zurück. Mit dem Wiedererstarken der Magie hat auch dieses uralte Volk erneut an Macht gewonnen.

Während der Kampf um Westfall tobt und alle Augen auf die Provinz gerichtet sind, muss Ana um ihr Leben fürchten. Gejagt von Nachtschatten und Menschen gleichermaßen, zieht sie Somerstorm entgegen, wo das letzte große Gefecht auf sie wartet. Doch auch Anas Leibwächter Jonan ist auf dem Weg nach Norden, getrieben von der Suche nach Ana und verfolgt von den Nachtschattenjägern Westfalls.

Weder er noch Ana ahnen jedoch, dass der wahre Feind bereits innerhalb der Mauern lauert. Somerstorm ist längst ins Interesse der Vergangenen gerückt, denn dort liegt der Schlüssel zum Geheimnis ihrer Existenz.

Der epische Abschluss von Claudia Kerns Fantasy-Trilogie "Der verwaiste Thron".

Sturm - Der verwaiste Thron I.

Verrat - Der verwaiste Thron II.

Rache - Der verwaiste Thron III.

Claudia Kern hat als Autorin historische, Fantasy- und Science-Fiction-Romane verfasst. Sie ist außerdem als Übersetzerin tätig, schreibt Film- und Serienkritiken, Stories und Dialoge für Computerspiele und eine regelmäßige Kolumne im Science-Fiction-Magazin "Geek!". Als Kind entdeckte sie dank "Herr der Ringe" ihre Liebe zur Fantasy, der sie bis heute treu geblieben ist. Claudia Kern lebt und arbeitet in Berlin.


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Inhalt

CoverInhaltÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Epilog

Über dieses Buch

Die Schrecken der Vergangenheit …

Es herrscht Krieg! Und während sich die Armeen der Nachtschatten und der Menschen gegenseitig vernichten, kehren die Vergangenen zurück. Mit dem Wiedererstarken der Magie hat auch dieses uralte Volk erneut an Macht gewonnen.

Während der Kampf um Westfall tobt und alle Augen auf die Provinz gerichtet sind, muss Ana um ihr Leben fürchten. Gejagt von Nachtschatten und Menschen gleichermaßen, zieht sie Somerstorm entgegen, wo das letzte große Gefecht auf sie wartet. Doch auch Anas Leibwächter Jonan ist auf dem Weg nach Norden, getrieben von der Suche nach Ana und verfolgt von den Nachtschattenjägern Westfalls.

Weder er noch Ana ahnen jedoch, dass der wahre Feind bereits innerhalb der Mauern lauert. Somerstorm ist längst ins Interesse der Vergangenen gerückt, denn dort liegt der Schlüssel zum Geheimnis ihrer Existenz.

Über die Autorin

Claudia Kern hat als Autorin historische, Fantasy- und Science-Fiction-Romane verfasst. Sie ist außerdem als Übersetzerin tätig, schreibt Film- und Serienkritiken, Stories und Dialoge für Computerspiele und eine regelmäßige Kolumne im Science-Fiction-Magazin »Geek!«. Als Kind entdeckte sie dank »Herr der Ringe« ihre Liebe zur Fantasy, der sie bis heute treu geblieben ist. Claudia Kern lebt und arbeitet in Berlin.

Claudia Kern

RACHE

Der verwaiste Thron III

beBEYOND

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt aufVermittlung der Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Die Originalausgabe RACHE – DER VERWAISTE THRON erschien 2009 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Lektorat/Projektmanagement: Mirka Uhrmacher

Umschlaggestaltung: © Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deunter Verwendung von shutterstock: hayr pictures

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-4369-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für Roswitha und Rolf

Prolog

Ich war etwas Besonderes. Das sagte meine Mutter immer. Aber ich wusste es auch so. In unserem Dorf taten alle gern das, worum ich sie bat. Der alte Schmied Duk, der niemanden leiden konnte und seinen Schmiedehammer nach Kindern warf, wenn die vor seiner Tür spielten, schenkte mir das Holzpferd seines toten Sohns, nur weil ich ihm sagte, ich hätte es gern.

Die anderen Kinder mochten mich, wenn ich sie darum bat, und gingen mir aus dem Weg, wenn ich es vergaß. Die Erwachsenen starrten mich an oder tuschelten untereinander, wenn sie mich sahen. Gelegentlich verbot ich es ihnen, aber meistens ließ ich sie gewähren. Ich war ein Kind und genoss die Aufmerksamkeit. Ich war etwas Besonderes. Jeder im Dorf zeigte es mir.

Vielleicht war das der Grund, aus dem meine Mutter mich verkaufte, als die Männer kamen. Sechs Schwestern hatte ich und vier Brüder, aber ihre Wahl fiel auf mich. Ich stand im Stall an diesem Morgen und rieb unsere einzige Kuh mit frischem Stroh ab. Ich mochte diese Arbeit, deshalb hatte ich keinen anderen gebeten, sie für mich zu erledigen. Meine Mutter führte die Männer hinein und zeigte auf mich. Es war ein warmer Morgen. Sonnenlicht fiel durch die Ritzen im Holz und spiegelte sich in den Knöpfen der Uniformen. Es waren schöne Uniformen. Ich bat einen der Männer um seine Jacke, aber nichts geschah. Der andere griff nach meinem Arm und zog mich aus dem Stall in den Hof. Ich bat ihn, damit aufzuhören, aber er zog mich nur weiter, vorbei an zwei meiner kleinen Brüder, die zu weinen begannen, und an meiner großen Schwester, die mir wortlos nachsah. Meine Mutter folgte mir. Sie sprach von der großen Ehre, die ich über die Familie bringen würde, von den Heldentaten, die ich als Gardist vollbringen würde, aber ich sah nur die beiden Männer mit ihren toten Augen und zahnlosen Mündern. So wollte ich nicht werden, niemals. Also bat ich sie und bettelte, bis sie mir ins Gesicht schlugen. Dann sperrten sie mich mit anderen Jungen und Männern in einen Wagen. Ich sah, wie ein dritter Mann – ein Sklavenhändler aus Charbont namens Slergg Ogivers – meiner Mutter ein paar Münzen in die Hand drückte. Sie weinte nicht. Was geht in einer Mutter vor, die nicht einmal weint, wenn sie ihren ältesten Sohn verkauft? Ich kenne die Antwort nicht, und ich bin nie an den Ort zurückgekehrt, an dem ich sie hätte erfahren können.

Der Wagen brachte uns an der Küste entlang nach Charbont. Auf dem Weg dorthin kaufte Ogivers noch vier andere Jungen. Sie waren kleiner und jünger als ich. Keiner kam freiwillig mit.

Es war so eng in dem Käfig, dass man sich nicht hinlegen konnte. Ich saß meistens in einer Ecke, den Rücken an einen Balken gelegt, den Blick durch die Gitterstäbe nach draußen gerichtet. Es war ein guter Platz, besser als die meisten anderen. Ab und zu wollten andere ihn mir streitig machen, aber ich bat sie, das nicht zu tun. Ich versuchte, Ogivers um meine Freiheit zu bitten, aber er lachte nur und schüttelte den Kopf. Also betrachtete ich die Landschaft, die langsam draußen vorbeizog. Ich hatte mein Dorf noch nie verlassen, war noch nie in einer Stadt gewesen, kannte nichts außer Feldern, Hütten und dem Ufer des Großen Flusses.

Charbont erschien mir wie ein Wunder. Die Mauern der Stadt, die hohen Türme, die vielen Menschen, an denen wir vorbeifuhren, die Plätze und die gepflasterten Straßen. Für eine kurze Zeit vergaß ich sogar das Ziel unserer Reise, aber als sich die Tore von Ogivers’ Anwesen hinter uns schlossen und uns die Soldaten durch lange Gänge immer tiefer in die Erde hineintrieben, kehrte die Angst zurück.

Schließlich gelangten wir in eine Höhle. Wasser quoll zwischen den Felsen hindurch, stieg auf und floss zurück wie Luft in eine Lunge. Überall hockten Jungen und Männer am Boden. Sie waren blass, die Lumpen, die sie trugen, waren verschimmelt. Alles war feucht. Nur die Gardisten beachteten uns. Sie stießen uns zu Boden und sagten, wir müssten den Dreck essen, den das Wasser in die Höhle spülte. Wir weigerten uns. Sie prügelten auf uns ein, bis zwei starben und der Rest am Boden lag. Einer der Gardisten packte mich an den Haaren und begann mit der anderen Hand Dreck in meinen Mund zu schaufeln. Irgendwann schluckte ich. Meine Kehle brannte. Sand knirschte zwischen meinen Zähnen. Steine schnitten meinen Gaumen auf. Ein seltsamer Geschmack lag auf meiner Zunge, süß wie das Wasser des Großen Flusses und bitter wie die Asche eines Feuers. Ich übergab mich. Der Gardist schlug mir gegen den Kopf. Ich sah zu den anderen, die wie ich am Boden hockten, das Gesicht verschmiert von Dreck und Blut. Ein paar begannen mit den Händen im Schmutz zu wühlen und sich den Sand in den Mund zu stopfen. Die Gardisten schlugen nur die, die das nicht taten, also begann ich ebenfalls zu essen. Nach jeder Handvoll Dreck wollte ich mich übergeben, aber ich tat es nicht. Der Gardist ließ meine Haare los. Ich hielt den Kopf gesenkt. Um mich herum stöhnten und rülpsten Menschen. Gelegentlich schrie jemand. Das Plätschern des Wassers war wie ein Rhythmus für diese Melodie, das Rauschen des Großen Flusses wie ein Chor. Hätte ich damals geahnt, dass ich erst als erwachsener Mann wieder ins Tageslicht treten würde, ich hätte mich wohl mit dem Gesicht in eine Pfütze gelegt und auf den Tod gehofft.

Am Anfang sprachen wir noch miteinander, wir, die Neuen. In einigen Seitengängen der Höhle gab es Strohlager, die nur von uns und den Gardisten benutzt wurden. Diejenigen, die schon länger hier waren, schliefen einfach dort, wo sie saßen, und aßen weiter, wenn sie erwachten. Wir wussten nicht, was mit ihnen war, aber wir schworen uns, nicht so zu werden wie sie.

Niemandem gelang es. Niemandem außer mir.

Jeden Abend brachten uns die Gardisten Näpfe mit zerkochtem Gemüse und eingeweichtem Brot. Obwohl mein Mund geschwollen und entzündet war, zwang ich mich dazu, alles aufzuessen. Ich stellte mir vor, wie der Brei den Dreck in meinem Magen umschloss und hinausspülte, so wie das Wasser der Höhle es mit unserem Blut und unseren Zähnen tat.

Am Morgen – wir nannten die Zeit, zu der die Gardisten uns weckten, Morgen, auch wenn sich das Licht in der Höhle nie veränderte – wurden wir zu unseren Plätzen geführt. Bei uns Neuen achteten die Wachen genau darauf, wie viel Dreck wir aßen. Je tiefer das Loch vor einem beim Ende der Schicht war, desto wahrscheinlicher war es, dass man ohne Prügel zum Schlafplatz gehen durfte. Ich bat die anderen, mir bei meinen Rationen zu helfen. Während sie aßen, beobachtete ich die Gardisten, merkte mir, wer zu welcher Zeit kam und wie lange sie in der Höhle blieben. Das Auf und Ab der Wellen half mir, die Zeit zu messen. Ich wusste, dass ich fliehen musste. Ich sah es an den Gesichtern der anderen, sah, wie das Licht in ihren Augen immer dunkler, hörte, wie die Sätze, die sie sagten, immer kürzer wurden. Der Sand schien sie immer mehr auszufüllen, so wie ein Stundenglas. Sie selbst verschwanden daraus, Stück für Stück, Korn für Korn.

Ich spürte, wie der Sand auch mich veränderte. Etwas befand sich darin, das einen Teil von mir sättigte, der nie zuvor hungrig gewesen war. Es war ein angenehmes Gefühl. Ich hatte Angst davor.

Mein letzter Zahn führte mich zu der Harpune. Schon einige Tage hatte er locker gesessen, und ich war froh, als ich ihn endlich zusammen mit einigen kleinen Steinen ausspuckte. Er fiel vor mir ins Wasser. Ich griff hinein, um ihn wieder herauszuholen und so wie die anderen Zähne neben meinem Schlafplatz zu vergraben. Dabei berührten meine Finger etwas Glattes und Hartes. Ich zog daran, stieß es dann aber ebenso schnell wieder zurück in den Dreck.

Es war eine Klinge. Rau, schartig und verrostet, aber so lang wie mein Unterarm. Ich sah mich um. Es waren nur wenige Gardisten in der Höhle. Keiner von ihnen beachtete mich. Vorsichtig zog ich wieder an der Klinge. Sie löste sich aus dem Dreck. Ich hatte geglaubt, es sei ein Schwert, aber es war eine Harpune. Mein Herz klopfte. Da war sie, die Gelegenheit, auf die ich gehofft und die ich gefürchtet hatte. Ich schob die Harpune unter meine Beine, spürte das Metall auf meiner Haut. Sie hatte wohl nicht sehr lange im Wasser gelegen, denn unter dem Rost war sie fest.

Ich wartete und aß den schwarzen Sand. Die Höhle wirkte auf einmal kleiner als zuvor, die Menschen darin entfernter, so wie das nun mal ist, wenn man weiß, dass man einen Ort bald verlassen wird. Ich war bereits ein Fremder.

Ich klemmte mir die Harpune unter den Arm, als der Gardist mit meinem Napf auftauchte. Die anderen gingen längst nicht mehr zu ihren Schlafplätzen, und ich hatte mir angewöhnt, bei ihnen zu bleiben, um nicht aufzufallen. Doch an diesem Abend stand ich auf. Der Gardist sah mir nach, als ich zu meinem Schlafplatz ging. Ich spürte seine Blicke. Es waren noch zwei weitere Gardisten in der Höhle, ein dritter musste sich irgendwo in den Gängen befinden.

Ich setzte mich ins Stroh. Es gab mehrere Gänge in der Höhle, aber ich war mir sicher, dass nur einer zur Küche des Anwesens und damit in die Freiheit führte, denn die Wachen, die uns das Essen brachten, benutzten immer denselben Weg.

Der Gardist beobachtete mich immer noch. Ich sah sein Gesicht über den Rand meines Napfes. Ohne Zähne isst man langsam, aber ich bin sicher, dass niemand je langsamer gegessen hat als ich an diesem Abend. Der Gang zur Küche war weniger als einen Steinwurf entfernt, unerreichbar, solange der Gardist mich beobachtete. Mein Magen brannte, die Harpune drückte gegen meinen Arm. Ich wollte aufspringen und loslaufen, doch ich zwang mich, sitzen zu bleiben und zu essen, langsam, einen winzigen Bissen nach dem anderen.

Der Napf war fast leer, als jemand so laut würgte, dass man es über das Lied der Höhle hören konnte. Der Gardist drehte sich um und trat nach einem frisch eingetroffenen Mann. Ich blieb sitzen. Der Mann schrie und schlug um sich. Die beiden anderen Wachen gingen auf ihn zu. Ich stand auf. Der Napf fiel ins Stroh. Alle drei Gardisten umringten den Mann. Ich lief los.

Niemand beachtete mich. Die Schreie des Mannes hinter mir wurden leiser, als ich in den Gang rannte und die erste Biegung hinter mich brachte. Es ging bergauf. Meine Beine waren es nicht mehr gewöhnt zu laufen. Ich stolperte den Gang hinauf, fiel über meine eigenen Füße. Mir war schwindelig und übel. Immer wieder stieß ich mit dem Kopf an die Decke. War ich schon so groß gewesen, als ich in die Höhle kam? Ich weiß es nicht. Während ich lief, zog ich die Harpune unter meinem Arm hervor. Im Halbdunkel des Fackellichts wirkte sie dunkel und fleckig.

Der Gardist stand so unvermittelt vor mir, dass ich beinahe aufgeschrien hätte. Er trug einen Eimer mit zerkochtem Gemüse in der einen Hand und mehrere ineinandergestapelte Holznäpfe in der anderen. Er ließ beides fallen. Die Holznäpfe rollten den Gang hinunter, warmer Brei spritzte über meine nackten Füße.

Ich stieß zu, rammte die Harpunenspitze in den Bauch des Gardisten. Mit einem metallisch singenden Geräusch glitt sie von der Schnalle seines Gürtels ab und drang tief in den Körper ein. Der Schwung warf den Gardisten gegen die Wand. Ich hatte nicht gewusst, dass ich so stark war.

Der Gardist schlug nach mir. Sein Mund war aufgerissen, er stöhnte tief und gurgelnd. Seine Schläge trafen mich, brachen mir Nase und Kiefer, aber ich trieb die Klinge weiter in ihn hinein. Er trommelte mit Fäusten auf mich ein. Ich warf mich mit aller Kraft, die ich noch aufbringen konnte, gegen ihn. Etwas in seinem Körper knirschte, dann fielen seine Arme schlaff nach unten. Er sackte an der Wand zusammen. Seine Augen bewegten sich in den Höhlen, sein Kopf rollte von einer Seite zur anderen, aber der Rest seines Körpers bewegte sich nicht mehr.

Ich schnitt ihm die Kehle durch, in der Hoffnung, ihn damit erst einmal aufzuhalten. Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten, also kroch ich durch den Gang. Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder solche Schmerzen hatte. Es fühlte sich an, als habe der Gardist mir jeden Knochen im Körper gebrochen. Vielleicht war es auch so.

Irgendwann hörte ich Stimmen und das Klappern von Geschirr. Es ging nicht mehr bergauf. Der Gang endete vor einer großen, offen stehenden Holztür. Ich kroch darauf zu. Eine Frau schrie, als sie mich sah. Ich konnte nicht sprechen, aber sie verstand auch so, was ich von ihr wollte, ebenso wie die anderen, die mich ins Innere der Küche trugen und mir das Blut aus dem Gesicht wuschen.

Wie stark ich geworden war. Ohne ein Wort zu sagen, brachte ich die Köche, Knechte und Gehilfen in der Küche dazu, mich zu mögen, mehr noch, zu verehren. Sie brachten mich in eine kleine Vorratskammer, dann ging der Küchenmeister zu seinem Herrn, um ihm von meiner Flucht zu berichten. Slergg hängte ihn und einen der Knechte im Hof, die anderen peitschte er aus. Sie gaben mir nicht die Schuld daran. Ich verbat es ihnen.

Es dauerte viele Tage, bis meine Wunden heilten. In einer Wand der Vorratskammer, knapp unterhalb der Decke, gab es ein Fenster. Das Tageslicht, das auf mein Lager fiel, verbrannte mir die Haut und ließ meine Augen tränen, doch irgendwann wurde auch das besser.

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich meinen Auftrag erhielt und vom Herrn zum Diener wurde. Eine Stimme weckte mich früh am Morgen. Ich öffnete die Augen und sah das wunderschöne Gesicht einer Frau auf der anderen Seite des Fensters. Das Fenster lag so hoch, dass sie es eigentlich nicht hätte erreichen können. Ich war mir sicher, dass sie schwebte.

Und dann begann sie zu reden. Ihre Stimme war sanft und rein wie das Wasser des Großen Flusses. Sie erzählte mir von den Dingen, die ich tun würde, von den Menschen und den Nachtschatten, von dem Krieg, den ich für sie entfachen würde.

Ich hätte diesem Gesicht alles gegeben. In meinem Inneren wusste ich, dass sie mit mir tat, was ich mit den Sklaven in der Küche tat, aber das war mir egal. Solange ich ihr dienen konnte, war ich glücklich.

Sie befahl mir aufzubrechen. Meine Wunden waren noch nicht ganz verheilt, aber das war mir egal. Ich ging in die Küche, befahl den Sklaven, ihre Kleider auszuziehen, und schnitt ihnen nacheinander die Kehlen durch. Sie wehrten sich nicht, standen nur weinend und mit gesenktem Kopf da. Ich erklärte ihnen, dass ich nicht wusste, wie lange meine Kräfte sie an mich binden und was sie danach tun würden. Sie verstanden meine Lage.

Ich floh durch eines der Küchenfenster und über die Mauer des Anwesens. Es war früher Morgen. Über mir erstreckte sich der endlos weite Himmel. In der Höhle hatte ich ganz vergessen, wie frei man sich draußen fühlte. Ich ließ mein Gesicht in der Stadt tätowieren. Es waren so viele Gardisten unterwegs, dass ich Angst hatte, erkannt zu werden.

Ich ging nach Norden, so wie das Gesicht am Fenster befohlen hatte. Manchmal erschien es mir im Traum. Ich glaube, es konnte durch meine Augen blicken, sah, was ich sah, aber vielleicht bilde ich mir das nur ein.

In jedem Fall führte es mich zu dem Zwerg dort oben in Somerstorm an der Grenze zum ewigen Eis. Ich traf ihn in einer Taverne, so wie das Gesicht vorhergesagt hatte. Wir tranken, und als er schließlich aufstand, war er davon überzeugt, ihm wäre eine Idee gekommen. Dass es meine war, ahnte er nicht.

Die Zeit bis zu seiner Rückkehr verbrachte ich damit, Anhänger um mich zu scharen, Gaukler. Sie waren nicht besonders gut, aber für meine Zwecke ausreichend. Ich fand viel über mich heraus in diesen Tagen. Der schwarze Sand, den ich über die Jahre hinweg geschluckt hatte, war zu einem Teil von mir geworden. Ich spürte ihn in meinen Adern und in meinem Geist. Er durchsetzte mein Fleisch und meine Knochen. Durch ihn war ich so stark geworden, doch gleichzeitig zog er auch etwas aus mir heraus. Am Anfang, als ich meine Macht noch nicht einschätzen konnte, wäre ich einige Male fast gestorben, weil ich zu viel zu erreichen versuchte. Diese Schwäche störte mich, doch dann entdeckte ich etwas Neues: Ich konnte die Schwäche an andere weitergeben und gegen ihre Stärke tauschen. Das machte mich stolz. Ich hätte gern dem Gesicht von meinen Fortschritten erzählt, aber seit es mich zum Zwerg geführt hatte, war es nicht mehr aufgetaucht.

Der Zwerg kehrte zurück. Ein zweiter Mann war bei ihm. Wir redeten lange miteinander. Trotz all meiner Bemühungen schien er mir nicht zu vertrauen. Ich wusste nicht, dass sein Name Korvellan war, ebenso wenig war mir klar, dass die beiden Nachtschatten waren. Es wäre mir egal gewesen, selbst wenn ich es gewusst hätte. Ich tat, was das Gesicht von mir wollte, nicht mehr, nicht weniger.

Und so eroberten wir Somerstorm, die Nachtschatten, das Gesicht und ich. Die Gaukler ahnten nicht, was passieren würde, als sich die Türen des Festsaals schlossen und die Männer, die sie bei sich aufgenommen hatten, zu Nachtschatten wurden. Niemand ist ehrlicher als ein Lügner, der glaubt, die Wahrheit zu sagen.

Wir verließen die Festung, noch bevor die Nachtschatten sie unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Trotz des Siegs fühlte ich mich leer. Ich betete darum, das Gesicht noch einmal sehen zu dürfen, ihm noch einmal dienen zu können.

Die Flussgötter schickten mir Ana Somerstorm.

Nach dem Tod der Fürstenfamilie war sie die neue Herrscherin der gefallenen Provinz. Ich verstehe nicht viel von Politik, doch mir war klar, wie wichtig sie werden konnte. Ich beschloss, sie und ihren Leibwächter in meiner Nähe zu behalten und den Nachtschatten von ihrem Entkommen zu berichten. Wenn das Gesicht zurückkehrte, würde es sehen, wie sehr ich mich bemühte.

Doch das Gesicht kam nicht.

Wir zogen quer durch das Land. Blindnächte kamen und gingen. Ich wartete auf eine Nachricht der Nachtschatten, auf einen Traum, aber nichts geschah. Schließlich landeten wir als Gefangene auf einem Schiff. Ich versuchte uns zu befreien, aber ich war zu schwach. Meine Gedanken allein reichten nicht aus, weil ich zu viele gleichzeitig beeinflussen musste, weil ich meine Stärke überschätzt hatte. Sie saugten den Sand aus mir heraus wie Ungeziefer das Blut. Ich wurde so schwach, dass ich meinen Herzschlag nicht mehr hörte. Ich stürzte ins Wasser und sank immer tiefer. Meine Lunge füllte sich mit Wasser. Ich atmete nicht mehr. Es ist seltsam, wie ruhig der Körper im Tod wird. All die Geräusche, die einen ein Leben lang begleitet haben – das Klopfen des Herzens, das Rauschen des Bluts, das Säuseln des Atems –, verstummen. Nur die Stille bleibt und die letzten, verwehenden Gedanken.

Diejenigen, die von meinen Dienern zu Feinden geworden waren, sprangen mir nach. Mein Ertrinken reichte ihnen wohl nicht. Einer von ihnen griff nach meiner Schulter und riss mich herum. Die Reste des schwarzen Sands in mir bewegten meine Hand, legten sie auf die Brust des Mannes und drückten meine Finger in sein Fleisch. Der Mann ließ mich los, aber es war zu spät. Nur eine leere Hülle blieb von ihm zurück.

Ich kann mich an das, was als Nächstes geschah, kaum noch erinnern. Ich sehe mich durch den Fluss schwimmen, Menschen in einer Hütte töten, in einem Wald, auf einem Pfad. Da war ein Mann auf einem kleinen Pferd, den ich in Ruhe ließ, weil er nach Wahnsinn stank. Ich war hungrig, so hungrig. Ich aß Erde am Ufer des Großen Flusses, aber sie stillte den Hunger nicht.

Irgendwann begriff ich, dass ich tot war.

Ich glaube, ich weinte oder lachte. Es fällt mir immer schwerer, diese Dinge zu unterscheiden. Vielleicht tat ich beides.

Irgendwann traf ich auf die Miliz, die Nachtschatten in den Wäldern jagte. Sie sahen mich nur, wenn ich es wollte, und ich konnte sie um etwas bitten, fast so wie früher. Als ich dir begegnete, hatte ich bereits erkannt, dass ich Leben brauchte, um selbst zu überleben. Du warst das zweite große Geschenk auf meiner Reise. Gemeinsam werden wir gegen Westfall anstürmen, bis Menschen und Nachtschatten am Boden liegen, bis das Gesicht am Fenster erkennt, dass ich sein treuester Diener bin, und mir den Hunger nimmt, der mich verzehrt.

»Dies ist meine Geschichte«, flüsterte Daneel. Mit angezogenen Knien hockte er neben dem Fell, auf dem Schwarzklaue unruhig schlief.

Es war der achte Tag der Belagerung.

Kapitel 1

Der achtzehnte Fürst von Westfall, Laderick der Tumbe erließ ein Gesetz, das seinem Volk bei Todesstrafe verbot, etwas Schlechtes über ihn zu sagen. Bis zu seinem Tod nannte man Westfall hinter vorgehaltener Hand die »Stadt der Stille«.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2

Alles raus! Es geht wieder los!«

Jonan schlug die Decke zurück und griff nach seinem Schwert, noch bevor er die Augen öffnete. Das rötliche Licht des Sonnenuntergangs fiel durch schmale Fenster in den provisorisch eingerichteten Schlafsaal. Seit Beginn der Belagerung schliefen die Wachsoldaten in Sälen unterhalb der Türme. Das verkürzte die Wege.

Jonan hatte sich freiwillig für den gefährlichen Nachtdienst am Haupttor gemeldet. Die meisten Angriffe der Nachtschatten fanden dort statt, und die Zauber der Magier unterschieden nicht zwischen Mensch und Nachtschatten.

Noch nicht, dachte Jonan, während er sich das Schwert umschnallte und mit rund hundert anderen Wachsoldaten auf den Ausgang zulief. Ständig hörte er Gerüchte, dass die Magier an einem Zauber arbeiteten, der Nachtschatten, die sich in ihrer menschlichen Gestalt verbargen, enttarnen würde. Das war der Grund, weshalb Jonan sich für den Dienst am Tor gemeldet hatte. Nur eine Mauer trennte ihn dort von der Freiheit und der Suche nach Ana.

Er sorgte sich um sie mehr als um sich selbst. Nur kurz hatte er sie in Srzanizar gesehen, als die Nachtschatten die Stadt angezündet hatten und ihre Einwohner in Booten und auf Schiffen geflohen waren. Jonan wusste, dass Ana auf eines der Schiffe gekommen war, mehr jedoch nicht. Er hatte angenommen, dass sie versuchen würde, sich nach Westfall durchzuschlagen. Es war der einzige Ort, der ihr noch blieb. Doch sie war nie in der Festung angekommen.

Ein Teil von ihm war erleichtert, dass sie nicht von den Nachtschatten belagert wurde, doch ein anderer, weitaus größerer Teil fragte sich, was stattdessen mit ihr geschehen war.

»Weiße Armbinden nach oben, schwarze nach unten!«, brüllte Sergeant Mornys, ein älterer Mann mit langem Kinnbart, der irgendwann in seinem langen Soldatenleben verlernt haben musste, leise zu sprechen. Sein Sohn, Dogart, schlief auf dem Strohlager neben Jonan. Er würde eines Tages den Rang seines Vaters erben, so wie der ihn von seinem Vater und der von dem seinen geerbt hatte. Das hatte Tradition in Westfall.

Jonan reihte sich in die Gruppe der Soldaten mit schwarzen Armbinden ein. Männer gähnten und rieben sich den Schlaf aus den Augen. Es stank nach Schweiß. Seit Beginn der Belagerung schliefen sie in ihren Lederrüstungen.

»Ihr wisst, wofür ihr kämpft!«, brüllte Mornys. »Hoffnung!«

»Hoffnung!«, antworteten die Soldaten mit rauen Stimmen. Jonan lief mit ihnen durch die offen stehenden Türen die Treppe hinunter in den Hof der Festung.

Es herrschte Chaos. Kinder, Hühner und Hunde liefen zwischen den Soldaten umher, wichen ihren Stiefeln aus. Alte Männer hockten in hastig errichteten Unterständen, Frauen knieten vor kleinen Lagerfeuern, kochten oder trockneten feuchte Kleidung. Die meisten Bewohner der Stadt waren vor den Nachtschatten in die Felder geflüchtet, diejenigen, die es nicht rechtzeitig geschafft hatten, waren entweder zerfleischt worden oder hatten sich in die Festung gerettet. Craymorus, der neue Fürst Westfalls, hatte die Tore für sie geöffnet.

»Sie fressen uns die Vorratskammern leer«, hatte Jonan einen Offizier sagen hören. »Das hat er jetzt davon.«

Jonan lief zur linken Seite des Tors und kletterte über eine Holzleiter auf die Mauer. Hinter ihm fluchte Dogart, als er auf den glatten, nassen Steinen ausrutschte und beinahe hinfiel. Die anderen Soldaten verteilten sich. Speere und Bogen lagen in regelmäßigen Abständen neben ihnen auf dem Wehrgang. Ein Sklave verteilte Köcher voller Pfeile.

Jonan schnallte sich einen auf den Rücken und sah zwischen den Mauerzinnen auf die Stadt hinab. Dunkler Rauch stieg zwischen den Häusern auf.

»Wird Zeit, dass es mal wieder regnet«, sagte Dogart.

Jonan nickte. Seit Tagen versuchten die Nachtschatten, die Stadt anzuzünden. Wahrscheinlich hofften sie, dass das Feuer auf die Festung übergriff. Bisher hatten eigens dafür abgestellte Magier die meisten Brände löschen können, aber während sie es regnen ließen, konnten sie nicht bei der Verteidigung der Festung helfen. Ebenso wie die Menschen in der Festung hatten auch die Nachtschatten erkannt, dass die einzig ernstzunehmende Gegenwehr von den Magiern ausging.

»Wird Zeit, dass der große Zauber kommt«, sagte ein anderer Soldat, dessen Namen Jonan nicht kannte. »Dann hätte die ganze Scheiße hier ein Ende.«

Dogart hob die Schultern. »Die Magier kriegen das hin, Nyrdok. Wirst schon sehen.«

Nyrdok schien antworten zu wollen, aber ein lang gezogener klagender Laut unterbrach ihn. Die Späher, die auf den Türmen zwischen Bogenschützen standen, bliesen in ihre Hörner.

»Sie kommen«, sagte Dogart und spuckte aus. Im Gegensatz zu Jonan und Nyrdok trug er eine weiße Armbinde. Wenn der Befehl kam, würde er auf der Mauer bleiben und nicht nach unten laufen. Es hatte Vorteile, der Sohn eines Sergeanten zu sein.

Aus den Augenwinkeln sah Jonan die Magier. In kleinen Gruppen verließen sie das Innere der Festung. Sie trugen lange verdreckte Roben und waren barfuß. Hinter den Schilden der Leibwache, die sie wie Muschelschalen einschlossen, wirkten sie klein und verletzlich.

Menschen jubelten ihnen zu und applaudierten. Die Magier beachteten sie nicht. Ihre Gesichter waren verschlossen. Jonan sah Craymorus’ Vater Milus Ephardus und seinen deutlich jüngeren Bruder Adelus zwischen ihnen. Adelus lächelte als Einziger. Er war der Jüngste der fast einhundert Magier.

Unmittelbar hinter den Toren hatte man in einem großen Halbkreis die Pflastersteine entfernt. Die Magier blieben in dem knöcheltiefen Schlamm, den der Regen zurückgelassen hatte, stehen. Die Gruppen blieben unter sich. In den Tagen zuvor hatte Jonan erkannt, dass jede sich auf einen Zauber konzentrierte.

Und dann begannen sie zu tanzen.

Sie nannten es Tanz, aber das war es nicht. Die seltsam abgehackten, fremden Bewegungen waren weder rhythmisch noch anmutig. Füße stampften auf den Boden und stampften wieder, so als habe die ganze Welt einen Moment lang die Augen geschlossen und die Bewegung übersehen, die dazwischenlag, die dazwischenliegen musste. Die Arme der Tänzer flatterten wie Fahnen von ihren Körpern, scheinbar knochenlos und unkontrolliert. Ihre Köpfe zuckten vor und zurück und wieder zurück, als die Welt noch einmal blinzelte. Jeder Schritt, jedes Aufschlagen einer nackten Fußsohle im Schlamm knallte scharf wie ein Peitschenschlag und war doch so leise wie der Fall einer Feder. Schlamm spritzte in die ausdruckslosen, starren Gesichter der Magier. Schweiß lief über ihre Wangen, die Roben klebten an ihren Körpern, aber sie zeigten keine Regung.

»Mir wird schlecht, wenn ich sie ansehe«, sagte Nyrdok leise.

Jonan antwortete nicht. Die Tänzer faszinierten und verstörten ihn. Es war, als gehörten sie nicht in diese Welt, so als hätten sie sich den Platz darin erzwungen.

Als wären sie keine Menschen, dachte er, doch dann wehte eine Brise den Geruch der Nachtschatten zu ihm herüber, und er wandte sich ab. »Da sind sie«, sagte Dogart ein paar Lidschläge später.

Die Nachtschatten tauchten zwischen den Häusern am Fuße des Hügels auf. Ein paar nervöse Bogenschützen schossen Pfeile ab. Sie bohrten sich weit vor den Angreifern in den Boden.

»Wartet auf meinen Befehl!«, brüllte Mornys. Er ging auf der Mauer über dem Tor auf und ab. Sein dunkler Umhang, Zeichen seines Rangs, wehte im Wind. »Verschwendet eure Pfeile nicht!«

Nach und nach sammelten sich die Nachtschatten. Einige trugen primitive Schilde, die sie aus Fensterläden und Türen hergestellt hatten, andere hielten Speere oder Schwerter in den Klauen, doch die meisten verzichteten auf solche Hilfsmittel, zogen es vor, auf allen vieren in die Schlacht zu stürmen. Jonan wusste, wie schnell und stark Nachtschatten waren, welch tiefe Wunden ihre Klauen und Zähne reißen konnten.

Meine Klauen und Zähne, dachte er und ballte die Hand zur Faust, als die Erinnerung an das Blut seiner Feinde, an ihre Schreie und ihren Angstgestank ihn zu übermannen drohte.

Er sehnte sich nach der Verwandlung. Zweimal in seinem Leben hatte er dieser Sehnsucht nachgegeben, zweimal hatte er dafür bezahlt. Also lebte er weiter in seiner Lüge, stand Schulter an Schulter mit Menschen, die den Tod von all denen wollten, die so waren wie er, und bekämpfte die Einzigen, die sie davon abhalten konnten.

»Wartet!«, brüllte Mornys. Er hatte sein Schwert hoch über den Kopf gehoben. Erste Tropfen benetzten die Klinge. Es begann zu regnen.

Die Nachtschatten verließen die Deckung der Häuser. Einige gingen los, andere folgten ihnen. Niemand schien ihnen Befehle zu geben. Es gab keine Formation, keine erkennbare Strategie, nur eine gewaltige, ständig größer werdende Masse aus Körpern, die schneller und schneller der Festung entgegenhetzte.

»Scheiße, wo kommen die alle her?« Nyrdok spannte seinen Bogen. Die Pfeilspitze zitterte im Rhythmus seines Herzschlags.

Es waren tatsächlich mehr Nachtschatten als in den Tagen zuvor. Jonan schätzte, dass mehrere tausend den Hügel hinaufstürmten. Mit langen Sätzen sprangen sie über die Leichen ihrer gefallenen Kameraden hinweg und über die Krater, die von den Zaubern der Magier in den Boden gerissen worden waren. Die Schild- und Speerträger auf zwei Beinen folgten ihnen langsamer. Ein paar warfen sichtlich frustriert ihre Waffen weg und gingen auf alle viere.

»Wartet!«, brüllte Mornys erneut. Die vordersten Nachtschatten hatten die Hälfte des Hügels bereits hinter sich gebracht. Aus den Augenwinkeln sah Jonan, dass der Tanz der Magier wilder und frenetischer wurde. Vielleicht war dies ja der Tag, auf den alle in der Festung hofften. Vielleicht hatten die Magier ihren großen Zauber vollendet und würden die Nachtschatten mit einem Schlag hinwegfegen.

Jonan war wohl der Einzige, der nicht darauf hoffte.

Langsam spannte er seinen Bogen. Der Pfeil lag reglos auf seiner geballten Faust. Er zitterte nicht.

Nyrdok warf einen Blick auf seine Hand. »Du bist ein ganz schön kaltschnäuziger …«

»Jetzt!«, schrie Mornys. Er senkte den Arm.

Mit dem hellen Summen eines Wespenschwarms lösten sich Hunderte Pfeile von ihren Sehnen. Soldaten schrien ihnen Flüche und Gebete hinterher, während sie bereits nach neuen Pfeilen griffen. Nachtschatten versuchten der Salve mit wilden Haken auszuweichen. Jonan sah, wie einer von gleich drei Pfeilen in den Kopf getroffen wurde. Doch die meisten Pfeile blieben im Boden stecken, darunter auch seiner.

Dogart streckte die Faust in die Luft. »Ich hab einen erwischt!«

»Ich auch«, sagte Nyrdok.

Jonan hörte die Lüge in seiner Stimme. Schweigend zog er einen neuen Pfeil aus dem Köcher, zielte ins Nichts und schoss. Er hatte kein Interesse daran, die Nachtschatten von der Festung fernzuhalten. Je mehr durchkamen, desto größer das Chaos, desto einfacher seine Flucht.

Er warf einen Blick auf die Türme. Die Bogenschützen, die von dort oben schossen, gehörten zur fürstlichen Leibwache. Sie hatten den Befehl, jeden zu töten, der versuchte, die Festung zu verlassen. Die Offiziere fürchteten Deserteure fast so sehr wie Nachtschatten.

Zu Recht, dachte Jonan. Auf jeden Mann, dem es gelang, aus der Festung zu fliehen, kamen zehn, die es versuchten. Noch war die Lage unter Kontrolle, nicht zuletzt wegen Fürst Craymorus, zu dem die einfachen Soldaten mit fast kindlichem Vertrauen aufsahen. Er hatte ihnen die Magier gebracht, sie waren überzeugt davon, dass er ihnen auch den Sieg bringen würde.

Salve um Salve jagten die Bogenschützen über die Mauern, Schritt für Schritt kamen die Nachtschatten näher. Sie trugen keine Belagerungswaffen bei sich. Sie wussten, dass sie keine Rammböcke und keine Katapulte brauchen würden.

Man würde das Tor für sie öffnen, so wie bei jedem Angriff.

»Seid ihr blind?«, schrie Mornys von seinem Posten über dem Tor. »Auf was schießt ihr eigentlich?« Er stand auf und streckte den Arm aus, zeigte auf die Nachtschatten, die unbeirrt vorstürmten. »Da ist der Feind! Holt …«

Er brach ab. Eine hölzerne Speerspitze ragte aus seiner Brust. Er senkte den Kopf und brach in die Knie. Seine Hände tasteten nach dem Holz, umklammerten es, ließen dann los. Langsam kippte er zur Seite.

»Vater!«, schrie Dogart.

Jonan hielt ihn mit einer Hand fest. »Bleib hier. Er ist tot.«

»Ich weiß.« Dogart riss sich los. Geschickt kletterte er über die Zinnen und sprang auf die niedrigere Mauer über dem Tor. Dann hockte er sich neben seinen Vater.

Jonan duckte sich, als ein Speer vor ihm von den Steinen abprallte. Die Nachtschatten kamen immer näher. Das Trommeln ihrer Klauen auf dem nassen Boden mischte sich in den Tanz der Magier, gab ihm einen Rhythmus, den er zuvor nicht gehabt hatte. Ihr wütendes Brüllen hallte von den Mauern wider.

»Wo ist der Sergeant?«, rief einer der Soldaten, die neben den Tanzenden standen und ihre Schilde über sie hielten.

»Tot«, rief ein anderer zurück.

»Nein.« Dogart stand auf. Er legte sich den blutigen Umhang seines Vaters um und hielt ihn mit einer Hand fest. Mit der anderen wischte er sich Regentropfen und Tränen aus dem Gesicht. »Ich bin der Sergeant.«

»Dann sag deinen Leuten Bescheid. Es geht los.« Der Soldat nickte den Magiern zu und sagte etwas, das Jonan nicht verstand. Die Magier reagierten nicht.

Dogart wirkte verloren, allein auf der Mauer. Er zog den Umhang fester um sich. Blut tropfte auf seine Stiefel.

»Deine Befehle!«, rief der Soldat.

Jonan zögerte einen Moment, dann stand er auf. »Die Magier sind bereit. Männer mit den schwarzen Armbinden: Schnappt euch Speere und Schwerter! Unterstützt die Schildträger am Tor. Weiße Armbinden bleiben oben und schießen. Passt auf die Nahkämpfer auf. Habe ich deine Befehle richtig verstanden, Sergeant?«

Dogart nickte stumm.

Soldaten sprangen von den Mauern und nahmen Aufstellung. Nyrdok legte den Bogen zur Seite und griff nach einem Speer. »Wir haben einen verdammt guten Sergeant verloren«, sagte er leise, als Jonan die Leiter hinunterklettern wollte. »Und einen verdammt schlechten bekommen. Gibt viele, denen der Umhang besser stehen würde. Dir, mir. Wenn sich die Gelegenheit ergibt …« Er machte eine Pause. »Keiner wird was sagen, wenn du weißt, was ich meine.«

Jonan sprang wortlos auf das Pflaster. Es war nicht sein Krieg, und die Soldaten waren nicht seine Freunde. Es hätte ihm egal sein sollen, wer gewann und wer verlor, wer lebte und wer starb. Aber das war es nicht. Er fluchte leise.

Dogart sprang ebenfalls von der Mauer. Der blutige Umhang hing schwer von seinen Schultern. »Danke«, sagte er, als er neben Jonan stehen blieb und sein Schwert zog.

»Bleib in meiner Nähe.« Jonan warf einen Blick auf die Magier. Sie hatten aufgehört zu tanzen. Reglos standen sie vor dem geschlossenen Tor.

»Wieso?«, fragte Dogart. Mit dem Ärmel wischte er sich über das Gesicht. Er weinte.

»Tue es einfach.«

Er ging näher an die Magier heran. Der Schlamm unter ihren Füßen war zu Staub geworden. Die Luft schmeckte seltsam süß, und als Jonan sein Schwert berührte, sprang ein Funke von der Klinge auf seinen Finger. Erschrocken zog er die Hand zurück. Adelus drehte den Kopf, sah ihn an und lächelte. Seine Augen waren schwarz.

»Öffnet das Tor!«, schrie der Junge so laut, dass die Schildträger neben ihm die Hände auf die Ohren pressten.

Vier Soldaten lösten die schweren Riegel und Balken, die das Haupttor sicherten. Das Holz erbebte unter den Schlägen der Nachtschatten. Die ersten hatten die Festung erreicht. Die Soldaten sprangen zurück, als sie sich gegen das Tor warfen und es aufdrückten.

Nachtschatten stürmten herein, eine dunkle Masse aus Fell, Zähnen und Klauen. Jonan konnte ihren Bewegungen kaum mit den Augen folgen, so schnell waren sie. Der abgetrennte Kopf eines Soldaten flog durch die Luft, ein anderer starrte auf seinen abgerissenen, im Dreck liegenden Arm.

»Angriff!«, schrie eine Stimme. Jonan wusste nicht, warum.

Nachtschatten prallten gegen Schildträger. Die Süße der Luft wurde zum Gestank, mischte sich in den beißenden Essiggeruch, der von den Nachtschatten ausging. Einige Magier, eingerahmt von Schilden, nahmen die Arme hoch. Die Nachtschatten wurden zurückgeworfen, so als wären sie gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Sie wurden von denen, die sich hinter ihnen durch das Tor drängten, niedergetrampelt. Dann erreichte die Mauer auch sie. Immer weiter drückte sie die Nachtschatten zurück, bis sie jenseits des Tors waren.

Die Gruppe aus Schildträgern, Soldaten und Magiern rückte vor. Der sanfte Regen wurde zum Sturm. Windböen peitschten durch den Hof und fuhren durch das Tor. Ein Dutzend Nachtschatten wurde emporgerissen, hoch in den Himmel hinein. Jonan sah ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Er wischte sich das Wasser aus dem Gesicht.

Wie Könige schritten die Magier in die Woge der Nachtschatten hinein. Dogart riss sein Schwert hoch und lief los. »Für meinen Vater!«, schrie er. »Für meinen Vater!« Sein Ruf ging im Heulen des Windes und im Brüllen der Nachtschatten unter. Niemand nahm ihn auf.

Jonan folgte ihm aus der Festung hinaus. Nyrdok war dicht neben ihm. Er hielt ein Schwert in der einen und einen Dolch in der anderen Hand. Sein Blick war auf Dogarts Rücken gerichtet.

Der Sturm riss eine Schneise in die Nachtschatten. Dutzende wurden emporgerissen, unter ihnen auch einige Soldaten, die sich zu weit vorgewagt hatten.

Jonan sah eine plötzliche Bewegung über sich und warf sich zur Seite. Etwas schlug keine Armeslänge von ihm entfernt auf. Es war die Leiche eines Nachtschatten. Eiszapfen hingen in seinem Fell. Um ihn herum schrien Soldaten laute Warnungen. Leichen fielen wie Geschosse aus dem Himmel, erschlugen Nachtschatten und Menschen zugleich.

Die Schildträger zogen die Magier weg. Einer schrie, als seine Hand Feuer fing. Vor ihnen teilte sich die Menge der Nachtschatten. Sie machten einen Bogen um die Magier, versuchten, in deren Rücken zu gelangen. Die Soldaten kannten die Gefahren. Eines hatte ihnen Craymorus immer wieder gesagt: Die Magier müssen auf dem Boden stehen und ihren Feind sehen. Dann sind sie unbesiegbar.

Offiziere brüllten Befehle, Sergeanten gaben sie weiter. Die Soldaten zogen sich zusammen, bis sie einen Keil hinter den Magiern bildeten. Jonan wich zurück. Der Weg in die Stadt hinein war fast frei. Die Nachtschatten konzentrierten sich auf die Magier und kesselten sie und die Soldaten ein. Er warf einen Blick zu den Türmen, auf denen die Bogenschützen standen. Der Regen war so heftig, dass er nichts außer den schlaff herabhängenden Fahnen sehen konnte. Das war seine Gelegenheit.

Jemand griff nach seinem Arm. Er fuhr herum, hätte Dogart, der mit weit aufgerissenen Augen vor ihm stand, beinahe das Schwert in den Bauch gerammt.

»Hast du den Befehl nicht gehört? Komm schon!«

Eine Klaue wischte ihn zur Seite. Jonan wusste nicht, woher der Nachtschatten so plötzlich gekommen war, aber er stand da, hoch aufgerichtet wie ein Bär, mit zurückgezogenen Lefzen. Er überragte Jonan fast um eine Kopfeslänge.

Er tauchte unter dem ersten Schlag weg und stieß mit seinem Schwert zu, ins Leere. Dogart kroch zur Seite, schreiend, den Arm auf seine aufgerissene Brust gepresst. Der Nachtschatten beachtete ihn nicht.

Seinem zweiten Hieb entging Jonan nur, weil seine glatten Stiefelsohlen auf dem nassen Gras wegrutschten. Er ging zu Boden und zog seinen Dolch aus dem Stiefelschacht. Der Nachtschatten lachte. Es war ein dunkler, heiserer Laut. Jonan sah, wie sich seine Beinmuskeln unter dem Fell anspannten, und rollte sich ab.

Der Sprung ging fehl, Jonans Schwertstreich nicht. Es zog eine dunkle Spur über das Bein des Nachtschattens. Er setzte nach, stach mit Schwert und Dolch gleichzeitig auf dessen Körper ein.

Mit einer Eleganz, die Jonan ihm nicht zugetraut hatte, wich der Nachtschatten den Schlägen aus. Im nächsten Moment war er heran. Er schlug Jonans Schwertarm zur Seite, fauchte jedoch, als der Dolch ihn traf, und sprang zurück, als hätte er sich verbrannt.

Jonan blieb stehen. Blut und Wasser tropfte von seinen Klingen. »Geh«, sagte er. »Ich habe keinen Streit mit dir.«

Der Nachtschatten zögerte, dann grinste er. »O doch, den hast du.« Er sprang.

Jonan entspannte sich. Alles wurde langsam. Er sah einzelne Regentropfen vor ihm zu Boden fallen und zerplatzen. Er sah die Magier, die sich hinter dem Wall aus Schilden und Menschen umdrehten, sah, wie sich die Erde langsam öffnete, wie ein nach langem Schlaf erwachtes, gähnendes Ungeheuer. Er sah Dogarts Angst, sah, wie der Nachtschatten sich abstieß, sah jede Klaue, die sich ihm entgegenstreckte, und jeden Muskel, der sich anspannte. In seinem Inneren warf sich das Tier brüllend gegen die Gitter, die er erschaffen hatte. Jonan sog seine Wut in sich auf.

Und kämpfte.

Als sich der Nebel aus Blut und Hass lichtete, hockte er zusammengekrümmt über dem Nachtschatten. Der Dolch steckte in dessen Auge, das Schwert in der Kehle. Jonan biss die Zähne zusammen. Das Tier in ihm brüllte lauter als je zuvor. Er ballte die Hände zu Fäusten und spürte, wie sich Krallen in seine Handballen gruben.

Nein, nein, nein, dachte er. Nicht so, nicht jetzt.

Er sprang auf, hielt sein Gesicht in den Regen, trank kaltes, süßes Wasser und wusch sich den Essiggeruch vom Körper. Das Tier brüllte und tobte, aber nach einer Weile wurde es ruhig. Jonan atmete tief durch.

»Bei allen Göttern und den Vergangenen. Wie hast du das denn gemacht?«

Er fuhr herum. Das Tier in ihm knurrte. Nyrdok stand kopfschüttelnd neben ihm, den Blick auf den toten Nachtschatten gerichtet.

Jonan fuhr sich mit der Hand über den rasierten Kopf. »Er war schon fast tot, als er mich angriff.« Er war ein schlechter Lügner, schlechter noch als Nyrdok.

Der Soldat hob die Schultern. »Wenn du meinst.« Mit dem Schwert zeigte er auf Dogart, der bewusstlos in einer Pfütze lag. »Ich bringe ihn in die Festung. Wir haben den Befehl zum Rückzug erhalten.«

»Lass nur, ich mach das schon«, sagte Jonan. Wieso kümmert mich das überhaupt?, fragte er sich, oder vielleicht war es das Tier, das ihn fragte. Er wusste es nicht.

Nyrdok grinste. »Wenn du meinst«, wiederholte er.

Jonan drehte sich um. Die Nachtschatten zogen sich in die Stadt zurück. Dutzende, vielleicht sogar Hunderte Tote lagen im Gras. Jonan sah Fell und Uniformen. Von den Magiern standen nur noch wenige. Die meisten waren erschöpft zusammengebrochen. Jonan fragte sich, wie lange sie das durchhalten konnten.

Über ihm klarte der Himmel auf. Die Sonne hing rot über dem Horizont. Die Bogenschützen auf den Türmen blickten auf den Hügel hinab. Jonan senkte den Kopf, warf sich Dogart über die Schulter und ging zurück zur Festung.

Kapitel 2

Wer einmal einen Winter in Somerstorm erlebt hat, wird nie wieder über das Wetter klagen.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2

In dem neuen Stollen stoßen wir ständig auf Wasser«, sagte Maccus, der Bergmann. »Ich glaube, der Fluss unterspült den ganzen Berg, Minherr.«

Gerit betrachtete den Fels und die Goldader, die ihn durchzog. Wasser lief in langen Bahnen darüber und sammelte sich am Boden. »Ist das gefährlich?«

Maccus neigte den Kopf. »Hier unten ist alles gefährlich, Minherr. Je tiefer wir in den Berg vorstoßen, desto sandiger und feuchter wird der Boden. Noch können wir die Stollen abstützen, aber ich weiß nicht, wie lange das noch gut geht.«

Er sah sich um, Gerit ebenfalls. Sie waren allein in dem schmalen Gang. Trotzdem flüsterte Maccus, als er weitersprach. »Habt Ihr den Nachtschatten von der Höhle erzählt, Minherr?«

»Nein.« Die Höhle war ein Geheimnis zwischen ihm, Maccus und Burek, dem Arbeiter, der zufällig darauf gestoßen war. Gerit wollte nicht, dass Nebelläufer und die anderen Nachtschatten davon erfuhren. Es war ihm wichtig, dass es etwas in Somerstorm gab, was er wusste und sie nicht.

Maccus kratzte sich am Hals. Eine grauschwarze Schicht bedeckte seine Haut und seine dicke Winterkleidung. Es war kalt in den Stollen. »Vielleicht wäre es besser, wenn sie davon wüssten, Minherr«, sagte er.

Gerit hörte die Vorsicht in seiner Stimme. Maccus hatte unter seinem Vater als Sklave in der Mine gearbeitet. Die Peitsche hatte ihn gelehrt, nicht zu widersprechen. Seit die Nachtschatten in Somerstorm herrschten, war er ein freier Mann, doch die Angewohnheiten aus Sklavenzeiten begleiteten ihn immer noch, so wie die Narben auf seinem Rücken.

Trotzdem hat er seine Meinung gesagt, dachte Gerit. Er befürchtet, dass ich einen Fehler mache.

»Warum?«, fragte er.

»Weil wir mithilfe der Nachtschatten und der anderen Arbeiter versuchen könnten, den Fluss umzuleiten. So etwas Ähnliches haben wir vor vielen Jahren bei Stollen zwei gemacht. In dem sind wir auf eine Quelle gestoßen, die wir seitdem in ein altes Stollensystem umleiten. Viele hier wissen noch, wie wir das damals gemacht haben.« Maccus hob die Schultern. Sein Atem stand als weiße Wolke vor seinem Gesicht. »Burek und ich können das nicht allein, aber es muss gemacht werden, sonst bricht hier irgendwann alles zusammen.«

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Gerit. Seine Stimme klang wie die seines Vaters. Er schüttelte sich innerlich. »Was ich meine«, fuhr er fort, »ist, dass ich dir für deinen Rat danke. Lass mich darüber nachdenken.«

»Ja, Minherr.« Maccus wirkte zufrieden.

Gerit drehte sich um und nahm die Fackel, die er am Eingang der Mine bekommen hatte, aus der Wandhalterung. Alles in ihm sträubte sich dagegen, den Nachtschatten von der Höhle zu erzählen. Sie war sein Geheimnis, nicht das ihre.

»Wo wollt Ihr hin, Minherr?«, fragte Maccus hinter ihm.

Gerit hielt die Fackel in den Gang. Er war abgebogen, ohne dass es ihm aufgefallen war. »Zurück nach oben.«

»Dann folgt mir. Ihr geht falsch.« Der Gang, in dem Maccus stand, war breit genug für die Karren, mit denen Gold, Steine und Dreck aus der Mine geholt wurden. Gerit sah in den winzigen Gang, in den er abgebogen war. Wie hatte er die beiden verwechseln können?

»Wohin führt der hier?«, fragte er.

»Das ist nur ein Belüftungsstollen. Er führt nirgendwohin.« Maccus zögerte, als sei ihm doch noch etwas eingefallen. »Und zur Höhle«, sagte er dann.

Gerit folgte ihm langsam durch den Gang. Lautes Hämmern hallte aus einem der schmaleren Stollen. Nur wenige Arbeiter kamen im Winter in die Mine. Der Weg war zu beschwerlich. Gerit hatte sogar schon daran gedacht, Winterquartiere für die Arbeiter und ihre Familien neben der Mine bauen zu lassen.

»Was meinst du …«, begann er, stutzte dann aber, als ihm klar wurde, dass er eigentlich einen anderen Gedanken gehabt hatte. »Warst du noch mal dort?«, fragte er.

»Einmal.« Maccus ging weiter vor ihm her, ohne sich umzudrehen. »Ich wollte wissen, wie tief der Bach in den Berg reicht. Ich blieb nicht lange. Etwas in dieser Höhle …« Er schüttelte den Kopf.

»Ich weiß.« Gerit dachte an den Fels, so glatt, dass er sich darin spiegelte, an das seltsam blaue Licht, das aus dem Fels zu dringen schien, an das schwarze Wasser des Bachs. Und an Rickard.

»Manchmal«, sagte Maccus nach einem Augenblick, »träume ich von der Höhle.«

Gerit nickte, obwohl es niemand sehen konnte. »Ich auch, und ich glaube, Rickard ebenfalls.«

»Ist er noch bei Euch, Minherr?«

»Ja. Ich verstecke ihn.« Gerit sah Rickards vom Frost zerstörtes Gesicht vor sich. Burek hatte ihn in der Höhle gefunden. Er hatte nur die Uniform Westfalls gesehen, aber nicht geahnt, dass er auf den Erben Westfalls, Fürst Baldericks einzigen Sohn, den Verlobten von Ana Somerstorm gestoßen war. Doch Gerit hatte ihn sofort erkannt und heimlich in die Festung gebracht.

»Seid vorsichtig, Minherr. Die Nachtschatten vertrauen Euch, aber wenn sie erfahren, dass Ihr sie hintergeht …«

Er ließ den Satz unvollendet.

Gerit antwortete nicht darauf, sagte ihm nicht, dass seine Anwesenheit in Somerstorm nichts anderes war als eine große Lüge. Er hatte behauptet, Korvellan habe ihn geschickt, um sich um die Verwaltung der Festung zu kümmern, dabei hatte er die Armee heimlich verlassen. Im Frühjahr, wenn die Pässe frei waren und die Nachtschatten zurückkehrten, würde alles auffliegen. Eine Lüge mehr oder weniger würde sein Schicksal nicht beeinflussen.

Wieso bleibe ich hier?, fragte er sich auf dem Weg nach oben, aber er kannte die Antwort. Er blieb, weil es keinen anderen Ort gab, an dem er sein wollte. Die Festung war sein Zuhause gewesen, bevor die Nachtschatten kamen, und bis zum Frühjahr konnte er so tun, als ob sie es immer noch war. Das reichte ihm.

Sie stiegen die steile, in den Fels geschlagene Wendeltreppe hinauf. Zwei Nachtschatten standen an großen Lagerfeuern und bewachten den Eingang. Sie hatten sich Felle über die Schultern gelegt und versteckten ihre Gesichter hinter breiten Schals. Gerit nahm an, dass sie zu denen gehörten, die aus dem ewigen Eis gekommen waren. Die Kälte schien sie nicht zu stören.

Er blieb neben Maccus am Ende der Wendeltreppe stehen und zog die Pelze über, die er vor dem Gang in die Mine ausgezogen hatte. Es war so kalt, dass der Atem vor seiner Nase leise klirrend gefror.

»Denkt nicht zu lange über meinen Rat nach«, sagte Maccus, als er ihm zum Abschied die Hand reichte. »Und seid vorsichtig, Minherr.«

»Danke.« Gerit schüttelte die Hand, dann zog er die Mütze über sein Gesicht. Nur ein Schlitz für die Augen blieb frei, den Rest seines Kopfes verbarg er unter drei Schichten aus Stoff und Pelz.

Einer der Nachtschatten sah zu ihm herüber. »Jetzt siehst du endlich aus wie einer von uns, Mensch«, sagte er dumpf hinter seinem Schal.

»So lange ich nicht rieche wie einer von euch«, rief Gerit zurück.

Der Nachtschatten, der ihn angesprochen hatte, lachte, der andere warf einen Blick in den grauen Himmel. »Willst du jetzt noch zurückreiten?«, fragte er.

Gerit nickte. »So weit ist es ja nicht.«

»Sieht aber nach einem Sturm aus.«

»Nein, ich kenne das Wetter hier. Macht euch keine Sorgen.«

Gerit ging zu seinem Pferd. Ein Arbeiter hatte es abgerieben und gefüttert. Er bedankte sich bei dem Mann und saß auf.

Der Nachtschatten hatte recht. Es sah aus, als würde das Wetter bald umschlagen, aber Gerit hoffte, dass es noch bis in die Nacht halten würde.

Der Ritt zur Festung dauerte auch auf einem schnellen Pferd wie dem seinen fast einen halben Tag. Noch länger wollte er Rickard nicht allein lassen. Der Mann, der ihm bei ihrer ersten Begegnung gezeigt hatte, wie man einen Morgenstern schwang, war zu einem Schlafwandler geworden, fast ohne eigenen Willen. Er aß und trank nur, wenn Gerit es ihm befahl.

Ich weiß nicht, ob er überhaupt noch essen und trinken muss, dachte er, während er an Wachen und Lagerfeuern vorbei zur Straße ritt. Er fragte sich oft, ob Rickard lebte oder schon längst gestorben war. Vielleicht blieb er nur in dieser Welt, um sich von seiner Verlobten zu verabschieden, so wie die Geister in den Geschichten, die sich die Dienerinnen immer erzählt hatten. Ihm gefiel dieser Gedanke, obwohl er nicht glaubte, dass es so war.

Der Sturm holte ihn auf halber Strecke ein. Er begann als Brise, in der Schneeflocken tanzten, und steigerte sich zu einem beißenden, scharfen Wind, der Gerit die Tränen in die Augen trieb und sie unter der Mütze auf seinen Wangen gefrieren ließ.

Gerit beugte sich vor und legte die Arme um den Hals seines Pferdes, um sich vor dem Wind zu schützen. Seine Hände versanken in dem dicken, rauen Winterfell. Er kannte die Gegend, in der er sich befand, wusste, dass es dort nichts gab außer Hügel, Felsen und Schnee. Es gab kein Dorf in der Nähe und keinen Hof.

Erste Sturmböen trafen ihn. Sein Pferd taumelte und wieherte. Gerit trieb es voran. Tausend Hände schienen an seinen Pelzen zu zerren, versuchten sie ihm vom Leib zu reißen. Er verlor einen Handschuh, einen der drei, die er übereinander trug.

Der Sturm steigerte sich zum Tosen, so als sporne ihn dieser kleine Sieg noch weiter an. Eis klirrte in der Luft, Sturmböen wühlten den Schnee auf. Gerit schob die Hand, die nur noch von zwei Handschuhen geschützt wurde, unter die Mähne des Pferdes.

Die Kälte nutzte jeden auch noch so kleinen Riss, kämpfte sich durch die Kleidungsschichten hindurch bis auf seine Haut. Mit Nadeln stach sie auf ihn ein.

Gerit wusste, dass er den Kampf gegen sie verlieren würde.

Der Schnee tobte um ihn herum, ein Wirbel aus Grau und Schwarz, aus Tag und Nacht. Sein Pferd blieb stehen. Seine Flanken zitterten, ob vor Kälte oder Angst, wusste Gerit nicht. Er schmiegte sich an seinen Hals.

Nässe, die Vorhut des Todes, kroch in seinen Körper. Seine Zähne schlugen aufeinander. Seine Muskeln verkrampften sich. Er versuchte an etwas zu denken, irgendetwas außer der Kälte und dem Tod, aber der Sturm ließ ihn nicht los, hämmerte weiter unerbittlich auf ihn ein.

Plötzlich wurde es still.

Und dann hörte er die Stimmen.

»Da ist er.«

»Macht das Tor auf!«

Das Pferd bewegte sich. Hände griffen nach ihm, nicht die eisigen Hände des Sturms, sondern warme und lebendige. Er wurde aus dem Sattel gezogen.

»Macht Wasser heiß, und lasst ein Bad ein!«, rief eine Stimme. Gerit erkannte sie. Mamee.

Er öffnete die Augen. Der Himmel über ihm war dunkel und wolkenverhangen. Es war Nacht in der Festung Somerstorm.

Jemand trug ihn in die Küche. Er hörte das Klappern von Geschirr und rasche Schritte. Mamee beugte sich über ihn und begann seine nassen Pelze auszuziehen.

»Wir haben den Sturm im Norden gesehen«, sagte sie. »Ich hatte Angst um dich.«

Gerit fielen die Augen zu. Er war so müde, dass er ihren Worten kaum folgen konnte. »Wer hat mich hergebracht?«

Er musste die Frage zweimal wiederholen, bis Mamee sie verstand.

»Niemand«, sagte sie. »Du hast es allein geschafft.«

Nein, dachte Gerit, das habe ich nicht.

Er erwachte. Graues Licht fiel in das Zimmer. Die Felle, mit denen man ihn zugedeckt hatte, waren schwer und rochen nach schlecht gegerbtem Leder. Er genoss ihre Wärme.

Mamee saß neben ihm auf einem Kissen. Sie hatte die Beine angezogen und stützte das Kinn auf die Knie. »Ich bin sehr stolz auf dich«, sagte sie, als er die Augen öffnete. »Alle hier sind stolz, sogar Nebelläufer.«

Gerit schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts getan, was Stolz verdient. Ich habe auf meinem Pferd gesessen und gefroren.«

»Du hast gekämpft. Es war ein schwerer Sturm, aber du hast ihn besiegt.« Sie streckte die Beine aus und lächelte.

»Nein, das habe ich nicht.« Er setzte sich auf. Man hatte ihn in eines der Zimmer im Gästeflügel gebracht, nicht in die Küche, wo er normalerweise schlief. Er fühlte sich dort wohler als im Haupthaus.

»Ich war viel zu weit weg«, fuhr er fort. »Ich müsste tot sein.«

»Aber das bist du nicht, also hast du gesiegt. Es gibt keine andere Möglichkeit, also wieso sträubst du dich so dagegen?«

Weil es unmöglich wahr sein kann, dachte Gerit, sprach den Gedanken aber nicht aus. »Ich weiß es nicht«, sagte er stattdessen.

Mamee strich ihm über die nackte Brust. »Dann freue dich über deinen Sieg und über dein Leben.«

»Das werde ich.« Gerit lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Das Bett bewegte sich, als Mamee aufstand, dann hörte er, wie die Tür leise geschlossen wurde.

Er öffnete die Augen und schlug die Felle zurück. Der Himmel jenseits des Fensters war so wolkenverhangen, dass es ihm schwerfiel, die Tageszeit zu schätzen.

Vormittag, dachte er, vielleicht schon Mittag.

Mamee hatte frische Kleidung über einen Stuhl gehängt: lange Unterwäsche, ein dunkles Hemd aus schwerem Stoff, eine pelzbesetzte Jacke und eine Lederhose. Die Sachen passten, obwohl sie ihm nicht gehörten. Er zog seine gefütterten Stiefel an und öffnete vorsichtig die Tür. Der Gang war leer.

Gerit ging durch den ganzen Flügel, ohne einem Nachtschatten zu begegnen. Die meisten hielten sich wie er in den ehemaligen Sklavenquartieren auf. Ihnen schien die Enge zu gefallen.

Er betrat einen breiten, holzvertäfelten und mit Teppichen ausgelegten Gang. Wie aus dem Nichts tauchte eine Erinnerung in ihm auf: Ana und er, balancierend auf den schmalen goldenen Rändern der Teppiche. Sie hatten sich vorgestellt, es gäbe Abgründe auf beiden Seiten der Ränder. Ein falscher Schritt und man war tot.

Wie recht wir hatten, dachte Gerit.

Er blieb stehen und drückte gegen eine Holzvertäfelung, die sich in Nichts von den anderen unterschied. Es knirschte, dann schwang sie auf. Gerit kletterte in den schmalen Gang dahinter.

Als kleiner Junge hatte General Norhan, der engste Berater seines Vaters, ihm die Gänge gezeigt. Sie zogen sich durch die gesamte Festung und unter dem Innenhof entlang. Der erste Fürst von Somerstorm hatte die Gänge beim Bau der Festung angelegt, aus Angst vor Überfällen. Die Nachtschatten wussten von dem Gangsystem, interessierten sich jedoch nicht dafür.

Gerit kletterte über die alten Holzleitern nach unten. Es war dunkel, aber er brauchte kein Licht. Er hatte als Kind ganze Tage in den Gängen zugebracht, war nur herausgekommen, um zu essen und zu lernen. Wahrscheinlich gab es niemanden, der sie so gut kannte wie er.

Rickard hatte er in einem Ochsenkarren versteckt unter Säcken von Maka-Wurzeln bis zu den Stallungen gebracht. Dort gab es Gänge, die zu einigen kleinen Räumen unterhalb der Festungsmauer führten. Gerit vermutete, dass dort einmal Waffen gelagert worden waren.

Er lief durch einen dunklen Gang. Es roch nach Holz und Erde. Am Ende des Gangs war es hell. Gerit hatte Rickard neben Wasser und Maka eine Kiste voller Kerzen dagelassen. Anscheinend hatte er es geschafft, die Flamme nicht ausgehen zu lassen, denn mit seinen abgestorbenen Fingern hätte er sie nicht wieder anzünden können.

»Rickard, ich bin es«, sagte Gerit, als er den Raum betrat. »Ich bin zurück.«