Schlaf nicht, wenn es dunkel wird - Joy Fielding - E-Book

Schlaf nicht, wenn es dunkel wird E-Book

Joy Fielding

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Beschreibung

Die Krankenschwester Terry Painter führt ein zurückgezogenes Leben in einer kleinen Stadt in Florida. Nicht selten fühlt sie sich einsam, und so fasst sie eines Tages den Entschluss, ihr Gartenhäuschen zu vermieten. Alison, die junge Frau, die bei ihr einzieht, wächst Terry sofort ans Herz, und es entsteht eine liebevolle Freundschaft zwischen den beiden Frauen. Doch plötzlich beschleicht Terry der entsetzliche Verdacht, dass Alison etwas vor ihr verbirgt – und sie hat immer öfter das beklemmende Gefühl, in ein infames Katz-und-Maus-Spiel geraten zu sein, das ihr den Verstand zu rauben droht …

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Das Buch

Die Krankenschwester Terry Painter hat es nicht immer leicht: Ihr Wunsch nach einer Familie ging nie in Erfüllung, eine dauerhafte Liebe war ihr nicht beschieden, und seit dem Tod ihrer Mutter fühlt sie sich oft einsam. Deshalb fasst Terry den Entschluss, ihr kleines Gartenhäuschen zu vermieten, und von diesem Tag an scheint es, als wende sich ihr Schicksal endlich zum Guten: Denn die ebenso quirlige wie liebenswerte Alison, die bei ihr einzieht, bringt Terry die Wärme und Freundschaft entgegen, die sie so lange entbehren musste. Doch dann mehren sich plötzlich die Hinweise, dass Alison etwas vor ihr verbirgt – und Terry hat immer häufiger das beklemmende Gefühl, in ein infames Katz-und-Maus-Spiel geraten zu sein, das ihr den Verstand zu rauben droht … 

 Joy Fielding 

gehört zu den unumstrittenen Spitzenautorinnen Amerikas. Seit ihrem Psychothriller „Lauf, Jane, lauf“ waren alle ihre Bücher internationale Bestseller. Joy Fielding lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Toronto, Kanada, und in Palm Beach, Florida. Weitere Informationen unter www.joy-fielding.de

Mehr von Joy Fielding:

Die Schwester • Sag, dass du mich liebst • Das Herz des Bösen • Am seidenen Faden • Im Koma • Herzstoß • Das Verhängnis • Die Katze • Sag Mami Goodbye • Nur der Tod kann dich retten • Träume süß, mein Mädchen • Tanz, Püppchen, tanz • Schlaf nicht, wenn es dunkel wird • Nur wenn du mich liebst • Bevor der Abend kommt • Zähl nicht die Stunden • Flieh wenn du kannst • Ein mörderischer Sommer • Lebenslang ist nicht genug • Schau dich nicht um • Lauf, Jane, lauf! 

(alle auch als E-Book erhältlich)

Joy Fielding
SCHLAF NICHT, 
WENN ES DUNKEL 
WIRD
Roman
Deutsch von Kristian Lutze
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Whispers and Lies« bei Atria Books, New York
Copyright © der Originalausgabe 2002 by Joy Fielding, Inc.Copyright © der deutschsprachigen Erstausgabe 2004by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlagagentur: UNO WerbeagenturUmschlagmotiv: FinePic, MünchenISBN : 978-3-641-02810-7V003
www.goldmann-verlag.dewww.randomhouse.de
Inhaltsverzeichnis
 
Das Buch
Die Autorin
Widmung
 
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
 
Danksagung
Copyright
Für Shannon, meine Tochter, Helferin und Freundin
1
 
 
Sie sagte, ihr Name sei Alison Simms.
Die Worte plätscherten zaghaft, beinahe träge über ihre Lippen, so wie Honig von der Schneide eines Messers tropft. Ihre Stimme war leise, zögernd und ein wenig mädchenhaft, obwohl sie einen festen Händedruck hatte und mir direkt in die Augen sah. Das mochte ich. Ich mochte sie, entschied ich beinahe spontan, auch wenn ich bereitwillig zugebe, dass es mit meiner Menschenkenntnis nicht besonders weit her ist. Trotzdem war mein erster Eindruck von dieser erstaunlich großen jungen Frau mit den schulterlangen rotblonden Locken, die im Wohnzimmer meines kleinen Hauses vor mir stand und fest meine Hand drückte, positiv. Und der erste Eindruck ist ein bleibender Eindruck, wie meine Mutter immer zu sagen pflegte.
»Das ist ein wirklich schönes Haus«, sagte Alison eifrig nickend, als wollte sie ihrer eigenen Einschätzung zustimmen, während ihre Blicke bewundernd zwischen dem aufgepolsterten Sofa, den beiden zierlichen Stühlen im Queen-Anne-Stil, den Raffgardinen und dem gemusterten Teppich auf dem hellen Holzboden hin und her wanderten. »Ich liebe Rosa und Malve zusammen. Es ist meine Lieblingsfarbkombination.« Sie verzog den Mund zu einem ungeheuer breiten, leicht dümmlichen Lächeln, das ich sofort erwidern wollte. »Ich wollte immer in Rosa und Malve heiraten.«
Ich musste lachen. Als Bemerkung gegenüber jemandem, den man gerade erst kennen gelernt hatte, erschienen mir ihre Worte herrlich absurd. Sie lachte mit mir, und ich wies mit der Hand auf das Sofa. Sofort ließ sie sich tief in die Daunenkissen sinken, sodass ihr blaues Sommerkleid fast in einem Strudel aus pink- und malvenfarbenen Blumenmustern versank, und schlug ihre langen schlanken Beine übereinander, während sie ihren übrigen Körper kunstvoll um ihr Knie drapierte und sich zu mir vorbeugte. Ich hockte auf der Kante des gestreiften Stuhls direkt gegenüber und dachte, dass sie mich an einen hübschen rosa Flamingo erinnerte, einen echten, nicht eines dieser schrecklichen Plastikdinger, die in manchen Vorgärten herumstehen. »Sie sind sehr groß«, bemerkte ich wenig originell und dachte, dass sie sich das wahrscheinlich schon ihr Leben lang anhörte.
»Ein Meter achtundsiebzig«, bestätigte sie höflich. »Aber ich sehe größer aus.«
»Ja, da haben Sie Recht«, stimmte ich ihr zu, obwohl mir mit meinen knapp eins dreiundsechzig Meter jeder groß vorkommt. »Darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind?«
»Achtundzwanzig.« Eine feine Röte huschte über ihre Wangen. »Aber ich sehe jünger aus.«
»Ja, da haben Sie Recht«, wiederholte ich mich. »Sie haben Glück. Ich habe immer so alt ausgesehen, wie ich bin.«
»Wie alt sind Sie denn? Das heißt, wenn Sie nichts dagegen haben …«
»Was schätzen Sie denn?«
Die unvermittelte Eindringlichkeit ihres Blickes erwischte mich unvorbereitet. Sie musterte mich, als wäre ich ein exotisches Exemplar in einem Labor, eingezwängt zwischen zwei kleinen Glasplättchen unter einem unsichtbaren Mikroskop. Der Blick aus ihren klaren grünen Augen bohrte sich tief in meine müden braunen Augen, bevor er über mein Gesicht wanderte, jede verräterische Falte registrierte und die Spuren meiner Jahre abwog. Ich mache mir keine großen Illusionen. Ich sah mich genauso, wie sie mich sehen musste: eine leidlich attraktive Frau mit ausgeprägten Wangenknochen, großen Brüsten, dazu noch nachlässig frisiert.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Vierzig?«
»Genau.« Ich lachte. »Hab ich’s Ihnen nicht gesagt?«
Wir verstummten und erstarrten in der warmen Nachmittagssonne, die uns wie ein Scheinwerfer anstrahlte und in deren Licht kleine Staubkörnchen tanzten wie hunderte winziger Insekten. Sie lächelte, faltete ihre Hände im Schoß, wo die Finger der einen Hand achtlos mit denen der anderen spielten. Sie trug keinerlei Ringe und keinen Nagellack, aber ihre Nägel waren lang und gepflegt. Sie war sichtlich nervös. Sie wollte, dass ich sie mochte.
»Hatten Sie Schwierigkeiten herzufinden?«, fragte ich.
»Nein. Ihre Wegbeschreibung war klasse: die Atlanctic Avenue in östlicher Richtung, dann auf der 7th Avenue nach Süden, vorbei an der weißen Kirche, zwischen der 2nd und 3rd Street. Überhaupt kein Problem. Bis auf den Verkehr. Ich wusste gar nicht, dass Delray so belebt ist.«
»Nun, wir haben November«, erinnerte ich sie. »Langsam treffen die Zugvögel ein.«
»Die Zugvögel?«
»Die Touristen«, erklärte ich. »Sie sind offensichtlich noch nicht lange in Florida.«
Sie blickte auf ihre Sandalen. »Ich mag den Läufer. Ganz schön mutig von Ihnen, einen weißen Teppich ins Wohnzimmer zu legen.«
»Eigentlich nicht. Ich habe nur selten Besuch.«
»Ich nehme an, Sie sind beruflich ziemlich eingespannt. Ich dachte immer, dass es toll sein muss, als Krankenschwester zu arbeiten«, meinte sie. »Es ist bestimmt eine sehr dankbare Aufgabe.«
Ich lachte. »Dankbar würde mir nicht unbedingt als erstes Wort einfallen.«
»Welches Wort würde Ihnen denn einfallen?«
Sie wirkte ernsthaft neugierig, was ich sowohl erfrischend als auch liebenswert fand. Schon sehr, sehr lange hatte niemand mehr echtes Interesse an mir gezeigt, und so fühlte ich mich geschmeichelt. Gleichzeitig hatte die Frage etwas so rührend Naives, dass ich sie in den Arm nehmen wollte wie eine Mutter ihr Kind, ihr sagen wollte, dass alles in Ordnung war, dass sie sich nicht so anstrengen musste, weil das kleine Häuschen in meinem Garten schon ihres war. Die Entscheidung war in dem Moment gefallen, als sie über meine Schwelle trat.
»Mit welchem Wort ich den Beruf einer Krankenschwester beschreiben würde?«, wiederholte ich und grübelte über verschiedenen Möglichkeiten. »Strapaziös«, sagte ich schließlich. »Aufreibend. Aufreizend.«
»Gute Wörter.«
Ich lachte erneut, wie ich es in der kurzen Zeit, seit sie sich in meinem Haus aufhielt, anscheinend ziemlich häufig getan hatte. Ich weiß noch, dass ich dachte, es wäre nett, jemanden um mich zu haben, der mich zum Lachen bringt. »Was machen Sie beruflich?«, fragte ich.
Alison stand auf, ging zum Fenster und starrte auf die breite, von diversen Arten Schatten spendender Palmen gesäumte Straße. Bettye McCoy, dritte Frau von Richard McCoy und gut dreißig Jahre jünger als ihr Gatte, was im Süden Floridas keine Seltenheit ist, wurde von ihren beiden kleinen weißen Hunden über den Bürgersteig gezerrt. Sie trug von Kopf bis Fuß Armani in Creme und hielt in der freien Hand eine kleine weiße Plastiktüte mit Hundekacke, eine modische Ironie, die der dritten Mrs. McCoy offenbar komplett entging. »Oh, schauen Sie doch mal? Sind die nicht einfach süß? Was sind das, Pudel?«
»Bichons«, sagte ich und trat neben sie. Ich reichte ihr knapp bis ans Kinn. »Die dummen Püppchen der Hundewelt.«
Nun war es an Alison zu lachen, und der Klang erfüllte den Raum und tanzte zwischen uns wie die Staubkörnchen in der Sonne. »Aber niedlich sind sie schon. Finden Sie nicht?«
»Niedlich würde mir nicht unbedingt als Erstes einfallen«, erwiderte ich als bewusstes Echo meiner vorherigen Bemerkung.
Sie lächelte verschwörerisch. »Was würden Ihnen denn einfallen?«
»Lassen Sie mich überlegen.« Ich fand zunehmend Gefallen an dem Spiel. »Jaulig. Nervig. Destruktiv.«
»Destruktiv? Wie kann etwas so Süßes zerstörerisch sein?«
»Vor ein paar Monaten war einer ihrer Hunde in meinem Garten und hat meinen Hibiskus ausgegraben. Glauben Sie mir, das war weder süß noch niedlich.« Ich trat vom Fenster zurück. Dabei fiel mein Blick auf die Silhouette eines Mannes, der sich inmitten der zahlreichen Schatten auf der gegenüberliegenden Straßenecke verbarg. »Wartet jemand auf Sie?«
»Auf mich? Nein. Warum?«
Ich tastete mich vorsichtig wieder nach vorn, doch wenn der Mann je existiert hatte, war er samt seinem Schatten verschwunden. Ich blickte die Straße hinunter, doch es war niemand zu sehen.
»Ich dachte, ich hätte jemanden unter dem Baum da drüben stehen sehen«, sagte ich und wies mit dem Kinn in die Richtung.
»Ich hab nichts gesehen.«
»Nun, es war wahrscheinlich auch nichts. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Liebend gern.« Sie folgte mir durch den kleinen Essbereich, der im rechten Winkel an das Wohnzimmer angrenzte, in die vorwiegend in weiß gehaltene Küche auf der Rückseite des Hauses. »Oh, schau sich das einer an«, rief sie offensichtlich entzückt und steuerte mit ausgestreckten Armen und eifrig flatternden Fingern auf die Regale zu, die die Wand neben der kleinen Frühstücksecke zierten. »Was ist denn das? Woher haben Sie die?«
Mein Blick streifte die fünfundsechzig Porzellanköpfe, die von den fünf Holzregalen auf uns herabblickten. »Sie heißen ›Kopfvasen‹«, erklärte ich. »Meine Mutter hat sie gesammelt. Sie stammen aus den Fünfzigerjahren, hauptsächlich aus Japan. Sie haben Löcher im Kopf, für Blumen vermutlich, obwohl nicht viele hineinpassen. Als sie auf den Markt kamen, waren sie höchstens ein paar Dollar wert.«
»Und jetzt?«
»Angeblich sind sie mittlerweile ziemlich wertvoll. Man bezeichnet sie, glaube ich, als Sammlerstücke.«
»Und wie würden Sie sie bezeichnen?« Ein listiges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, während sie gespannt auf meine Antwort wartete.
Diesmal musste ich nicht lange überlegen. »Nippes«, sagte ich knapp.
»Ich finde sie toll«, protestierte sie. »Schauen Sie sich doch mal die Wimpern von dieser hier an. Oh, und die Ohrringe von dieser. Und die winzige Perlenkette. Oh, und sehen Sie mal die hier. Hat sie nicht einfach einen wunderbaren Gesichtsausdruck?« Behutsam nahm sie einen der Köpfe in die Hand. Die Porzellanfigur war etwa fünfzehn Zentimeter groß mit aufgemalten gewölbten Augenbrauen, geschürzten roten Lippen, hellbraunen Locken, die unter einem pinkweißen Turban hervorquollen, und einer rosafarbenen Rose am Hals. »Sie ist nicht so kunstvoll gestaltet wie einige der anderen, aber sie hat einen so überlegenen Ausdruck, wie eine hochnäsige Matrone der besseren Gesellschaft, die auf alle herabblickt.«
»Sie sieht aus wie meine Mutter«, sagte ich.
Um ein Haar wäre ihr der Porzellankopf aus den Händen geglitten. »O mein Gott, das tut mir Leid.« Rasch stellte sie die Vase wieder auf ihren Platz zwischen zwei rehäugige Mädchen mit Haarbändern. »Ich wollte nicht …«
Ich lachte. »Interessant, dass Sie die ausgewählt haben. Es war ihr Lieblingsstück. Wie nehmen Sie Ihren Kaffee?«
»Mit Milch und drei Stücken Zucker?«, erwiderte sie, als ob sie sich nicht ganz sicher wäre, während ihre Augen weiter an den Porzellanköpfen hingen.
Ich goss uns beiden einen Becher Kaffee ein, den ich aufgesetzt hatte, als sie aus dem Krankenhaus angerufen und erklärt hatte, dass sie meine Anzeige am Schwarzen Brett neben einem der Schwesternzimmer entdeckt hätte und am liebsten sofort vorbeikommen würde.
»Sammelt Ihre Mutter immer noch?«
»Sie ist vor fünf Jahren gestorben.«
»Das tut mir sehr Leid.«
»Mir auch. Ich vermisse sie. Deshalb habe ich es bisher auch nicht übers Herz gebracht, eine ihrer Freundinnen zu verkaufen. Wie wär’s mit einem Stück Kürbis-Preiselbeer-Kuchen?«, wechselte ich das Thema, um nicht trübsinnig zu werden. »Ich habe ihn erst heute Morgen gebacken.«
»Sie können backen? Jetzt bin ich echt beeindruckt. In der Küche bin ich ein hoffnungsloser Fall.«
»Hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, wie man kocht?«
»Unser Verhältnis war nicht gerade das beste.« Alison lächelte, doch es wirkte im Gegensatz zu ihrem sonstigen Lächeln eher gezwungen. »Egal, ich nehme sehr gern ein Stück Kuchen. Preiselbeeren zählen zu meinen absoluten Lieblingssachen auf dieser Welt.«
Ich musste wieder lachen. »Ich glaube nicht, dass ich schon einmal einen Menschen getroffen habe, der so leidenschaftliche Gefühle für Preiselbeeren hegt. Könnten Sie mir ein Messer anreichen?« Ich wies auf den Messerblock, der am anderen Ende der weiß gekachelten Arbeitsplatte stand. Alison zog das erste Messer heraus, eine dreißig Zentimeter lange Monstrosität mit einer fünf Zentimeter breiten, spitz zulaufenden Schneide. »Wow«, sagte ich. »Das ist ein bisschen zu mörderisch, finden Sie nicht auch?«
Sie wendete das Messer langsam in der Hand und betrachtete ihr Spiegelbild in der scharfen Klinge, während sie behutsam und für einen Moment gedankenverloren mit einem Finger über die Schneide strich. Dann bemerkte sie meinen Blick, steckte das Messer eilig zurück, zog eines der kleineren heraus und beobachtete aufmerksam, wie es mühelos durch den großen Kuchen schnitt. Jetzt war es an mir zu staunen, wie sie ihr Stück Kuchen herunterschlang, während sie mir Komplimente über Konsistenz, Leichtigkeit und Geschmack desselben machte. Sie aß hastig und konzentrierte sich wie ein Kind vollständig auf ihren Teller.
Vielleicht hätte ich argwöhnischer sein sollen oder doch zumindest vorsichtiger, vor allem nach der Erfahrung mit meiner letzten Mieterin. Doch wahrscheinlich waren es genau jene Erfahrungen, die mich so empfänglich für Alisons mädchenhaften Charme machten. Ich wollte wirklich glauben, dass sie genau so war, wie sie sich präsentierte: eine ein wenig naive, liebenswerte, süße junge Frau.
Süß, denke ich heute.
Süß würde mir nicht unbedingt als Erstes einfallen.
Wie kann etwas so Süßes zerstörerisch sein, hatte sie gefragt.
Warum habe ich nicht zugehört?
»Sie hatten offensichtlich nie Probleme mit Ihrem Gewicht«, bemerkte ich, als sie die auf ihrem Teller verstreuten Krümel aufsammelte und ihren Finger ableckte.
»Ich habe höchsten Probleme, die Pfunde draufzubehalten«, sagte sie. »Als ich klein war, bin ich deswegen immer gehänselt worden. Die anderen Kinder haben Sachen gesagt wie ›Lange, lange, Bohnenstange‹. Und ich habe als letztes Mädchen in meiner Klasse Busen bekommen, wenn auch nicht besonders viel, und dafür habe ich mir jede Menge Spott angehört. Jetzt will plötzlich jeder dünn sein, aber ich muss mir immer noch alle möglichen Sprüche anhören. Man wirft mir vor, magersüchtig zu sein. Sie sollten mal hören, was die Leute so alles sagen.«
»Die Leute können sehr unsensibel sein«, stimmte ich ihr zu. »Wo sind Sie zum College gegangen?«
»Ach, nirgendwo speziell. Ich war keine gute Studentin. Ich habe nach dem ersten Jahr abgebrochen.«
»Und was haben Sie stattdessen gemacht?«
»Mal überlegen. Eine Zeit lang habe ich in einer Bank gearbeitet, dann habe ich Herrensocken verkauft, in einem Restaurant gekellnert und in einem Frisörsalon am Empfangstresen gearbeitet. Und so weiter. Ich hatte nie Probleme, einen Job zu finden. Meinen Sie, ich könnte noch eine Tasse Kaffee haben?«
Ich goss ihr einen zweiten Becher ein und gab Milch und drei gehäufte Teelöffel Zucker hinzu. »Möchten Sie das Gartenhaus gerne sehen?«
Sie war sofort auf den Beinen, kippte ihren Kaffee in einem Schluck herunter und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Ich kann es kaum erwarten. Ich weiß einfach, dass es wunderschön sein wird.« Sie folgte mir zur Hintertür wie ein eifriger Welpe. »Auf Ihrem Aushang stand sechshundert pro Monat, richtig?«
»Ist das ein Problem? Ich hätte außerdem gern eine Kaution von zwei Monatsmieten.«
»Kein Problem. Ich habe vor, mir einen Job zu suchen, sobald ich eingezogen bin, und selbst wenn ich nicht sofort etwas finde, hat mir meine Großmutter ein bisschen Geld vererbt, sodass ich im Grunde ganz gut dastehe. Finanziell gesehen«, fügte sie leise hinzu, und ihre rotblonden Locken fielen sanft um ihr langes, ovales Gesicht.
Solche Haare hatte ich früher auch mal, dachte ich und strich ein paar rotbraune Strähnen hinters Ohr. »Meine letzte Mieterin war mit der Miete mehrere Monate im Rückstand, als sie verschwunden ist, deshalb muss ich …«
»Oh, das verstehe ich absolut.«
Wir gingen über das kleine Rasenstück, das das winzige Häuschen im Garten vom Haupthaus trennt. Ich kramte in der Tasche meiner Jeans nach dem Schlüssel, doch die Intensität ihres Blickes in meinem Rücken machte mich ungewohnt unbeholfen, sodass mir der Schlüssel aus der Hand glitt und ins Gras fiel. Sofort bückte Alison sich, um ihn aufzuheben, und als sie ihn mir zurückgab, streiften ihre Finger meine Hand. Ich öffnete die Tür zu dem Häuschen und trat einen Schritt zurück, um sie hineinzulassen.
Ein langer Seufzer entwich ihren vollen Lippen. »Es ist noch schöner, als ich es mir vorgestellt habe. Es ist … zauberhaft.« Alison tänzelte, den Kopf nach hinten gelegt und die Arme ausgestreckt, in kleinen, anmutigen Kreisen durch den winzigen Raum, als könnte sie den Zauber so fassen und an sich ziehen. Sie weiß nicht, dass sie der Zauber ist, dachte ich, und mir wurde plötzlich bewusst, wie sehr ich wollte, dass sie das Gartenhaus mochte, wie sehr ich wollte, dass sie blieb. »Ich bin sehr froh, dass Sie dieselben Farben wie im Haupthaus genommen haben«, sagte sie und ließ sich wie ein Schmetterling erst kurz auf dem kleinen zweisitzigen Sofa, dann auf dem Sessel und zuletzt auf dem Bugholz-Schaukelstuhl in der Ecke nieder. Sie bewunderte den Teppich – ein Webmuster aus malvenfarbenen und weißen Blumen auf einem rosafarbenen Hintergrund – und die gerahmten Drucke an der Wand – eine Gruppe Tänzerinnen, die sich hinter der Bühne zurechtmachen, von Degas, Monets Kathedrale im Sonnenuntergang und Mary Cassatts liebevolles Porträt einer Mutter mit Kind.
»Die anderen Zimmer liegen nach hinten hinaus.« Ich öffnete die Doppeltür zu Kochnische, Bad und Schlafzimmer, die Platz sparend auf der Rückseite des Hauses untergebracht waren.
»Es ist perfekt. Es ist absolut perfekt.« Sie wippte auf dem Doppelbett und strich aufgeregt über die antike weiße Überdecke, bevor sie ihr Spiegelbild über der weißen Korbkommode entdeckte und sofort eine damenhaftere Haltung annahm. »Ich liebe alles. Genauso hätte ich es auch eingerichtet. Ganz genauso.«
»Früher habe ich selbst hier gewohnt«, erklärte ich, ohne zu wissen warum. Meiner vorherigen Mieterin hatte ich nichts dergleichen anvertraut. »Meine Mutter hat im Haupthaus gewohnt und ich hier hinten.«
Ein schüchternes Lächeln umspielte nervös Alisons Mundwinkel. »Heißt das, wir sind uns einig?«
»Sie können einziehen, sobald Sie so weit sind.«
Sie sprang auf. »Ich kann sofort. Ich muss nur zurück ins Hotel fahren und meinen Koffer packen. Ich kann in einer Stunde wieder hier sein.«
Ich nickte, und mir wurde schlagartig bewusst, wie schnell die Dinge sich entwickelt hatten. Es gab noch so vieles, das ich nicht über sie wusste, noch so viele Dinge zu besprechen. »Wir sollten wahrscheinlich über ein paar Grundregeln sprechen …«, sagte ich ausweichend.
»Grundregeln?«
»Keine Zigaretten, keine lauten Partys, keine Mitbewohner.«
»Kein Problem«, sagte sie eifrig. »Ich rauche nicht, ich feiere keine Partys, und ich kenne niemanden.«
Ich ließ den Schlüssel in ihre ausgestreckte Hand fallen und beobachtete, wie sich ihre Finger fest darum schlossen.
»Vielen Dank.« Den Schlüssel noch immer umklammert, griff sie in ihre Handtasche, zählte zwölf glatte, nagelneue 100-Dollar-Scheine ab und gab sie mir. »Heute Morgen frisch gedruckt«, sagte sie mit einem verlegenen Lächeln.
Ich versuchte, mir meinen Schock über so viel Bargeld nicht anmerken zu lassen. »Möchten Sie zum Abendessen rüberkommen, wenn Sie sich eingerichtet haben?«, hörte ich mich fragen, eine Einladung, die mich wahrscheinlich mehr überraschte als sie.
»Das würde ich sehr gern.«
2
 
 
Um Punkt sieben Uhr erschien Alison zum Abendessen, in einer schwarzen Hose, einem ärmellosen schwarzen Pulli, die Haare theatralisch zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten, der sie aussehen ließ wie ein in die Länge gezogenes Ausrufezeichen. In einer Hand hielt sie einen Strauß frischer Blumen, in der anderen eine Flasche Rotwein. »Ein italienischer Amarone von 1997«, verkündete sie und verdrehte die Augen. »Nicht, dass ich irgendwas von Wein verstehen würde, aber der Mann in dem Spirituosen-Laden hat mir versichert, dass es ein sehr guter Jahrgang ist.« Sie lächelte, sodass ihre mit ein wenig Gloss betonten Lippen die komplette untere Gesichtshälfte dominierten und in ihrem geöffneten Mund zwei Reihen perfekter Zähne strahlten. Sofort verzog ich meine Lippen ebenfalls zu einem ehrlichen Lächeln, ohne den leichten Überbiss zu entblößen, den auch jahrelange kieferorthopädische Behandlung nicht ganz hatte korrigieren können. Meine Mutter hatte immer behauptet, dass der Überbiss die Folge einer Angewohntheit meiner Kindheit wäre, beharrlich am dritten und vierten Finger meiner linken Hand zu lutschen und mir gleichzeitig mit den ramponierten Resten meiner Lieblingsbabydecke über die Nase zu reiben. Doch weil meine Mutter praktisch genau den gleichen Überbiss hatte, neige ich zu der Ansicht, dass dieser ästhetische Mangel eher den Genen als meinem Trotz zuzuschreiben ist.
Alison folgte mir durchs Wohn- und Esszimmer in die Küche, wo ich die Blumen auspackte und eine hohe Kristallvase mit Wasser füllte. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Ihre eifrigen Blicke huschten in alle Ecken des Raumes, als wollte sie sich jede Einzelheit merken.
»Nehmen Sie sich einen Stuhl, und leisten Sie mir einfach Gesellschaft.« Ich stellte die Blumen in die Vase mit dem lauwarmen Wasser und schnupperte an den kleinen pinkfarbenen Rosen, den zierlichen weißen Gänseblümchen und den dazwischen arrangierten violetten Wildblumen. »Sie sind wunderschön. Vielen herzlichen Dank.«
»Gern geschehen. Das Essen riecht herrlich.«
»Es gibt nichts Besonderes«, erwiderte ich hastig. »Bloß Hühnchen. Sie mögen doch Hühnchen, oder?«
»Ich mag alles. Wenn Sie mir etwas hinstellen, ist es in Sekundenschnelle verschwunden. Ich bin die schnellste Esserin der Welt.«
Ich musste lächeln, als ich daran dachte, wie sie das Stück Preiselbeer-Kürbis-Kuchen verputzt hatte, den ich ihr am Nachmittag serviert hatte. War es erst ein paar Stunden her, dass wir uns getroffen hatten? Aus irgendeinem Grund kam es mir so vor, als würden wir uns bereits ein Leben lang kennen, als wären wir trotz des Altersunterschieds schon ewig befreundet. Ich musste mich daran erinnern, wie wenig ich eigentlich über sie wusste. »Also, erzählen Sie mir ein bisschen was von sich«, sagte ich beiläufig, während ich die Küchenschubladen nach einem Korkenzieher durchsuchte.
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen.« Sie ließ sich in einen der Korbstühle um den runden Glastisch in der Küche sinken, blieb jedoch aufrecht, beinahe wachsam sitzen, als hätte sie Angst, es sich zu bequem zu machen.
»Woher kommen Sie?« Ich wollte sie nicht aushorchen. Ich war bloß neugierig, wie man auf eine neue Bekanntschaft eben neugierig ist. Doch ich spürte auch eine gewisse Zurückhaltung ihrerseits, über sich selbst zu sprechen. Vielleicht habe ich aber auch gar nichts gespürt. Vielleicht war der Smalltalk in der Küche an jenem Abend vor dem Essen nicht mehr und nicht weniger als das: zwei Menschen, die sich langsam und behutsam kennen lernen, normale Fragen stellen, die Antworten nicht zu gründlich analysieren und ohne Plan und Hintergedanken von einem Thema zum nächsten springen.
Zumindest ich hatte keine Hintergedanken.
»Aus Chicago«, antwortete Alison.
»Wirklich? Ich liebe Chicago. Woher denn genau?«
»Aus einer Randgemeinde«, antwortete sie ausweichend. »Und Sie? Sie sind in Florida geboren?«
Ich schüttelte den Kopf. »Wir sind aus Baltimore hergezogen, als ich fünfzehn war. Mein Vater hatte beruflich mit Wasserschutz zu tun und dachte, Florida mit all seinen Wirbelstürmen und dergleichen wäre der perfekte Ort dafür.«
Alison riss beunruhigt die Augen auf. »Keine Sorge. Die Wirbelsturm-Saison ist schon vorbei.« Ich lachte und fand ganz hinten in der Besteckschublade schließlich auch den Korkenzieher. »Das ist so eine Sache mit Florida«, sinnierte ich laut. »An der Oberfläche ist alles so schön und perfekt. Das reinste Paradies. Aber wenn man genauer hinsieht, erkennt man den tödlichen Alligator, der unter der glatten Wasseroberfläche lauert, die giftige Schlange, die sich durchs smaragdgrüne Gras schlängelt, und man hört in den Blättern den fernen Wirbelsturm flüstern.«
Alison lächelte mit einer Wärme, die den ganzen Raum füllte wie Dampf aus einem kochenden Kessel. »Ich könnte Ihnen den ganzen Abend zuhören.«
Ich tat ihr Kompliment mit einer Handbewegung ab, als wollte ich mir frische Luft zufächern. Wie ich mich kenne, bin ich wahrscheinlich rot geworden.
»Haben Sie schon einmal einen richtigen Hurrikan erlebt?« Alison beugte sich vor.
»Mehrere.« Ich versuchte die Flasche Amarone zu öffnen, ohne den Korken abzubrechen. Es war lange her, seit ich das letzte Mal eine Flasche Wein hatte öffnen müssen. Ich hatte selten Besuch und habe nie viel getrunken. Ein Glas Wein reicht, und in meinem Kopf dreht sich alles. »Der Hurrikan Andrew war natürlich der schlimmste. Das war ein echtes Spektakel. Wenn man so was von nahem erlebt, bekommt man wirklich Respekt vor Mutter Natur.«
»Wie würden Sie ihn beschreiben?«, fragte sie und nahm damit unser Spiel vom Nachmittag wieder auf.
»Erschreckend«, antwortete ich rasch. »Wild.« Ich machte eine Pause, drehte den Korkenzieher vorsichtig nach rechts und spürte, wie der Korken nachgab und langsam den Hals der dunkelgrünen Flasche hinaufglitt. Ich gebe zu, dass mich ein beinahe kindlicher Stolz überkam, als ich den besiegten Korken in die Luft reckte. »Grandios.«
»Ich hole Gläser.« Alison war schon auf den Beinen und im Esszimmer, bevor ich ihr sagen konnte, wo die Gläser standen.
»Sie sind im Schrank«, rief ich ihr unnötigerweise nach, weil es beinahe den Anschein hatte, als wüsste sie, wo sie nachsehen musste.
»Gefunden.« Sie kehrte mit zwei langstieligen Kristallpokalen zurück, die sie mir nacheinander hinhielt. Ich goss die beiden Gläser ein Viertel voll. »Sie sind wunderschön. Alles, was Sie haben, ist wunderschön.«
»Prost«, sagte ich, stieß vorsichtig mit ihr an und bewunderte das dunkle Rot des Weines.
»Worauf trinken wir?«
»Auf gute Gesundheit«, antwortete die Krankenschwester in mir sofort.
»Und auf gute Freunde«, fügte sie schüchtern hinzu.
»Auf neue Freunde«, verbesserte ich sie und führte mein Glas zum Mund. Das satte Aroma stieg mir zu Kopf, noch bevor ich einen einzigen Tropfen probiert hatte.
»Auf neue Anfänge«, flüsterte Alison und schien mit ihrem Gesicht beinahe in dem Glas zu versinken, als sie einen langen, zögerlichen Schluck nahm. »Hm, das ist superlecker. Finden Sie nicht auch?«
Ich ging im Kopf rasch die Adjektive durch, mit den Experten für gewöhnlich edle Weine beschreiben – vollmundig, fruchtig, sanft, gelegentlich sogar temperamentvoll. Aber nie superlecker. Aber was wissen die schon, dachte ich und schmeckte den Wein im Mund ab, wie ich es bei Männern in vornehmen Restaurants beobachtet hatte, bis sein Aroma auf meiner Zunge prickelte. »Superlecker ist das perfekte Wort«, stimmte ich zu, nachdem ich den Wein hinuntergeschluckt hatte. »Absolut superlecker.«
Wieder verwandelte dieses Lächeln ihr Gesicht, verschluckte ihre Wangen und ihre Nase, sodass es aussah, als würden ihre Augen selbst lächeln. Sie trank einen großen Schluck und dann noch einen. Ich folgte ihrem Beispiel, und schon bald mussten wir nachschenken. Diesmal goss ich die Gläser beinahe halb voll.
»Und was hat Sie von Chicago nach Delray geführt?«, fragte ich.
»Ich habe mich nach einer Veränderung gesehnt.« Vielleicht hätte sie es dabei belassen, wenn sie nicht die offenkundige Frage in meinem Gesicht gesehen hätte. »Ich weiß nicht genau.« Sie starrte abwesend auf die Reihe der Porzellankopfvasen auf dem Regal. »Vermutlich hatte ich einfach keine große Lust, einen weiteren Winter in Chicago zu erleben, und eine Freundin von mir ist vor ein paar Jahren nach Delray gezogen. Ich dachte, ich komme einfach her und finde heraus, wo sie wohnt.«
»Und haben Sie das getan?«
»Habe ich was getan?«
»Herausgefunden, wo sie wohnt.«
Alison wirkte verwirrt, als wäre sie sich nicht ganz sicher, wie die richtige Antwort lauten musste.
Das ist das Problem mit Lügen.
Eine gute Lügnerin denkt immer einen Schritt voraus. Sie ahnt stets, was kommen wird, und beantwortet eine Frage schon mit der nächsten im Ohr. Sie ist ständig wachsam und hat stets eine flüssige Antwort zur Hand.
Andererseits braucht eine schlechte Lügnerin auch nur ein leichtes Opfer.
»Ich habe versucht, sie zu finden«, sagte Alison nach einer Pause, die vielleicht einen Tick zu lang gedauert hatte. »Deshalb war ich ja im Krankenhaus, wo ich Ihre Anzeige gesehen habe.« Die Worte flossen jetzt wieder glatter. »Sie hatte mir geschrieben, dass sie in einem Privatkrankenhaus namens Mission Care in Delray arbeitet, also habe ich mir gedacht, ich könnte sie überraschen, vielleicht zum Mittagessen einladen und horchen, ob sie zufällig eine Mitbewohnerin sucht. Aber in der Personalabteilung hat man mir gesagt, dass sie schon lange nicht mehr dort arbeitet.« Alison zuckte die Achseln, und ihre anmutig geformten Schultern hoben und senkten sich. »Zum Glück habe ich Ihren Aushang entdeckt.«
»Wie heißt Ihre Freundin denn? Wenn Sie Krankenschwester ist, kann ich vielleicht herausbekommen, wohin sie gegangen ist.«
»Sie ist keine Krankenschwester«, erwiderte Alison rasch. »Sie war Sekretärin oder so was.«
»Wie heißt sie denn?«, wiederholte ich. »Ich kann mich umhören, wenn ich morgen zur Arbeit gehe. Vielleicht weiß irgendjemand, was aus ihr geworden ist.«
»Das ist nicht nötig.« Alison strich abwesend mit einem Finger über den Rand ihres Weinglases, das ein vage schnurrendes Geräusch machte, als ob es auf die sanften Zärtlichkeiten einer Geliebten reagierte. »So gute Freundinnen waren wir auch wieder nicht.«
»Und trotzdem haben Sie Ihr Zuhause verlassen und sind quer durchs Land gereist …«
Alison zuckte mit den Schultern. »Ihr Name ist Rita Bishop. Kennen Sie sie?«
»Kommt mir nicht bekannt vor.«
Sie atmete tief ein, und ihre Schultern entkrampften sich. »Ich mochte den Namen Rita nie besonders. Sie?«
»Es ist nicht gerade einer meiner Lieblingsnamen«, räumte ich ein und ließ es zu, sanft vom Thema abgebracht zu werden.
»Was sind denn Ihre Lieblingsnamen?«
»Ich glaube, darüber habe ich noch nie richtig nachgedacht.«
»Ich mag Kelly«, sagte Alison. »Und Samantha. Wenn ich je eine Tochter habe, werde ich sie, glaube ich, so nennen. Und wenn es ein Junge wird, Joseph. Oder vielleicht Max.«
»Sie haben ja schon alles perfekt geplant.«
Sie starrte nachdenklich auf ihr Glas, bevor sie einen weiteren Schluck trank. »Haben Sie Kinder?« Die Frage hallte vom Glasrand wider und drang kaum nach außen.
»Nein. Ich fürchte, ich war nie verheiratet.«
»Man muss doch nicht heiraten, um Kinder zu haben.«
»Heute vielleicht nicht mehr«, stimmte ich ihr zu. »Aber glauben Sie mir, in meiner Jugend in Baltimore, gab es so was nicht.« Ich öffnete die Ofentür, und warmer, wohlriechender Dampf schlug mir entgegen. »Ich hoffe jedenfalls, dass Sie Hunger haben, weil das Hühnchen jetzt knusprig und fertig ist.«
»Also los«, sagte Alison mit einem breiten Lächeln.
 
Alison hatte Recht. Sie war die schnellste Esserin, die ich je gesehen hatte. Binnen Minuten war alles auf ihrem Teller – Brathähnchen, Kartoffelbrei, pürierte Möhren und mehrere Stangen Spargel – verschwunden. Ich hatte kaum meine erste Gabel zum Mund geführt, als sie sich bereits einen Nachschlag nahm.
»Das ist absolut köstlich. Sie sind die beste Köchin überhaupt«, verkündete sie mit vollem Mund.
»Es freut mich, dass Ihnen alles schmeckt.«
»Schade, dass ich nicht noch eine Flasche Wein mitgebracht habe.« Alison runzelte die Stirn, was sie äußerst selten tat, und blickte vorbei an den weißen Kerzen in der Mitte des Tisches zu der mittlerweile leeren Flasche Amarone.
»Gut, dass Sie das nicht getan haben. Morgen früh fängt mein Dienst um sechs Uhr an, und man erwartet von mir, dass ich aufrecht stehe.«
»Was hat Sie dazu bewogen, Krankenschwester zu werden?« Alison trank die letzten Tropfen Wein, die noch am Rand ihres Glases hingen.
»Mein Vater und eine Lieblingstante sind an Krebs gestorben, beide bevor sie fünfzig waren«, erklärte ich und versuchte, auf dem Boden meines Glases nicht ihre ausgezehrten Gesichter zu sehen. »Ich habe mich die ganze Zeit so hilflos gefühlt, und das gefiel mir nicht, also beschloss ich, in den medizinischen Bereich zu gehen. Meine Mutter hatte nicht das Geld, mich Medizin studieren zu lassen, und meine Noten waren nicht gut genug für ein Vollstipendium, deshalb kam eine Karriere als Ärztin nicht in Frage. Ich entschied mich für das Zweitbeste. Und ich liebe es.«
»Obwohl es strapaziös, aufreibend und aufreizend ist?«, neckte Alison mich lächelnd mit den Worten, die ich zuvor selbst benutzt hatte.
»Trotzdem«, wiederholte ich. »Und als Krankenschwester konnte ich meine Mutter nach ihrem Schlaganfall auch zu Hause pflegen, sodass sie in ihren eigenen vier Wänden und nicht in einem sterilen Krankenhausbett sterben konnte.«
»Haben Sie deshalb nie geheiratet?«, fragte Alison. »Weil Sie zu sehr damit beschäftigt waren, sich um Ihre Mutter zu kümmern?«
»Nein, daran trägt sie nun wirklich keine Schuld, obwohl das natürlich einfach wäre«, erwiderte ich lachend. »Ich glaube, ich bin einfach davon ausgegangen, dass ich noch endlos viel Zeit hätte, dass ich irgendwann jemanden treffen, mich verlieben, heiraten, ein paar hübsche Kinder kriegen und bis an mein Lebensende glücklich sein würde. Die absolute Standardfantasie. Aber so hat es wohl nicht funktioniert.«
»Gab es nie jemand ganz Besonderes?«
»Nicht besonders genug, nehme ich an.«
»Nun, es ist nie zu spät. Man kann nie wissen …«
»Ich bin vierzig«, erinnerte ich sie. »Ich mache mir keine Illusionen. Und was ist mit Ihnen? Niemand Besonderes in Chicago, der darauf wartet, dass Sie nach Hause kommen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht«, sagte sie, ohne freiwillig mehr preiszugeben.
»Und wie finden es Ihre Eltern, dass Sie so weit weggezogen sind?«
Alison hielt mit dem Essen inne und legte ihre Gabel auf den Teller. »Das Geschirr ist wirklich schön. Ich mag das Muster. Es ist hübsch, ohne sich mit dem Essen zu beißen, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Das wusste ich seltsamerweise wirklich. »Ihre Eltern wissen nicht, wo Sie sind, oder?«, fragte ich zögernd, weil ich keine unsichtbaren Grenzen überschreiten, gleichzeitig aber mehr wissen wollte.
»Ich rufe sie an, wenn ich einen Job gefunden habe«, bestätigte sie meinen Verdacht.
»Machen sie sich denn keine Sorgen?«
»Das bezweifle ich.« Sie schwieg einen Moment und schwang ihren Zopf von einer Schulter auf die andere. »Wie Sie sich vermutlich mittlerweile denken können, steht es um unser Verhältnis nicht gerade zum Besten.« Sie zögerte erneut, und ihre Blicke zuckten hin und her, als würde sie einen unsichtbaren Text ablesen. »Ich hatte leider einen älteren Bruder, der absolut perfekt war. In der High School Star-Stürmer des Basketball-Teams, im College Schwimm-Champion, Abschluss summa cum laude. Und auf der anderen Seite ich, ein großes, schlaksiges Mädchen, das ständig über seine großen, tolpatschigen Füße gestolpert ist. Ich hätte nie ebenbürtig sein können, also habe ich irgendwann aufgehört, es zu versuchen, und mich in eine echte Rotzgöre verwandelt. Ich habe darauf bestanden, mein eigenes Ding durchzuziehen, felsenfest davon überzeugt, schon alles zu wissen. Ich nehme an, Sie kennen die Sorte.«
»Klingt wie ein typischer Teenager.«
Ihre großen grünen Augen strahlten vor Dankbarkeit. »Vielen Dank, aber ich glaube, typisch ist nicht unbedingt das Wort, das meinen Eltern als Erstes einfallen würde.«
»Und was würde ihnen einfallen?«
Ihr trauriges Grinsen weitete sich zu einem Lächeln, während sie auf der Suche nach passenden Adjektiven zur Decke blickte. »Unmöglich«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Unverbesserlich. Ein Problemkind«, fuhr sie lachend fort, die Worte zu einem verschleifend. »Sie haben mich ständig aus dem Haus geworfen. Und an meinem achtzehnten Geburtstag bin ich endgültig gegangen.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Ich habe geheiratet.«
»Sie haben mit achtzehn geheiratet?«
»Was soll ich sagen?«, meinte sie achselzuckend. »Die absolute Standardfantasie.«
Ich nickte verständnisvoll, griff nach dem Brotkorb und wischte dabei versehentlich meine Gabel vom Tisch, die, bevor sie auf den Boden fiel, erst noch einen dicken Soßenfleck auf meiner weißen Hose hinterließ. Sofort hob Alison die Gabel auf und rannte in die Küche, um Fleckenwasser zu holen, während ich mich mühsam aufrappelte und die Wirkung des Weins spürte.
Langsam und vorsichtig ging ich ins Wohnzimmer, während ich mich zu erinnern versuchte, wann mich ein paar Glas Wein zum letzten Mal so beschwipst hatten. Ich trat ans Fenster und lehnte meine Stirn an das kühle Glas.
In diesem Moment sah ich ihn.
Er stand auf der anderen Straßenseite, reglos wie die majestätische Königspalme, an der er lehnte, und auch wenn es zu dunkel war, um ihn zu erkennen, schloss ich aus seiner Haltung, dass er zu meinem Haus herüberstarrte. Ich blinzelte in die Dunkelheit und versuchte, das Licht der Laternen zu einem Scheinwerfer zu bündeln, mit dem ich ihm ins Gesicht leuchten konnte. Doch der Effekt blieb hinter meinen Erwartungen zurück, denn das Bild verschwamm beinahe vollständig vor meinen Augen. »Keine gute Idee«, murmelte ich und beschloss, ihn direkt anzusprechen, ihn zu fragen, was er dort in der Dunkelheit machte und warum er mein Haus anstarrte.
Ich taumelte zur Haustür und riss sie auf. »Hey, Sie da«, rief ich und wies anklagend mit dem Finger in die Dunkelheit.
Doch da war niemand.
Ich reckte den Hals, spähte in das undurchdringliche Dunkel, wand den Kopf von links nach rechts und folgte dem Straßenverlauf mit den Augen bis zur nächsten Straßenecke und zurück. Ich lauschte auf sich eilig entfernende Schritte, hörte jedoch nichts.
In der Zeit, die ich gebraucht hatte, vom Fenster an die Haustür zu eilen, war der Mann verschwunden. Wenn er überhaupt je dort gewesen war, dachte ich, und erinnerte mich an dasselbe irrige Gefühl vom Nachmittag.
»Was machen Sie?«, fragte Alison, die hinter mir auftauchte.
Ich spürte ihren Atem in meinem Nacken. »Ich brauchte ein bisschen frische Luft.«
»Alles okay mit Ihnen?«
»Ein bisschen zu okay. Haben Sie etwas in meinen Wein getan?«, fragte ich scherzhaft, als Alison die Haustür schloss und mich ins Wohnzimmer zurückführte, wo sie mich auf einem der Stühle im Queen-Anne-Stil Platz nehmen ließ und den Soßenfleck auf meiner Hose mit einem nassen Lappen abzutupfen begann, bis ich die Feuchtigkeit auf der Haut spürte.
Ich legte meine Hand kurz auf ihre, um anzudeuten, dass es nun gut sei, doch sie ließ ihre Hand auf meinem Oberschenkel liegen. »Der Fleck ist weg.«
Sofort war sie wieder auf den Beinen. »Tut mir Leid. Das ist mal wieder typisch für mich, alles immer in Extremen, anders funktioniere ich offenbar nicht. Tut mir wirklich Leid.«
»Warum entschuldigen Sie sich?«, fragte ich ehrlich neugierig. »Sie haben doch nichts falsch gemacht.«
»Nicht? Da bin ich aber erleichtert.« Sie lachte und ließ sich mit hochrotem Kopf auf den anderen Stuhl sinken.
»Was ist mit Ihrer Ehe passiert?«, fragte ich sanft und kämpfte gegen ein nagendes Unbehagen in meiner Magengrube an, ein Gefühl, das mich zweifelsohne davor warnen wollte, dass Alison Simms vielleicht nicht die junge, scheinbar unkomplizierte Frau war, der ich die Schlüssel zu dem Häuschen in meinem Garten überreicht hatte.
»Was meistens passiert, wenn man mit achtzehn heiratet«, sagte sie schlicht und senkte ihren Blick, ohne zu lächeln, bis er meinen traf. »Es hat nicht geklappt.«
»Das tut mir Leid.«
3
 
 
»Ich war fünfzehn, als ich meine Unschuld verloren habe«, sagte Alison und schenkte sich ein zweites Gläschen Baileys Irish Cream ein. Wir saßen an die Möbel gelehnt im Wohnzimmer auf dem Boden, die Beine achtlos gespreizt wie zwei vergessene Stoffpuppen. Alison hatte darauf bestanden, nach dem Essen aufzuräumen, von Hand zu spülen und abzutrocknen, bevor sie alles wieder an seinen ordnungsgemäßen Platz stellte, während ich am Küchentisch saß, ihr zuschaute, die Geschicklichkeit und Geschwindigkeit bewunderte, mit der sie zu Werke ging, und staunte, wie sie instinktiv zu wissen schien, wohin alles gehörte, beinahe so, als wäre sie schon einmal in dem Haus gewesen. Den Baileys hatte sie im Esszimmerschrank gefunden, als sie die Weingläser zurückstellte. Ich hatte vergessen, dass ich ihn überhaupt besaß.
Ich weiß nicht, warum wir statt auf dem Sofa auf dem Boden saßen. Wahrscheinlich hatte sich Alison einfach hingehockt, und ich war ihrem Beispiel gefolgt. Das Gleiche galt für den Baileys. Ich hatte bestimmt nicht die Absicht gehabt, noch mehr zu trinken, doch plötzlich hatte ich ein zierliches Likörglas in der Hand, Alison schenkte ein, ich trank, und das war’s. Ich hätte vermutlich Nein sagen können, doch in Wahrheit genoss ich den Abend viel zu sehr. Man darf nicht vergessen, dass ich meine Tage für gewöhnlich in Gesellschaft von Menschen verbrachte, die alt, krank oder sonst wie akut in Not waren. Alison war so jung, schwungvoll und lebendig. Sie erfüllte mich mit einem derart tiefen Wohlbehagen, dass alle möglichen nagenden Zweifel oder kleinmütigen Bedenken zusammen mit meinem gesunden Menschenverstand einfach verflogen. Ich wollte schlicht und einfach nicht, dass sie ging, und wenn ein zweites Glas Baileys den Abend verlängern würde, dann sollte es ein zweites Glas Baileys sein. Begierig hielt ich ihr mein Glas zum Nachfüllen hin, was sie prompt erledigte. »Das hätte ich wahrscheinlich nicht erzählen sollen«, sagte sie. »Jetzt hältst du mich bestimmt für ein Flittchen.«
Ich weiß nicht mehr genau, wann wir zum Du übergegangen waren, aber es schien nur natürlich. Es dauerte eine Weile, bis ich kapierte, dass sie von ihrer verlorenen Unschuld sprach. »Natürlich denke ich nicht, dass du ein Flittchen bist«, sagte ich nachdrücklich und sah die Erleichterung, die wie ein Farbpinsel über Alisons Gesicht wischte, beinahe so, als hätte sie darauf gewartet, dass ich sie freispreche und ihr die Sünden und Irrwege ihrer Vergangenheit vergab. »Außerdem war ich noch schneller als du«, gestand ich, damit sie sich besser fühlte und um anzudeuten, dass ich wohl kaum in der Position war, sie zu verurteilen.
»Wie meinst du das?« Sie beugte sich vor und stellte ihr Glas auf den Teppich, wo es in einer rosafarbenen Blüte des Webmusters versank.
»Ich war erst vierzehn, als ich meine Unschuld verloren habe«, flüsterte ich schuldbewusst, als ob meine Mutter noch in ihrem Zimmer im ersten Stock lauschen könnte.
»Ach, hör doch auf. Das glaube ich dir nicht.«
»Es stimmt aber.« Ich ertappte mich dabei, sie unbedingt überzeugen zu wollen, um ihr zu zeigen, dass sie nicht die Einzige war, die eine Vergangenheit und Leichen im Keller hatte, wie klein und unbedeutend sie auch sein mochten. Vielleicht wollte ich sie sogar ein wenig schockieren, um ihr – und mir selbst – zu beweisen, dass mehr in mir steckte, als man auf den ersten Blick sah; dass unter einer Hülle gediegenen mittleren Alters das Herz eines wilden Kindes schlug.
Vielleicht war ich auch bloß betrunken.
»Sein Name war Roger Stillman«, fuhr ich unaufgefordert fort und beschwor das Bild des schlaksigen jungen Mannes mit dem hellbraunen Haar und den großen haselnussbraunen Augen hervor, der mich mit geradezu lächerlicher Leichtigkeit verführt hatte, als ich in der neunten Klasse war. »Er war zwei Klassen über mir, weshalb ich mich natürlich enorm geschmeichelt fühlte, dass er überhaupt mit mir redete. Er hat mich ins Kino eingeladen, und ich habe meinen Eltern irgendeine Lüge erzählt, weil meine Mutter verfügt hatte, dass ich noch zu jung war, um mit Jungen auszugehen. Also erklärte ich, ich würde mit einer Freundin für einen Test lernen, während ich in Wahrheit Roger im Kino traf. Ich weiß noch, dass es ein James-Bond-Film war – frag mich nicht, welcher -, und ich war sehr aufgeregt, weil ich noch nie einen James-Bond-Film gesehen hatte. Obwohl ich von diesem auch nicht viel mitgekriegt habe«, sagte ich und erinnerte mich an Rogers nach Tabak riechenden Atem an meinem Hals, während ich mich bemühte, der komplizierten Handlung zu folgen, an seine Lippen, die mein Ohr streiften, während ich versuchte, all die Zweideutigkeiten auf der Leinwand zu begreifen, an seine Hand, die von meiner Schulter auf meine Brust glitt, während James eine weitere willige Frau in sein Bett lockte. »Wir sind vor Ende des Films gegangen. Roger hatte ein Auto.« Ich zuckte die Schultern, als wäre damit alles gesagt.
»Und was ist mit Roger geschehen?«
»Er hat mich abserviert. Nicht weiter überraschend.«
Alisons Unwillen war ihr deutlich vom Gesicht abzulesen. »Hat es dir nicht das Herz gebrochen?«
»Ich war am Boden zerstört, so wie es nur ein vierzehnjähriges Mädchen sein kann. Vor allem nachdem er in der ganzen Schule mit seiner Eroberung geprahlt hat.«
»Das hat er nicht!«
Alisons spontane Empörung ließ mich lachen. »Hat er wohl. Ich fürchte, Roger war eine Ratte erster Ordnung.«
»Und was ist aus der Ratte geworden?«
»Keine Ahnung. Im nächsten Jahr sind wir nach Florida gezogen, und ich habe ihn nie wieder gesehen.« Ich schüttelte den Kopf, und der Raum drehte sich. »Mein Gott, ich hab seit Urzeiten nicht mehr an all das gedacht. Das ist eine der erstaunlichen Eigenschaften der Jugend.«
»Was?«
»Dass man denkt, man würde über irgendetwas nie hinwegkommen, und im nächsten Moment hat man es vollkommen vergessen.«
Alison lächelte, legte eine Hand in den Nacken und reckte ihren Schwanenhals, bis die Muskeln ächzten und nachgaben.
»Alles scheint so dringlich. Alles ist schrecklich wichtig. Und man denkt, man hätte endlos viel Zeit«, sagte ich und vergaß beinahe, dass ich laut sprach, so gebannt war ich von ihren Bewegungen.
»Gibt es irgendjemand Interessantes am Horizont?« Alison rollte ihren Kopf von einer Seite auf die andere.
»Eigentlich nicht. Nun ja, es gibt einen Mann«, vertraute ich ihr an, obwohl ich keineswegs die Absicht gehabt hatte, bis ich die Worte über meine Lippen kommen hörte. »Josh Wylie. Seine Mutter ist eine von meinen Patientinnen.«
Alisons Kopf war wieder in der Mitte angekommen, doch sie sagte nichts, sondern saß einfach da und wartete, dass ich weiterredete.
»Das ist alles«, sagte ich. »Er kommt einmal pro Woche aus Miami, um sie zu besuchen. Wir haben nur ein paarmal kurz miteinander gesprochen. Aber er macht einen sehr netten Eindruck und …«
»Und du würdest ihn gern näher kennen lernen«, beendete Alison den Satz für mich.
Ich nickte und entschied, dass das ein Fehler war, als das Zimmer um mich herum auf und ab zu hüpfen begann wie ein Gummiball. Widerwillig rappelte ich mich auf die Füße. »Ich fürchte, ich muss den schönen Abend jetzt beenden.«
Alison war sofort neben mir und legte ihre warme Hand auf meinen Arm. Sie wirkte vollkommen standfest, als ob der Alkohol bei ihr überhaupt keine Wirkung zeigen würde. »Alles in Ordnung?«
»Alles bestens«, sagte ich, obwohl das nicht stimmte. Der Boden schwankte, und ich musste mich am Sofa abstützen, um nicht hinzufallen. Ich blickte demonstrativ auf meine Uhr, doch die Zahlen tanzten wild über das Zifferblatt, und ich konnte den kleinen Zeiger nicht vom großen unterscheiden. »Es ist spät«, sagte ich trotzdem, »und ich muss sehr früh aufstehen.«
»Ich hoffe, ich habe deine Gastfreundschaft nicht überstrapaziert.«
»Überhaupt nicht.«
»Wirklich nicht?«
»Bestimmt nicht. Ich hatte einen sehr netten Abend.« Ich hatte plötzlich das seltsame Gefühl, dass sie mir einen Abschiedskuss geben wollte. »Das müssen wir bald mal wieder machen«, sagte ich, senkte den Kopf und führte Alison durchs Wohn- und Esszimmer in die Küche, wo ich prompt gegen den Tisch stolperte und beinahe in ihre Arme gesunken wäre.
»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte sie, während ich mich bemühte, wenn schon nicht meine Würde, so doch zumindest das Gleichgewicht zu wahren. »Vielleicht sollte ich noch sehen, dass du gut ins Bett kommst.«
»Mir geht es gut. Wirklich. Alles bestens«, wiederholte ich, bevor sie noch einmal fragen konnte.
Alison war schon halb aus der Tür, als sie plötzlich stehen blieb, in die linke Tasche ihrer schwarzen Jeans griff und herumfuhr, eine Bewegung, bei der sich vor meinen Augen alles drehte. »Das hätte ich fast vergessen – das habe ich gefunden.« Sie streckte die Hand aus.
Selbst mit meinem Drehwurm und dem verschwommenen Blick erkannte ich das goldene Herz an dem feinen dünnen Kettchen in Alisons offener Hand. »Wo hast du das her?« Ich griff nach der Kette, die sich vor meinen Augen entrollte, sodass sie an ihrem Finger hing wie ein vergessener Lamettafaden an einem weggeworfenen Weihnachtsbaum.
»Ich habe sie unter meinem Bett gefunden«, sagte Alison, unwillkürlich das Besitzrecht an den Gegenständen aus dem Gartenhäuschens beanspruchend.
»Warum hast du denn unter dem Bett nachgesehen?«
Alison wurde überraschend puterrot und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Es war das erste Mal, dass sie sich vor meinen Augen sichtlich unwohl in ihrer Haut fühlte. Als sie schließlich antwortete, dachte ich, ich müsse mich verhört haben.
»Was hast du gesagt?«
»Ich habe nach dem schwarzen Mann gesucht«, wiederholte sie einfältig und sah mich nur äußerst widerwillig an.
»Den schwarzen Mann?«
»Es ist albern, ich weiß, aber ich kann nicht anders. Ich tue es, seit ich ein kleines Mädchen war und mein Bruder mir eingeredet hat, dass sich unter meinem Bett ein Ungeheuer versteckt, das mich frisst, sobald ich einschlafe.«
»Du guckst, ob sich unter deinem Bett ein Ungeheuer versteckt?«, wiederholte ich, weil ich die Vorstellung unerklärlicherweise überaus charmant fand.
»In den Kleiderschrank gucke ich auch. Nur für alle Fälle.«
»Und hast du je irgendwen entdeckt?«
»Bis jetzt noch nicht.« Sie lachte und hielt mir die Kette hin. »Hier. Bevor ich es vergesse und sie mit nach Hause nehme.«
»Sie gehört mir nicht.« Ich machte einen Schritt zurück, wobei ich um ein Haar über meine eigenen Füße gestolpert wäre, und beobachtete, wie der Raum um neunzig Grad kippte. »Sie hat Erica Hollander gehört, meiner letzten Mieterin.«
»Die Frau, die dir mehrere Monatsmieten schuldig geblieben ist?«
»Höchstpersönlich.«
»Dann würde ich sagen, die Kette gehört dir.« Alison versuchte, sie mir in die Hand zu drücken.
»Du kannst sie behalten.« Mit Erica Hollander wollte ich nichts mehr zu tun haben.
»Oh, das kann ich nicht annehmen«, sagte Alison, obwohl sich ihre Hand bereits um das Schmuckstück schloss.
»Was man gefunden hat, darf man behalten. Komm, nimm sie. Sie ist … wie für dich gemacht.«
Weiterer Überredung bedurfte es nicht. »Ja, nicht wahr?« Alison lachte, schlang die dünne Kette in einer einzigen fließende Geste um ihren Hals und ließ den winzigen Verschluss problemlos zuschnappen. »Wie sieht es aus?«
»Als ob sie dorthin gehören würde.«
Alison tätschelte das Herz an ihrem Hals und strengte sich an, im Dunkeln ihr Spiegelbild im Küchenfenster zu erkennen. »Ich finde sie wunderschön.«
»Trage sie in guter Gesundheit.«
»Und du glaubst nicht, dass sie sie vielleicht wiederhaben will, oder?«
Nun musste ich lachen. »Das soll sie mal versuchen. Wie dem auch sei. Es ist spät, und ich muss schlafen.«
»Gute Nacht.« Alison beugte sich vor und küsste mich auf die Wange. Ihre Haare rochen nach Erdbeeren, ihre Haut nach Babypuder. Wie ein Neugeborenes, dachte ich lächelnd. »Nochmals vielen Dank«, sagte sie. »Für alles.«
»War mir ein Vergnügen.« Ich öffnete die Hintertür und sah mich rasch um.
Niemand lauerte, niemand starrte.
Ich seufzte erleichtert und wartete, bis sie sicher in ihrem Häuschen war, bevor ich die Küchentür schloss. Ich strich mit der Hand über die Stelle, wo Alisons Lippen meine Wange gestreift hatten, während ich mir vorstellte, wie sie durch das kleine Wohnzimmer ins Schlafzimmer auf der Rückseite ging. Vor meinem inneren Auge sah ich sie unter dem Bett und im Kleiderschrank nach entlaufenen Ungeheuern suchen, die ihr auflauern könnten. Abwesend dachte ich an den Mann, den ich vor dem Haus hatte stehen sehen. War da wirklich jemand gewesen? Und hatte er mich beobachtet – oder Alison?
Ich weiß noch, dass ich gedacht habe, so ein süßes Mädchen. So kindlich. So unschuldig.
Nicht ganz so unschuldig, erinnerte ich mich, als ich mühsam die Treppe hinauf ins Schlafzimmer wankte. Ein aufmüpfiger Teenager, mit achtzehn verheiratet und kurz darauf schon wieder geschieden. Ganz zu schweigen davon, dass sie trinkfest war wie ein Kneipenwirt.
Ich erinnere mich nur schemenhaft daran, mich ausgezogen und mein Nachthemd übergestreift zu haben, und das auch nur, weil ich es zunächst verkehrt herum angezogen hatte und es noch einmal ausziehen und auf die richtige Seite drehen musste. Daran, mein Gesicht gewaschen und meine Zähne geputzt zu haben, kann ich mich nicht mehr erinnern, obwohl ich sicher bin, dass ich das getan habe. Ich weiß