Schattenboxer - Horst Eckert - E-Book

Schattenboxer E-Book

Eckert Horst

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Beschreibung

Dein Gegner ist mächtig. Er zeigt sich nicht. Du kämpfst gegen Schatten. Erst gestern stand Vincent Che Veih von der Düsseldorfer Kripo vor diesem Grab: Pia, die 17-jährige Nichte eines Kollegen, hat sich das Leben genommen und wurde hier beigesetzt. Jetzt liegt eine zweite junge Frau inmitten der Blumen und Trauerkränze. Entstellt von zahllosen Verletzungen, Spuren eines tagelangen Martyriums. Abgelegt am Ende einer stürmischen Nacht. Warum ausgerechnet hier? Pia und die ermordete Alina kannten einander nicht, und doch glaubt Vincent an eine Verbindung. Er beginnt, einen alten Mordfall aufzurollen, und stößt auf ein Komplott, in dem seine eigene Mutter, eine bekannte RAF-Terroristin, eine Rolle spielt. Dann verschwindet eine weitere junge Frau …

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Horst Eckert

Schattenboxer

Vincent Veih ermittelt

Thriller

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Dein Gegner ist mächtig.

Er zeigt sich nicht.

Du kämpfst gegen Schatten.

Erst gestern stand Vincent Che Veih von der Düsseldorfer Kripo vor diesem Grab: Pia, die 17-jährige Nichte eines Kollegen, hat sich das Leben genommen und wurde hier beigesetzt.

Jetzt liegt eine zweite junge Frau inmitten der Blumen und Trauerkränze. Entstellt von zahllosen Verletzungen, Spuren eines tagelangen Martyriums. Abgelegt am Ende einer stürmischen Nacht. Warum ausgerechnet hier?

Über Horst Eckert

Inhaltsübersicht

MottoPrologTeil Eins Die Tote auf dem Grab1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelTeil Zwei Verlorene Spuren13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. KapitelTeil Drei Auf dem Prüfstand20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. KapitelTeil Vier Ich werde nicht schreien31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. KapitelTeil Fünf Der Grauhaarige43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. KapitelTeil Sechs Schatten60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. KapitelTeil Sieben Sternschnuppen74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. Kapitel81. KapitelDanksagungLESEPROBE ...Prolog1. Kapitel2. Kapitel

You think not getting caught in a lie is the same as telling the truth?

 

J. GRADY/L. SEMPLE/D. RAYFIEL, THREE DAYS OF THE CONDOR

Prolog

Montag, 1. April 1991

Noch immer hatte sich die Zielperson nicht blicken lassen.

Im ersten Stock der alten Villa leuchtete nur ein einziges Fenster. Durch das Fernglas sah er in das Arbeitszimmer: Bücherregale, die Kommode mit der Lampe darauf, eine Funzel mit gelblichem Schirm. Daneben ein schwach schimmernder Monitor, der wiedergab, was die Überwachungskameras im Garten des Anwesens aufnahmen.

Er lauerte weit außerhalb ihrer Reichweite, gut sechzig Meter entfernt in einem der Schrebergärten auf der anderen Seite der Uferstraße. Nieselregen und stockdunkle Nacht. Die Kälte nahm er nicht wahr. Dass seine Chefin ihn für diesen Job auserkoren hatte, erfüllte ihn mit Stolz, zugleich war er angespannt bis in jede Faser seiner Nerven.

Ein Auto näherte sich. Vielleicht die Polizei, die verstärkt Streife fuhr, oder die Wachablösung für die Sicherheitsmänner, die nebenan einen ehemaligen Thyssen-Manager beschützten. Wichtige Leute wohnten an dieser Straße. Prominentenufer, so hieß sie im Volksmund. Ein heller Mercedes schnurrte zwischen den gestutzten Platanen vorbei, wahrscheinlich ein Nachbar.

Er hob erneut das Fernglas an die Augen.

Verdammt, die Zielperson saß am Schreibtisch. Er hatte verpasst, wie sie den Raum betreten hatte. Es wäre eine Gelegenheit gewesen, hoffentlich nicht die letzte.

Er ließ das Fernglas ins Gras fallen und griff nach dem Gewehr, einem älteren FN-FAL aus belgischer Produktion, Kaliber 7,62 × 51, bei der Bundeswehr auch als G1 bekannt. Mit derselben Waffe hatte er im Februar auf die US-Botschaft in Bonn zahlreiche Schüsse abgegeben – in Vorbereitung auf die heutige Nacht.

Er wischte die Linse des Zielfernrohrs trocken und visierte an. Die Person war nicht mehr zu sehen. Hatte sie das Zimmer schon wieder verlassen? Es musste heute Nacht geschehen, denn morgen früh würde eine gepanzerte Limousine die Zielperson abholen, zu Terminen in Bonn, Berlin und im Ausland. Wenn sie am kommenden Wochenende zurückkehrte, würde es womöglich schon zu spät sein.

Im engen Sichtfeld tauchte ein Haarschopf auf und verschwand wieder. Die Person war noch da.

Bleib ruhig, sagte er sich. Sobald sie aufsteht, erwischst du sie.

Er wartete, den Lauf des G1 auf die Lehne eines Gartenstuhls gestützt, und ignorierte den stärker werdenden Regen. Nicht auszudenken, wie die Chefin reagieren würde, falls er versagte. Du hast nur diese Chance. Zeig, dass du es kannst.

Das Handtuch, das er bereits ausgepackt hatte, wurde nass, aber das machte nichts. Die Ermittler würden im blauen Frotteestoff auf Haare stoßen – die Spur, die zum sorgfältig gewählten Sündenbock führen würde. Seit einiger Zeit erkannten die Gerichte den genetischen Fingerabdruck an, schon eine Haarwurzel genügte. Großartig, wozu moderne Technik in der Lage war. Man musste sie sich nur zunutze machen.

Sein Opfer stand nun auf. Rolf-Werner Winneken, Präsident der Treuhandanstalt, zuständig für die Stilllegung oder Privatisierung der volkseigenen Betriebe in der ehemaligen DDR. Eine überraschend große Gestalt. Heller Pyjama, Rücken zum Fenster. Der Manager näherte sich der Kommode, vermutlich um das Licht zu löschen.

Schuss Nummer eins ließ den Mann aufschreien. Die Ehefrau eilte herbei, der zweite Schuss traf versehentlich sie – die Frau taumelte gegen das Regal und fasste sich an den Arm.

Er drückte ein drittes Mal den Abzug. Endlich brach Winneken zusammen. War da ein Blutfleck auf seinem Rücken gewesen? Hatte bereits der erste Schuss gesessen, in Höhe des Herzens, wie beabsichtigt?

Egal, jetzt musste es schnell gehen. Er legte das Bekennerschreiben mit dem berüchtigten Logo unter das Handtuch, das die Haare enthielt, und beschwerte alles mit dem Fernglas, damit der Wind nichts davontragen konnte. Das Gewehr nahm er mit. In wenigen Minuten würde es hier von Polizeibeamten wimmeln.

Teil EinsDie Tote auf dem Grab

1

Montag, 10. März 2014

Es ging mit sechzig Sachen die Dreherstraße entlang, Anna fluchte über den angeblichen Schleicher vor ihnen und fuhr für Vincents Geschmack viel zu dicht auf, aber er sparte sich den Kommentar. Sie hatten sich von der Fahrbereitschaft einen zivil lackierten Passat besorgt, und als ranghöherer Beamter genoss Vincent Veih das Privileg, sich von der Kollegin kutschieren zu lassen. Seit einer Woche war es amtlich: Er leitete das Düsseldorfer KK11, und zwar nicht mehr bloß kommissarisch.

Im letzten Jahr war seine langjährige Chefin zum Landeskriminalamt gewechselt, und die Behördenleitung hatte geschlagene zehn Monate gebraucht, um den Posten neu zu besetzen. Es gab Leute, die Vincents Beförderung lieber verhindert hätten. Missgünstige Vorgesetzte, neidische Kollegen. Er wusste, dass das auch an ihm lag – sich bei allen beliebt zu machen, war nie seine große Begabung gewesen.

Sie waren spät dran, bereits zehn Uhr. Vincent schaltete das Radio ein, die Nachrichten im Lokalsender. Gleich die erste Meldung betraf den Fall Pollesch, den Mord an einem Jugendlichen, der eigentlich längst aufgeklärt war, aber immer noch Furore machte.

Anna erreichte den Parkplatz vor dem Friedhofstor und stellte den Wagen in der einzigen freien Lücke ab. Sie machte den Gurt los und wollte den Schlüssel abziehen.

«Warte», sagte er.

«Aber die Trauerfeier …»

Vincent drehte das Radio lauter. Der Anwalt des vor gut einem Jahr verurteilten Täters habe beim Düsseldorfer Landgericht die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt, denn es sei eine Entlastungszeugin aufgetaucht. Schon seit Tagen war in den Zeitungen darüber spekuliert worden, jetzt hatte die Verteidigung also Nägel mit Köpfen gemacht. In den Sätzen des Nachrichtensprechers klang es, als gelte Thabo Götz bereits als Unschuldslamm.

«Wie kann das sein?», entfuhr es Anna. Eine rot gefärbte Strähne fiel ihr ins Gesicht, sie strich sie hinters Ohr.

«Das Gericht wird den Antrag verwerfen», versuchte Vincent sie zu beruhigen.

Sein Smartphone spielte London Calling, auf dem Display war die Nummer von Inspektionsleiter Thann zu lesen. Vincent stieg aus, ein kalter Windstoß fuhr unter seine Jacke.

«Veih.»

«Hören Sie, was hat es mit dem angeblichen Alibi auf sich?»

Vincent stellte sich Thanns Gesicht vor. Meist sah er aus, als habe er in eine Zitrone gebissen. Oder einen Wurm in der Stulle entdeckt, die er sich morgens immer schmierte, um das Geld für die Kantine zu sparen.

«Reden Sie vom …»

«Vom Fall Pollesch, was sonst! Die Zeitungen sind voll mit dieser neuen Zeugin. Warum sind Sie nicht schon vor zwei Jahren auf sie gestoßen?»

«Weil die Frau erst jetzt aus dem Hut gezaubert wurde.»

«Ich kann nur hoffen, dass das Gericht nicht darauf hereinfällt. Unsere Behörde steht ohnehin schon in der Schusslinie. Die Leute halten uns für voreingenommen, für Rassisten! Und jetzt soll auch noch ein angebliches Alibi diesen Negerbengel …»

«Bitte?», unterbrach Vincent.

Sein unmittelbarer Vorgesetzter wurde lauter: «Bis zum Abend bekomme ich etwas Schriftliches in dieser Sache von Ihnen, Kollege Veih. Ordentliche Polizeiarbeit – der Begriff ist bekannt?»

«Götz und sein Anwalt haben keine Chance, Herr Thann.»

«Schriftlich! Die Anforderung kommt von ganz oben, ich bin nur der Bote. Haben wir uns verstanden, Kollege Vincent Che Veih?»

Vincent tippte auf das rote Symbol. Der Wind holte altes Laub von den Bäumen. Für die Nacht war eine Sturmwarnung ausgesprochen worden. Vincent knöpfte im Gehen seine Lederjacke zu.

Anna schloss zu ihm auf. «Der Giftzwerg?»

«Kriminaloberrat Thann.»

«Sag ich doch. Was will er?»

Vincent überlegte, ob das Wiederaufnahmegesuch nicht vielleicht doch eine Chance hätte. Er kannte die Fakten nicht im Detail, denn er war damals nur am Rand mit den Ermittlungen betraut gewesen. Aber warum sollte das Landgericht einer plötzlich aufgetauchten Zeugin mehr vertrauen als sämtlichen Sachbeweisen? Die Richter werden das Gesuch ablehnen, schätzte Vincent.

«Wo geht’s lang?», fragte er.

«Obere Kapelle.»

Sie beschleunigten den Schritt. Der asphaltierte Weg führte zwischen den Gräbern bergauf. Vincent spürte sein rechtes Knie. Ein verschlissener Meniskus, und das mit knapp vierundvierzig – womöglich müsste er eines Tages das Laufen aufgeben, grauenvoller Gedanke.

Bald standen die Bäume dichter, der Friedhof ähnelte einem Wald. Bemooste Findlinge dienten als Grabsteine. Vincent fiel auf, dass er zum ersten Mal hier war, obwohl er seit fast einem Vierteljahrhundert in dieser Stadt lebte und drüben auf der anderen Seite des Rheins aufgewachsen war.

Erneut London Calling, das Bild seiner Freundin auf dem Display. Vincent nahm das Gespräch an. «Du, im Moment passt es …»

«Warum habe ich das Gefühl, du machst dich rar?», fragte Saskia. «Hast du …»

«Ich ruf dich später zurück.» Vincent steckte das Handy zurück in die Jackentasche.

Ein breiter Turm kam in Sicht, der die obere Kapelle überragte. Sie erreichten den Gipfel der Gerresheimer Höhen, standen vor dem schlichten Bau aus roten Ziegeln und entschieden, hier draußen zu warten. Es konnte nicht mehr lange dauern. Durch das geschlossene Portal waren Streicherklänge zu hören, fast übertönt vom Rauschen der Baumwipfel.

«Vivaldi», sagte Vincent. «Der Winter, erster Satz.»

«Hey, und ich dachte schon, du kennst nur The Clash.»

Vincent drehte den Rücken gegen den Wind und verschränkte die Arme. «Thann will mir die Verantwortung zuschieben, falls es zur Wiederaufnahme kommt.»

«Ich dachte, du bist dir sicher, dass das nicht geschehen wird.»

«Bin ich auch. Mehr oder weniger.»

«Außerdem hast du damals nicht die Ermittlungen geleitet. Warum solltest also du …?»

«Ein Dienststellenleiter muss nun mal den Kopf hinhalten.»

«Ach was, ein Dienststellenleiter findet immer einen Weg, den Schwarzen Peter weiterzureichen.»

«Hast du nicht damals der Julian-Pollesch-Mordkommission angehört?»

«Siehst du, das meine ich.»

Die Kollegin versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden. Vincent hielt seine Hände um die Flamme, damit sie nicht vorzeitig ausging.

«Im Ernst, Anna. Haben wir etwas übersehen?»

Sie schüttelte den Kopf. «Pia Ziegler hat Götz eindeutig erkannt, außerdem gibt es Sachbeweise. Wir haben die Tatwaffe bei dem Jungen gefunden. Eigentlich war der Fall schon nach drei Tagen klar: Thabo Götz hat Pollesch erschossen, weil er dachte, der Schüler habe seine Freundin angebaggert. Ein Beziehungsdrama unter Jugendlichen. Hätte dieser pigmentierte Schönling …»

«Anna …»

«Schon gut, hört doch keiner mit. Hätte also der hübsche Junge ein echtes Alibi, dann hätte es sein Anwalt schon vor zwei Jahren präsentiert, allerspätestens im Prozess. Sei unbesorgt, Vincent, das Urteil gegen Götz ist wasserdicht.»

«Kein vernünftiger Zweifel?»

«Nein.» Hastig inhalierte sie.

«Seit wann rauchst du eigentlich?», fragte Vincent.

Anna blickte grimmig, als sei er ihr zu nahe getreten.

«Ich hab dich seit Jahren nicht mit Zigarette gesehen. Wenn du irgendwelche Probleme hast …»

«Wie kommst du darauf?» Anna ließ den Stummel fallen, trat die Glut aus, hob die Kippe auf und blickte sich vergeblich nach einem Papierkorb um. «Du und deine drei Semester Psychologie!»

«Vier», korrigierte Vincent.

«Na toll. Gratuliere.»

Die Flügel des Portals schwangen zur Seite. Ein graues Fahrzeug, die Miniaturausgabe eines Lastwagens, rollte surrend heraus. Auf dem gepflasterten Vorplatz knirschten die Reifen. Der Sarg auf der Ladefläche war aus hellem Holz. Ein üppiges Gesteck weißer Rosen schmückte ihn.

«Mein Gott, Pia», sagte Vincent leise. «Achtzehn Jahre, oder?»

«Fast», antwortete Anna. «Mitte Mai wäre sie volljährig geworden, soviel ich weiß.»

«Die Welt ist nicht gerecht.»

«Thabos Anwalt hat sie auf dem Gewissen. Er und diese schwachsinnige Initiative.»

 

Hinter dem Sarg führten der Pfarrer und sein Messdiener den Trauerzug an – die Zeit, als Selbstmörderinnen von der Kirche des Papstes boykottiert wurden, war glücklicherweise längst vorbei. Ihnen folgten Polizeihauptkommissar Stefan Ziegler und seine Frau, Verwandte und Nachbarn, Kollegen aus Zieglers Dienststelle, Kids aus Pia Zieglers Schulklasse. Vincent und Anna schlossen sich der stummen Prozession an.

Der asphaltierte Weg schlängelte sich in den östlichen Teil des Friedhofs, wo das Gelände sanft zum Rotthäuser Bachtal hin abfiel. Vincent hoffte, dass seine Lederjacke für den Anlass dezent genug war.

«Hast du Pia gekannt?», fragte die Kollegin leise.

Vincent schüttelte den Kopf. Er konnte sich nur an eine Begegnung im Präsidium erinnern. Stefan hatte seine Nichte über den Flur des KK11 geschoben, als sie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ein weiteres Mal aussagen sollte. Ein in sich gekehrter Teenager, schmal, langes Haar, zusammengekniffene Lippen, den Blick zum Boden gewandt. Schmerzen, schätzte Vincent, vom Schuss in den Rücken und von der Operation. Um Pias sechzehnten Geburtstag herum musste das gewesen sein – damals hatte es noch die Hoffnung gegeben, dass das Mädchen den Rollstuhl irgendwann nicht mehr brauchen würde.

Vielleicht hätte die Zeit die Wunden ihrer Seele geheilt, überlegte Vincent, wenn es diese unselige Kampagne nicht gegeben hätte. Die selbsternannten Bürgerrechtler der Freiheit-für-Thabo-Initiative. Rassismusvorwürfe gegen Polizei und Justiz. Und vor allem die Versuche, Pia als einzige Belastungszeugin zu diskreditieren – als sei es nicht schon traumatisch genug gewesen, einen Mord mitzuerleben. Und sich selbst eine Kugel einzufangen, als sie sich schützend vor Julian Pollesch stellte.

Ob dem Anwalt und den Unterstützern von Thabo Götz bewusst war, was sie angerichtet hatten? Ob sie sich wenigstens schämten?

Bretter umrahmten das tiefe Rechteck, grüne Matten kaschierten den Schacht. Die Träger hoben den Sarg vom Elektrofahrzeug. Ältere Herren in grauen Anzügen, auf den Mützen das Wappen der Stadt.

Das Handy vibrierte.

Schon wieder Saskia.

Vincent entfernte sich von der Trauergemeinde, um nicht zu stören. Erst jetzt bemerkte er ein Kamerateam und zwei Fotografen, die mit langen Objektiven aus dem Hintergrund ihre Aufnahmen machten, sowie einen Bagger, der sich zwischen den Bäumen bereithielt, um mit dem Aushub des nächsten Lochs Pias Grab zu füllen.

«Passt es jetzt besser?», kam Saskias Stimme aus dem Apparat.

«Bin gerade auf einer Beerdigung.»

«Sorry.»

«Nein, geht schon.»

«Ich wollte dir nur sagen, dass ich den Buchvertrag unterschrieben habe. Wir sollten das heute Abend feiern, falls du noch nichts vorhast.»

«Wie kommst du eigentlich darauf, ich würde mich rar machen?»

«Weil immer ich es bin, die anruft.»

«Du übertreibst.»

«Wir haben uns seit fast einer Woche nicht gesehen. Ist es wegen Oskar?»

«Unsinn.»

Für einen Moment war Stille, dann fragte Saskia: «Weißt du, was er einmal werden will?»

Vincent musste lachen. «Ist die Müllkutscher-Phase schon wieder vorbei?»

«Polizist, Kripobeamter. Ein Fortschritt, oder?»

«Da bin ich mir nicht so ganz sicher.»

«Kommst du heute Abend? Wenn du möchtest, gehen wir vorher zu Brigittes Buchpremiere. Ich nehme an, sie würde sich sehr …»

«Verschon mich bitte damit. Eine verdammte Grusel-Show wird das: ‹Ich war Terroristin, ist das nicht schick?›»

«Es ist immerhin deine Mutter.»

«Und wenn schon. In all den Jahren hab ich kein Wort des Bedauerns von ihr gehört! Kein Mitgefühl für die Opfer. Buback, Schleyer – wetten, dass sie genau weiß, wer geschossen hat?»

«Schon gut, Vinnie, ich hab ja nur gemeint …»

«Ihr und eure Bücher!»

 

Mitschülerinnen der Toten lagen sich in den Armen und weinten. Zieglers Kollegen aus der Mörsenbroicher Wache starrten auf ihre Schuhspitzen. Zwei ältere Frauen in Schwarz tuschelten, während die helle Kiste lautlos in die Grube glitt.

Stefan und Christine Ziegler ließen Erde auf den Sargdeckel rieseln, dann gaben sie die Schaufel weiter und traten zur Seite. Rein äußerlich ein höchst ungleiches Paar, dachte Vincent. Christine wirkte zierlich, ihr schwarzes Kleid betonte die schlanke Silhouette, während Stefan völlig aus dem Leim ging.

Vincent hatte gehört, dass sie Pia als kleines Kind zu sich genommen hatten, nachdem Zieglers Bruder und dessen Frau auf der Autobahn ums Leben gekommen waren – am Ende eines Staus von einem auffahrenden LKW zerdrückt.

Das Mädchen war für Onkel und Tante wie eine leibliche Tochter gewesen, ihr einziges Kind. Wie schrecklich musste es für sie gewesen sein, Pia vor ein paar Tagen mit aufgeschnittenen Pulsadern zu finden!

Soviel Vincent wusste, hatte es keinen Abschiedsbrief gegeben. Die Zieglers würden sich womöglich für den Rest ihrer Tage mit der Frage quälen, ob sie Pias Suizid hätten verhindern können.

Endlich war Vincent an der Reihe und gab Stefan die Hand. Er sprach dem Kollegen, der damals die Mordermittlung so eifrig unterstützt hatte, die Anteilnahme der gesamten Kripo aus – wenn schon sein Inspektionsleiter oder der Kripochef dazu nicht in der Lage waren.

«Danke», murmelte Stefan. «Schön, dass ihr gekommen seid.»

Anna umarmte ihn kurz. Der dicke Kerl brach in Tränen aus, gleich darauf wischte er sie sich mit dem Ärmel aus dem Gesicht, als sei ihm der Gefühlsausbruch peinlich.

«Wir müssen zusammenhalten», sagte Stefan schließlich. «Der Mistkerl darf nicht freikommen.»

«Auf keinen Fall», bestätigte Anna.

«Nicht vor Ablauf seiner Strafe», fügte Vincent hinzu.

Ziegler griff nach der Hand seiner Frau. «Wir haben Thabo noch nie ausstehen können, und das hat wirklich nichts mit seiner Hautfarbe zu tun. Der Kerl ist kalt, gemein und zu allem fähig.»

Christine Ziegler entzog ihrem Mann die Hand und schlang die Arme um ihren dünnen Leib, als friere sie. Vincent wagte es nicht, sie anzusprechen. Sie starrte unentwegt zur Grube hinüber. Sie weinte nicht, aber sie zitterte am ganzen Leib.

2

Zurück in der Festung, wie er und die Kollegen das Präsidium nannten. Vincent fuhr mit dem Paternoster in den zweiten Stock, tippte den vierstelligen Code in das Kästchen neben der Glastür zum KK11 und drückte sie beim Summton auf. Als Erstes besorgte er sich den Abschlussbericht zum Mordfall Pollesch aus dem Archiv. Der Leitz-Ordner enthielt die zentralen Zeugenaussagen sowie Fotos und Beschreibungen der wichtigsten Spuren.

Bevor er in sein Büro ging, steuerte er das nebenan gelegene Geschäftszimmer an, um seine Post zu holen. Obenauf ein rosafarbenes Blatt: Zum Sprachgebrauch in allen dienstlichen Belangen.

«Das hat jeder bekommen», erklärte Nora, die Sekretärin, mit vollem Mund. Sie vertilgte ein Plunderteilchen, ohne den Blick von ihrem Computerbildschirm zu nehmen. «Gilt ab heute.»

«Und bedeutet?»

«Dass es nicht mehr Kommissar heißt, sondern Kommissarin. Und Beamtinnen statt Beamte. Es sei denn, es sind ganz konkrete männliche Beamte gemeint. Dann darf man weiterhin die männliche Form benutzen.»

«Kapier ich nicht.»

«Gender Mainstreaming nennt man das, glaube ich.»

Eine Errungenschaft der rot-grünen Landesregierung, vermutete Vincent. Die Anweisung war von Polizeipräsident Schindhelm unterzeichnet. Vielleicht war Schindhelm sogar von selbst auf die Idee gekommen, um sich bei der neuen Innenministerin einzuschmeicheln.

Vincent trug die Sachen nach nebenan, ließ die Verbindungstür geöffnet und setzte sich an seinen Tisch. Er warf das rosafarbene Schreiben in den Papierkorb und schlug den Pollesch-Bericht auf.

Für das Memo, das Inspektionsleiter Thann angefordert hatte, hätte es genügt, ein paar Sätze aus der vorangestellten Zusammenfassung abzuschreiben, doch Vincent las sich fest und ertappte sich dabei, dass er sich immer wieder über Ausdrucksfehler und schlechten Stil ärgerte, über abgedroschene Sätze und lückenhafte Darstellungen. Ihm fielen die Frotzeleien seiner MK-Leiter ein, Anna Winkler und Klaus Schranz: Er sei zu pingelig und mische sich zu sehr in ihre Arbeit ein. Ansichtssache, fand Vincent.

Er studierte die Vernehmungsprotokolle. Thabo Götz, der Täter. Pia Ziegler, die Zeugin, die selbst angeschossen worden war. Der junge Mann hatte abgestritten, am betreffenden Tag überhaupt in Polleschs Wohnung gewesen zu sein. Sonst hatte er nur Angaben zur Person gemacht – auf Anraten seines damaligen Anwalts. Die Aussage des Mädchens las sich seltsam knapp und emotionslos. Anna hatte das Protokoll unterschrieben, gerade von ihr hätte sich Vincent mehr erwartet.

Welche Vernehmungstaktik hatten sich die Kollegen zurechtgelegt? Welche Körpersprache hatte ihr Gegenüber gezeigt? Nichts davon war schriftlich festgehalten worden. Die leisen Anzeichen von Unsicherheit und Angst, die unbewussten Begleiter von Ausflucht und Lüge – Vincent wusste, dass er ein Gespür dafür hatte und sich Menschen oft erst dadurch verrieten.

Nach langer Lektüre fügten sich die Bruchstücke, die er von damals im Gedächtnis hatte, doch zu einem Bild. Unscharf, aber einigermaßen stimmig.

Am siebten Mai 2012, einem Montag, waren gegen sechzehn Uhr in der Leitstelle des Präsidiums mehrere Notrufe eingegangen. Anwohner der Benderstraße im Stadtteil Gerresheim glaubten, Schüsse vernommen zu haben. Etwa zeitgleich meldete die Besatzung eines Streifenwagens, dem nachgehen zu wollen. Die Kollegen gehörten der Wache Mörsenbroich in der Wilhelm-Raabe-Straße an. Stefan Ziegler arbeitete dort als Dienstgruppenleiter, und Gerresheim zählte zum Revier.

Die Beamten fanden die Tür zur Wohnung von Julian Pollesch geöffnet vor, das Schloss war aufgebrochen. Drinnen lagen der tote Schüler sowie die schwerverletzte Pia, die der Notarzt sofort in die Klinik an der Gräulinger Straße schaffen ließ. Stefan Ziegler eilte an den Tatort und unterstützte den ersten Zugriff, bis die Spurensicherung eintraf. Für das KK11 war Felix May zur Stelle – er hatte in jener Woche Bereitschaft. Thilo Becker führte die Mordkommission an.

Nach zwölf Tagen war Pia erstmals vernehmungsfähig und bei voller Erinnerung. Sie gab an, dass Julian Pollesch ihr Nachhilfeunterricht gegeben habe und sie im Anschluss Breaking Bad auf DVD geschaut hätten, eine amerikanische TV-Serie. Plötzlich sei Pias notorisch eifersüchtiger Freund Thabo hereingeplatzt, habe die Situation missverstanden und nach lautem Wortwechsel eine Pistole gezogen, mit der er in den Wochen zuvor bereits angegeben habe.

In einer späteren Vernehmung hatte Pia diese Darstellung wiederholt. Ohne Widerspruch oder Korrektur – die Akte gab keinen Anlass, an der Aussage des Mädchens zu zweifeln.

Thabos DNA war im Tatzimmer gefunden worden. In seiner Wohnung die Waffe samt seiner Fingerspuren. Schließlich auch eine Jacke, die Thabo gehörte und an deren rechtem Ärmel Pulverschmauch haftete – genau an den typischen Stellen.

Alles passte.

Vincent blickte auf die Uhr. Fast schon Feierabend. Er öffnete das Mailprogramm seines Rechners und formulierte den Bericht an seinen Vorgesetzten. Darunter tippte er seinen Namen und bewegte die Maus – der Cursor blinkte auf dem Symbol für Abschicken.

Vincent hielt inne. Immer wenn etwas allzu eindeutig erschien, fühlte er sich herausgefordert, noch einmal nachzuhaken.

Er griff zum Telefon, rief die Staatsanwaltschaft an und ließ sich mit Martin Kilian verbinden, der im Prozess gegen Thabo Götz die Anklage vertreten hatte. Kilian war ein alter Hase, Vincent hatte schon mehrfach mit ihm gearbeitet. Bedächtig und gründlich, zugleich sympathisch, wie Vincent fand.

«Ich wusste, dass Sie anrufen würden», sagte der Staatsanwalt.

«Hellseherische Fähigkeiten?» Vincent hatte den Mann vor Augen, dem die Stimme gehörte: faltiges Gesicht, gewelltes graues Haar, das stets ein paar Zentimeter über Ohren und Kragen fiel.

«Sie sind neugierig auf die Alibizeugin im Mordfall Pollesch, stimmt’s?»

«Wie ist Ihr Eindruck?»

«Mir liegt nur das Protokoll der Aussage vor. Götz’ Anwalt hat die Zeugin vernommen, und das Gericht bittet mich um eine Stellungnahme zum Wiederaufnahmeantrag.» Kilian ließ ein rasselndes Husten hören.

«Und?»

«Na ja.»

Vincent spürte ein flaues Gefühl im Magen. «Sie werden doch nicht …»

«An der Zulässigkeit des Antrags besteht meiner Ansicht nach kein Zweifel.»

«Mag sein, aber letztlich ist er unbegründet, oder sehen Sie das anders?»

Schweigen am anderen Ende der Leitung.

Vincent packte den Hörer fester. «Herr Kilian, Sie werden doch nicht gegen die Verurteilung argumentieren, die Sie selbst gewollt und erreicht haben!»

«Die Aussage der Frau klingt schlüssig.»

«In der Version des Anwalts.»

«Das Gericht wird die Zeugin laden und natürlich selbst vernehmen. Aber wenn sie dabei so glaubhaft klingt wie auf dem Papier …»

«Sie rechnen mit der Wiederaufnahme?»

«Was noch lange nicht hieße, dass Götz am Ende freigesprochen wird.»

«Also, der Anwalt präsentiert eine Frau, die behauptet, zum fraglichen Zeitpunkt mit Götz zusammen gewesen zu sein, und schon knickt die gesamte Justiz ein?»

«Herr Veih …»

«Auf diese Art können wir sämtliche Morduntersuchungen der letzten Jahre neu aufrollen! Wie begründet es die Frau denn, dass sie erst jetzt mit ihrer Neuigkeit angerannt kommt?»

«Sie war damals illegal im Land und fürchtete die Abschiebung. Erst später hat sie einen Deutschen geehelicht und sich einbürgern lassen und war danach zur Aussage bereit.»

«Und die ist schlüssig und glaubhaft?»

«Ausreichend im Sinne des Paragraphen 359 der Strafprozessordnung.»

«Damit behaupten Sie, dass Pia Ziegler gelogen hat.»

«Ich behaupte gar nichts, Herr Veih.»

«Und die Waffe, die DNA, die Schmauchspuren?»

«Herr Veih …»

«Dass Sie meiner Dienststelle dermaßen in den Rücken fallen, enttäuscht mich maßlos. So etwas hätte ich nicht von Ihnen erwartet.»

Stille in der Leitung.

Vincent sah Pias Tante am Grab stehen, starr vor Trauer, ein Nervenbündel. Er konnte sich nicht bremsen. «Geht es um Politik, Herr Kilian? Um die sogenannte öffentliche Meinung? Eine paar Wirrköpfe einer Freiheit-für-Thabo-Initiative rufen ‹Rassismus›, und schon flattern überall die Hosen, oder was?»

«Wegen einer Formalie sollten wir nicht …»

«Formalie? Soll ich das meinen Leuten sagen? Meinen Vorgesetzten? Dem Kollegen Stefan Ziegler und seiner Frau, die erst vor wenigen Stunden ihre Nichte beerdigt haben?»

Keine Antwort.

Vincent schlug den Hörer auf die Gabel.

Er wusste, dass er machtlos war. Die Polizei hatte ihre Arbeit längst getan.

Ein Mausklick – sein Memo war jetzt bei Inspektionsleiter Thann. Vincent stand zu den Ermittlungsergebnissen seiner Leute.

Keine Änderung, kein Hintertürchen. Er hatte stets Vorgesetzte verabscheut, die sich auf Kosten anderer absicherten.

3

Die Nacht war über die Stadt hereingebrochen, Vincent verharrte in einem dunklen Hauseingang und behielt die Buchhandlung auf der anderen Straßenseite im Auge.

Wäre er mit Saskia hierhergekommen, hätten sie hineingehen, seiner Mutter Hallo sagen und eine schreckliche Veranstaltung über sich ergehen lassen müssen. Danke, kein Bedarf.

Trotzdem war er neugierig. Wer interessierte sich für die ollen Kamellen einer gescheiterten Linksextremistin, deren wilde Zeit dreieinhalb Jahrzehnte zurücklag? Wie wirkte seine Mutter auf diese Leute? Vincent wusste, dass sie ihre guten Seiten hatte, auch wenn sie alles tat, um sie vor ihm zu verbergen.

Vincent beobachtete, wie ein Pärchen den Laden betrat, mittelalt, beide in Jeans und Anorak. Dann ein junger Typ, vielleicht Student, gegeltes Haar fiel ihm schräg über die Augen.

Das hell erleuchtete Schaufenster zog Vincent nun doch an, er überquerte rasch die Straße. Das Plakat hinter der Scheibe zeigte eine Frau an der Grenze zum Rentenalter. Graue Kurzhaarfrisur, runde Wangen, spitze Nase. Freundlich, als könne sie kein Wässerchen trüben.

Vincent erinnerte sich an das Schwarzweißfoto, das er als Kind aus einer Illustrierten geschnitten hatte. In dem Artikel war es um das Rätsel gegangen, wie aus der Tochter eines rechtschaffenen Polizisten eine Terroristin hatte werden können. Damals war Brigittes Gesicht schmaler gewesen, die Wangenknochen zeichneten sich ab, braunes Haar fiel lang und glatt über die Schultern. Die Miene verkniffener – wer weiß, unter welchen Umständen die Aufnahme gemacht worden war.

Er hatte den Ausschnitt in einer Ritze hinter der Matratze versteckt, denn im Haus der Großeltern waren zwei Themen streng tabu gewesen – die Kriegszeit und Brigitte. Opa führte ein strenges Regime. Vincent missachtete manchmal die Regeln, zunächst ungewollt, später auch mit Absicht. Wenn sein Großvater laut wurde und mit Strafen drohte, zog sich Vincent in sein Zimmer zurück, holte den zerknitterten Zettel hervor und hielt Zwiesprache mit der Mutter, die ihn weggegeben hatte: Warum bist du eine böse Frau geworden? Soll ich dich hassen oder lieben? Und manchmal fragte er sich, ob das Verbrechen auch in ihm steckte. Er hatte niemanden, mit dem er darüber reden konnte. In solchen Momenten fühlte er sich als der einsamste Junge der Welt.

Im Fenster stapelte sich Brigittes Autobiographie, gebunden und mit Lesebändchen, knallroter Schutzumschlag. Frei und ohne Furcht – ein rundum verlogener Titel, fand Vincent.

Er musste die Lebenserinnerungen nicht lesen, um zu wissen, dass sie keinen Pfifferling wert waren. Nie hatte Brigitte Zweifel oder Bedauern geäußert, weder in Interviews noch privat, auch nach so vielen Jahren nicht. Zu groß ihre Arroganz, zu stark die falsch verstandene Solidarität mit den einstigen Kumpanen. Sie hatte geholfen, Menschen zu ermorden, und sich in zwei Jahrzehnten Knast mehrfach selbst fast umgebracht – Hungerstreik als Fortsetzung eines sinnlosen Kampfes. Ob sie jemals imstande sein würde, diese Zeit zu hinterfragen?

Vincent fasste sich ein Herz und betrat den Laden. Eine Verkäuferin wies ihm den Weg entlang der Bestsellerregale und quer durch die Hörbuchabteilung. Er hielt auf die Treppe zu, die in das Untergeschoss führte. In sicherer Entfernung blieb er stehen.

Zu seiner Überraschung füllten sich im Lesecafé die Stuhlreihen. Vincent zählte siebzig, achtzig Zuhörer, und noch immer strömten weitere hinzu, Frauen und Männer jeden Alters. Strickpullover, Palästinensertücher, aber auch Anzüge und Perlenketten. Einige Leute trugen Anstecker der Freiheit-für-Thabo-Initiative – die grellgelben Dinger stachen Vincent sofort ins Auge.

Vor den Stuhlreihen wartete ein Tisch mit einem Glas Wasser auf den Star des Abends. An der Rückwand hingen zwei großformatige Aufnahmen aus Brigittes jüngstem Obdachlosen-Zyklus. Vincent mochte die Arbeiten seiner Mutter, aber nach dem Erscheinen ihrer Autobiographie würde man über sie wieder nur als Terroristin reden, nicht als preisgekrönte Fotografin.

Anschwellender Applaus. Begleitet von der Inhaberin der Buchhandlung, trat Brigitte an den Tisch. In den ersten Reihen erhoben sich die Leute sogar von ihren Stühlen, darunter eine blonde Vierzigjährige.

Nina, seine Ex, immer noch schlank und attraktiv.

Sie schaute hoch, ihre Blicke trafen sich.

Vincent spürte einen Stich im Magen. Er machte kehrt und steuerte den Ausgang an. Die Verkäuferin musste ihm aufschließen. Ohne ein Wort trat er ins Freie.

Durchatmen. Ein Regenschauer prasselte nieder. Vincent schlug den Kragen seiner Jacke hoch und ging mit schnellen Schritten auf sein Auto zu.

4

«Vinnie, stirbst du bald?»

Der Junge trug einen hellblauen Schlafanzug aus Frottéstoff. Auf die Hausschuhe war ein Tiger gedruckt, der die Zunge herausstreckte.

«Oskar!», ermahnte Saskia ihren Sohn.

«Aber, Mama, du hast doch gesagt, dass man sterben muss, wenn man alt ist.»

Vincent wunderte sich, dass der Kleine noch auf war.

«So alt ist Vinnie nun auch wieder nicht», sagte Saskia.

«Aber er hatte bestimmt mal einen Dino als Haustier, oder?»

«Ich hatte ein Buch über Dinosaurier», antwortete Vincent.

«Das hab ich auch!»

Saskia wollte ihren Sohn zu Bett bringen, doch Oskar bestand darauf, dass Vincent das tun solle.

Er folgte dem Kleinen in dessen Zimmer, und während er noch überlegte, was seine Aufgabe sei, war Oskar bereits ins Bett geklettert und kuschelte sich in die Decke.

Vincent war in Gedanken noch bei Brigittes Veranstaltung. Er spürte ein Kribbeln, das Echo eines Gefühls der eigenen Kindheit – als stimme etwas nicht mit ihm, weil seine Mutter ihn nicht liebte. Warum sonst hätte sie ihn verlassen?

«Vinnie?»

«Oskar?»

«Mama sagt, ich werde mal zwei Papas haben. Der eine hat mich gebaut, und der andere nimmt mich schon so fertig, wie ich bin.»

Vincent fuhr dem Kleinen durchs Haar.

«Wirst du mein neuer Papa sein?»

Er spürte einen Kloß im Hals. Was soll ich darauf antworten?

«Vinnie?»

«Ja?»

«Du musst nicht sterben. Ich kann dir sagen, wie das geht: Feier einfach keinen Geburtstag mehr, dann wirst du nicht älter.»

Vincent wünschte ihm süße Träume und löschte das Licht.

 

Saskia schenkte den Sekt ein, den Vincent mitgebracht hatte. «Der Verlag zahlt einen ordentlichen Vorschuss», sagte sie. «So kann ich zu Hause arbeiten und mich besser um den Jungen kümmern. Ich muss nicht länger beim Sender Klinken putzen.»

«Gratuliere.»

Seine Freundin wollte über Rolf-Werner Winneken schreiben – in zwei Jahren würde sich das Attentat auf den Spitzenmanager zum fünfundzwanzigsten Mal jähren, ein schreckliches Jubiläum als Marketingvehikel für das Buch.

Vincent fragte sich, warum ein Verlag ausgerechnet Saskia Baltes mit dem Projekt beauftragte. Sie hatte bislang vor allem als Nachwuchsreporterin für das Lokalfernsehen gearbeitet und war noch nie als Sachbuchautorin in Erscheinung getreten.

«Spannender Stoff», schwärmte Saskia. «Absolut mysteriös.»

«Wie meinst du das?»

«War Alfred Meisterernst wirklich der Schütze? Wer waren seine Komplizen? Gab es die dritte Generation der RAF überhaupt? Wenn nein – warum musste Winneken wirklich sterben?»

Vincent stöhnte auf. Seine Freundin drohte sich in Verschwörungstheorien zu verstricken. Damit würde sie sich nur lächerlich machen.

Sie stießen an. Saskia nippte an ihrem Glas. Ihr Blick fixierte ihn. «Du musst mir helfen, Vinnie.»

«Wie meinst du das?»

«Du hast mir doch erzählt, dass du damals mit als Erster am Tatort warst. Und ich bräuchte die Akten.»

«Hast du etwa den Leuten im Verlag weisgemacht, du könntest die Fallakte Winneken einsehen?»

Saskia legte den Kopf schief. «Meinst du, sie hätten mir den Auftrag wegen meiner schönen Augen gegeben?»

«Ich fass es nicht.»

«An die Sachen kommst du doch ran, oder?»

«Was sonst noch?»

«Kann ich mit deiner Unterstützung rechnen? Bitte, Vinnie!»

«Was hast du dem Verlag noch versprochen?», fragte er streng.

Sie wich seinem Blick aus und trank einen Schluck. Eine Verlegenheitsgeste.

«Sag schon.»

«Deine Mutter …»

«Wusste ich’s doch!»

Er stand auf und trat ans Fenster. Saskia schwieg. Vincent erinnerte sich an seine erste Zeit im Polizeidienst. Als die Schüsse auf den Treuhandchef fielen, hatte er gerade die Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei beendet und im Schichtdienst der Wache Oberkassel begonnen. Was hatten die Kollegen auf ihm herumgehackt, als sie spitzkriegten, dass seine Mutter wegen ihrer RAF-Mitgliedschaft in Köln-Ossendorf hinter Gittern saß! Als sei er ein Maulwurf der Terroristenbande, als habe er schon als Kind mit Molotowcocktails gespielt. Dabei war Vincent in einem stockkonservativen Polizistenhaushalt aufgewachsen.

Saskia räusperte sich. «Sie kann mir dazu sicher eine Menge aus ihrer Sicht erzählen.»

«Wie kommst du darauf?»

«Manche sagen, die Taten der dritten Generation seien möglicherweise von den Leuten der zweiten aus den Gefängnissen heraus geplant und gesteuert worden. Ich würde gern wissen, wie deine Mutter über Winneken denkt. Über den gesamten Komplex der dritten Generation.»

«Hat sie darüber etwas in ihrer Autobiographie geschrieben?»

«Nein, aber vielleicht wird sie mit mir zum ersten Mal darüber reden. Das wäre toll für mein Buch! Du wirst doch ein gutes Wort für mich einlegen, oder?»

«Auf mein Wort gibt Brigitte nichts. Sie wird niemals über diese Dinge reden. Und die Akte kann ich dir auch nicht besorgen.»

«Komm schon, Vinnie!»

Sein Blick fiel auf ein rundes gelbes Ding, das neben Stiften, einem Handy und einem Exemplar von Frei und ohne Furcht auf Saskias Schreibtisch lag. «Was ist das?»

«Krieg dich ein, bitte.»

Er packte den Freiheit-für-Thabo-Sticker, trug ihn in die Küche und schleuderte ihn in den Treteimer für den Hausmüll. «Tolle Gesellschaft, Saskia, in die du dich da begibst.»

«Wie meinst du das?»

«Die Leute, die dieses Propagandazeug verkaufen, halten den Mord an Winneken vermutlich für einen Akt des Widerstands gegen den Imperialismus!»

«Das ist nicht dein Ernst.»

Vincent atmete tief durch. «Wir haben am Tag nach dem Attentat unseren Bericht ans Bundeskriminalamt geschickt und waren von dem Moment an draußen.»

«Ich dachte …»

«Akten gibt es nur in Wiesbaden. Wende dich ans BKA. Sorry, mein Schatz, aber ich kann wirklich nichts für dich tun. Nada, niente.»

Eine Weile herrschte Schweigen. Saskias braune Augen erinnerten ihn an die eines getretenen Hundes. Vincent bereute seinen Wutausbruch. Wie konnte ihn ein dämlicher Anstecker derart reizen?

Seine Freundin räusperte sich. «Möchtest du mich nicht wenigstens deiner Mutter vorstellen?»

Vincent dachte an das letzte Mal, als er Brigitte draußen in Uedesheim besucht hatte. Das Haus war voller Gäste gewesen – ein Auflauf schwarz gekleideter Kulturfuzzis feierte die Auszeichnung, die Brigitte für ihre Porträtfotos von weiblichen Strafgefangenen erhalten hatte. Als Vincent endlich zu ihr durchgedrungen war, hatte sie kaum einen Blick für ihn übrig gehabt und lieber mit dem Töchterchen der Museumskuratorin gespielt.

Schon eine Weile her.

«Bitte, Vinnie.»

Draußen regnete es heftiger. Eine Windbö schlug die Tropfen hart gegen die Scheibe.

«Wenn du wirklich meinst.»

Saskia umarmte ihn und rieb ihre Nase an seinem Hals. «Danke, Herr Veih.»

«Aber versprich dir nicht zu viel, Frau Baltes.»

5

Dienstag, 11. März 2014

Wie immer war Torsten Heise der Erste auf dem Gelände. Morgengrauen, noch fehlten die Farben, die Luft war kühl. Er schloss das Tor zum Betriebshof auf. Der Bewegungsmelder ließ den Scheinwerfer unter der Dachrinne des Bürotrakts angehen. Der Sturm war nach Nordosten abgezogen. Was mochte er angerichtet haben?

Torsten steuerte seinen Bulli auf den gewohnten Stellplatz und zog den Schlüssel ab. Er überquerte die asphaltierte Fläche und öffnete das Tor zur Garage der Chefin, damit sie dafür nicht aussteigen musste – sein täglicher Service als Dankeschön dafür, dass sie bei der Stadtverwaltung ein gutes Wort für ihn eingelegt hatte, als er einmal psychologische Betreuung brauchte.

Er betrat die Unterkunft und knipste das Licht in der Umkleide an. Dort zog er den blauen Kittel über, seinen Schal behielt er um den Hals.

Im Aufenthaltsraum setzte er die Kaffeemaschine in Gang. Wenn er seine Kontrollfahrt hinter sich hatte, würde es hier von Kollegen wimmeln. Siebzehn Arbeiter zählte die Belegschaft. Plus drei Frauen im Büro, die Chefin mitgezählt.

Wieder hinaus an die frische Luft, Torsten atmete tief ein. Er konnte sich keinen schöneren Arbeitsplatz vorstellen. Im Grünen, am Rand der Stadt. Die Einzigen, die zu dieser Stunde lärmten, waren die Singvögel in den Sträuchern und Bäumen.

Er hatte Bekannte, die es nicht verstanden, dass man einen Friedhof lieben konnte. Nein, all die Toten, die hier bestattet waren, machten ihm nichts aus. Nur den Fund eines Selbstmörders brauchte er in den wenigen Jahren, die er noch bis zur Rente hatte, kein zweites Mal.

Torsten dachte an den armen Kerl, der sich im letzten Frühjahr unter einer Buche erhängt hatte. Schon in den Tagen zuvor hatte er auf dem Gelände kampiert, Torsten entdeckte ihn und versorgte ihn mit belegten Brötchen, statt ihn anzuzeigen. Wer weiß, vielleicht würde der Mann noch leben, wenn ich ihn der Polizei übergeben hätte – Vorwürfe dieser Art machte sich Torsten seitdem fast täglich.

Er fuhr das orangefarben lackierte Bokimobil aus seinem Verschlag, stieg ab und überprüfte die Schmierung von Hydraulikkran und Greifer. Lampen und Bremsen, alles okay. Gewaschen hatte er das Fahrzeug erst gestern. Er kletterte wieder auf den Fahrersitz und begann seine Runde.

Weiter oben im Gelände entdeckte er die ersten Sturmschäden. Einige Male musste er anhalten, um abgebrochene Äste auf die Ladefläche zu werfen. Soweit er es überblicken konnte, war nirgendwo ein Baum auf eine Grabstelle gestürzt – es hatte sich bezahlt gemacht, rechtzeitig die drei alten Robinien zu fällen, die im Kern schon ganz morsch gewesen waren.

Torsten erreichte die Kapelle auf der Anhöhe. Er mochte die nüchterne Architektur. Hier wurde der Weg eben. Das Brummen des Dieselmotors verschreckte ein paar Kaninchen. Einmal hatte er sogar Rehe entdeckt, die für einen Moment zwischen den Gräbern verharrten, bevor sie in Deckung huschten.

Er merkte sich einen Baum, dessen halbe Krone umgeknickt war und nur noch von der anderen Hälfte gehalten wurde, sowie ein paar herabgefallene Äste, die kein Hindernis waren, aber ebenfalls im Lauf des Tages beseitigt werden mussten. Als Torsten am Tor zum Rotthäuser Weg vorbeirollte, entdeckte er, dass der Poller neben der Fahrbahn lag. Ein später Besucher war zu faul gewesen, ihn an seinen Platz zurückzusetzen, das kam immer wieder vor. Torsten hielt an und erledigte das.

Er passierte die Buche des Selbstmörders und blickte hin, zwanghaft, wie jeden Morgen – nein, dem Himmel sei Dank, kein schlaffer Körper unter den Ästen. Nicht wieder ein abgedrückter Hals, der in einer Schlinge steckte.

Der Baum war nicht groß, die Zweige neigten sich fast bis auf den Grund herab und bildeten im Sommer ein grünes Versteck. Torsten hatte gehört, dass es großer Willenskraft bedarf und manchmal eine halbe Ewigkeit dauert, wenn man sich an einem Geäst zu Tode stranguliert, das zu niedrig ist für einen Sprung und den erlösenden Genickbruch. Schlimm, so etwas. Wie verzweifelt musste der Mann gewesen sein?

Ab jetzt ging es sanft bergab. Torsten freute sich auf den Kaffee und auf Christian, den Vorarbeiter, mit dem er das gestrige Spiel der Fortuna erörtern würde. Zwei strittige Entscheidungen des Schiedsrichters, das Ergebnis hätte auch anders lauten können.

Was war das? Torsten stoppte sein Fahrzeug und zückte sein Diensthandy, um ein Foto zu machen.

In einer Kurve war die Bepflanzung am Wegrand aufgewühlt, eine hässliche Reifenspur hatte sich durch das Grünzeug gefressen. Wo in wenigen Wochen die Waldsteinien gelb blühen sollten, war ein Streifen Erde bloßgelegt. Ein Fall für die Haftpflichtversicherung des Verursachers, dachte Torsten.

Er ahnte, wer hier von der Fahrbahn abgekommen war. Mitarbeiter von Fremdfirmen richteten oft mehr Schaden als Nutzen an. Es war ein Irrtum zu glauben, man könne durch die Auftragsvergabe an private Handwerker Kosten sparen. Torsten drückte auf den Auslöser und steckte das Handy wieder ein.

Er passierte die Rasengrabstätte, dann das Baumfeld. Hier würde auch er einmal liegen, hatte Torsten für sich beschlossen. Angehörige, die ihm das ausreden würden, besaß er nicht mehr. Seine Asche in einer sich selbst zersetzenden Urne irgendwo zwischen den Wurzeln, sein Name auf einem der Pflastersteine, die einen Pfad zwischen den Birken markierten, sonst nichts – der Gedanke gefiel ihm.

Linker Hand näherten sich die frischen Reihengräber für die Sargbestattung. Das jüngste von ihnen war noch ohne Grabstein oder Kreuz. Eine Gymnasiastin lag seit gestern dort, sie hatte sich umgebracht, wie er gehört hatte. Wie hatte sie es wohl angestellt?

Auf jeden Fall eine tragische Sache, dachte Torsten. Wie immer hatten die Kollegen sämtliche Kränze und Blumengebinde auf der zugeschütteten Grube angerichtet, in diesem Fall ein wahrer Blütenberg. Viel Verwandtschaft, große Anteilnahme – und die Floristen hatten sich mal wieder eine goldene Nase verdient.

Etwas schimmerte dort obenauf. Torsten stoppte das Bokimobil und stieg aus, um sich die Sache anzusehen. Hatte sich jemand einen bösen Scherz erlaubt?

Nach wenigen Schritten wurden ihm die Knie weich. Seine Eingeweide verkrampften sich. Er hielt die Luft an.

Nein. Bitte nicht.

Mit zitternden Fingern rief Torsten die Chefin auf dem Handy an.

«Herr Heise?», kam ihre Stimme aus dem Apparat – offenbar hatte sie seine Nummer auf ihrem Display richtig gedeutet.

Die Worte verweigerten sich ihm. Er kämpfte mit dem Brechreiz.

«Was gibt’s, Herr Heise?»

«Das ist keine Puppe», antwortete er.

«Was meinen Sie?»

Torsten krümmte sich, würgte und hustete ausgiebig. Der Magensaft brannte sauer im Rachen. Er wischte sich mit dem Ärmel der Arbeitsjacke über den Mund und nahm das Handy wieder ans Ohr. «Hallo, sind Sie noch dran?»

«Herr Heise, was ist los?»

Hastig beschrieb Torsten, was vor ihm in den Blumen lag.

6

Als Vincent eintraf, war die Spurensicherung bereits bei der Arbeit, das Gelände weiträumig abgesperrt und über dem unmittelbaren Fundort ein Zeltdach errichtet – die Kollegen waren sich nicht sicher, ob es im Lauf des Tages nicht doch wieder regnen würde.

In weißer Schutzkleidung näherte sich Vincent dem Hügel aus Kränzen und Gestecken, um einen Blick auf die Leiche zu werfen.

Sofort fiel ihm die große Zahl an Wunden auf. Es war entsetzlich. Er hatte schon vieles gesehen, aber noch nie ein solches Ausmaß an Misshandlung.

Als ihm klarwurde, dass er den Kriminaltechnikern im Weg stand, machte er rasch wieder Platz, streifte Handschuhe und Overall ab und ließ sich von Anna Winkler berichten, was los war.

Die Tote war etwa zwanzig Jahre alt. Jemand hatte sie hier abgelegt, nachdem die Regenschauer abgeklungen waren, denn ihre Haut war trocken. Die Wunden waren ihr anderswo zugefügt worden – zu wenig Blut, wo sie jetzt lag.

Dass ausgerechnet auf dem Grab von Pia Ziegler ein Mordopfer deponiert worden war, irritierte Vincent zutiefst, und er sah Anna an, dass es ihr ebenso ging.

«Wer soll die Ermittlung leiten?», fragte sie.

«Es ist deine Mordkommission.»

Sie nickte und deutete ein Lächeln an. «Kannst du dich bitte um Verstärkung kümmern?»

«Natürlich.» Vincent griff nach seinem Handy. «Bis dahin werde ich dich unterstützen.»

«Ist klar. Du möchtest am liebsten alles selber machen. Du traust mir nicht.»

«Unsinn. Wer leitet die Spurensicherung?»

«Fabri.»

«Ich hoffe, ihr kommt dieses Mal zurecht.»

Anna legte die Stirn in Falten, als ziehe er ihre Professionalität in Zweifel.

«Hab dich nicht so», sagte er. «Du weißt genau, was ich meine. Was gibt’s sonst noch?»

Sie klemmte ihre rote Strähne hinters Ohr. «Die Leiterin des Friedhofs will nicht einsehen, dass dieser Teil ihres Reichs bis auf weiteres für Beerdigungen ausfällt.»

 

Das Verwaltungsgebäude befand sich am unteren Tor. Vincent war den Weg im Langlauftempo getrabt, und das Gefälle hatte erneut seinem Knie zu schaffen gemacht. Eine Mitarbeiterin führte ihn ins Büro ihrer Vorgesetzten, die ihm mit ausgestreckter Hand entgegentrat und sich als Sonja Grebe vorstellte.

«Sie haben gewonnen», sagte sie. «Sie dürfen so viel Gelände absperren, wie Sie wollen, behauptet mein Chef.»

«Die Polizei gewinnt immer», antwortete Vincent.

Grebe lachte.

«Darf ich fragen, wie Sie Ihr Problem lösen werden?», wollte er wissen.

«Der Mann, den wir heute neben Pia Ziegler legen wollten, bekommt eine Stelle in einem Wahlgrabfeld, die eigentlich für Doppelbelegung vorgesehen ist.»

«Ein Upgrade.»

«Sozusagen. Mein Amtsleiter hat das abgesegnet.»

«Schön, dass wir das klären konnten. Eine Frage habe ich noch.»

«Ja, bitte?»

«Wie kann man eine Leiche auf diesen Friedhof schaffen?»

«Na ja, so ungewöhnlich ist das nicht.»

«Ich meine, nachts, außerplanmäßig.»

«Das hat mich Ihre Kollegin auch schon gefragt. Dabei ist es ganz einfach. Es gibt mehrere Tore, durch zwei davon kann man sogar mit dem Auto fahren.»

«Werden die am Abend nicht geschlossen?»

«Unser Friedhof ist dafür zu weitläufig. Es bestünde die Gefahr, dass wir Besucher einschließen, die nicht auf die Zeit achten. Wir können unmöglich über das Gelände laufen und sämtliche Leute zusammenrufen. Aber ich bin mir fast sicher, dass der Vorfall von heute Nacht dazu führen wird, die Bestimmungen trotzdem zu ändern. Vor einiger Zeit hatten wir hier einen Selbstmord. Danach mussten wir auch für ein paar Wochen abschließen. So lange, bis sich jemand bei der Stadtverwaltung beschwerte, weil er abends nicht rausgekommen war.»

«Sie sagten, man kann sogar mit dem Auto …»

«Ja, vom unteren Tor aus und vom Rotthäuser Weg in der Nähe der oberen Kapelle. Das erlauben wir Behinderten sowie Leuten, die etwas Schweres zu transportieren haben, Erde für die Grabpflege zum Beispiel.»

Das Telefon klingelte. Frau Grebe entschuldigte sich und ging ran.

Vincent erhob sich von seinem Platz, doch die Friedhofschefin gab ihm ein Zeichen, dass er warten solle. Nach einem kurzen Gespräch legte sie auf.

«Das war der Rückruf von Baumpflege Meier. Ich habe nämlich ebenfalls Ermittlungen angestellt.» Sie zwinkerte.

«Und?»

«Herr Heise, der die Leiche entdeckt hat, ist auf eine Reifenspur gestoßen. Jemand ist in einer Kurve vom Asphalt abgekommen. Mein Mitarbeiter dachte, das sei jemand von einer Fremdfirma gewesen. Aber die Einzigen, die in Frage kommen, haben gestern gar nicht in dem oberen Sektor gearbeitet. Also …»

«Verstehe.»

«Ihr Täter scheint es sehr eilig gehabt zu haben.»

Vincent bedankte sich. Beim Hinausgehen rief er Fabri von der Spurensicherung an, damit seine Kollegen sich die Spur zeigen lassen und sie sichern würden. Dann unterrichtete er Anna und besprach mit ihr, dass trotzdem auch der Weg untersucht werden sollte, der außerhalb der Friedhofsumzäunung an der Ostseite verlief. Unweit von Pias Grab gab es dort ein Tor für Fußgänger.

Gerade als er die Mörsenbroicher Wache anrufen wollte, um nachzuhaken, wo die Verstärkung blieb, erkannte Vincent, dass er sich das sparen konnte. Zwei Streifenwagen hielten auf dem Parkplatz vor dem Tor.

Bereits an der Körperfülle erkannte er Stefan Ziegler, der ihm entgegenkam. Der Kollege führte eine Truppe von sieben Uniformierten an.

Vincent begrüßte ihn mit Handschlag.

«Welches Schwein tut meiner Pia so etwas an?», fragte er. «Schändet ihr Grab!»

«Ja, unfassbar, Stefan. Das Opfer ist etwa in Pias Alter. Kann es sein, dass die Tat etwas mit deiner Nichte zu tun hat?»

«Sag mal, Veih, spinnst du?»

Die übrigen Uniformierten verzogen keine Miene, aber Vincent schätzte, dass sie seine Frage ebenfalls für ungebührlich hielten.

«Reg dich ab, Stefan. Es ist mein Job, solche Fragen zu stellen.»

«Stell sie deiner Kundschaft, aber nicht mir!»

Vincent nickte, um Ziegler zu beschwichtigen, und bat ihn, sich mit seinen Leuten bei Anna zu melden.

Ein Blick auf die Uhr. In einer halben Stunde würde die Sitzung der Kriminalkommissariatsleiter beginnen – er konnte sie nicht ausfallen lassen.

Auf der Rückfahrt zur Festung piepste sein Handy. Eine SMS. An der nächsten roten Ampel griff Vincent nach dem Gerät. Die Nachricht war von Saskia.

Denkst du bitte daran, dass wir deine Mutter besuchen wollen?

Du willst das, nicht ich, dachte Vincent.

Ihm fiel ihr Vorwurf ein, gestern am Telefon, er mache sich rar. Am Abend hatte Saskia das Thema nicht noch einmal angesprochen.

Vincent wollte gerade das Handy wegstecken, als der Klingelton zu lärmen begann.

Inspektionsleiter Thann. Du hast mir gerade noch gefehlt, dachte Vincent.

«Sie haben eine Tote auf dem Friedhof?»

Grün, Vincent gab Gas.

«Kollege Veih?»

«Bin bereits zu Ihnen unterwegs, bis gleich!»

Er drückte das rote Symbol, warf das Mobiltelefon auf den Beifahrersitz und verfluchte den Schleicher vor ihm.

7

Bevor Vincent den Besprechungsraum in der Chefetage aufsuchte, warf er in seinem Büro die Espressomaschine an. Er hatte noch drei Minuten.

«Wir bekommen eine Praktikantin», rief Nora aus dem Geschäftszimmer herüber.

«Ich kann jetzt nicht!», antwortete Vincent.

Er wählte die Nummer von Annas Diensthandy. Die Kollegin ging sofort ran.

«Kennt Stefan die Tote?», fragte Vincent.

«Stefan Ziegler?»

«Hast du sie ihm gezeigt?»

«Nein, wieso?»

«Mach das bitte und frag ihn, ob sie eine Bekannte von Pia war.»

«Meinst du?»

«Nur so eine Idee.»

«Ich habe übrigens den Tatort erweitert und auch rund um das obere Tor und entlang der Route, die zum Grab führt, absperren lassen. Wird der Friedhofschefin nicht gefallen.»

«Damit muss sie leben. Wann wird die Leiche obduziert?»

«Die Professorin zickt, angeblich Personalmangel, sie will es erst morgen früh machen.»

«Ich rufe sie an.»

Der Espresso war in die Tasse gelaufen, Vincent pustete ein paarmal und schlürfte die Brühe. Er wählte die Nummer der Rechtsmedizin und erfuhr, dass die Professorin gerade nicht zu sprechen war.

«Soll ich was ausrichten?», fragte die Sekretärin.

«Wann kann ich Frau Michels erreichen?»

«Probieren Sie’s in einer Stunde.»

 

Die Runde der Dienststellenleiter der Kriminalabteilung – mehr als dreißig Leute hatten an dem großen Tisch Platz genommen. Vincent schnappte sich den letzten freien Stuhl.

Kripochef Benedikt Engel führte den Vorsitz. Als der Leichenfund auf dem Gerresheimer Waldfriedhof zur Sprache kam, berichtete Vincent, was er wusste. Viel war das noch nicht.

«Haben Sie Kenntnis, um wen es sich bei der Toten handelt, Kollege Veih?», fragte Inspektionsleiter Thann.

«Sie hatte ihre Papiere nicht dabei.»

Ein paar Lacher, Engel grinste, Thann verzog angewidert den Mund.

«Sollen wir für heute Nachmittag die Medien einladen?», fragte Braun, der Pressesprecher.

«Dafür wissen wir noch zu wenig», antwortete Vincent. «Vielleicht morgen, falls wir bis dahin eine Identifizierung haben.»

«Dann lass uns nachher wegen einer Pressemitteilung mailen. Um die kommen wir nicht herum.»

Vincent nickte.

«Wie erklären Sie sich, dass die junge Frau ausgerechnet auf dem Grab von Pia Ziegler abgelegt worden ist?», fragte der Kripochef.

«Vielleicht Zufall», antwortete Vincent, obwohl er nicht daran glaubte. «Vielleicht hat dem Täter der Berg an frischen Blumen und Kränzen gefallen.»

Vincents Handy vibrierte, eine SMS von Anna.

Stefan kennt sie nicht.

Vincent wandte sich quer über den Tisch an Susanne Hachmeister, die den Leiter des KK12 vertrat. «Lass uns im Anschluss an das hier die Vermisstenfälle durchgehen.»

Hachmeister nickte, ihr knappes Lächeln signalisierte Unterstützung. Eine Nette, dachte Vincent. Sobald weitere Verstärkung nötig sein wird, spreche ich sie an, ob sie sich der Mordkommission anschließt.

«Okay, nächster Fall», sagte Engel und gab das Wort an den Kollegen vom Einbruch, der über eine Serie von Delikten im Stadtteil Niederkassel referierte.

Vincent ging die Leiche nicht aus dem Sinn, über und über von Wunden verunstaltet. Welcher Täter richtet sein Opfer so zu und schleppt es auf den Friedhof?

Ein Besessener, dachte Vincent.

8

Susanne Hachmeister führte ihm auf ihrem Monitor Aufnahmen vermisster Frauen vor, die vom Alter her in Frage kamen. Sie hatte Zugriff auf sämtliche Fälle Nordrhein-Westfalens, aber wer konnte sicher sein, dass die Tote auf Pias Grab nicht vom anderen Ende der Republik oder aus dem Ausland stammte?

Einige Frauen stimmten in Alter, Größe und Figur in etwa überein. Vincent blickte in die jungen Gesichter, eines nach dem anderen, und war ratlos – ihm wurde klar, dass er sich die Züge des Mordopfers nicht gut eingeprägt hatte. Zu grässlich ihr Zustand, zu absurd die Umgebung, zu groß die Hektik der Kollegen.