Römisches Vermächtnis - Bianca Palma - E-Book
SONDERANGEBOT

Römisches Vermächtnis E-Book

Bianca Palma

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als Adriana Vitullo in ihrer schönen Wohnung am Campo de‘ Fiori ermordet aufgefunden wird, hält sich die Trauer über den Tod der alten Dame bei ihren Angehörigen und Bekannten in Grenzen. Denn alle hatten ein Interesse an ihrem Erbe: Ihr Sohn, der Antiquitätenhändler mit den drei Windhunden, ihre Mitbewohnerin Franca, die ihr weniges Geld bei Astro-Hotlines vergeudet, und der ebenso schnöselige wie sensible Untermieter Sebastiano.

Seine Ermittlungen führen Caselli ins Kartenleger-Milieu und bevor er sich versieht, wird ihm selbst eine Prophezeiung gemacht. Er werde sich schon bald verlieben, noch während des Falls ...

Commissario Alessandro Caselli ermittelt in Rom - ein eleganter Kriminalbeamter mit guten Manieren und Geschmack. Für Krimifans, Italienliebhaber, Romreisende und Leser von Andrea Camilleri.

LESER-STIMMEN

"Jede Menge Arbeit für den Commissario Caselli, der sympathische Ermittler löst den Fall offenbar so im Vorbeigehen, aber genaugenommen nimmt er die Dinge sehr ernst. Es ist wieder sein Charme, dem der Leser hier erliegt." (Bookstar, Lesejury)

"Ein Krimi mit italienischen Charme. Ein sehr guter Schreibstil, die Orte sind sehr gut beschrieben, auch die Landschaft sowie die Menschen." (Amberstclair, Lesejury)




Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 307

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhalt

CoverInhaltÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressum1234567891011121314151617181920Vorschau

Über dieses Buch

Als Adriana Vitullo in ihrer schönen Wohnung am Campo de’ Fiori ermordet aufgefunden wird, hält sich die Trauer über den Tod der alten Dame bei ihren Angehörigen und Bekannten in Grenzen. Denn alle hatten ein Interesse an ihrem Erbe: Ihr Sohn, der Antiquitätenhändler mit den drei Windhunden, ihre Mitbewohnerin Franca, die ihr weniges Geld bei Astro-Hotlines vergeudet, und der ebenso schnöselige wie sensible Untermieter Sebastiano.

Seine Ermittlungen führen Caselli ins Kartenleger-Milieu und bevor er sich versieht, wird ihm selbst eine Prophezeiung gemacht. Er werde sich schon bald verlieben, noch während des Falls …

Commissario Alessandro Caselli ermittelt in Rom – ein eleganter Kriminalbeamter mit guten Manieren und Geschmack.

Über die Autorin

Bianca Palma studierte Musik und arbeitete als Dolmetscherin in Rom. Zeitweise lebte sie auch in Sizilien und einem sturmumwehten Bergdorf in Umbrien. Heute verbringt sie die Sommermonate in Italien, den Rest des Jahres lebt sie mit ihrem Jack Russel in Deutschland. Sie liebt Verdi, Wagner und die internationale Filmszene.

BIANCA PALMA

Römisches

Vermächtnis

Ein Fall für Commissario Caselli

Kriminalroman

beTHRILLED

Digitale Originalausgabe

 

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

 

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

 

Textredaktion: Beke Ritgen

Lektorat/Projektmanagement: Stephan Trinius

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: gyn9037 | ilolab

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7325-4360-1

 

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1

»Ach, ist das nicht reizend, Nachwuchs im Fürstenhaus von Monaco! Beatrice Borromeo ist so eine hübsche junge Frau. Die Traumhochzeit mit dem Sohn von Caroline war wunderbar. Weißt du noch, Franca? Und jetzt ist sie schwanger. Nun, mit einunddreißig wird es Zeit. Ich habe Geraldo auch recht spät bekommen, und Ende Dezember wird er fünfzig, wo sind die Jahre nur hin. Entzückend sieht sie aus, Ton in Ton, in Rosé. Der Schmuck aus Engelskoralle hat sicher ein Vermögen gekostet.« Adriana schob die Lesebrille höher.

Franca betrachtete sie ohne Sympathie. Ja, das war ihr wichtig, Adriana, alles was in der Klatschpresse über die Superreichen und Adeligen stand. Was sie im Leben machten und wie sie lustig das Geld verprassten. Vier verschiedene Brautkleider hatte diese Beatrice über den Tag zur Hochzeit getragen, vier, und sie … Franca fühlte Tränen aufsteigen, und schluckte. Rasch presste sie ihren Handrücken gegen den Mund, drehte den Kopf weg. Ihre Hand zitterte etwas. Franca atmete flach, nahm sich zusammen. Und was hatte sie bislang gehabt vom Leben? Nichts.

»Ich erinnere mich, wenn ich früher im Sommer mit meinem Mann auf Capri war, auf der Piazza, da gibt es ein Geschäft mit Korallen. Ich sage dir, da gehen dir die Augen über. Bruno wollte mir da eine Kette kaufen. Er hätte mich mit Geschenken überhäuft, er hat mich ja sehr geliebt, mein seliger Mann. Aber ich habe gesagt, lass uns sparen, Bruno. Ich brauche keinen Schmuck. Die Wohnung zu kaufen, als wir jung waren, das war richtig. Jetzt, in den schweren Zeiten habe ich ein Dach über dem Kopf. Und du auch, Franca, du ja auch …« Adriana nickte zufrieden.

Franca starrte sie kalt an. Wann hört das endlich auf, dachte sie. Mach mich nur darauf aufmerksam, dass ich dir dankbar sein muss, du unsensible alte Frau. Du sitzt auf deinem Geld wie Dagobert Duck und ich muss mich mit Brosamen abgeben. Die arme Franca: Ihr Vater hat vor vierzig Jahren das Familienvermögen verspielt. Niemand würde einem das heutzutage glauben, dass es so was gab, aber mir ist es passiert, ausgerechnet mir. Anschließend Kammerflimmern bekommen und tod umfallen. Das hast du prima hingekriegt, Papa. Und ich und Mama konnten zusehen, wie wir klarkommen in dem Elend, all die Jahre. Ich hoffe, du schmorst in der Hölle. Franca holte ein zerknülltes Taschentuch aus der Tasche ihrer schwarzen Jersey-Hose und fuhr sich über die Nase.

Adriana schob die Lesebrille höher und hielt die Zeitschrift näher vors Gesicht. »Mein Gott, ist das klein gedruckt, das kann ja kein Mensch lesen.«

»Lass dich endlich operieren, ein Glaukom ist doch heutzutage ein Routineeingriff«, sagte Franca barsch.

»Du weißt, dass mein Herz das nicht mitmacht mit meinen sechsundachtzig Jahren.«

»Ach, das ist keine richtige Narkose, sondern nur …«, weiter kam sie nicht.

»Franca, bitte! Ich darf mich nicht aufregen, nimm gefälligst Rücksicht. Es ist schließlich auch in deinem Interesse, dass ich noch ein paar Jährchen habe. Wo willst du denn hin? Du hast doch nichts«, betonte Adriana und griff in die Pralinenschachtel.

»Eben, und deshalb habe ich dich gebeten, mir zwanzig Euro vorzustrecken. Ich möchte ins Kino mit …«

»Vorstrecken, immer höre ich ›vorstrecken‹! Du wirst es schon noch erwarten können.« Adriana schob eine Praline in den Mund. »Soll dein Galan doch das Kino zahlen. Wo kommen wir denn hin, wenn du einem Mann Geld geben musst, damit er mit dir ausgeht.«

»Adriana! Warum musst du immer so boshaft sein. Du weißt genau, dass das so nicht stimmt. Anayo verdient nun mal nicht viel in der Pfarrei. Aber er ist ehrlich und ein guter Mensch.«

»Er ist ein Migrant, der Don Guido auf der Tasche liegt. Na, da haben sich ja zwei gefunden. Sozusagen ein Blinder und ein Lahmer.«

»Wie unendlich geschmacklos du bist.«

»Sei nicht so empfindlich. Das ist nur eine Redensart. Aber entschuldige, du hast ja recht. Der Vergleich hinkt.«

»Adriana!«

»Komm, Franca, Kind, verstehe mich richtig. Ich habe das nicht gesagt, um dich zu verletzen. Du bist tapfer, bei allem was du durchgemacht hast. Aber du bekommst vom Staat schließlich eine kleine Summe im Monat. Was machst du damit? Wo fließt das Geld hin? Bei mir hast du Kost und Logis. Ich verstehe nicht, warum du mit deinem Geld nicht auskommst. Ich gebe dir nichts. Du musst lernen, hauszuhalten.« Rigoros zog Adriana den Karton heran, um die nächste Praline besser aussuchen zu können.

»Adriana, bitte. Du darfst nicht so viel Süßes essen, hat der Arzt gesagt.«

»Ach, ein Stückchen Nougat, das macht doch nichts. Wir haben damals auch nur ferngesehen und gespart.«

»Ja, und wo? Wo sollen wir gemeinsam fernsehen, bitte? Du lässt Anayo ja nicht mal in die Wohnung!«

»Einen Schwarzen? Ich soll hier sitzen und zusehen, wie du mit einem Mann in dein Zimmer verschwindest? Unter Mussolini wäre man dafür hinter Gitter gekommen, wegen Kuppelei. Den Kuppelparagrafen gibt es nicht mehr, aber das Moralische ist schließlich das Gleiche geblieben. Nein, Franca. Nicht mit mir. Ich tue für dich, was ich kann, seit deine Mutter nicht mehr lebt. Carlotta war eine gute Freundin. Ich habe ihr versprochen, mich um dich zu kümmern. Aber das kannst du nicht von mir verlangen. Wirklich nicht. Da musst du Rücksicht nehmen auf mein Alter.« Adriana griff nach einer Tablettenschachtel. Auf dem Silbertablett auf dem Esstisch befanden sich sämtliche Medikamente, die sie regelmäßig einnehmen musste.

»Was soll das jetzt?«, fragte Franca alarmiert.

»Ich nehme meine halbe Marcumar.«

»Die hast du vorhin schon genommen.«

»Was? Nein, ich weiß doch, was ich genommen habe.«

Franca griff nach dem Dispenser. Die länglich schmale, in vier Fächer unterteile Plastikbox hatte einen Schiebedeckel mit der Aufschrift: Morgen, Mittag, Abend, Nacht. »Da, schau, die halbe vom Morgen ist weg. Ich bereite dir das jeden Tag vor.«

»Ach, Blödsinn, was du immer behauptest.« Adriana hielt den Blister fest und war dabei, eine Tablette herauszudrücken.

»Adriana, das ist der Blutverdünner. Überdosiert kannst du innerlich verbluten!« Franca umfasste die Krücke und wuchtete sich hoch. »Leg die wieder hin!«

»Hör auf, mich dauernd zu schurigeln!«

»Gibt her!« Franca versuchte ihr die Tablettenpackung wegzunehmen. »Nun, gib schon her!«

»Nein!«

Franca umfasste hart Adrianas Handgelenk. Eine Krücke hatte sie gegen die Tischplatte gelehnt, auf die andere stützte sie sich und entwand Adriana den Blister.

»Was fällt dir ein!«

Franca warf ihn aufs Tablett und schubste es außer Reichweite.

Adriana schaute grimmig und rieb sich das Handgelenk.

»Du hast mir weggetan.«

»Entschuldige, das wollte ich nicht. Du bist aber auch stur. Ich will doch nur, dass du dir nicht schadest.«

»Ja, Kind. Es stimmt, die halbe Tablette habe ich schon genommen. Ich erinnere mich wieder.« Adriana fuhr sich über die Stirn. »Manchmal ist das alles wie weggeblasen. Ich weiß auch nicht.«

»Dafür ist ja die Box da.« Franca setzte sich wieder auf den Stuhl am Esstisch. »Du kannst alles nachkontrollieren. Schau, drin sind noch Blutdrucksenker, Entwässerungstablette und die Digimerck für das Herz, die nimmst du am Mittag. Die zwei rosa Diabetes-Pillen sind für abends, und in dem Kästchen Nacht ist eine halbe Schlaftablette.«

»Ja, danke, Kind«, erwiderte Adriana matt.

»Was ist jetzt, streckst du mir zwanzig Euro vor? Ich möchte mit Anayo ins Kino.«

»Franca, höre endlich auf damit. Ich lasse mich nicht in die Enge treiben. Wenn du mich noch mal so bedrängst wie gestern, immer und immer wieder wegen des Geldes, dann gehst du. Ist mir egal, wohin. Ich gebe dir keine größere Summe. Man muss das Geld zusammenhalten. Ich werde meine Reserven deinetwegen bestimmt nicht angreifen. Ich bin es meinem Sohn schuldig, dass er das, was noch da ist, unangetastet erbt. Ich sage dir das jetzt zum allerletzten Mal. Du weißt, du gehst nicht leer aus, wenn ich mal sterbe. Ich habe vorgesorgt. Also, mach dir keine Sorgen, was aus dir werden soll. Du brauchst dich wirklich niemandem an den Hals zu werfen, schon gar nicht …«

»Adriana, du hast mich testamentarisch bedacht, danke. Das hast du mir schon oft erzählt. Aber versteh doch, ich brauche das Geld, jetzt! Jetzt kann ich noch ein Leben haben. Und nicht, wenn du irgendwann mit über neunzig von uns gehst. Ich wünsche dir, dass du sehr alt wirst, aber in fünf, sechs Jahren, da bin ich auch alt, und dann ist alles vorbei! Alles! Jetzt hat mir die Vorsehung Anayo geschickt. Er ist meine einzige und meine letzte Chance, und ich …«

»Du gehst jetzt besser auf dein Zimmer. Es reicht.«

Franca schloss einen kurzen Moment die Augen. Die Zurechtweisung schmerzte. »… hatte doch noch kein richtiges Leben«, beendete sie kaum hörbar den Satz. Dann atmete sie angestrengt durch und griff zu den Krücken. Kinderlähmung mit acht Jahren. Auch das war ausgerechnet ihr passiert. Franca schleppte sich wankend durch den Salon, der mit einem Perserteppich ausgelegt war. Durch die Fenster schien milchig Morgenlicht. Wenn sie aufgewühlt war, wich alle Kraft aus ihren Armen, dann fiel ihr das Gehen mit den zwei Krücken noch schwerer als sonst.

2

»Sergente?« Tiziana hatte Scurzi an den breiten Schultern und dem radikalen Kurzhaarschnitt erkannt. Sergente Scurzi wirkte groß, kräftig und sportlich.

»Signorina!«

»Suchen Sie wieder ein Geschenk für Marcella?« Tiziana nickte in die Vitrine, die Scurzi eingehend gemustert hatte.

»Ja, aber nicht hier«, meinte er vage.

»Entschuldigung, geht mich ja nichts an.«

»So war das nicht gemeint, nur der Juwelier ist teuer.«

»Aber hatten Sie nicht schon die Hand auf der Klinke?«, fragte Tiziana.

Der Sergente sah sie so verblüfft an, dass Tiziana lachen musste. »Sie sehen, das Praktikum bei der Sitte fruchtet.«

»Ach, Commissario Caselli hat Sie ja dort …«

»Untergebracht, wollen Sie sagen? Nein, er konnte nichts für mich tun, wenn wir das so nennen wollen. Mein Mentor Fulvio Stinchelli hat ein gutes Wort für mich eingelegt. Aber das war schon im Oktober. Die vier Wochen Schnupperpraktikum sind vorbei. Nächsten Monat fange ich bei einer Zeitschrift an, als freie Journalistin.«

»Kompliment, und … ich wollte tatsächlich rein, fragen kostet ja nichts, aber es ist geschlossen.« Scurzi deutete auf den handgeschriebenen Zettel innen an der Tür. »Dann gehe ich eben woandershin. Ich brauche tatsächlich ein Geschenk für meine Frau. Marcella hat morgen Geburtstag. Bin wieder spät dran. War viel los in der Questura.«

»Ja, der schreckliche Kindermord. Ich habe es in der Zeitung gelesen. Furchtbare Sache«, meinte Tiziana. »Ich habe heute frei, ich könnte also mitkommen und Ihnen bei der Auswahl behilflich sein.«

Scurzi kratzte sich am Kopf. »Wäre vielleicht gar nicht schlecht. Also gut. Kommen Sie mit. Es ist aber keine feine Gegend, wo ich hingehe.«

Tiziana fühlte sich von der Seite gemustert. »Zum Monte?«, fragte sie beiläufig, während sie den Schirm aus der Umhängetasche holte, weil es zu regnen anfing.

»Mhm«, machte Scurzi nur.

Es war ihm wohl ein wenig peinlich. Der Rione um die Piazza del Monte della Pietà war von alters her das Viertel der Goldhändler, aber auch der Halsabschneider, Wucherer und Geldverleiher. Dort fand man Pfandleihen und Geschäfte, die Goldankauf betrieben. Tiziana spannte den Schirm auf.

Es war nicht weit, und kurz darauf bogen sie in ein Gewirr schmaler Gassen ein, wo sich bald die Läden der Händler dicht aneinanderreihten. Von außen sah man durch die Schaufenster die Messingschalen der Goldwaagen. Die standen noch auf den Theken, obwohl ihren Dienst flache, hochpräzise elektronische Waagen übernommen hatten. Der November war mild und die eine oder andere Ladentür stand offen.

Tiziana lugte unter dem Schirm hervor und dachte sich, dass dies den Kunden wohl den schweren Schritt über die Schwelle erleichtern sollte.

Wäscheseile waren über die Straße gespannt. Eine ältere Frau im fünften Stock des Palazzos, an dem sie gerade vorbeikamen, zog energisch am Seilzug, um ihre Unterwäsche vor dem Schauer in Sicherheit zu bringen. Das Pflaster war jetzt nass und entsprechend glatt. Es war Usus, dass die Angestellten der Kaffeebars bei Regenwetter Sägespäne auf den Boden warfen, die Wasser und Dreck binden sollten, aber weiß Gott mehr Schmutz verursachten und das Schuhwerk in einen furchtbaren Zustand brachten. Tiziana ärgerte sich über sich selbst. Ihre schicken, hellbeigen Wildlederstiefel hatten schon gelitten. Am Morgen war sie sehr optimistisch gewesen, was das Wetter betraf. Trotzdem bereute sie nicht, dass sie sich spontan entschlossen hatte, nachmittags ins Zentrum zu fahren. Sie lief gern durch die Gassen Roms. Es gab immer etwas zu entdecken, und heute hatte sie ein Ziel. Das Mauerwerk der Palazzi war am Sockel moosig und feucht. Die bossierten Untergeschosse mit robusten Eisengitterstäben vor den Fenstern erfüllten einst die Aufgabe, den Pöbel fernzuhalten. Das alte Viertel besaß zweifelsohne Flair und Authentizität, wie Tiziana fand. Ihr Blick wanderte nach oben. Ein Stück weiter rechts auf der Höhe der molligen Signora, die nun alle ihre Unterhosen und Stützstrümpfe hineingeholt hatte, befand sich eine Madonella. Diesmal nicht in einer Ädikula wie so oft, sondern in einem barocken Steinoval. Tiziana sah künstliche Nelken auf dem Sims vor dem verwitterten Marienfresko und das Flackern eines Elektrolämpchens.

»Hoppla, pardon!« Sie fing sich. Beim Stolpern hatte sie sich im Reflex am Sergente festgehalten. Rasch ließ sie seinen Arm wieder los. Das Kopfsteinpflaster war bei Regen in der Tat tückisch, man musste verdammt aufpassen, wo man hintrat.

»Keine Ursache.«

Weiter vorn plätscherte ein Brunnen. Das Wasser kam von den Albaner Bergen, man konnte es unbedenklich trinken. Katzen aller Couleur streunten in den Gassen, und da war immer eine alte Frau, die sie fütterte. All das liebte Tiziana an Rom. Seit sie in ihrer Schulzeit aus Bologna mit den Eltern hergezogen war, hatte sie sich hier wohlgefühlt.

Es regnete nur leicht, doch die Luft war klamm. In den Straßen lag die Tristesse eines Regentags im November, der nach und nach in die blaue Stunde überging. In den Läden brannte bereits Licht.

Der Sergente blickte im Gehen in die Auslagen. »Vielleicht sollte ich Marcella doch nichts Gebrauchtes kaufen«, meinte er unschlüssig.

»Aber warum denn nicht?« Tiziana, die neben ihm herging, beobachtete durch ein Schaufenster ein junges Paar. Der Händler legte eine Kette auf die Goldwaage. Betretene Gesichter. Die Augen der Frau waren dunkel, traurig und ängstlich. Tiziana wusste, was Sergente Scurzi meinte. Nur Not und Sorgen brachten die Menschen hierher. Es war kein heiterer Ort.

»Ach was«, sagte sie dennoch mit einer abwinkenden Handbewegung. »Hier bekommen Sie ein schönes Stück, sehr günstig, und zu Hause halten Sie es eben kurz mal über Salbeirauch, das reinigt. Dann sind alle eventuell vorhandenen schlechten Schwingungen weg, und Ihre Frau wird sich über das Geschenk mega freuen.«

»Ach, Sie glauben auch an den Humbug?« Der Sergente blieb vor einem Geschäft stehen.

»Wieso auch?« Tiziana strich eine kupferrote Locke zurück und sah ihn an.

»Na, wie in dem Fall mit dem Bildhauer. Der, der spanische Gitarre gespielt hat, da in dem Nachtclub, wo Commissario Caselli und Sie …«

»Ach, Sie meinen Professore Rapisardi. Der Nachtclub hieß Arciliuto.« Tiziana nickte.

»Ja genau. Als der Commissario und ich ihn befragt haben, ließ er eine Unmenge Räucherstäbchen abbrennen. Furchtbar, sage ich Ihnen, ein Qualm, nicht auszudenken! Sandelholz. Ich habe den Geruch tagelang nicht aus dem Sakko gekriegt, obwohl es Marcella über Nacht auf dem Balkon gelüftet hat. Der Professore war wirklich ein komischer Kauz.«

»Ja, aber die Sommernacht, in der wir alle zusammen ausgegangen sind, die war wunderschön.«

»Also, mir war dann total schlecht. Richtig übel, speiübel …«

»Ja, ich habe das schon verstanden. Keine weiteren Details, bitte.« Tiziana schnaufte und strich sich erneut die widerspenstige Locke zurück. Die Erinnerung an jene Nacht war ihr wichtig, die wollte sie sich nicht vermiesen lassen. »Kräuter und Räucherwerk sind kein Humbug, Sergente. Hat Ihnen Ihre Mutter nie einen Halswickel gemacht oder Kamillentee, wenn Sie krank waren, damals, als Kind?«

Scurzi nickte. »Doch.«

»Na, sehen Sie, und das mit dem Räucherwerk ist auch eine überlieferte Tradition. Da ist nichts Seltsames dran. Die Natur hat für uns Menschen vorgesorgt. Sie gibt uns alles, was wir brauchen.«

»So gesehen …« Scurzi blickte schon länger in die Auslage des Geschäfts, vor dem sie stehen geblieben waren.

»Gefällt Ihnen hier was?« Tiziana versuchte zu erkennen, woran er den Blick festmachte.

»Das Armband da … schön nicht? Das mit den roten Steinen und Brillantsplittern. Ob das Granate sind? Marcella hatte sich so über die Kette gefreut. Die trägt sie dauernd. Stammt aus dem Laden, der vorhin zu hatte. Zu Ihrem Geburtstag muss es aber etwas mehr sein. Wir verstehen uns jetzt wieder prima.«

»Das da in der Mitte, neben der Perlenkette?« Tiziana sah Karfunkelsteine, gefasst im Stil der vorletzten Jahrhundertwende, auf einem schwarzen Samtkissen leuchten.

Der Sergente nickte.

»Ja, sind es. Ein herrliches, kräftiges Dunkelrot. Ich glaube, die Fassung ist brüniertes Silber. Und was da so funkelt, das sind Markasite, ein wunderschönes Armband.«

»Was das wohl kostet?« Scurzi rieb sich das kantige Kinn.

»Was darf es denn kosten, Raffaele?« Tiziana sah ihn von der Seite an.

»Bis einhundertzwanzig Euro kann ich gehen«, meinte er und starrte weiter gebannt in die Auslage.

»Kommen Sie, fragen wir einfach.« Tiziana zog ihn in den Laden. Der Verkäufer war gleich zur Stelle. Klein, schütteres Haar, lebhafte Augen, rieb er sich schon die Hände. Nicht gerade einer, der mir sympathisch ist, dachte Tiziana. Aber dann setzte sie ihr strahlendstes Lächeln auf.

»Ein besonders wertiges Stück«, sagte der Händler, als er das Armband aus der Auslage nahm. »Gerade erst hereingekommen, aus einem Nachlass«, fügte er hinzu.

Scurzi atmete durch.

Tiziana legte sacht die Hand auf seinen Arm. »Was soll es denn kosten?«

»Zweihundertzwanzig Euro, Signorina.« Der Verkäufer breitete das Armband auf einer flachen grünen Unterlage aus.

»Das wär’s dann wohl.« Scurzi starrte mutlos auf die Ladentheke. »Das ist zu viel, buon dì!«

Tiziana hielt geistesgegenwärtig seinen Arm fest. »Warten Sie doch, Raffaele, der Signore kommt Ihnen sicher entgegen. Ist für einen guten Zweck«, fügte sie hinzu und bedachte den Verkäufer mit einem Lächeln.

»Ich bin kein Wohlfahrtsinstitut«, brummte der und ruckte ein Kettenglied in Form. »Sagen wir zweihundert.« Er sah auf und rechnete mit Zustimmung.

»Wie viel könnten Sie denn ausgeben, Sergente?«, fragte Tiziana.

Der Blick des Verkäufers huschte leicht beunruhigt von einem zum anderen. »Der Herr arbeitet bei der Polizei?«

Scurzi nickte und streckte vorsichtig die Finger aus, um einen der in Zargen gefassten Granate zu berühren.

Der Händler rang mit sich. »Einhundertfünfzig, und wir reden nicht mehr darüber.«

»Einhundert«, rief der Sergente, der nun plötzlich das Spiel begriffen zu haben schien.

Tiziana unterdrückte ein Lächeln.

»Das geht nicht.« Der Händler schluckte. »Unter einhundertdreißig Euro kann ich es nicht hergeben, das ist ja kaum die Hälfte!«

»Einhundertzehn, oder wir gehen …« Scurzi kniff die Augen zusammen.

Der Verkäufer presste die Lippen aufeinander, nahm das Armband und schickte sich an, es wieder zurück in die Auslage zu legen.

»Wie wäre es, wenn die Herren sich auf einhundertzwanzig Euro einigten? In der Mitte. Das wäre doch korrekt«, schaltete Tiziana sich ein.

Der Händler legte gerade ein Kettenglied über die samtbezogene Öse des Kissens. Er schwankte. Er blickte auf. Der Sergente nickte.

»Also gut. Es gehört Ihnen«, seufzte der Händler. Er nahm das Armband erneut vom Kissen und lächelte fein. »Viel Freude damit.«

Und Tiziana hörte Scurzi erleichtert aufatmen.

Als sie aus dem Geschäft traten, klopfte er mehrmals auf die Innentasche seines Sakkos, wie um sich zu vergewissern, dass das Etui auch wirklich da wäre.

»Na, lief doch gut … und jetzt einen Cappuccino!« Tiziana hakte sich beim ihm unter.

»Ja, dank Ihrer Unterstützung lief es gut«, lächelte er.

»Sagen Sie mal, Raffaele, hat Commissario Caselli eigentlich … ich meine, ist er wieder mit jemandem zusammen? Wir waren ja nur kurz …« Sie brach ab. Es war schwerer als gedacht, darüber zu reden. Tiziana spannte mit einer Hand den Schirm auf, und Scurzi zog den Kopf ein, damit er darunter passte. Es regnete jetzt richtig.

»Wir warten lieber unter dem Dachvorsprung, hier. Es fängt gerade richtig an, da werden wir patschnass, jedenfalls unter meinem Minischirm.«

»Soweit ich weiß, ist da niemand. Tut mir leid, dass er … ich meine, dass sie beide nicht zusammengekommen sind, also nicht für länger.«

Tiziana sah zu Boden. »Ja, war ziemlich dramatisch, was passiert ist, nun, bei dem Fall im Sommer, den mit der Kunststudentin. War kein guter Start für uns.«

Scurzi nickte nur.

»Wir haben uns dann nicht mehr wiedergesehen. Er hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er das momentan nicht will, und ich …«

»Hallo, Sie, kann ich durch! Ich muss da rein … zum Pfandleiher. Sie stehen vor dem Eingang!«

Tiziana hob ruckartig den Schirm höher. Eine ältere Frau im Klarsicht-Regencape stand dicht vor ihr. Ihr ungeschminktes, von Falten gezeichnetes Gesicht war nass vom Regen, ebenso wie die dicken Gläser der altmodischen Brille, die sie trug.

»Mi scusi, Signora! Wie unbedacht von uns, aber natürlich können Sie durch.« Tiziana trat rasch zur Seite.

»Ich mache Ihnen die Tür auf, Moment.« Scurzi schlug den Sakkokragen hoch, als schützte ihn das vor den Regentropfen, stellte sich neben die Ladentür und öffnete sie. »Prego, Signora, geht es? Vorsicht mit der Krücken, hier ist es sehr rutschig.«

Die gehbehinderte Frau nickte und schob die nasse Kapuze des Regencapes zurück. Ein ungepflegter Kurzhaarschnitt kam zum Vorschein. Beim Betreten des Ladens beschlug ihre Brille.

»Darf ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Tiziana.

Es standen nun alle drei im Laden.

»Raffaele, haben Sie mal ein Papiertaschentuch? Die Signora sieht ja gar nichts mehr. Wenn Sie erlauben, Signora, nehme ich Ihnen die Brille ab und reibe mal eben die Gläser trocken, dann haben Sie wieder Durchblick. Ist das in Ordnung für Sie?«

»Ja, machen Sie nur, danke. Sie sehen ja …« Die Frau hob kurz eine der beiden Krücken.

»Franca, sind Sie etwa bei diesem Wetter mit dem Bus gekommen?«, fragte der Händler.

»Na, ist ja nicht weit. Die Betreuer von der FAI haben mich hergebracht, aber nur bis zur Via dell’Arco. Das letzte Stück bin ich gelaufen. Muss ja nicht jeder wissen, dass ich … ist noch was?« Sie blickte Tiziana an, die die geputzte Brille parat hielt.

Der Pfandleiher hatte inzwischen einen Stuhl geholt. »Möchten Sie das Cape ablegen, Franca?«

Die ältere Frau schüttelte den Kopf. Sie setzte sich mühsam, raffte beide Krückengriffe in der linken Hand zusammen und streckte die Rechte nach der Brille aus.

»Danke, das war freundlich, Signorina.« Sie starrte Tiziana an.

»Ja, also wir müssen dann … kommen Sie, Raffaele? Ach, schön, es regnet gar nicht mehr.« Sie wandte sich zum Gehen.

»Kann ich Sie irgendwo absetzen?« Der Sergente hielt ihr die Tür auf. »Ich habe den Wagen vorn auf der Piazza.«

»Nein, ich war auf dem Weg zur Konditorei in der Via dell’Arco. Die haben sizilianisches Gebäck. Ich war mal mit Alessandro dort. Er hat sie mir gezeigt. Kommen Sie mit auf einen caffè? Das Café ist sehr gemütlich.«

»Ich muss wieder in die Questura, tut mir leid.«

»Verstehe, grüßen Sie Alessandro, also … Commissario Caselli, von mir.«

»Mache ich.«

Der Sergente hatte es plötzlich sehr eilig gehabt. Tiziana blickte ihm nach. Sie dachte daran, wie nahe der Commissario und sie sich letzten Sommer gekommen waren. Sie war sich sicher gewesen, sie würden zusammenbleiben. Aber dann hatten sich die Ereignisse überstürzt, und alles war anders verlaufen. Tiziana presste die Lippen aufeinander. Sie fröstelte. Die Spitzen der Wildlederstiefel waren durchnässt. Sie drehte sich um und ging in Richtung der Pasticceria, die sich gleich neben dem hohen Bogengewölbe befand, dem die Via dell’Arco ihren Namen verdankte. Dort gab es neben Granite köstliche Gebäckspezialitäten und jede Menge Süßigkeiten aus Sizilien, von Cannoli bis Cassata. Ein Eldorado für Alessandro. Sie waren aber nur einmal zusammen hier gewesen. Tiziana atmete durch. Wie auch immer, jetzt freute sie sich auf einen Chai-Latte und eine Brioche. Sie wäre gleich da, ein paar Schritte noch.

Als sie die zwei Travertinstufen nahm und dann die Ladentür aufdrückte, überlegte sie, wie wohl die ältere Frau aus dem Laden des Pfandleihers nach Hause kommen mochte. Mit Krücken bei Regen auf dem Kopfsteinpflaster, das war bestimmt nicht leicht. Sie war sehr schlecht zu Fuß unterwegs, und das dünne Regencape war kein guter Schutz bei diesem nassen Wetter. Nun, vielleicht hatte sie es nicht weit, oder die Helfer der FAI würden sie in der Nähe wieder abholen. Sie hatte die FAI ja erwähnt. Die Organisation engagierter Jugendlicher, die freiwilligen Sozialdienst für Bürger im Zentrum Roms leisteten, hatte in den letzten Jahren von sich reden gemacht. Das war eine gute Sache. Viele ältere Menschen im Stadtkern lebten allein. Die Palazzi hatten aus Denkmalschutzgründen keine Aufzüge, und die Treppen waren ein wahre Herausforderung für die Kniegelenke und den restlichen Bewegungsapparat. In Venedig oder Neapel behalf man sich mit Körben, die von den oberen Stockwerken herabgelassen wurden, Weißbrot oder die Zeitung kamen hinein, dann wurde der Korb einfach hochgezogen. Das aber gab es in Rom nicht. Hier mussten sich die alten Leute mit den sich in die Höhe schraubenden Treppenspiralen arrangieren. Ein Erinnerungsfetzen, der Tiziana durch den Kopf schoss, ließ sie schaudern. Was sie im Sommer mitangesehen hatte, war immer noch nicht ganz weg, und die Bilder in ihrem Kopf verursachten ihr hin und wieder Albträume. Aber es half ja nichts. Im Café schlugen ihr wohlige Wärme und der köstliche Duft frisch gemahlenen Kaffees entgegen.

»Ah, Signoria Tiziana! Auch mal wieder hier?«, rief die Verkäuferin freundlich.

Tiziana grüßte zurück. Sie fühlte sich Alessandro ein wenig näher, wenn sie hier war. Der Chai-Latte mit Vanille-Zimt-Geschmack war köstlich, damit war die Welt dann, wenn auch nur kurzfristig, einigermaßen in Ordnung.

3

Caselli stand vor dem geöffneten Kleiderschrank. Er hatte vorgehabt, sich ein Sakko aus englischem Tweed schneidern zu lassen. Seit dem Maßnehmen hatte der Herrenausstatter in der Via del Gambero ihn aber nicht mehr zu Gesicht bekommen. Die lieb gewordene Marotte, auf ein elegantes Äußeres zu achten, verlor sich. Er hatte einfach kaum Zeit. Caselli atmete durch. Es kam noch so weit, dass er seine Unterhosen auf dem Wochenmarkt von Rignano Flaminio kaufte, wenn er am Sonntag aus der Stadt käme und einen Ausflug ins Grüne machte. Das letzte Mal, als er daran dachte, sich neue Sachen und die Lapis-Manschettenknöpfe zuzulegen, die er im Auge gehabt hatte, war vor Doras Besuch gewesen. Schnee von gestern, wie seine privaten Pläne. Die Verlobung war gelöst. Caselli war definitiv wieder Junggeselle. Er schob den Gedanken an Dora beiseite. Irgendwann würde der nagende Kummer, der ihn tagaus, tagein begleitete, sicher aufhören. Er konnte sich das zwar noch nicht vorstellen, aber es hieß ja, die Zeit heile alle Wunden.

Caselli durchforstete den Inhalt seines Schranks. Die Sommergarderobe hatte Concetta, die Zugehfrau, in den großen Überseekoffer aus Leder verstaut, den Caselli seinerzeit von seinem Großvater geschenkt bekommen und schon dessen Vater gehört hatte. Ein Erbstück, ebenso wie der massive Schrank, vor dem er gerade stand.

Furnier mit Patina und Gebrauchsspuren. Oben eine Kranzleiste, an den Seiten Gründerzeitornamente, eine Art Pokale und darunter Rillenprofilleisten. Der Korpus war aus Wurzelholz. Nussbaum. Unten befand sich noch eine geräumige Schublade, in der Caselli seine Schuhe aufbewahrte. An der Innenrückwand gab es Haken, und eine messingfarbene Metallstange erlaubte das Aufhängen von Bügeln. Der Schrank ruhte auf kompakten Kugelfüßen. An der linken Tür waren ein paar Wurmgänge. Caselli hatte sie Tiberio begutachten lassen. Der hatte gemeint, die seien nicht aktiv, und hatte sie nur ein wenig gespachtelt. Recht überzeugt davon war Caselli nicht gewesen, aber letztendlich vertraute er seinem Freund aus der Trattoria. Als Schreiner, der ab und an auch ein selbst restauriertes Möbelstück verkaufte, wusste er sicher, was er tat. Und sein Geschäft florierte, seit er die Idee gehabt hatte, auch Silbersachen dazu zu nehmen, die er im vorderen Bereich der Werkstatt verkaufte: englische Teeservice, Jardinièren, ziselierte Dosen und Zigarettenetuis. Den Zweitverdienst konnte er gut gebrauchen, jetzt, da seine Frau Giuseppina nach einem Fehlversuch und Klinikaufenthalt ihr erstes Kind erwartete. Der Gedanke verursachte Caselli ein mulmiges Gefühl. Als hätte er einen Schlag in die Magengrube versetzt bekommen. Bruchstücke dessen kamen hoch, was er im Dienst gesehen hatte. Der erst vor wenigen Tagen abgeschlossene Fall einer Kindsmörderin war grausig gewesen. Ein runzeliger Säugling. Leblose, kleine blaue Augen. Sonst war Caselli nicht so empfindlich. Er hatte im Polizeidienst oft schlimm zugerichtete Leichen gesehen, doch in der Regel von Erwachsenen. Der Fall mit der Kindsmörderin hatte sich hingezogen. Die Skandalpresse hatte die Ermittlungen und Casellis Polizeiarbeit genauestens verfolgt, was alles unnötig verkomplizierte. Doch schließlich hatte er die Mutter des Säuglings überführt. Er atmete tief aus und ein, als könnte er bewirken, dass die Bilder des toten Kindes sich dadurch auflösten.

Er heftete den Blick starr auf das Erbstück. Der Schrank war nicht zerlegbar. Beim Umzug aus Sizilien vor knapp zwei Jahren schien es erst unmöglich, das Möbel und andere sperrige Erbstücke die Treppen hinaufzubekommen. Dann hatte es doch geklappt, begleitet vom Fluchen der Möbelpacker. Der Schrank war ein riesiger Kasten, doch trotz seiner Größe passte eigentlich wenig hinein. Gleiches galt für den Schreibtisch, der im Wohnzimmer Platz wegnahm. Im Gegenzug bot er eine enorme Ablagefläche. Aber sonst? Der Palazzo hatte hohe Decken, da fiel das wuchtige Mobiliar weniger auf. Aber im Grunde hätte Caselli gern etwas Leichtes, Modernes, Luftiges gehabt. Er hatte ein Faible für Mies van der Rohe und schätze den Stil von Alberto Pinto. Ein Barcelona–Sessel aus verchromtem Stahl mit cognacfarbenen Lederpolstern … ja, damit liebäugelte er schon lange. Natürlich einen von Knoll International, kein Plagiat aus Kohlenstoffstahl, mit einer galvanischen Chromschicht überzogen. Wenn, dann musste es Qualität und authentisch sein.

Angenommen, er ließe sich doch versetzen, wollte er das alles erneut mitschleppen? Musste er mit Gründerzeitmöbeln leben, nur weil er diese geerbt hatte? War das nicht ein in der Tat zu schweres Erbe?

Gedankenblitze zum Fall, den er abgeschlossen hatte, durchbrachen seine Überlegungen. Wie brachte er diese grausigen Bilder nur aus dem Kopf? Caselli starrte vor sich hin. Einfach ignorieren.

Nun, da die Sommergarderobe eingemottet war, wirkte der Schrank beinahe gähnend leer. An der Kleiderstange hingen die Husky-Steppjacke mit braunem Cord-Kragen und das Kaschmirjackett, dass Caselli für Konzertabende und Opernbesuche gekauft hatte, zu denen er nie ging, weil stets ein Fall Priorität hatte. Dann waren da noch die zwei Sakkos, die er aus Sizilien mitgebracht hatte. An den eindeutig ausgebeulten Ellenbogen sah man, dass er sie dort viele Jahre gern getragen hatte. Die Gabardinehose holte er nicht mehr heraus. Im Dienst trug er Jeans. Die Oberhemden lagen ordentlich zusammengelegt im dreifach unterteilten, rechten Seitenfach. Bei Hemden sparte er nicht. Es gab exzellente Herrenschneider in Rom. In der Anfangszeit in der Ewigen Stadt hatte er sich im Überschwang ein halbes Dutzend maßschneidern lassen. Sehr teuer. Die Ausgabe rentierte sich aber. So ein Hemd saß. Als Farbe wählte er Weiß oder Hellblau. Etwas anderes kam für ihn als Sizilianer nicht infrage, gemustert oder gar kariert war indiskutabel.

In der Krawattenfrage bewunderte er die Extravaganz seines Bekannten aus der Trattoria, Fulvio Stinchelli. Den Sportredakteur hatte er kennengelernt, als dessen Sohn auf tragische Weise ums Leben gekommen war. Caselli nickte. Er hatte den Fall aufgeklärt. Und da waren sie wieder, die Bilder der letzten Tage. Das Surren der Gefriertruhe. Der Polizist hob den Deckel. Einer der seltenen Momente, in denen Caselli weggesehen hatte. Die Mutter, abgeführt in Handschellen. Caselli schnaufte. Er hatte dieses Jahr keinen Urlaub gehabt. Das rächte sich. Er fühlte sich angeschlagen, ausgelaugt. Er betrachtete die Krawatten. Zugegeben, er bewunderte Fulvios Geschmack, nicht dandyhaft, doch durchaus gewagt und inspirierend. Im Laden wählte Caselli selbst dann aber ganz konservativ: gedeckte Farben, unauffälliges Muster. Er blieb sich treu. Ein allerletzter Schwenk über die Kleiderstange. Trenchcoat und Daunenwinterparka. Das war es dann schon. Ein neues Sakko wäre somit kein Akt unbotmäßiger Verschwendungssucht. Er brauchte eines. Aber natürlich aus englischem Tweed. Und das konnte ins Geld gehen …

Fehlanzeige. Das mit dem Ablenken klappte nicht. Nun, er hatte sein Bestes gegeben, seine Gedanken von jenem Fall abzuziehen. Socken und Schuhe ginge er jetzt nicht noch durch. Basta. Caselli schloss die Türen und drehte den Eisenschlüssel um. Daran hing eine grüne Quaste, ein dickes Posament aus Seidenfäden. Die hatte ihm auch noch nie gefallen. Er legte die Hand in den verspannten Nacken. Sein Magen machte sich bemerkbar. Die letzten zwei Wochen war er kaum dazu kommen, etwas Ordentliches zu essen. Heute wollte er kochen. Kochen lenkte ab. Ein Teller Pasta. Im Gefrierfach lag noch eine Tüte Scampi … Caselli zuckte zusammen. Das Sirren der Gefriertruhe im modrigen Keller schwoll zum Crescendo. Er nahm kurzerhand die Barbour-Jacke vom Bügel, zog sie über und griff nach dem Schlüsselbund, der auf der Konsole neben der Tür lag.

Er würde in Giovannis Trattoria gehen. Wenn er Glück hätte, war Tiberio da, vielleicht auch Claudio oder Fulvio Stinchelli. Etwas Gesellschaft würde guttun. Manchmal konnte er nach dem Polizeidienst einfach nicht abschalten, so sehr er sich dazu zwingen wollte.

4

»Meinst du wirklich?« Franca malträtierte das feuchte Taschentuch in der Hand und hoffte zaghaft, das mit dem Telefonat könnte doch noch etwas werden. Sie starrte ängstlich besorgt auf den Metallwecker, den sie auf dem Nachttisch postiert hatte, um ja die Zeit im Auge zu behalten. Jede Minute, die sie mit der Kartenlegerin sprach, kostete vom Handy drei Euro neunundzwanzig Cent. Eigentlich hatte sie sich fest vorgenommen, die Astro-Hotline nicht mehr anzurufen. Dennoch tat sie es wieder und wieder. Sie wusste sich nicht anders zu helfen, und die vertraute Stimme in der Leitung gab ihr jedes Mal ein bisschen Trost und neue Hoffnung.

»Aber ja, dein Herzensmann liegt auch heute im Kartenbild. Gehe in deine Kraft.«

Das war das Stichwort. Franca hatte das schon oft gehört. Sie nickte, wischte sich fahrig über die Wange und schnäuzte sich noch einmal in das völlig durchweichte Taschentuch. »Ja, du hattest recht, Ameris. Du hast das von Anfang an gesehen in deinen Karten. Er kommt von weither, hast du gesagt, und das stimmt.«

»Wie heißt er noch mal?«, fragte die säuselnde Stimme in der Leitung.

»Anayo«, antwortete Franca bereitwillig. Es tat gut, seinen Namen auszusprechen. Endlich konnte sie über ihre Gefühle sprechen, über alles, was in ihr vorging, in ihr brodelte. Sie wusste, dass die Kartenlegerin bei der Hotline sie das nur fragte, um das Gespräch in die Länge zu ziehen. Der Minutentakt lief gnadenlos, vom Handy war es besonders teuer. Ameris stellte Fragen, damit Franca anfinge zu reden, zu erzählen. Und schon waren wieder vier Minuten herum und dreizehn Euro sechzehn Cent vertelefoniert. Franca wusste das. Aber mit wem hätte sie sonst reden sollen? Sie hatte doch niemanden. Und ihr Herz quoll über vor Freude und vor Sorge. Freude, dass da nun ein Mann in ihrem Leben war, mit dem sie lachen konnte, der sie auf seinen starken Armen die fünf Stockwerke zum Portal hinuntertrug, für die sie sonst Stufe um Stufe gut eine Viertelstunde brauchte. Sie mochte das, sich an ihm festzuhalten, die Arme um seinen Hals. Sie war noch nie einem Mann so nah gewesen, höchstens einem Arzt, der sie untersuchte, wenn sie einen Bronchialinfekt hatte und ihre Brust abgehört wurde. Oder im Krankenhaus, wenn Röntgenaufnahmen der Hüftgelenke gemacht wurden, um zu sehen, ob die Osteoporose fortschritt. Nun keimte Hoffnung auf. Die Hoffnung, sie werde ein Leben haben, doch noch. Ein richtiges Leben mit einem Mann, einer eigenen Wohnung, dem Austausch von Zärtlichkeiten und all dem. Franca spürte, dass sie rot wurde, und ihr Herz flatterte. Tränen flossen wieder, und sie gab einen kleinen Laut von sich, ein unterdrücktes Schluchzen, das Ameris’ feinen Ohren nicht entging.

»Sei nicht mutlos. Es wird schon. Was ist denn deine allergrößte Sorge? Dass er dich verlässt?«

Das Schluchzen bahnte sich seinen Weg und brach durch. Franca schniefte lautstark und angelte nach der Packung Taschentücher, die neben ihr auf dem Bett lag.