Schafkopf - Andreas Föhr - E-Book + Hörbuch

Schafkopf Hörbuch

Andreas Föhr

4,5

Beschreibung

Ein neuer spannender Fall für Wallner & Kreuthner: Im zweiten Band der Krimireihe des Tatort-Drehbuchautors Andreas Föhr geht es hoch hinaus auf den Riederstein-Berg in Oberbayern. Polizeiobermeister Kreuthner hat sich in einer durchzechten Nacht auf eine unselige Wette eingelassen: Er muss das Polizeisportabzeichen machen! Um seinen alkoholgeschwängerten Körper vorzubereiten, joggt er nun – noch nicht ganz ausgenüchtert – auf den Riederstein. Als er dem Kreislaufkollaps nahe am Gipfel ankommt, wird dem Bergwanderer neben ihm der Kopf weggeschossen. Bei dem Toten handelt es sich um den Kleinkriminellen Stanislaus Kummeder. Doch was hatte der Mann, der nie auf Berge ging, auf dem Riederstein zu schaffen und wozu schleppte er ein Bierfass auf den Gipfel über dem Tegernsee? Bei ihren Ermittlungen stoßen Kommissar Wallner und Polizeiobermeister Kreuthner auf das geheimnisvolle Verschwinden einer jungen Frau, auf 200 000 Euro im Kofferraum eines dubiosen Anwalts und einen prügelnden Wirt mit abnormen Körperkräften. Als ein weiterer Mord in Oberbayern geschieht, laufen die Fäden allmählich an jenem Juniabend vor zwei Jahren zusammen, an dem eine legendäre Runde Schafkopf gespielt wurde … Eine würdige Fortsetzung für Wallner und Kreuthner, raffiniert ausgedacht und auf hohem Niveau erzählt. Dazu ist "Schafkopf" spannend von Anfang bis Ende und mit einem unwiderstehlichen Humor gesegnet. leser-welt.de [...] Andreas Föhr [hat] nun den Folgeband seines spannenden Krimi-Erstlings "Prinzessinnenmörder" abgeliefert, und wieder ist ihm dabei ein außergewöhnlich gut erzähltes und originelles Stück Kriminalliteratur geglückt. Hallo-muenchen.de Ein gut zu lesender und spannender Krimispaß aus Bayern. Literaturschock.de Alle Bände der spannenden Oberbayern-Krimis sind als eBook / für Kindle erhältlich: Band 1: Prinzessinnenmörder Band 2: Schafkopf Band 3: Karwoche Band 4: Schwarze Piste Band 5: Totensonntag Band 6: Wolfsschlucht Band 7: Schwarzwasser Band 8: Tote Hand

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Zeit:7 Std. 31 min

Sprecher:Michael Schwarzmaier

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Andreas Föhr

Schafkopf

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Polizeiobermeister Kreuthner hat sich in einer durchzechten Nacht auf eine unselige Wette eingelassen, weshalb er nun in aller Herrgottsfrüh auf den Riederstein joggen muss. In dem Moment, in dem er – dem Kreislaufkollaps nahe – oben ankommt, wird dem Bergwanderer neben ihm, dem Kleinkriminellen Kummeder, der Kopf weggeschossen. Kommissar Wallner und sein Team stoßen bei ihren Ermittlungen auf einen geheimnisvollen Vorfall im Leben des Opfers, der zwei Jahre zurückliegt. Ein weiterer Mord geschieht, und immer wieder laufen die Fäden an jenem Juniabend des Jahres 2007 zusammen, an dem Kummeders Freundin Kathi spurlos verschwand …

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Jede vermeintliche Ähnlichkeit der Figuren des Buches mit lebenden oder verstorbenen Menschen wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Für Damaris

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In Erinnerung an Dominik Brunner

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Prolog

15. Juni 2007, 22 Uhr 58: Die Nacht war warm. Rechtsanwalt Jonas Falcking stand neben seinem silbernen Porsche. Grillen zirpten, eine Katze huschte vorbei, löste einen Bewegungsmelder aus, die Lampe über der Tür des Hauses schaltete sich ein. Im Erdgeschoss hatte das Haus grüne Fensterläden mit ausgeschnittenen Herzen in der Mitte. Im ersten Stock konnte man im Gegenlicht der Lampe undeutlich einen geschnitzten Holzbalkon erkennen. Bayerischer Landhausstil.

Eine Ziertanne stand blau auf dem nächtlichen Rasen. Falcking hatte die Hände in die Hosentaschen seines Armani-Anzugs gesteckt. Der Anwalt wartete darauf, dass der Bewohner des Hauses herauskam. Von der Lampe über der Tür fiel Licht auf das Wagendach. Dort hatte die nächtliche Kühle Tau niedergeschlagen. Falcking zog eine Hand aus der Hosentasche und malte mit dem Zeigefinger eine Zwei und dahinter fünf Nullen in den feuchten Fleck. Er betrachtete die Zahl und sog die Abendluft ein. Sie roch nach gemähtem Gras. Falcking hörte Schritte im Haus und wischte die Zahl vom Wagendach.

Der Mann war Mitte fünfzig, einen Meter neunzig groß und wog einhundertdreißig Kilo. Die Sporttasche sah in seiner fleischigen Hand aus wie ein Damenhandtäschchen. In der anderen Hand hielt er eine Fernbedienung. Auf einen Knopfdruck hin rollte das Garagentor nach oben. Der Mann bedeutete Falcking, ihm zu folgen. Als sie in der Garage waren, ertönte ein Summen. Das Garagentor schloss sich wieder.

»Muss net jeder zuschauen«, sagte der Dicke.

»Glaubst, da ist noch jemand wach?«

»Die hocken mit’m Fernglas hinterm dunklen Fenster.«

»Quatsch, oder?« Falcking lachte.

»Ja ohne Schmarrn. Was glaubst du denn? Mir san hier am Land.«

Der dicke Mann stellte die Sporttasche auf einer Werkbank ab und sah Falcking mit verwaschenem Blick an. Die Haut um die Augen war feucht. Aber er weinte nicht, er schwitzte. Von der Anstrengung, die jede Bewegung ihm verursachte, von dem Dutzend Obstlern, die er getrunken hatte, und auch vor Aufregung über das, was er gleich tun würde. Der dicke Mann öffnete den Reißverschluss der Sporttasche und ließ Falcking einen Blick auf den Inhalt werfen. Im dünnen Licht der Garagenlampe sah Falcking Geldscheine. Sie waren gebündelt. Nicht mit Banderolen wie in der Bank. Ein schlichter Gummi war um jedes Bündel gebrauchter Scheine gespannt worden. Falcking nahm eines der Päckchen heraus. Es war sehr dick und enthielt Fünfzigeuroscheine.

»Immer hundert in einem Bündel.« Der dicke Mann holte eines mit Zwanzigern heraus und hielt es Falcking hin.

»Zähl’s nach.«

Falcking schüttelte den Kopf, nahm dem Mann das Bündel Zwanziger aus der Hand und legte es zusammen mit dem Fünfzigerbündel in die Tasche zurück. »Hundertsechsundneunzigtausend. Dein Wort genügt mir.«

Falcking machte den Reißverschluss zu. Der dicke Mann warf einen besorgten Blick auf die geschlossene Tasche. »Mach keinen Scheiß, hörst du? Das ist meine Rente. Und die von der Maria. Vielleicht bin ich bald nimmer da.«

Falcking legte seinen Arm um die Schulter des massigen Mannes. »Du bist noch viele Jahre da. Hörst du?«

Der Dicke nickte, und die Muskeln um seinen Mund verkrampften sich. Er kämpfte mit den Tränen.

»Bernd – ich kümmer mich um deine Mädels. Das hab ich dir versprochen, und das halte ich«, sagte Falcking.

»Ich weiß. Bist a feiner Kerl.« Die Stimme des Mannes war belegt. Er wischte sich mit den Zeigefingern die Augen trocken.

Falcking zog seinen Schwiegervater an sich, gab ihm einen Klaps auf die Schulter und griff nach der Reisetasche. Der dicke Mann sollte sein Geld nie wiedersehen.

Zur gleichen Zeit …

… wenige Kilometer entfernt im nächtlichen Mangfalltal. Die Temperatur fünf Grad kälter, Bodennebel in der Flusssenke. Aus dem Wirtshaus fiel Licht auf den Schotterplatz vor dem Haus. Dort standen zwei Motorräder, ein nachträglich mit Spoilern versehener Ford Escort aus den Achtzigerjahren sowie zwei weitere Altwagen. Einer davon auf Ziegelsteinen aufgebockt, verrostet, Fenster und Scheinwerfer fehlten. Schwaches Licht fiel auch auf einen Matratzenrost, zwei abgefahrene Traktorreifen, Bretter und alte Ziegelsteine, die ohne Sorgfalt neben einem Holzschuppen aufgeschichtet waren. Hinter dem Wirtshaus stapelten sich Getränkekisten, gelblich beleuchtet von einer Laterne mit zerbrochener Scheibe. Die Laterne hing über dem Hintereingang. Leises Schluchzen war zu hören, jemand weinte und zog die Nase hoch.

Im gelben Schein der Vierzig-Watt-Birne konnte man sehen, dass die Nase geschwollen und mit einem weißen Pflaster überklebt war. Ebenso geschwollen war das linke Auge der jungen Frau. Susi reichte Kathrin ein Papiertaschentuch. Aber Kathrin wehrte ab. Sie konnte sich mit der gebrochenen Nase nicht schneuzen. Stattdessen zog sie den Rotz noch einmal hoch und spuckte das, was im Mund ankam, auf die Stufe vor dem Hintereingang. Es war rot. Susi hielt Kathrin eine Zigarette hin.

»Das wird schon wieder.« Susi lächelte. Es war aufmunternd gemeint, wirkte aber verzweifelt. Kathrin steckte sich die Zigarette zwischen die aufgeplatzten Lippen, ließ sich von Susi Feuer geben und inhalierte gierig. Den Rauch blies sie nach oben zu der ramponierten schmiedeeisernen Laterne und scheuchte die Motten für einen Augenblick vom Licht. Kathrin schüttelte den Kopf und wischte sich mit der freien Hand eine Träne aus dem Auge. »Der bringt mich um. Eines Tages bringt er mich um«, sagte sie. »Ich will nimmer.«

Der letzte Satz erschreckte Susi. »Was meinst’n damit – du willst nimmer?«

»Ich … ich halt das nimmer aus. Es muss Schluss sein damit. Verstehst? Schluss. Endgültig.«

Susis Unruhe wurde stärker. »Willst den Stani verlassen?«

»Spinnst du?« Fassungslos versuchte Kathrin zu lachen, aber die Naht an der Nase und ihr geschwollenes Auge taten dabei weh. »Was glaubst, dass der mit mir macht, wenn ich ihn zum Teufel hau?«

Susi betrachtete Kathrin mit wachsender Sorge. Was hatte ihre Freundin im Sinn? Es musste etwas so Radikales sein, dass sich Susi nicht einmal vorstellen konnte, was es sein mochte. Mit Stani Schluss zu machen war ganz sicher keine Lösung – wo er Kathrin schon jetzt so zurichtete. Was würde er ihr antun, wenn sie ihn verließ? Stani hing an Kathrin wie an nichts anderem auf der Welt. Susi biss auf ihre Unterlippe und traute sich nicht, die Frage zu stellen, die so nahelag.

Im Halbdunkel an die Hauswand gelehnt stand Kathrins Fahrrad. Erst jetzt bemerkte Susi, dass neben dem Rad eine Reisetasche stand – prall gefüllt. »Du gehst weg?«

»Ja. Ich hau ab.« Kathrin nickte und sah in die Nacht hinaus.

»Wohin denn?«

»Berlin, London, Ibiza. Keine Ahnung. Nur weit weg, wo der Stani mich net findet.«

»Aber man kann net einfach … nach Berlin oder Ibiza gehen. Wie stellst dir das vor?«

»Es wird schon irgendwie gehen.«

Susi schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich tät sterben vor Heimweh. Ich mein – es ist ja kein Urlaub.«

»Was tätst denn vermissen? Deinen Vater? Oder deine depperten Brüder?«

Susi zuckte mit den Schultern. »Den Peter.«

»Dass er dich jede Woch grün und blau schlagt? Dass du dich gar nix mehr sagen traust, aus Angst, du fangst dir eine? Das tätst net vermissen. Glaub’s mir.«

Susi zuckte noch einmal mit den Schultern und starrte vor sich hin. Dabei verfing sich ihr Blick an Kathrins Unterarm, der ein Stück aus ihrer Lederjacke ragte. Er war blau von Blutergüssen. Kathrin hatte versucht, die Schläge abzuwehren.

»Dich tät ich vermissen«, sagte Susi leise.

Kathrin sagte nichts darauf. Sie schwiegen eine Weile, und Kathrin blies Rauch in die gelbe Nacht.

»Ihr müsst ein bissl aufeinander zugehen. Dann geht das schon. Du liebst ihn doch.«

»Nein. Wer so was tut, den kannst du nicht lieben.« Etwas in Kathrin revoltierte plötzlich. »Schau mich an, was er mit mir gemacht hat!«, schrie sie auf Susi ein. »Siehst des net?!«

Susi schossen die Tränen in die Augen. »Ich weiß, aber …« Sie fing an zu weinen. Kathrin nahm ihre Hand, drückte sie. Susi blickte zu Boden. Endlose Sekunden, ohne etwas zu sagen. Sie schien nicht einmal zu atmen. Nur ein leichtes Zucken ging durch ihren Oberkörper. Als sie wieder zu Kathrin aufsah, war deren Gesicht verzerrt von Schmerz und Wut. Susis Kinn zitterte, ihre Wangen waren nass. »Lass mich hier net allein«, flüsterte sie.

Kathrin nahm die Freundin in den Arm und drückte sie. Außer Kathrin hatte Susi niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Susis Vater und ihre Brüder sahen weg, wenn Peter sie verprügelte. Sie hatten Angst. Wenn Peter zuschlug, brachen Knochen. Er hatte übermenschliche Kräfte.

Vor nicht langer Zeit war Peter noch Susis Märchenprinz gewesen. Der Ritter, der sie aus ihrem Familiengefängnis befreit hatte. Zu dieser Zeit waren auch Kathrin und Stani zusammengekommen. Ein paar Monate lang waren sie zwei Traumpaare gewesen, hatten Händchen gehalten und sich so unentwegt geküsst und aneinandergeklammert, dass es den Freunden schon zu viel war. Doch schnell kam der Alltag. Mit ihm die ersten Grobheiten, dann die erste Ohrfeige. Ein Jahr später waren Kathrin und Susi immer noch mit ihren Burschen zusammen. Aber die hatten sich mittlerweile als unbeherrscht und gewalttätig herausgestellt und ihre Mädchen mehrfach so geschlagen, dass sie ärztlich behandelt werden mussten. »The fairytale gone bad«, wie es im Lied hieß.

»Komm mit«, sagte Kathrin.

Susi überlegte eine Weile. Dann schniefte sie und schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nie weiter als bis Sterzing gefahren.«

»Ja und? Du bist einundzwanzig. Dann machst mal was Neues.«

»Ich kann das net. Ich hab zu viel Angst.«

»Wovor?«

»Vor dem … Unbekannten.«

»Ist das schlimmer, als vom Peter geschlagen werden?«

»Ja«, sagte Susi mit Bestimmtheit und dachte an all das Unbekannte da draußen in der Welt, das ihr zustoßen konnte, und ihre Augen wurden ganz groß vor Entsetzen.

Kathrin ließ die Zigarette zu Boden fallen und drückte sie aus. »Weißt was?«

Susi schüttelte den Kopf.

»Ich hol dich nach, wenn ich in Berlin bin. Oder wo immer.«

Susi sah sie verunsichert an. »Dann gehst du wohin, wo du schon wen kennst. Dann ist es gar nimmer schlimm, verstehst?« Kathrin legte ihre Hände auf Susis Schultern, sah ihrer Freundin in die Augen und lächelte, soweit das die gebrochene Nase zuließ. Susi nickte schließlich.

»Ja. So machen wir’s.« Die beiden Frauen umarmten sich.

»Kannst mir a Geld leihen?«, sagte Kathrin, als sie sich aus der Umarmung gelöst hatten.

»Ich hab mein Trinkgeld gespart. Das sind neunhundert Euro.«

»Ich geb’s dir wieder, wenn du nach Berlin kommst. Okay?«

»Schon gut.«

Susi verschwand im Haus, wo ihr Freund Peter Zimbeck, der Inhaber der Gastwirtschaft, mit drei anderen Männern in der Wirtsstube Schafkopf spielte. Kathrin zündete sich noch eine Zigarette an. Ihre Nase pochte und begann stärker zu schmerzen. Die Wirkung des Mittels, das der Arzt ihr gegeben hatte, ließ nach. Als sie einen Augenblick innehielt und in die Nacht lauschte, meinte sie, ein Geräusch zu hören. Nur kurz, dann verschwand es und nur noch das Rauschen der Mangfall kam aus der Dunkelheit. Kathrin blickte durch die offene Hintertür ins Wirtshaus, um zu sehen, wo ihre Freundin blieb. Da hörte sie es wieder – das Geräusch. Diesmal war es näher. Es klang wie ein röhrendes Tier im Wald. Vielfach gebrochen hallte es durch die Nacht. Kathrin krampfte sich der Magen zusammen. Sie kannte das Geräusch, hoffte aber inständig, sich zu irren. Sie ging vor bis zur Hausecke, um besser hören zu können, was sich dem Wirtshaus näherte. Jetzt war das Geräusch so laut und klar, dass nicht der geringste Zweifel blieb: Es war das Röhren eines alten Saab Cabrio. Der Saab Cabrio des Stanislaus Kummeder, der sich dem Wirtshaus näherte.

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1. Kapitel

Der Wirt der Aueralm, in gleicher Person auch Senner der Alm, blickte auf zum Morgenhimmel, der sich im Osten rosa färbte an diesem 4. Oktober des Jahres 2009. Abgesehen davon war der Himmel sehr blau und dunkel und ohne eine Wolke und kündigte einen dieser Tage an, wie es sie erst gab, seit sie die Ozonschicht kaputtgemacht hatten: mit so beißend klarem Licht und harten Farben, dass es einem vorkam, als habe jemand einen Filter vor die Landschaft gestellt, der alles Milde und Weiche aufzehrte und Schwarztöne zum Leben erweckte, wie die teuersten Plasmabildschirme sie nicht hervorbrachten. Im Norden hörte der blaue Himmel etwa auf der Höhe von Holzkirchen auf. Wie mit dem Lineal gezogen lauerte dort eine Wolkenwand darauf, nach Süden vorzustoßen. Weiter war der Föhn nicht gekommen, von dem der Senner hoffte, dass er stark genug sein und nicht im Verlauf des Tages zusammenbrechen und sich hinter die Grenze nach Tirol zurückziehen würde. Das hielten sie im Wetterbericht für möglich. Der Senner-Wirt sandte noch einen Blick in Richtung Hirschberghaus und Tegernseer Hütte. Auch dort würden sie jetzt Vorbereitungen treffen, um für den Ansturm gerüstet zu sein. Man würde Getränke einkühlen, Zapfanlagen prüfen, Vorräte zählen, Speisekarten schreiben und zum Herrgott beten, er möge die Bedienung bei Gesundheit erhalten – zumindest bis der Sonntag vorbei war.

Auf der anderen Seite des Sees, tief im morgendlichen Dämmer, joggte Polizeiobermeister Leonhard Kreuthner mit zähen Sprüngen den Weg zur Galaun hinauf. Der Weg knirschte unter den neuen Laufschuhen, kalte Herbstluft mit dem Aroma von Waldboden und harzigem Holz strömte in schnellen Zügen durch die Lungen, Schweiß netzte die Lippen und rann über die Augenbrauen. Oberschenkel und Waden waren geschwollen und hart, obwohl Kreuthner erst seit sieben Minuten unterwegs war. Der erste Anstieg gleich nach dem Parkplatz war der schlimmste Teil der Strecke. Hier musste man durchhalten. Ein Stechen in der Lunge und das kaltschweißige Gefühl auf der Stirn ließen Kreuthner das Tempo drosseln, wenngleich der Spielraum hierfür gering war. Noch ein wenig langsamer, und er würde auf der Stelle traben.

Kreuthner hatte sich hinreißen lassen, mit dem Sennleitner eine Wette abzumachen, derzufolge er, Kreuthner, innerhalb eines Jahres das Europäische Polizeileistungsabzeichen in Bronze machen musste, andernfalls hatte er nicht nur ein teures Entenessen in der Weißachalm auszurichten, er würde künftig auch bei der gesamten Polizei des Landkreises als Waschlappen dastehen. Der Abend, an dem man die Wette abgeschlossen hatte, war Kreuthner nur in Bruchstücken erinnerlich. Besonders der Teil nach dreiundzwanzig Uhr fehlte. Nicht hingegen fehlte es an Zeugen, deren Gedächtnis weitaus besser war, was möglicherweise damit zu tun hatte, dass alle an dem Abend Anwesenden auch beim Entenessen dabei sein sollten.

Er keuchte und verstand nicht, warum jede Bewegung schmerzte. Am Alkohol konnte es nicht liegen, denn Kreuthner hatte der leidigen Sauferei abgeschworen. Sechs Halbe am Abend und keinen Tropfen mehr! Da war er eisern. Vielleicht dauerte es einfach seine Zeit, bis sich die wohltätige Wirkung der Enthaltsamkeit dem Körper offenbarte. Nach dreizehn Minuten war Kreuthner am Limit. Doch jetzt wurde der Weg weniger steil, mit dem Versprechen, weiter abzuflachen. Dreizehn Minuten – so lange brauchten die Schnellsten vom Tegernseer Ruderclub, um ganz hinauf auf die Galaun zu rennen. Junge Burschen. Natürlich. Aber Kreuthner war auch erst siebenunddreißig und hatte nicht einmal die Hälfte des Weges hinter sich.

Als er nach achtundzwanzig Minuten am Wirtshaus ankam und sich eingestehen musste, dass er die Strecke mit einem zügigen Fußmarsch in ähnlicher Zeit zurückgelegt hätte, überkam Kreuthner Panik. Für das Abzeichen musste er dreitausend Meter im Gelände in weniger als fünfzehn Minuten laufen. Freilich, das Gelände würde flacher sein. Aber fünf Minuten für den Kilometer waren schon auf der Tartanbahn ein straffes Tempo und Kreuthner Lichtjahre davon entfernt. Er blickte zu dem kapellengekrönten Felsen auf, der sich hinter dem Wirtshaus hundertvierzig Meter in den Morgenhimmel erhob, und fasste den Entschluss, sich das Letzte abzuverlangen und noch auf den Riederstein hinaufzurennen. Rechts ging es auf einem Kreuzweg zur Kapelle.

Das erste Mal in seinem Leben vermochte er den Leidenspfad Jesu Christi mit Inbrunst nachzuempfinden. Die Tafeln am Wegesrand gemahnten ihn an die eigene Passion, und nur die Aussicht auf ein Weißbier hielt ihn am Laufen. An der sechsten Station reichte die Veronika Jesu das Schweißtuch; Kreuthner wischte sich mit dem Sweatshirtärmel das Gesicht trocken. Als der Heiland an der neunten Station zum dritten Male strauchelte, brachte eine hölzerne Stufe auch Kreuthner, dessen Oberschenkel taub geworden waren, fast zu Fall. An der zwölften Station starb Jesus am Kreuz, und Kreuthner fasste Hoffnung. Nicht weil die Erlösung der sündigen Menschheit ihn erbaute, sondern weil er irrtümlich annahm, der Kreuzweg habe zwölf Stationen, und sich bereits am Ziel wähnte. Tatsächlich hatte er noch zwei Stationen bis zur Grablegung vor sich und fuhr damit noch gut. Denn in neuerer Zeit waren Kreuzwege mit fünfzehn Stationen in Mode geraten, wo sie noch die Auferstehung zeigen. Als Kreuthner, inzwischen nur mehr Fuß vor Fuß setzend, denn der Bergpfad war zur steilen Holztreppe geworden, nach vorn blickte und sah, dass sein Weg noch nicht zu Ende war, wurde ihm elend ums Herz und auch im Magen. Aber er schleppte sich weiter, heftete seinen Blick nur noch auf die im Waldboden eingelassenen Holzbohlen. Eine nach der anderen glitt vorbei, gelegentlich vom Schweiß besprenkelt, der von Kreuthners Nasenspitze tropfte. Mit einem Mal wurde es heller, und er wagte wieder aufzusehen. Er war am Ziel.

Vor ihm die kleine Gipfelkapelle des Riedersteins, neben der aus nicht sogleich ersichtlichen Gründen ein Zehn-Liter-Fass Bier stand. Um die Kapelle herum ein eisernes Geländer, dahinter, tief unten, der Tegernsee. Kreuthners schweißbrennende Augen konnten auf der anderen Seite des Sees das Hirschberghaus und die Aueralm erkennen. Die Hölle würde da los sein heute. Wie die Hunnen würden die Münchner einfallen und alles zusammensaufen, was man mühsam auf den Berg geschafft hatte. Das brachte Kreuthner darauf, dass ihn unten im Berggasthaus Galaun ein Weißbier erwartete.

Die Aussicht auf das Weißbier erschien überraschenderweise gar nicht so verlockend. Ganz flau war ihm im Magen. Er musste sich auf das Geländer stützen. Aus dem Augenwinkel sah er einen Mann mit roter Baseballkappe und gelbem T-Shirt, auf das eine Art Batman aufgedruckt war, an der Kapelle stehen. Das musste der Besitzer des Bierfasses sein. Der Bursche war groß, blond und muskulös, und als er Kreuthner das Gesicht zuwandte, sah der, dass es Stanislaus Kummeder war, ein grober Bursche, der selbst nach Kreuthners Maßstäben unmäßig soff und Schlägereien nur aus dem Weg ging, wenn er wirklich keine Zeit hatte. Kreuthner schickte Kummeder ein erschöpftes Kopfnicken. Der andere nickte zurück.

»Hast den Zimbeck überholt?«

Kreuthner schüttelte den Kopf und pumpte Luft in seine Lungen. Der andere wandte sich ab und schaute übers Geländer zum Wirtshaus hinab. Dann drehte er sich noch einmal dem Polizisten zu und sah ihn plötzlich feindselig an.

»Falcking – schon mal gehört?«, fragte Kummeder unvermittelt.

Ja. Hatte Kreuthner. War aber schon eine Weile her. »Der Anwalt?«

»Genau. Der weiß, was mit der Kathi passiert ist. Den müssts ihr euch mal vorknöpfen.«

»Müss ma des jetzt besprechen?«, stöhnte Kreuthner.

»Der weiß was! Und gnade euch Gott, wenn sich rausstellt, dass ihr das vermasselt habts.«

Kreuthner nickte gelangweilt und dachte an sein Frühstück mit Weißbier und Weißwürsten und süßem Senf, fingerdick auf die fette Wurst gestrichen. Da ihm zur gleichen Zeit die nasse Stirn kalt wurde, Punkte vor seinen Augen tanzten und sich im unteren Teil des Halses ein würgendes Gefühl einstellte, musste sich Kreuthner über das Geländer beugen, und den Bruchteil einer Sekunde später schoss ihm halbverdautes Müesli mit getrockneten Waldfrüchten durch den Rachen und klatschte auf die Felsen des Riedersteins. Kreuthner spuckte aus und wischte sich die Nase, durch die ebenfalls ein kleiner Teil des Mageninhalts seinen Weg nach draußen gefunden hatte. Das Gewürge hatte Kraft gekostet, aber jetzt war ihm wieder besser. Allerdings hatte er ein seltsam warmes Gefühl an seiner rechten Schulter. Er griff an die Stelle und hielt ein weißliches Stück Materie in der Hand, weich und glitschig, mit roten Schlieren. Und wie Kreuthner versuchte, seine Gedanken beisammenzubekommen, fiel ihm ein, dass er beim Würgen gemeint hatte, einen dumpfen Knall zu hören, allerdings eben sehr dumpf, weil ihm die Ohren zugegangen waren, als er den Unterkiefer so weit aufgerissen hatte. Auf dem Boden neben sich bemerkte Kreuthner etwas, das vor ein paar Sekunden noch nicht dagelegen hatte. Es erinnerte entfernt an ein Stück Kokosnussschale, nur waren keine braunen Fasern dran, sondern gelbliche Haare, und innen war die Schale rot verschmiert. Einen Meter weiter lag eine rote Baseballkappe. Eine Ahnung stieg in Kreuthner auf, gepaart mit Unglauben. Kreuthner drehte sich zu dem Mann um, der vorhin am Geländer gestanden war. Zuerst sah er ihn nicht, denn er stand da nicht mehr. Vielmehr sah Kreuthner die zum See gewandte Rückseite der Kapelle. Das Erscheinungsbild der schindelgetäfelten Wand hatte sich insofern verändert, als sich dort ein nass-roter Fleck von der Mitte trichterförmig nach rechts oben ausbreitete. Kreuthner senkte den Blick. Beine mit Sportschuhen kamen ins Bild, ausgestreckt auf dem Boden vor der Kapelle, im Anschluss an die Beine ein Oberkörper in gelbem T-Shirt. Ab dem Kragen bot sich ein sehr unerfreulicher Anblick. Kreuthner beugte sich über das Geländer und öffnete abermals den Mund, um die letzten im Magen verbliebenen Müeslireste dem Felsgestein zu übergeben.

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2. Kapitel

Manfred war schon wach gewesen, als der Anruf kam. Er war jeden Tag um halb sieben auf, kochte Kaffee und heizte den Schwedenofen im Wohnzimmer ein, denn Wallner fror morgens noch mehr, als er es ohnehin den ganzen Tag tat. Wallner schlafe noch, hatte Manfred zu Kreuthner gesagt, aber er werde seinen Enkel gerne wecken. Der faule Socken müsse ja nicht wieder bis Mittag im Bett liegen, nur weil Sonntag sei.

Wallner war ohnehin aufgewacht. Denn Manfred hatte die Angewohnheit, in den Telefonhörer zu schreien. Sie hätten auf dem Riederstein einen erschossen, berichtete er seinem Enkel.

Wallner kam spät zum Tatort. Manfred hatte darauf bestanden, ihm ein Frühstücksei zu kochen, das Ei aber hart werden lassen, so dass er noch eins kochen musste, obwohl Wallner gesagt hatte, er werde auch das harte Ei essen. Aber mit Manfred war nicht zu reden. Ein neues Ei wurde aus dem Kühlschrank geholt, schaffte es aber nicht bis zum Kochtopf, denn Manfred war jetzt unter Druck, fing an zu zittern und ließ das Ei auf den Küchenboden fallen. Die anschließenden Aufräumarbeiten, weitere Diskussionen über die Notwendigkeit eines Frühstückseis sowie Zubereitung und Verzehr des dritten Eis führten dazu, dass Wallner eine halbe Stunde später als beabsichtigt das Haus verließ. Die Ermittlungsarbeiten waren schon einige Zeit im Gang, als Wallner um kurz nach acht den Parkplatz erreichte, von dem der Fußweg zum Riederstein seinen Anfang nahm. Die Polizei hatte den Parkplatz für Privatfahrzeuge gesperrt. Wallner musste seinen Wagen stehen lassen und wurde mit einem Dienstwagen zur Galaun hochgefahren.

Auf dem Weg nach oben begegneten sie etlichen Wanderern, die die Polizei wieder nach unten geschickt hatte. Das Gelände um den Riederstein war großflächig abgesperrt worden, denn der Umkreis von einem Kilometer um den Berg galt als potenzieller Standort des Todesschützen. Die Wirtsleute des Gasthauses Galaun am Fuße des Riedersteins waren wenig erfreut, dass die Polizei die Gäste an einem Oktobersonntag wegschickte. Ein gewisser Ausgleich wurde dadurch geschaffen, dass die meisten der dreißig im Einsatz befindlichen Beamten noch nicht gefrühstückt hatten und das jetzt auf der Terrasse des Gasthauses nachholten.

Als Wallner auf der Galaun ankam, waren dort mehrere Streifenwagen und Zivilfahrzeuge geparkt. Die Terrasse des Wirtshauses war voll von Beamten, die Karten studierten, telefonierten oder Laptops bedienten. Wallner trat auf die Terrasse und begrüßte einige der Beamten, die meisten kannte er beim Namen. Die junge Kripokollegin Janette stand an einem Tisch und zeichnete etwas in eine Landkarte ein. Wallner bat sie, ihm kurz zu erklären, was vorgefallen war. Doch Janette war auch erst vor zehn Minuten eingetroffen. Die Ermittlungen habe bis jetzt Mike Hanke geleitet, der hier irgendwo herumstehe. Janette wusste nur, dass jemand auf dem Riederstein erschossen worden war. Vermutlich aus großer Entfernung. Man suche gerade die Stelle, von der aus geschossen wurde. Anhand des Schusswinkels lasse sich das einigermaßen einkreisen. Es handele sich aber immer noch um ein sehr großes Gebiet, das fast vollständig mit Gebirgswald bestanden sei. Die Suche konzentriere sich im Augenblick auf die wenigen Lichtungen. Janette deutete auf farbig markierte Stellen der Landkarte. Wallner nickte und fragte, wo es Kaffee gebe. Janette sagte, sie werde ihm einen holen.

Wallner sah sich um und suchte nach Mike, fand ihn aber nicht, weil ihm schwindlig wurde und er sich setzen musste. Morgens hatte er oft mit einem widerspenstigen Kreislauf zu kämpfen. Außerdem war es eisig kalt. Dreizehn, höchstens fünfzehn Grad, schätzte Wallner und zog den Reißverschluss seiner Daunenjacke hoch. Das Wirtshaus lag immer noch im Schatten des Riedersteins. Warum die meisten hier kurzärmelige Hemden oder T-Shirts anhatten, war Wallner unbegreiflich. Grundsätzlich fror Wallner mehr als andere Menschen. Genauer gesagt, mehr als andere Männer. Frauen gestand man die Friererei ja ohne weiteres zu. Für einen Mann hingegen war es eher peinlich. Unmännlich, mädchenhaft. Seit Wallner allerdings eine Stellung hatte, in der er bestimmen konnte, ob Fenster aufgemacht wurden oder nicht, ging er erheblich offensiver mit seiner inneren Kälte um. Woher sie kam, blieb ihm aber weiterhin ein Rätsel. Janette stellte eine Tasse Kaffee auf den Tisch. Wallner bedankte sich, trank ein paar Schlucke und beugte sich mit dem Gesicht über die Tasse, damit der Kaffeedampf ihm das Gesicht wärmte.

»Dahinten steht er«, sagte Janette und deutete zu dem Forstweg, auf dem Wallner hochgekommen war. Dort stand Mike und redete mit einer etwa dreißigjährigen Frau. Das Gespräch schien unterhaltsam zu sein. Denn die Frau und Mike lachten immer wieder.

»Wer ist die Frau?«, wollte Wallner wissen.

»Ich glaub, die kommt aus München und hat eine neue Kamera dabei.«

Wallner sah Janette verständnislos an. »Mehr weiß ich auch nicht. Die macht heute das Video.«

Wallner begab sich – immer noch leicht schwindlig im Kopf – zu Mike und der Frau. Warum heute jemand aus München das Tatortvideo drehte, war ihm ein Rätsel. Als Wallner bis auf ein paar Meter an Mike und die Frau herangekommen war, bemerkte ihn Mike.

»Kommst ja doch noch. Mir ham schon befürchtet, das bist du da oben. Aber nachdem der keine Daunenjacke angehabt hat, waren wir dann doch beruhigt.« Mike Hanke deutete zum Riederstein hoch und grinste Wallner aus dunkel geränderten Augen an. Oben bei der Kapelle bewegte sich etwas. Wallner konnte Lutz und Tina erahnen, nicht aber die Leiche sehen, denn die lag immer noch auf dem Boden. Deutlich sichtbar waren hingegen die trichterförmig angeordneten Blutspritzer an der Kapellenrückwand.

Mike stellte Wallner die Frau vor. Sie hieß Vera Kampleitner und arbeitete beim LKA. Mike hatte sie auf einer Fortbildungsveranstaltung kennengelernt und dabei erfahren, dass sie von den Herstellerfirmen mit den neuesten Kameramodellen versorgt wurde und darauf aus war, ihre Kameras unter verschiedensten Bedingungen zu testen. Sie hatte Mike gebeten, ihr Bescheid zu sagen, wenn sich ein interessanter Fall ergebe. Mike hatte sie, gleich nachdem er selbst zum Tatort gerufen worden war, angerufen und ihr den Sachverhalt geschildert. Da Vera Kampleitner schon lange auf eine Gelegenheit gewartet hatte, die Einsatzmöglichkeiten eines neuen Teleobjektivs zu testen, hatte sie sich in ihren Wagen gesetzt und war an den Tegernsee gefahren.

Wallner musterte die Frau. Sie hatte sehr lockiges, langes, kastanienbraunes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Sie trug eine rechteckige Hornbrille, an deren Bügeln das Dolce & Gabana-Logo angebracht war. Das Gesicht war länglich mit einem energischen Kinn, die Oberlippe dünn, die Unterlippe etwas kräftiger, darüber eine gebogene Nase, nicht hässlich, im Zusammenspiel mit Kinn und dünner Oberlippe vielmehr energisch. Ihre Augenbrauen hatte Vera Kampleitner nicht, wie viele Frauen, zu einem dünnen Strich auszupfen lassen. Sie waren gepflegt, aber mit Bedacht ein wenig kräftiger belassen, was nicht grob wirkte, sondern natürlich und – wiederum energisch. Die Frau legte offenkundig Wert auf eine dynamische Erscheinung. Dieser entschlossene Gesamteindruck wurde etwas abgemildert durch ein Paar abstehende Ohren, die, so vermutete Wallner, unter den dunklen Locken verschwanden, wenn Vera Kampleitner die Haare offen trug. Während er Vera Kampleitner taxierte, bemerkte er, dass sie das Gleiche mit ihm tat. Ein kurzer Blick auf sein Gesicht, dann glitten die Augen nach unten. Daunenjacke, quittiert mit einem Zucken der linken Augenbraue. Noch weiter unten Jeans und Bergschuhe, uninteressant. Die Augen wanderten wieder nach oben. In Vera Kampleitners Haltung und Gestik meinte Wallner Abwehr zu spüren, immer auf einen Angriff gefasst. Im Augenblick konnte eigentlich nur Wallner das Ziel dieser Kautelen sein. Er spürte, dass Ärger in der Luft lag.

»Wo ist eigentlich die Irene?«, fragte er Mike und wandte sich dann an Vera Kampleitner. »Irene Scholz ist die Mitarbeiterin, die bei uns das Tatortvideo macht.«

»Ja, ich weiß«, sagte Vera Kampleitner. »Die Dame macht sich bei der Spurensicherung nützlich. Ich habe ihr gesagt, dass ich das mit dem Video heute übernehme.«

Wallner hatte schon so etwas geahnt. Er blickte zu Mike. Mike machte eine Geste, die in etwa »ist ja nicht so wild« besagen sollte. Wallner war anderer Ansicht. Er blickte, bemüht um größtmögliche Ruhe, Vera Kampleitner ins Gesicht. »Sie haben Frau Scholz gesagt, dass sie kein Video machen muss?«

»Ich bin davon ausgegangen, dass das in Ihrem Sinn ist. Ich meine, wir müssen hier nicht zu zweit mit der Kamera rumlaufen. Und Frau Scholz kann an anderer Stelle nützlich sein.«

»Oh, bestimmt. Es ist nur so, dass normalerweise ich meinen Mitarbeitern sage, was sie tun sollen und was nicht. Frau Scholz macht übrigens sehr gute Videos.«

»Bei wie vielen Morden hat Frau Scholz schon gearbeitet?«

»Bei fünf. Warum?«

»Ich habe über sechzig Tatorte gefilmt, an denen Kapitalverbrechen begangen wurden. Sie können sich darauf verlassen, dass Sie heute keine schlechtere Arbeit bekommen als sonst.« Sie zögerte, schien zu überlegen, ob sie das nachschicken sollte, was ihr auf der Zunge lag – und schickte es dann nach: »Eher etwas bessere.«

Wallner versuchte im Bauchbereich locker zu bleiben und sich nicht aufzuregen. »Das sollte mich außerordentlich freuen, wenn’s denn so wäre. Hat aber nichts mit dem zu tun, was ich Ihnen zu erklären versuche.«

»Nämlich?«

»Sie können hier filmen, was und wo Sie wollen, natürlich in Absprache mit der Spurensicherung. Alle darüber hinausgehenden Aktivitäten stimmen Sie bitte vorher mit mir ab.«

Vera Kampleitner zog die Augenbrauen hoch, schüttelte den Kopf und lachte fassungslos. »Okay, okay. Mike sagte mir, dass hier eine lockere Atmosphäre herrscht. Aber da hat er offenbar nicht Sie gemeint.«

»Nein, bestimmt nicht. Ich bin im Gegenteil ein großer Freund preußischer Korrektheit. Vor allem finde ich es hilfreich, wenn meine Mitarbeiter den vorgesehenen Dienstweg gehen.«

»Ah ja. So einer sind Sie. Darf ich Ihnen eine private Frage stellen?«

»Wenn’s sein muss.«

Vera Kampleitner kam mit ihrem Kopf näher und sagte Wallner leise ins Ohr: »Sie haben nicht zufällig Probleme mit der Größe eines Ihrer Körperteile?«

Wallner lächelte sie an. »Wenn dem so wäre, würde ich das mit meinem Urologen besprechen.«

Vera Kampleitner zwinkerte Wallner zu. »Dachte ich’s mir doch. Viel Spaß noch beim Ermitteln.« Damit ging sie federnden Schrittes in Richtung Wirtshaus. Wallner sah Mike an, lange und schweigend. Auch Mike sagte nichts. Schließlich räusperte sich Wallner.

»Ich nehme an, du hattest Gründe, die Frau herzubemühen.«

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3. Kapitel

Wallner und Mike begaben sich auf die vierzehn Leidensstationen, die zu dem blutbesudelten Kirchlein am Riederstein hinaufführten. Sie nutzten die Wanderung, um sich über den Fall auszutauschen.

»Mal abgesehen davon, dass er keine Daunenjacke anhat – sieht mir der Tote ähnlich oder wie?«, fragte Wallner.

»Der sieht niemand mehr ähnlich. Der Bursche ist nämlich kaum noch zu erkennen. Eigentlich gar nimmer. Der größte Teil vom Kopf ist weg.«

Schon an der zweiten Kreuzwegstation, als Jesus das Kreuz auf die Schultern nahm, wurde es Wallner heiß, und er musste seine Daunenjacke ausziehen.

»Distanzschuss, hab ich gehört?«

»Sieht so aus.«

»So eine Art Hinrichtung oder wie?«

»Ja. Sieht aus, als wär a Profi am Werk gewesen.«

»Und wir wissen nicht, wer das Opfer ist?«

»Jemand hat gemeint, der Kreuthner hätte am Telefon gesagt, es wär der Kummeder Stani. Aber die Verbindung war schlecht.«

»Warum hat ihn später keiner gefragt?«

»Er hat an Kreislaufzusammenbruch gehabt und ist jetzt im Krankenhaus.«

»Wegen der Leiche ohne Kopf?«

»Nein. Wegen dem Joggen.«

Joggen. Wallner war immer noch schwindelig. Soweit er sich erinnern konnte, waren Kreuthner und Joggen zwei Begriffe, die selten in einem Satz vorkamen.

»Der hat mit dem Sennleitner gewettet, dass er das Polizeileistungsabzeichen macht.«

»Hab ich auch schon gehört. Und da joggt der morgens den Riederstein hoch?« Wallner fröstelte bei dem Gedanken an Frühsport. Mike zuckte mit den Schultern.

»Was ist nach der Tat passiert?«

Mike berichtete, wie Kreuthner gegen sieben bei ihm angerufen hatte. Der Anruf kam vom Wirtshaus auf der Galaun, denn Kreuthner hatte beim Joggen kein Handy dabei. Was im Übrigen zur Folge hatte, dass seit der Tat schon einige Zeit vergangen war, denn Kreuthners Abstieg zum Wirtshaus ging nur mit Unterbrechungen vonstatten, weil Kreuthner immer wieder weiche Knie bekam und sich setzen musste. Mike war gerade auf dem Weg nach Hause, als der Anruf kam. Auf Nachfrage erklärte Mike, er habe die Nacht von Samstag auf Sonntag in unterschiedlichen Münchener Diskotheken verbracht, aber trotz intensiver Bemühungen keine Frau kennengelernt, die Sex mit ihm haben wollte. Als Mike zusammen mit anderen Kollegen auf der Galaun ankam, war Kreuthner von einem Notarzt fortgeschafft worden, den der Wirt verständigt hatte.

Lutz sei bei Mikes Ankunft schon oben an der Kapelle bei der Arbeit gewesen. Lutz ging früh zu Bett und war früh auf den Beinen. Mike vermutete allerdings, dass Lutz noch wach gewesen war, als man ihn anrief. Es gebe Gerüchte, er habe eine heimliche Freundin, mit der er die Nächte verbringe. Aber die Gerüchte gab es eigentlich, seit Lutz vor drei Jahren von seiner Frau geschieden wurde. Gesehen hatte diese Freundin noch niemand. Auch war Lutz einer, der sich schwertat, Frauen kennenzulernen. Vermutlich entsprang das Gerede von der Freundin mehr dem Wunsch seiner Kollegen, dass Lutz endlich wieder eine abkriegen möge.

Vera Kampleitner sei bei Mikes Ankunft bereits dagewesen, und Tina sei auch recht bald gekommen. Wer noch fehlte, war der Gerichtsmediziner aus München. Aber der stehe in dem Fünfzehnkilometerstau vor Gmund, den die Münchner Tagesausflügler an jedem Sonntag im Herbst veranstalteten. Das Gleiche gelte für die Staatsanwältin.

Zwölf Minuten nachdem sie losgegangen waren, kamen die beiden Männer auf dem Gipfel an. An der Kapelle erwartete sie Lutz. Als Wallner sein Gesicht erblickte, fuhr ihm ein Schreck durch die Glieder. Lutz sah aus wie ein Gespenst.

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4. Kapitel

Alles okay?«, fragte Wallner.

Lutz nickte. »Schon in Ordnung. Der Anblick ist net so schön.« Lutz führte Mike und Wallner auf die Rückseite der Kapelle, die nach Westen zum Tegernsee zeigte und mit Holzschindeln verkleidet war. Die Schindeln hatte man ursprünglich weiß gestrichen. Inzwischen war der größte Teil des Anstrichs vom Regen weggewaschen worden. Darunter kam silbergraues Lärchenholz zum Vorschein. Der Blutfleck, der durchs Fernglas noch recht überschaubar ausgesehen hatte, war beängstigend groß, wenn man direkt davor stand. Auf dem Boden lag immer noch die Leiche, an der im Augenblick Tina arbeitete. Sie grüßte Wallner und Mike mit knapper Geste und konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit. Lutz zeigte seinen Kollegen mehrere durchsichtige Plastiktüten, in die er blutverschmierte Teile aus Haut, Knochen und blonden Haaren gesteckt hatte.

»Das sind die Teile vom Kopf, die wir bis jetzt gefunden haben.« Wallner blickte unwillkürlich zur Leiche, deren Hals mit ein paar blutigen Ausläufern im Nichts endete.

»Was habt ihr noch gefunden?«

»Die Kugel.« Lutz holte eine Tüte mit einer deformierten Gewehrkugel von der Holzbank an der Kirchenwand.

»Ist nur einmal geschossen worden?«

»Das hat der Kreuthner gesagt. Der war noch da, wie ich gekommen bin«, sagte Lutz.

Mike nahm Lutz den Beutel mit der Kugel aus der Hand. »Kannst du sagen, was das für ein Kaliber ist?«

»Nur mit dem Projektil natürlich nicht. Aber die haben unten eine Patronenhülse gefunden. 7,62 mal 54, Randhülse.«

»Das kann keine Jagdpatrone sein?« Wallner hielt sich am Geländer fest.

»He, wach auf, Alter!« Mike schlug Wallner auf den Rücken. »Vierundfünfzig, nicht einundfünfzig. Rand-hül-se!« Er wandte sich an Lutz. »Kalaschnikow, oder was ist das?«

»Dragunow. Höchstwahrscheinlich jedenfalls.«

»Mein ich doch.«

»Sind das die Dinger, wie sie die Heckenschützen auf dem Balkan verwendet haben?«, fragte Wallner.

»Ja. Gutes, stabiles Teil. Nicht allerletzte Präzision, aber ganz okay.«

»Auf welche Entfernung trifft man damit noch?«

»Kommt drauf an, wer schießt. Aber ich tät mal sagen: Für an geübten Scharfschützen ist die Dragunow bis achthundert Meter gut.«

»War das etwa die Entfernung hier?«

»Eher weniger. Halber Kilometer vielleicht.«

»Aber da muss einer trotzdem gut sein, oder? Halber Kilometer?« Wallner wandte sich an Mike.

»Ist schon ganz ordentlich. Aber net ungewöhnlich. Den Rekord hält irgendein Kanadier. Der hat in Afghanistan an Taliban auf zweieinhalb Kilometer erschossen. Das hier sieht auch nach am Profi aus.« Mike kannte sich aus in der Materie. Er hatte eine Ausbildung zum SEK-Scharfschützen gemacht, war aber nie zum Einsatz gekommen, weil er Zweifel hatte, ob er bei einem »finalen Rettungsschuss« wirklich abdrücken würde.

Wallner betrachtete noch einmal die Leiche. »Ist das der Kummeder?«

»Ja. Hat seinen Ausweis dabeigehabt.«

»Wer bezahlt einen Profi, dass der den Kummeder abknallt? Die Liga war der doch gar net«, sagte Mike.

»Wir wissen ja gar nicht, ob’s ein Profi war.« Wallner hielt den Beutel mit der Kugel vor seine Augen und betrachtete das Projektil. Dann fiel sein Blick auf das kleine Bierfass, das immer noch an der Kapellenwand stand. »Hat der Kummeder das hochgetragen?«

»Schaut so aus«, sagte Lutz. »Wir waren’s nicht.«

»Seltsamer Tatort, oder?« Wallner sah hinunter auf die bewaldete Umgebung des Riedersteins, dann weiter zum Tegernsee unten im Tal.

»Das macht schon Sinn«, meinte Lutz. »Wennst weißt, dass das Opfer zu einer bestimmten Zeit hier oben ist, dann kannst dich ganz gemütlich auf die Lauer legen, hast freies Schussfeld und musst kaum mit Überraschungen rechnen.«

Wallner betrachtete den Tatort, versuchte die Stimmung in sich aufzunehmen, Atmosphärisches zu erspüren. Aber er tat sich schwer, eine konkrete Ahnung zu bekommen, was hier oben in den Bergen vorgefallen war, obwohl er starke Schwingungen spürte. Vielleicht lag es daran, dass der Tatort zerrissen war. Ein Teil war hier oben, wo die Kugel das Opfer getötet hatte. Der andere Teil war irgendwo da unten, wo der Täter auf sein Opfer gewartet und abgedrückt hatte. Ein Mord brachte nach Wallners Überzeugung den ruhigen Fluss des Lebens in Unordnung wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird und Wellen erzeugt. Diese Wellen waren auch noch einige Zeit nach der Tat spürbar – für jemanden, der Sensoren dafür hatte. Auf diesem Berg spürte Wallner mehrere sich überlagernde Wellen. Was das zu bedeuten hatte, wusste Wallner nicht. Anscheinend war hier nicht nur ein Mord geschehen, sondern mehr aus den Fugen geraten.

Wallner sog die feuchtkalte Luft ein. Sie roch nach Regen mit einem Hauch von Schnee. Bald würde der Winter auf den Bergen Einzug halten. Ein Windstoß trieb Wolkenfetzen unter ihnen vorbei. Sie verhüllten für kurze Zeit eine Lichtung, auf der Polizeibeamte nach Spuren des Mörders suchten. Tina trat jetzt zu den drei Männern. Sie sah zu den Beamten auf der Lichtung hinunter.

»Die sind etwa an der Stelle, von der der Schuss kam.«

»Könnt ihr das an den Blutspritzern auf der Kapellenwand sehen?«

Tina nickte. »Aus der Form der Spritzer kannst du ungefähr den Schusswinkel berechnen. Ist natürlich nur eine grobe Schätzung. Aber das Gebiet lässt sich noch weiter eingrenzen, weil der Schütze ja freie Sicht und Schussbahn braucht. Die Waldstücke können wir deshalb ausschließen.«

»Was, glaubst du, steckt dahinter?«

Tina machte eine unschlüssige Gebärde. »Da hat einer einen ziemlichen Aufwand betrieben, um den Kummeder umzubringen. Vielleicht sogar einen Profikiller angeheuert. Was wird der kosten?«

»Minimum zehntausend, wennst a bissl a Qualität haben willst«, sagte Mike. »Bei dene Discounter weißt ja nie, ob die’s überhaupt machen und wen die dann umlegen. Da spart man wirklich an der falschen Stelle.«

Es wurde allmählich kalt hier oben auf dem Gipfel. Der Tag würde nicht halten, was der Morgen versprochen hatte. Wallner zog seine Daunenjacke wieder an.

»Hat der Kreuthner noch irgendwas gesagt?« Wallner sah Lutz an.

»Der hat mit dem Kummeder geredet, kurz bevor sie ihn erschossen haben. Der Kummeder hätt gemeint, es gäb da wen, der wüsste, was mit der Kathi Hoogmüller passiert ist.«

»Ach Gott! Immer noch die alte Geschichte?«, seufzte Mike.

»Ja, der hat net lockergelassen, der Kummeder.«

»Hat er gesagt, wer was über die Hoogmüller gewusst hat?«

Lutz musste nachdenken. »Irgendeinen Namen hat er gesagt. Falter oder so ähnlich. Ein Anwalt.«

»Falcking?«, fragte Mike.

»Ja, genau. Falcking. Kennt ihr den?«

»Da war mal was vor zwei oder drei Jahren. Da hat ihm wer die EC-Karte geklaut. Nichts Spektakuläres. Aber irgendwas war komisch an der Sache.« Wallner sah Lutz nachdenklich an. »Falcking …«

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5. Kapitel

15. Juni 2007, 10 Uhr 52: Der ziegelrote Kugelschreiber sackte zwischen Jonas Falckings Fingern auf das Papier herab, traf mit dem Taster genau die Stelle, an der Falcking vor drei Monaten unterschrieben hatte, und federte noch einige Male auf und ab, bevor der Stift zur Ruhe kam. Falcking schwitzte. Und das nicht nur, weil die Sommersonne in sein Büro brannte.

»Er ist gerade nicht an seinem Platz«, sagte die Frau am Ende der Leitung. Ob sie Herrn Wirchow etwas ausrichten könne. Die Stimme war unangemessen fröhlich und ließ Zweifel aufkommen, ob die Frau mit allem Nachdruck tun würde, worum man sie bat. Falcking wünschte, schnellstens von Herrn Wirchow zurückgerufen zu werden, es sei sehr dringend. Das werde sie Herrn Wirchow ausrichten, sobald sie ihn erwische, zwitscherte die Frau.

Er legte auf und betrachtete die Kopie der Rechnung, die er während des Telefonats nervös mit dem Kugelschreiberende betupft hatte. Frau Gruber hatte Falcking mitgeteilt, dass er um elf einen Termin beim Lukacz habe. Lukacz war der Vorstand Verkauf und damit Falckings direkter Vorgesetzter. Offiziell gab es keine Verlautbarung, worum es bei dem Termin gehen solle. Aber Frau Gruber hatte in Erfahrung gebracht, dass man sich im Büro des Verkaufsvorstandes über irgendeine Rechnung wundere – und offenbar nicht nur da. Falcking war klar, um welche Rechnung es sich handelte und dass sie Fragen aufwarf. Wieso gibt der Verkaufsleiter Falcking ein fünfundzwanzigtausend Euro teures Gutachten zu Absatzmöglichkeiten im Osten an eine Unternehmensberatung, mit der die Firma Leitzachziegel noch nie zusammengearbeitet hat? Auch würde man sich fragen, wozu das Gutachten gut sei, denn das Thema war wegen zu großer Risiken von der Agenda genommen worden.

Falcking war seit drei Jahren in der Firma. Man hatte ihn als Justitiar eingestellt. Aufgabe des Justitiars war es, die Arbeit zwischen der von einer Rechtssache betroffenen Abteilung und den externen Anwälten des Unternehmens zu koordinieren. Dafür musste man lediglich über rudimentäre Rechtskenntnisse verfügen und mit Leuten reden können. Das konnte Falcking. Dennoch füllte ihn seine Tätigkeit nicht aus. Er fühlte, dass er Besseres zu leisten imstande war. Und so begann er, Aufträge für die Firma zu akquirieren. Zunächst von Bekannten, die Dachziegel für ihre Einfamilienhäuser benötigten, später für einen Schulneubau und für die Neueindeckung eines Kirchendachs. Die Geschäftsleitung wurde auf Falckings Talente aufmerksam und machte ihm das Angebot, in den Verkauf zu wechseln. Das Grundgehalt war nicht höher als das Juristensalär, doch konnte man es durch Verkaufsprovisionen vervielfachen. Falcking nutzte die Gelegenheit, wurde innerhalb eines Jahres zum umsatzstärksten Verkäufer des Unternehmens und verdiente mehr als der Personalvorstand. Er kaufte sich einen Porsche als Zweitwagen (zu den Kundenterminen fuhr er mit einem E-Klasse-Mercedes), eine Eigentumswohnung in München-Bogenhausen und seiner Frau Anette Schmuck für siebzehntausend Euro.

Dann wurden die Zeiten härter, die Verkäufe gingen zurück. Doch noch gab es Perspektiven. Ein Falcking bekanntes Bauunternehmen hatte den Zuschlag für die Renovierung mehrerer Bundeswehrkasernen erhalten, und Falcking machte sich Hoffnung, den Auftrag für die Lieferung der Dachziegel zu bekommen. Falcking war indes nicht der Einzige, der sich Hoffnungen machte. Der zuständige Einkaufsleiter Ronald Wirchow hatte Angebote aus ganz Deutschland auf dem Tisch und tat sich schwer bei der Entscheidung. Falcking wusste, dass Wirchows Schwiegervater eine kleine Unternehmensberatungsfirma besaß, die stets am Rande der Insolvenz vor sich hin dümpelte, und beauftragte ebenjene Firma Kosberg & Partner mit einem Gutachten für die Leitzachziegel AG. Umfragen in der Branche ergaben, dass Kosberg & Partner keine Leuchten ihres Fachs waren. Das gelieferte Gutachten würde wertlos sein, was aber keine Rolle spielte, sofern sich Wirchow dankbar zeigte und Falcking den Auftrag zuschob.

Falcking wusste, dass die Entscheidung heute Vormittag fallen sollte. An sich war das reine Formsache. Wirchow hatte Falcking diskret, aber eindeutig zu verstehen gegeben, dass die Angelegenheit in trockenen Tüchern war. Das Telefon klingelte.

»Sie hatten um Rückruf gebeten«, sagte Wirchow am anderen Ende der Leitung.

»Tut mir leid. Ich will Sie nicht nerven. Aber ich habe in fünf Minuten einen Termin beim Vorstand, und da wäre es günstig, wenn ich schon mal was zur Auftragsvergabe sagen könnte.«

»Natürlich. Es ist nur so …« Wirchow suchte ziemlich lange nach den richtigen Worten.

»Ist noch keine Entscheidung gefallen?«

»Doch, doch. Vor einer halben Stunde haben wir die Entscheidung getroffen …«

Falcking zog sich der Magen zusammen, klammerte sich aber an die Hoffnung, dass Wirchows Zögern etwas anderes zu bedeuten hatte, als er befürchtete. Dass man noch einmal über Preis und Zahlungsbedingungen reden wollte oder der Auftrag geteilt werden sollte. »Ja und?«, fragte Falcking.

»Ein ungarischer Lieferant hat den Zuschlag bekommen.« Wirchows Stimme klang belegt.

»Oh«, sagte Falcking, gequält um einen geschäftsmäßigen Ton bemüht, man wusste ja nie, wer noch in der Leitung war. »Ich bin … erstaunt. Ich … wir hatten uns gewisse Hoffnungen gemacht …«

»Natürlich. Es … es hat nichts mit Ihrem Angebot zu tun. Ich persönlich hätte gerne mit Ihnen gearbeitet. Leider haben gewisse Veränderungen in unserer Gesellschafterzusammensetzung eine andere Entscheidung … erfordert.«

»Was für Veränderungen?«

»Sie haben vielleicht aus der Presse entnommen, dass vor einer Woche ein spanischer Investor bei uns eingestiegen ist. Diesem Investor gehört das ungarische Ziegelwerk. Der Auftrag sollte sozusagen im Unternehmen bleiben.«

»Aha … das kommt aber doch etwas überraschend. Also in Anbetracht unserer beiderseitigen intensiven Geschäftsbeziehungen.« Falcking sprach die drei letzten Worte mit wohldosierter Schärfe aus.

»Ich verstehe Ihre Enttäuschung. Aber diese Entscheidungen werden natürlich auf Vorstandsebene getroffen.« Falcking konnte förmlich hören, wie sich Wirchow auf seinem Ledersessel wand. »Herr Falcking – Sie können sicher sein, dass wir bei einem unserer nächsten Projekte auf Sie zukommen werden. Das ist doch klar.« Falcking war sich sicher, dass Wirchow einen Scheißdreck tun würde.

»Das würde uns sehr freuen. Ich muss zugeben, dass ich schon ein wenig irritiert bin. Aber gut. Melden Sie sich.«

Wirchow versicherte, dass schon bald mit seinem Anruf zu rechnen sei, und man beendete das Telefonat. Falcking starrte das Telefon an. Für einen Augenblick war sein Kopf vollkommen leer. Der erste Gedanke, auf den er dann kam, war, die elektrischen Jalousien herunterzufahren. Er stand auf, drückte auf den Knopf und sah zu, wie die heitere Junilandschaft hinter den Lamellen verschwand. Er hatte den Auftrag nicht bekommen. Er hatte fünfundzwanzigtausend Euro Schmiergeld ausgegeben und keinen Gegenwert erhalten. Er hatte die Firma bestohlen und Geld veruntreut. Er hatte ein Problem.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte erneut.

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6. Kapitel

15. Juni 2007, 11 Uhr 00: Frau Gruber war am Telefon gewesen und hatte Falcking daran erinnert, dass der Termin bei Lukacz anstand. Falcking ging mit unsicheren Schritten über den taubenblauen Teppichboden, der erst vor kurzem in der Vorstandsetage ausgelegt worden war. Es roch nach Kleber. Er zog den Knoten seiner sonst locker gebundenen Krawatte fest und blickte im Gehen auf seine italienischen 800-Euro-Designer-Schuhe, die einen Tick zu extravagant für einen Dachziegelverkäufer waren. Aber die leistete er sich, die waren sein Markenzeichen.

Falckings Kopf war heiß. Das Undenkbare war eingetreten, und er hatte keinen Plan B. Es konnte auch keinen Plan B geben, denn die Rechnung über fünfundzwanzigtausend Euro war nicht aus der Welt zu reden. Es gab zwei Optionen: Entweder die Wahrheit sagen und hoffen, dass man auf Milde traf. Oder unverschämt lügen.

Lukacz saß hinter einem aufgeräumten Schreibtisch. Kein Memo, kein Vertrag, keine Zeitschrift, nicht einmal ein Ablagekorb war zu sehen. Nur ein Telefon und ein hauchdünner Laptop waren darauf. Und eine Rechnung, die durch die Abwesenheit jeglichen anderen Papiers schon von weitem auffiel.

Nachdem Lukacz Falcking mit der einem guten Verkäufer eigenen Wärme begrüßt hatte, legte sich seine Stirn in Sorgenfalten. Er nahm die Rechnung mit beiden Händen hoch, um sie durch seine Lesebrille zu betrachten.

»Haben wir hier ein Problem?«, fragte Lukacz und schob die Rechnung Falcking über den Tisch. Falcking betrachtete das Blatt und sein Gesicht signalisierte höchstes Erstaunen.

»O Gott, wie ist die denn hier gelandet?«

»Kosberg & Partner haben die geschickt, und Sie haben die Zahlung abgezeichnet. So wurde es mir jedenfalls gesagt.«

»Das kann sein, dass ich da irgendwas abgezeichnet habe. Ich krieg jeden Tag so viel zum Abzeichnen, da kann man nicht alles lesen. Aber wem sag ich das.«

»Ja, ich kenne das Problem. Allerdings – wenn ich fünfundzwanzigtausend Euro lese, dann seh ich schon mal hin, bevor ich unterschreibe.«

»Mein Fehler, ganz klar. Ich könnte jetzt sagen: Kann jedem mal passieren. Aber darf natürlich nicht passieren.« Falcking formte mit seinen Händen eine Geste des Bedauerns.

»Kann das sein, dass die Buchhaltung Sie extra angerufen hat, ob das in Ordnung geht? Die haben sich nämlich auch gewundert.«

Falcking massierte sich mit einer Hand die Stirn und versuchte, den Eindruck zu vermitteln, als denke er angestrengt nach. »Sie erwischen mich da gerade auf dem falschen Fuß. Vielleicht hat mich jemand angerufen, und ich hab ja gesagt, weil ich gerade im Stress war. Sie wissen, wie es im Augenblick zugeht.« Er deutete auf die Rechnung. »Ich kann Ihnen das natürlich erklären.«

»Oh, das hatte ich gehofft. Wissen Sie, ich habe viel darüber nachgedacht, bin aber einfach auf keine Erklärung gekommen.«

»Es ist ein bisschen verrückt. Ich weiß nicht, ob Sie Kosberg kennen. Der Mann ist ein Chaot. Die Rechnung war eigentlich für meine Kanzlei bestimmt.« Falcking betrieb mit Einverständnis seines Arbeitgebers noch eine Kanzlei, die aber praktisch nur auf dem Papier existierte.

»Ihre Kanzlei gibt ein Gutachten zu Absatzmöglichkeiten im Osten in Auftrag?«

Falcking nahm die Rechnung und betrachtete sie irritert. »Nein, natürlich nicht.« Er lachte fassungslos. »Ich weiß nicht, was Kosberg da wieder durcheinandergebracht hat. Da ging’s um Handelsgepflogenheiten in Russland. Wir brauchten das für einen Prozess.« Falcking zuckte noch einmal erkennbar zusammen. »Fünfundzwanzigtausend Euro?! Zweitausendfünfhundert kriegt er! Ach du meine Güte, der Mann baut wirklich ab in letzter Zeit.«

»Also, die Rechnung ist versehentlich hier in der Firma gelandet. Verstehe ich das richtig?«

»Ich hab’s ihm extra aufgeschrieben, wo er sie hinschicken soll …«

»Schon gut. Wie geht das jetzt weiter?«

»Kosberg zahlt das Geld natürlich zurück und stellt mir eine neue Rechnung.«

»Wenn er noch zahlen kann.«

»Oh, das kann er. Ihm geht’s nicht so schlecht, wie die Leute behaupten.«

»Hoffen wir’s. Soweit ich weiß, lebt er hauptsächlich davon, dass er Wirchows Schwiegervater ist.«

Falcking sah Lukacz perplex an. »Was? Ehrlich?«

»Ach, das wussten Sie gar nicht?« Falcking vermeinte, aus Lukacz’ Ton einen Hauch von Ironie und Augenzwinkern herauszuhören.

»Nein, sonst hätte ich den Mann ja nie beauftragt. Ich meine, in diesen Zeiten sollte man schon jeden Anschein vermeiden.«

»Ja, das sollte man unbedingt.« Lukacz nahm Falcking die Rechnung wieder aus der Hand und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. »Ich gebe Ihnen eine Woche Zeit. Dann hat Kosberg oder wer auch immer das Geld zurückbezahlt. Falls nicht, bin ich gezwungen, die Sache auf dem offiziellen Weg zu klären.«

»Selbstverständlich. Machen Sie sich keine Sorgen. Das kommt alles in Ordnung.«

Falcking war schon im Begriff zu gehen, da erhob sich noch einmal von hinten Lukacz’ Stimme.

»Noch was, Herr Falcking …« Falcking wandte sich Lukacz wieder zu. »Falls Sie glauben, Sie können mich verarschen: Sie haben nicht die leiseste Ahnung, wie unangenehm ich werden kann.«

 

Falcking saß in seinem Porsche, hatte die Oberlippe an das Lenkrad des Wagens gepresst und starrte auf den Maschendrahtzaun, der den Firmenparkplatz begrenzte. Der Juninachmittag war noch heiß. Die Sonne stand auf halber Höhe am Himmel, zum Teil hinter einer Cumuluswolke verborgen. Falcking brauchte jetzt die schützende Atmosphäre des geschlossenen Wageninneren. Er hatte ein Problem und musste nachdenken. Er musste innerhalb einer Woche fünfundzwanzigtausend Euro beschaffen und sie über Kosberg seinem Arbeitgeber zukommen lassen. Sonst würde er seinen Job verlieren und die Sache an die Staatsanwaltschaft gehen. Für das, was er getan hatte, konnte er ins Gefängnis kommen.

Das Procedere war im Prinzip einfach: Falcking musste Kosberg fünfundzwanzigtausend Euro geben, damit Kosberg das Geld an die Leitzachziegel AG zurückzahlen konnte. Ein Problem bestand darin, dass Kosberg das Geld nicht wirklich in die Hände bekommen durfte. Sonst war es möglicherweise weg. Aber das war lösbar. Das größere Problem war, fünfundzwanzigtausend Euro aufzutreiben. Zwar hatte Falcking zwei Jahre gut verdient. Aber der Verdienst war durch den Fiskus halbiert und der Rest durch einen verschwenderischen Lebensstil aufgezehrt worden. Falcking hatte in der guten Zeit keinen Cent gespart.

Vor einer Stunde hatte er Ottmar angerufen. Ottmar war ein alter Studienfreund und arbeitete bei einer Privatbank in München, weshalb Falcking vermutete, dass Ottmar sich mit dem Beschaffen von Geld auskannte. Tatsächlich hatte Ottmar eine Idee, denn er verfügte über eine Insiderinformation, die er selbst nicht verwerten konnte. Streng genommen durfte er sie auch Falcking nicht erzählen. Aber Ottmars Bedenken konnte Falcking durch das Versprechen, sich im Falle eines Gewinns erkenntlich zu zeigen, ausräumen. Die Sache war simpel: Ein Unternehmen aus dem S-Dax sollte von einem ausländischen Investor übernommen werden, was Ottmar wusste, weil seine Bank an der Finanzierung der Übernahme beteiligt war. Der Aktienkurs des S-Dax-Unternehmens würde nach Bekanntgabe der Nachricht mit Sicherheit um dreißig bis fünfzig Prozent steigen, denn es hatte bereits Insolvenzgerüchte um das Unternehmen gegeben. Falcking musste also etwa fünfundsiebzigtausend Euro investieren, um fünfundzwanzigtausend zu erwirtschaften. Wenn er Ottmars Provision mitberücksichtigte, müsste er mit hunderttausend einsteigen. Falcking kannte nur einen Menschen, der in der Lage war, ihm so viel Geld zu leihen. Die Frage war, ob er es tun würde.

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7. Kapitel

Die erste provisorische Sitzung der neu zu gründenden »Sonderkommission Riedersteinmord« fand unter freiem Himmel statt: auf der Terrasse des Wirtshauses auf der Galaun. Es wäre auch innen genug Platz gewesen. Aber Wallner war der Ansicht, die Kollegen, die vor einer Stunde im T-Shirt auf der Terrasse gesessen und hinter seinem Rücken despektierliche Scherze über seine Daunenjacke gemacht hatten, sollten auch jetzt die frische Luft genießen, wo die Temperatur auf sechs Grad gefallen und Regenwolken aufgezogen waren. Wallner, einziger Besitzer einer Daunenjacke, fühlte sich recht wohl da draußen auf der Terrasse, zumal in einer der Jackentaschen immer eine graue Wollmütze steckte, die ihm jetzt, da er zu seinen Leuten sprach, auf das Angenehmste die Ohren wärmte.

Als Wallner vor die SoKo trat, wurde es schnell leise. Die meisten froren und hegten die Hoffnung, dass man nach der Ansprache des SoKo-Leiters in die warme Wirtsstube hineingehen würde.

»Die meisten werden es mitbekommen haben«, begann Wallner. »Der Mann, der heute auf dem Riederstein erschossen wurde, ist Stanislaus Kummeder. Der eine oder andere von euch hat mit ihm schon zu tun gehabt.«

»Ist das der, wo vor am Jahr die Freundin verschwunden is?«, wollte ein uniformierter Beamter wissen.

»Vor zwei Jahren. Ja, das war die Freundin vom Kummeder.« Wallner nahm ein Blatt Papier, auf dem er sich ein paar Notizen gemacht hatte, und überflog es. »Wir müssen davon ausgehen, dass der Täter ein guter Schütze war. Die Schussdistanz beträgt etwa vierhundertachtzig Meter. Nachdem die Tatwaffe aller Wahrscheinlichkeit nach eine Dragunow war, liegt die Vermutung nahe, dass wir es mit einem Auftragsmord zu tun haben und der Täter Profi ist. Man kann natürlich nicht ausschließen, dass es jemand von hier war. Gute Schützen gibt es genug im Landkreis. Und wer sich so einen Tatort aussucht, der muss mit der Gegend vertraut sein. Die örtlichen Gegebenheiten kann natürlich auch ein Fremder recherchieren. Aber meinem Gefühl nach würde sich so jemand einen anderen Ort für die Tat aussuchen.«

Regen setzte ein. Jemand spannte einen Schirm auf. »Wie wär’s mit reingehen?«, fragte Mike.

»Ich hab’s gleich«, fuhr Wallner fort. »Wir haben im Prinzip zwei Optionen, um den Täter zu ermitteln. Erste Option: Wir finden Zeugen. Es gibt eine begrenzte, wenngleich nicht gerade kleine Zahl von Ausgangspunkten, von denen aus man zum Riederstein hochgehen kann. Wir müssen sämtliche Anwohner der betreffenden Parkplätze nach verdächtigen Fahrzeugen fragen und nach Wanderern mit großen Rucksäcken oder einem Koffer. Natürlich auch nach Wanderern mit Gewehr.«

Mike war aufgestanden und wollte sich unauffällig ins Wirtshaus begeben. »He! Hallo! Wo wollen wir denn hin?« Wallner klang leicht ungehalten.

»Ich muss mir deinen Sermon ja net zwei Mal anhören.«

»Ja logisch musst du das. Vielleicht ist was Neues dabei.«

»Unwahrscheinlich. Außerdem muss ich mit dem Büro telefonieren.«

»Jetzt?«

»Ja.« Mike legte seinen Arm um Wallners Schulter. »Ist wichtig. Glaub’s mir. Mir ist nämlich grad was ziemlich Interessantes eingefallen. Und das will ich kurz checken.«

»Gut. Verschwinde.« Mike stakste in Richtung Wirtshaustür davon.

»Ach ja …«, schickte ihm Wallner hinterher. »Sollte ich den Eindruck gewinnen, du bist da nur zum Aufwärmen reingegangen, kannst dir schon mal eine Wohnung an der tschechischen Grenze suchen.« Mike grüßte mit dem Mittelfinger seiner rechten Hand und ging in die Wirtsstube.

»Die zweite Option führt über das Opfer selbst. Wer hatte einen Grund, Stanislaus Kummeder zu ermorden? Oder ermorden zu lassen? Die meisten von euch kennen Kummeder zumindest vom Namen her. Er hat uns ja immer wieder beschäftigt. Aber das waren kleinere Sachen. Körperverletzung, BtM-Geschichten. Hauptsächlich hat er, glaub ich, mit Koks gedealt. Kann sein, dass er irgendjemandem im Rauschgiftmilieu auf die Füße getreten ist, der eine Nummer zu groß war für ihn. Aber da müsste schon ziemlich was vorgefallen sein. Selbst in den Kreisen heuert man nicht so ohne weiteres einen Killer an. Nun – das sind alles Spekulationen. Im Augenblick lässt sich nur eins sagen: Das Ganze ist ziemlich ungewöhnlich, und es liegt ein Haufen mühsamer Kleinarbeit vor uns. Einen Anhaltspunkt hat Kummeder kurz vor seinem Tod selbst noch geliefert: Er hat zum Kreuthner gesagt, ein Rechtsanwalt namens Falcking wüsste etwas über den Verbleib von Kathrin Hoogmüller. Das ist die verschwundene Freundin des Opfers. Ob das irgendetwas mit dem Mord zu tun hat – keine Ahnung. Wir haben Herrn Falcking noch nicht erreicht, ihm aber auf die Box gesprochen. Im Moment ist folgende Frage vorrangig: Der Schütze muss gewusst haben, dass Stanislaus Kummeder heute am frühen Morgen auf den Riederstein geht. Wir müssen deshalb herausfinden, warum der Kummeder heute mit einem Zehn-Liter-Fass Bier da hoch ist und wer davon gewusst hat.«

»Die Frage kann ich dir beantworten.« Mike war in diesem Moment aus dem Wirtshaus gekommen.

»Ah, der Kollege Hanke hat sich wieder eingefunden. Wie sind die Temperaturen da drin?«

»Ausgesprochen angenehm. Ich tät vorschlagen: Jeder, der keine Daunenjacke hat, geht jetzt rein.«

»Interessanter Vorschlag. Ich denk drüber nach. Du wolltest uns sagen, wer alles von Kummeders Bergausflug wusste?«

»Das nicht. Aber ich kann dir sagen, warum der hier oben war«, sagte Mike, und sein Grinsen schwankte zwischen Triumph und Provokation.

»Und? Mach’s nicht so spannend.«

»Tja – hamma das alle vergessen, Herrschaften?« Mike machte eine Pause, um die gespannten Gesichter seiner Kollegen zu genießen. »Genau heute vor drei Jahren gab’s hier oben schon mal an Toten. Und das war auch a ziemlich schräge G’schicht.«

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8. Kapitel

4. Oktober 2006: Von allen denkbaren Todesarten hatte sich Mirko Dlugovic eine der seltsamsten ausgesucht. Er war nachts aus dreißig Metern Höhe auf eine mit siebzig feiernden Frauen besetzte Terrasse gestürzt. Vielleicht hätte er den Sturz mit Knochenbrüchen überlebt. Aber da war noch der alte Schirmständer gestanden. Ohne Sonnenschirm. Nur der runde Fuß aus Waschbeton mit dem eisernen Rohr, in das der Schirm gesteckt wurde. In dieser Nacht wurde also kein Schirm in das Rohr gesteckt, vielmehr steckte das Rohr im Hinterkopf von Dlugovic, nachdem er seinen Absturz beendet hatte.