Schwindelanfälle - Ursula Schröder - E-Book

Schwindelanfälle E-Book

Ursula Schröder

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Beschreibung

Greta geht unter falschem Namen zum Arzt, nur um in dem gutaussehenden Gynäkologen Max einen Freund aus Kindertagen wiederzuerkennen. Thomas mietet sich unter Pseudonym in einer Pension ein, um seiner Nichte einen Gefallen zu tun, und setzt damit seine Beziehung zu Nicole aufs Spiel. Aber auch die anderen Personen in der Geschichte haben einige Geheimnisse, die erst einmal aufgedeckt werden müssen, damit wieder alles ins Lot kommt … Der schwungvolle Roman erzählt davon, wie kleine Lügen einen ganzen Haufen von Problemen mit sich bringen können – und wie befreiend es sein kann, endlich der Wahrheit die Ehre zu geben.

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Inhaltsverzeichnis

Schwindelanfälle

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Ursula Schröder

Schwindelanfälle

Roman

Impressum

©Ursula Schröder

Asternweg 26 58566 Kierspe

www.ursulaschroeder.de

www.instagram.com/schroeder.ursula

www.facebook.com/schroederbooks

ISBN 9783754609880

Erstveröffentlichung als EDEL eBook 2013

1

Ben war selten der Letzte, der von der Arbeit nach Hause kam, und deshalb war er recht überrascht, als er die anderen Mitglieder der Wohngemeinschaft beide schon am Küchentisch vorfand. Sie erinnerten ihn an zwei zum Nachsitzen verdonnerte Fünftklässler. „Was ist los?“, fragte er und öffnete eher aus Gewohnheit den Kühlschrank, in dem sich nicht viel Erfreuliches befand. „Seht ihr so traurig aus, weil die Supermärkte streiken, oder warum gibt es wieder mal nichts Vernünftiges zu essen?“

Eines Tages erschlag ich ihn, dachte Max, vor allem als Judith wieder so verflixt eilfertig sagte: „Ich fahre gleich noch einkaufen und koche dann was.“

„Das wär super“, sagte Ben und küsste Judith flüchtig, bevor er seine Jacke auszog und über seinen Stuhl hängte. „Also? Ist jemand gestorben?“ Er ließ sich auf den Stuhl fallen und blickte fragend um sich.

„Noch nicht“, sagte Judith. „Aber was nicht ist, kann ja noch werden.“

„Heute ist der Tag“, setzte Max düster hinzu.

Ben runzelte verständnislos die Stirn. „Heute ist der Tag ...?“

„Der Tag, an dem die Liebesgeschichte zwischen Max und Katja ihr tragisches Ende nimmt“, erklärte Judith. Sie warf einen mitleidigen Blick zu ihrem Bruder hinüber.

„Auweia.“ Sogar Ben erfasste blitzschnell den Ernst der Lage. „Na, da beneide ich dich nicht. Was wirst du ihr denn sagen?“

„Keine Ahnung.“ Max starrte trübsinnig auf die Kiefermaserung des Küchentischs.

Ben schaute ihn überlegen an. Er kam sich vor wie ein Experte. Immerhin hatte er schon diversen Damen den Laufpass geben müssen, die seine zeitweilige Aufmerksamkeit mit dauerhafter Hingabe verwechselt hatten. „Erklär ihr einfach, dass du dich in der Klinik für ein Experiment zur Verfügung gestellt hast und seitdem nur noch Klonschafe zeugen kannst.“

Max sah ihn mit augenrollender Verachtung an.

„Oder“, spann Ben weiter, „frag sie, ob sie dir hunderttausend leihen kann für eine Praxis auf Hallig Hooge. Und ob sie sich vorstellen kann, dort mit dir zu leben. Glaub mir, nichts bringt Leute schneller dazu, das Weite zu suchen, als wenn man sie anpumpen will. Oder in die Einöde verschleppen.“

„Zu riskant“, meinte Judith. „Am Ende bringt sie mit Papis Hilfe das Moos locker zusammen und kauft dazu noch einen Hubschrauber, damit sie regelmäßig nach Hamburg zum Shoppen fliegen kann. Und Max sitzt auf Hallig Hooge und verhilft friesischen Bauersfrauen zu friesischen Bauernkindern.“

„Eine grausige Vorstellung fürwahr“, stimmte Ben zu. „Na, dann muss ich ja noch tiefer in meiner Fantasie wühlen. Sag ihr ... sag ihr, dass du in Wirklichkeit ein Geheimagent bist und dass deine Regierung dich jetzt nach Afghanistan schickt.“

„Super Idee“, knurrte Max.

„Dich kann man aber auch mit gar nichts aufheitern“, stellte Ben fest.

„Darum hab ich auch nicht gebeten“, sagte Max giftig. Er schob seinen Stuhl so heftig zurück, dass er ein unangenehm kreischendes Geräusch auf dem Küchenfußboden machte. Hoffentlich machte Katja nicht gleich ähnliche Geräusche. „Ich geh sie anrufen.“

„Viel Glück“, rief Judith ihm mitleidig hinterher.

Ben tätschelte ihre Schulter. „Ich will dir eins sagen, wenn du genauso launisch wärest wie dein Bruder, dann wäre das mit uns beiden nie was geworden.“

Judith sah ihn dankbar an. Es gab Tage, da konnte sie es einfach nicht fassen, dass sie mit Ben zusammen war. Gut, es gab auch Tage, da konnte sie sich beinahe die Haare ausraufen, weil er unzuverlässig und sprunghaft und nicht besonders aufmerksam war, aber das lag halt an seiner kreativen Ader. „Und? Wie war’s heute bei dir?“

„Ganz witzig. Wir haben den Auftrag für die Homepage bekommen.“

„Von dieser Schnapsfirma?“

„Genau. Eggebrecht. Wir müssen zwar unser Design noch ein bisschen anpassen, aber unsere Ideen haben sie überzeugt. Der Knüller war der Menüpunkt mit dem Sprüche-Kalender.“

Judith hing fasziniert an seinen Lippen. Sie hatte noch nie einen Menschen mit solchem Charisma wie Ben getroffen. „Sprüche-Kalender?“

„Ja, das war meine Idee. Du kennst doch solche Kneipenwitze.“

„Nein“, sagte sie. „Erzähl mal einen.“

„Du kennst keine Kneipenwitze?“ Er schüttelte tadelnd den Kopf. „Doch, bestimmt. Die fangen alle ähnlich an, meistens mit ‚Kommt ein Mann in die Kneipe und sagt ...‘, und dann folgt irgend so ein Kalauer.“

„Ach die“, sagte sie, bemüht, nicht gequält das Gesicht zu verziehen. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass ihr die Gabe des Witze-Erzählens (oder wenigstens des Witze-Behaltens) nicht gegeben war. Sie hätte es auf ihr Elternhaus schieben können, aber Max war auch dort aufgewachsen, und der war viel witziger und schlagfertiger als sie. Aber sie musste sich halt mit ihren Unzulänglichkeiten abfinden. Dafür war sie wenigstens nicht so launisch wie ihr Bruder.

„Jedenfalls“, fuhr Ben mit zunehmender Begeisterung fort, „haben wir denen vorgeschlagen, dass wir jede Woche einen neuen Witz ins Netz stellen, und dazu gibt es dann alle möglichen Interaktionen, zum Beispiel eine Bewertung oder nach einer Weile einen Wettbewerb, wo die Leute selber Witze einschicken können und so. Und da sind die total heiß drauf.“

„Aha“, sagte sie. Sie hatte selber keine Ahnung von solchen Sachen, aber Ben so enthusiastisch zu sehen machte an sich schon Spaß. „Und woher kriegt ihr eure Witze?“

„Die müssen wir selber entwickeln“, sagte er. „Wir sind schon in der Sammelphase. Die Vorgabe war dieser Uraltscherz mit dem Skelett. Kennst du den?“

Sie schüttelte den Kopf. Keine Chance.

„Kommt ein Skelett in die Kneipe“, zitierte Ben. „Der Wirt fragt: ‚Was darf’s sein?‘ Sagt das Skelett: ‚Ein Glas Bier und einen Aufnehmer.‘ Na, jetzt suchen wir ähnliche Fälle, wo jemand was bestellt.“

Judith schmunzelte. „Ein Aufnehmer! Das ist gut.“

Ben nickte. „Ich hab mir schon ein paar ausgedacht. Was bestellt zum Beispiel ein Gespenst?“

Sie zuckte hilflos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Du weißt doch, dass ich nicht so kreativ sein kann.“

„Ein Glas Bier und einen Spuk-Napf!“, erklärte er triumphierend.

Judith lachte begeistert. „Ein Spuk-Napf! Und das hast du erfunden?“

„Na klar“, grinste er mit schlecht zu verbergendem Stolz.

„Wer bestellt denn in einer Kneipe einen Spucknapf?“, bemerkte Max mürrisch, während er mit suchendem Blick zurück in die Küche kam. „Die gibt es doch nur in Saloons in schlechten Westernfilmen. Hat einer das Telefon gesehen?“

„Oh, das liegt sicher noch auf der Waschmaschine im Badezimmer“, sagte Judith kleinlaut. „Ich hab vorhin beim Wäscheausräumen telefoniert.“

„Und wieso kannst du es danach nicht einfach wieder auf die Station legen?“, schimpfte Max und verließ die Küche wieder.

„Tut mir leid!“, rief sie ihm nach. „Aber ich hab mir dann an der Waschmaschinentür den Finger geklemmt, und da habe ich nicht mehr dran gedacht.“

„Ein Wunder, dass du noch lebst“, rief er über die Schulter und stapfte ins Bad, um das Telefon zu suchen.

Ben sah ihm hinterher und verzog das Gesicht. „Meine Güte, der ist ja mies drauf.“

„Ach, das wärest du vielleicht auch, wenn du mit Katja Schluss machen wolltest“, verteidigte sie ihren Bruder.

„Ich hätte mit Katja gar nicht erst was angefangen“, behauptete Ben. „Verwöhnt und zickig, die Frau. Seitdem er mit ihr zusammen ist, hat sie nur Stress gemacht. Und dass ihr Vater sein Chef ist, macht die Sache nicht besser.“

„Das weiß er doch alles selber“, sagte sie bekümmert. Sie konnte ahnen, wie Max sich fühlen musste. Eigentlich hatte auch sie von Anfang an Katja eher argwöhnisch beobachtet. Aber sie war sich nie sicher gewesen, ob das nicht Neid war – Neid auf eine gute Figur, einen wohlhabenden Vater, der ihr alle Wünsche von den Augen ablas (was Katja von Max auch erwartete), und eine Selbstsicherheit, die schon an unendlich grenzte. Alles Dinge, die Judith fehlten. Umso lieber hörte sie, wenn Ben, ausgerechnet Ben, über Katja als verwöhnt und zickig lästerte. Denn das waren Eigenschaften, die ihr ebenso fehlten. Sie hätte gern applaudiert und „Mehr! Mehr!“ gerufen. Aber schließlich durfte man sein Glück nicht überstrapazieren. Das wurde meistens bestraft, war ihre Erfahrung.

Lieber lauschte sie andächtig Bens selbst erfundenen Kneipenwitzen. „Kommt ein Textilhändler in die Kneipe und sagt ...?“

Keine Ahnung. Wie immer.

„Ein Glas Bier und einen Pull-Underberg.“

Max fand das Telefon wie beschrieben auf der Waschmaschine und verkroch sich schwermütig in sein Zimmer. Er wusste, dass er sich diesen Schlamassel selber eingebrockt hatte, aber das machte die Sache nicht besser.

Freudlos wählte er Katjas Nummer. Vielleicht hatte er Glück, und sie war nicht ... ach nein, ihr Handy hatte sie immer dabei. Aufgeschoben war nicht aufgehoben. Und diese Beziehung musste dringend aufgehoben werden, das war ihm so klar wie selten irgendwas.

„Max!“, hörte er ihre Stimme auch schon. „Warum warst du denn heute schon so früh weg? Ich war in der Klinik und habe dich gesucht! Du weißt doch, dass mein Daddy morgen einen ausgibt, oder?“

Mein Daddy. Warum war ihm ihre affektierte Sprechweise nicht von Anfang an aufgefallen? Da ist dir eher ihre Figur aufgefallen und diese scharfen Klamotten, die sie trägt, mahnte ihn sein Gewissen. Das hat man davon, wenn man sich von Äußerlichkeiten beeindrucken lässt.

„Klar weiß ich das“, sagte er lahm. „Katja ...“

„Ich hab schon mal den Sekt kalt gestellt“, fuhr sie fort, „glaubst du, dass wir mit sechs Flaschen für die Abteilung auskommen? Ich meine, die dürfen sich ja eh nicht betrinken, wenn sie hinterher noch arbeiten müssen, aber mein Daddy möchte natürlich auch nicht als zu geizig dastehen, und meine Ma findet, wir sollten direkt einen Kir daraus mixen, aber erstens haben wir dafür nicht die richtigen Gläser, und außerdem mag das nicht jeder, und ...“

„Katja“, sagte er mit leichter Verzweiflung in der Stimme. Sie war wieder mal in dieser Ich-manage-alles-Stimmung, wie sollte er da ein so ernstes Thema anschneiden?

„Max“, imitierte sie seinen Tonfall. „Ich weiß, das interessiert dich nicht. Männer gehen nun mal immer davon aus, dass die Dinge von selber klappen. Aber das tun sie nicht.“

„Nein, das tun sie nicht“, seufzte er. „Hör mal ...“

„Du rufst bestimmt wegen morgen Abend an“, sagte Katja. „Sag nicht, dass du da Dienst hast. Ich habe extra meinem Daddy gesagt, dass das nicht geht. Schließlich kommt mein Onkel nicht alle Tage, und ich möchte unbedingt, dass du ihn sofort kennenlernst. Sein Flieger landet um zwanzig vor sieben, und ich denke, wir brauchen etwa eine Stunde nach Köln, oder was meinst du?“

Max schloss mutlos die Augen. Sogar ein Sprachcomputer ließ einem zwischendurch mehr Zeit zum Antworten als Katja. „Ich wollte etwas Grundsätzliches mit dir besprechen“, sagte er. „Können wir uns gleich treffen?“

„Klar“, sagte sie. „Ich wollte mit Sylvie und Elsa ins Kino, da könntest du doch mitkommen.“

O je. „Das möchte ich eigentlich nicht“, sagte Max. „Ich wollte eher ...“

„Ach, komm schon“, sagte sie. „Dass ihr Männer immer so kompliziert sein müsst. Oder ist dir Johnny Depp nicht geheuer? Vielleicht zu feminin?“

Johnny Depp war ihm im Augenblick so wichtig wie ein Schneemann am Südpol. „Darum geht es nicht. Im Kino kann man nicht reden.“

Auch kein Problem für Katja. „Dann gehen wir hinterher noch irgendwohin zum Reden.“

Max sah sich schon in einer voll besetzten Bar seine Verabschiedung formulieren. Vielleicht könnten die anderen Anwesenden ihm Tipps geben? Aber eine Beziehung am Handy zu beenden ging ja nun mal gar nicht, das wusste er spätestens, seit die Presse dafür über Prinz William hergefallen war. Und wenn noch nicht mal ein Prinz das durfte, dann war ihm als Bürgerlichem das auch verwehrt. Nein, dazu musste man sich schon treffen. „Welchen Film wolltet ihr denn sehen? Eine Folge von dieser Piratenserie?“

„Ach, die sind doch uralt“, sagte Katja abschätzig. „Nein, wir wollten in diesen Horrorthriller.“

„Wo das Blut in Strömen fließt?“

„Das dürfte dir doch nichts ausmachen. Also, kommst du mit? Wir müssten bald los.“

„Also gut.“

Katja hatte einen Bürojob, den sie grundsätzlich sehr pünktlich beendete. Vermutlich hatte sie daher die Energie, jeden Abend so intensiv zu verplanen, als sei sie ein Animateur in einem türkischen Ferienclub, und man konnte sich auch genauso schlecht dagegen wehren.

Dass er sich hätte wehren sollen, war ihm spätestens klar, als sie aus dem Kino kamen. „Wo können wir denn noch was trinken gehen?“, fragte Katja munter, als hätten sie nie darüber gesprochen, dass sie sich noch allein unterhalten wollten. Während ihre Freundinnen – Elsa, die große Dunkelhaarige, und Sylvie, die kleine Drahtige – sich nicht darüber einig werden konnten, ob das „Fandango“ wegen seiner Tapas oder der Italiener am Kaiserplatz das Richtige wäre, versuchte er verzweifelt, Katja beiseitezuziehen. „Hör mal, wir wollten doch ...“

„Muss doch nicht lange dauern“, sagte sie beschwichtigend. „Aber ich würde wirklich gern was trinken.“

„Na gut“, seufzte er. Immerhin würde ihm das noch ein bisschen Aufschub gewähren, denn das Gespräch mit ihr lag ihm jetzt schon quer im Magen. Also saß er relativ schweigsam zwischen den drei Frauen, die aber auch ohne seine Beiträge gut zurechtkamen. Er hätte Schwierigkeiten gehabt, die Konversation zu protokollieren, die zwischen einem gewissen grünen Bustier, Johnny Depp als Schauspieler und Ehemann, Sylvies wankelmütigem Freund als möglichem Schauspieler oder potenziellem Ehemann, einem neuen Dessous-Laden im City-Center (war da das grüne Bustier her?) und den Bestandteilen eines korrekt zubereiteten Caipirinhas hin und her pendelte.

„Das ist definitiv kein brauner Zucker“, behauptete Katja. „Probier mal, Max.“

„Ich hab keine Ahnung von Cocktails“, sagte er müde.

War er auch so eine armselige Gestalt wie Sylvies Partner, der manchmal tagelang verschwand und dann wieder auftauchte, um ihr fünfgängige Menüs zuzubereiten, zur Wiedergutmachung die Wohnung zu putzen und ähnlich devote Handlungen zu verrichten? Immerhin ließ er zu, dass Katja ganz selbstverständlich seine Hand hielt, ohne zu ahnen, was ihr bevorstand.

Das erfuhr sie auch an diesem Tag nicht mehr. Sein Plan war gewesen, ihr im Auto vor dem Haus ihrer Eltern die Wahrheit zu sagen. „Katja, wir müssen über unsere Beziehung reden“, begann er, und während sie noch darüber nachdachte, ob diese Eröffnung positiv war oder nicht, glitt der Mercedes von Professor Lück an ihnen vorbei in die Garage, deren Tor sich lautlos öffnete. Katjas Eltern kamen beide noch mit freundlicher Miene zum Auto, um ihn zu begrüßen.

„Hallo, Max“, sagte sein Chef, während sich seine Frau wegen der Kälte enger in ihren Pelzmantel wickelte. „Möchten Sie noch auf einen Absacker mit ins Haus kommen?“

„Ich habe morgen Dienst“, erwiderte Max. Jetzt höflichen Small Talk mit Katja und ihren Eltern zu machen war völlig indiskutabel. Aber seine mehrfach überdachte Rede konnte er auch nicht halten, weil Katja ihn rasch küsste, aus dem Auto stieg und mit ihren Eltern ins Haus ging. „Wir sehen uns ja morgen bei Daddys Feier“, sagte sie mit einem verständnisvollen Nicken. „Schlaf gut, Schatz.“

„Du auch“, murmelte er, startete den Wagen und fuhr ziemlich frustriert nach Hause.

2

Die besagte Feier auf der Gynäkologischen Station fand statt anlässlich von Professor Lücks sechzigstem Geburtstag. Deshalb hatte er seine Tochter damit beauftragt, sich einen Tag freizunehmen und auf der Station (möglichst unauffällig für die Patienten) einen Sektempfang zu organisieren.

Wobei der Sekt recht sparsam floss, wie Max feststellte, als er sich nach seinen Untersuchungen in der Ambulanz mit gewissem Widerwillen dort einfand. In erster Linie waren es die Horsd’oeuvres, die begeisterten Anklang fanden, und er war selbst ebenfalls recht angetan von den Lachsröllchen im Crêpeteig oder diesen unvergleichlichen Datteln im Speckmantel. Zufrieden schob er sich zwei weitere Spießchen auf den Teller, immer bemüht, Katja möglichst aus dem Weg zu gehen, die angesichts der Lobeshymnen auf den von ihr entdeckten Partyservice bereitwillig Getränke verteilte.

Schließlich erwischte sie ihn aber doch. „Max? Ein bisschen Sekt? Oder musst du noch operieren?“

Das war natürlich ein Scherz, aber ihm war nicht wirklich zum Lachen zumute. „Gib mir lieber ein Wasser“, sagte er. Wenn er schon zusätzliche Kalorien zu sich nahm, dann lieber in Form von Schafskäse in Blätterteig als langweiligem Orangensaft.

Sie füllte ein Glas für ihn. „Übrigens hat mein Onkel angerufen und gesagt, dass er heute nicht kommt“, teilte sie ihm mit. „Wir müssen also heute nicht zum Flughafen.“

Sie ließ ihm gar nicht erst die Chance zu sagen, dass er da nicht hatte mitfahren wollen. „Er wurde noch in Spanien aufgehalten, sagt er. Kommt nun erst am Sonntag. Schade, nicht? Da verpasst er die ganze Geschichte.“

„Das wird deinen Eltern sicher leidtun“, sagte Max diplomatisch. Ihm war dieser Onkel, den er noch nie getroffen hatte, von dem aber in der Familie Lück ständig geschwärmt wurde, mehr als egal. Es reichte schon, dass das ganze Haus mit seinen angeblich so großartigen Fotografien vollgehängt war. Die einzige davon, die Max wirklich gefiel, war ein eher unscheinbares Foto von einer leer gefegten, nicht besonders prächtigen Straße auf Kuba. Ganz in der Ecke konnte man noch einen uralten Chevrolet erkennen, und aus diesem Grund mochte er das Bild – weil ihm Autos nun mal mehr lagen als irgendwelche kahlen Gegenden.

„Ja, auf jeden Fall. Zumal Papa schon so heiß darauf ist, dass Onkel Tom das Krankenhaus fotografiert. Und er war auch schon so gespannt auf dich. Onkel Tom, meine ich.“

Ungewollt drängte sich ihm das Bild eines alten Schwarzen vor einer Hütte auf, auch wenn er das Buch nie gelesen hatte. „Tatsächlich? Was weiß er denn von mir?“

„Alles, was ich ihm erzählt habe natürlich! Er meinte, wir könnten ihn ja mal in Frankreich besuchen kommen. Er würde dich gern näher kennenlernen.“

O je, das klang sehr nach Familienanschluss. Katjas Eltern kannte er ja sozusagen beruflich, aber Katjas Patenonkel zu besuchen hatte schon den Beigeschmack von dauerhafter Beziehung bis hin zu Verlobung und ähnlichen Unsäglichkeiten. Er straffte sich innerlich und fragte sich, ob es irgendeine Chance gäbe, Katja jetzt und gleich hier wegzulotsen, um ihr endlich die Wahrheit zu sagen, aber er sah wenig Möglichkeiten – sie war so beschäftigt, er hatte gleich Termine auf der Station, und überhaupt war es unwahrscheinlich, hier ein ruhiges Fleckchen für ein solches Gespräch zu finden.

„Na, ihr zwei?“ Nun kam auch noch Katjas Vater dazu, vor großem Publikum jovial und väterlich wie Professor Brinkmann aus der Schwarzwaldklinik. Deshalb wurde er von seinen Patientinnen vergöttert und den hauptsächlich weiblichen Mitarbeiterinnen geliebt. Max sah das etwas anders. Aber er verzieh ihm die gelegentlichen verbalen Übergriffe und die ruppigen Anschnauzer in Stresssituationen, weil er seine medizinische Kompetenz ohne Einschränkungen anerkannte. Man konnte von Professor Lück eine Menge lernen, und deshalb hatte er sich um diese Stelle bemüht. Hätte er sich bloß nicht auch um seine Tochter bemüht, dann könnte es ihm verhältnismäßig gut gehen. Aber sowohl Katja als auch ihr Vater fanden diese Verbindung so passend, dass Max sich noch nicht ausmalen konnte, wie die Phase nach Katja für ihn aussehen könnte.

Aber sie musste möglichst bald beginnen. Jedes Mal, wenn er sie ansah und dabei unwillkürlich an Paris Hilton erinnert wurde, statt warme Gefühle der Zuneigung zu empfinden, fühlte er sich wie ein elender Heuchler und Erbschleicher. Seine Kollegen teilten sich in solche, die ihn für seine karriereorientierte Partnerwahl bewunderten, und jene, die ihn ihre Verachtung spüren ließen. Das allein war ja noch nicht so schlimm. Aber seit einiger Zeit gehörte er selber zu der zweiten Gruppe, und das machte ihm zu schaffen.

„Max, was sagen Sie dazu, dass Kollege Heinemann einen Ruf nach Marburg bekommen hat?“, fragte ihn nun sein Chef.

Hervorragend, dann kann er uns hier nicht mehr auf die Nerven gehen, dachte Max. Aber weil er wusste, dass besagter Kollege auch ein guter Freund von Professor Lück war und sicherlich am Samstag die Anwesenden ausführlich mit der Geschichte dieser Berufung beglücken würde, sagte er stattdessen höflich: „Dann werden Sie sich wohl einen neuen Tennispartner suchen müssen, was?“

Diese Replik brachte ihm ein schwiegerväterliches Schulterklopfen ein, das hoffentlich nicht von allen beobachtet wurde. „Ach, Max! Ich hoffe doch, dass Sie nicht so schnell einen Ruf in die Ferne bekommen werden. Haben Sie schon was gegessen?“

„Aber ja. Wer kann denn so einem Büfett widerstehen?“ Max stellte sich vor, wie alt er wohl werden musste, um sich nicht einfach um einen Job bewerben zu müssen, sondern von anderen Häusern gerufen zu werden. Ziemlich alt vermutlich. Älter, als er werden konnte, bevor der Prof von seinen Trennungsbemühungen bezüglich seiner Tochter Wind bekam. Er konnte nur hoffen, dass er dann nicht mit irgendwelchen vorgeschobenen Gründen in die Verbannung geschickt wurde. Aber mit Katja zusammenzubleiben, um seinen Chef nicht zu verärgern – das ging gar nicht.

Während er noch diese Überlegungen anstellte, kam die Sekretärin von Professor Lück herbeigeeilt. Sie raunte ihrem Chef etwas zu, und sein Gesicht verzog sich. Das sah nach Notfall aus. Der gewisperte Name bestätigte das – Max kannte die Patientin, zu der sein Boss jetzt mit wehendem Kittel eilte. Als er dann noch anwies, die Anästhesie zu informieren, war allen klar, dass er in den OP musste. Das Professor-Brinkmann-Lächeln war verschwunden. Es wurde ernst.

Katja sah ihrem Vater düster nach. „Dann kann ich hier wohl allein die Stellung halten“, sagte sie. „Na gut, dann hole ich mal Nachschub an Getränken.“

Sie schob sich an ihm vorbei, so dass er noch einmal ihr Parfüm erschnuppern konnte – das mochte er immer noch –, und er sagte sich, dass er noch einen einzigen Griff auf das Tablett tun würde, wo ein letzter winziger Reibekuchen mit Lachs in seiner Einsamkeit nach ihm rief, bevor er wieder an die Arbeit ging.

Neben ihm unterhielten sich die resolute Schwester Annette und ihr genaues Gegenteil, die kleine Schwesternschülerin Margie. „Hast du auch dieses Buch gelesen, Max? Über die Bestellungen beim Universum?“

„Nein“, sagte er kauend. „Neuer Katalog? Ebay-Konkurrenz? Oder um was geht es da?“

„Dass man sich vom Universum was wünscht und es dann auch bekommt. Man muss nur fest darauf vertrauen“, erklärte Margie, von der Max oft heimliche Blicke zugeworfen bekam. Er war sich nicht ganz sicher, ob er nicht auch auf ihrem universalen Wunschzettel stand. Bloß nicht zu sehr ermutigen. Solche Mäuschen waren ebenso wenig was für ihn wie extrovertierte It-Girls namens Katja.

„Ich halte es ja für ausgemachten Blödsinn“, sagte Annette. „Aber die Autorin schein sich damit dumm und dusselig zu verdienen.“

„Nein, da ist bestimmt was dran“, meinte Margie. „Sie hat so viele Beispiele genannt, wo es wirklich so war.“

„Und habt ihr es auch schon ausprobiert?“, fragte Max.

„Ich verlass mich lieber auf mich selber“, sagte Annette.

„Ich hab das Buch noch nicht durch“, sagte Margie und wurde etwas rot.

Max fragte sich, was das wieder für eine esoterische Philosophie war. Wenn er sich beim Universum etwas bestellen sollte, was wäre das? Er entschied sich für eine Überraschung. Etwas völlig Unvorhersehbares, das seinen Alltag mal ein bisschen auf den Kopf stellen und ihn endlich von Katja Lück separieren würde.

Na los, Universum, gib dir Mühe, forderte er. Wir wollen doch mal sehen.

„Es tut mir leid, Frau Johannsen“, sagte die weiß bekittelte Dame mit den Gesundheitslatschen und machte tatsächlich ein bedauerndes Gesicht dazu. „Aber Professor Lück ist ganz plötzlich abgerufen worden und kann Sie nun nicht untersuchen. Sollen wir einen neuen Termin vereinbaren?“

Greta stand fassungslos vor dem Ambulanzfenster, durch das sie sich kurz zuvor angemeldet hatte. „Aber ich hatte einen Termin gemacht“, sagte sie. Sie klaubte Frederikes Ausweis auf und warf ihn in ihre Tasche zurück.

„Ich weiß“, erwiderte die Mitarbeiterin und zog die Augenbrauen in die Höhe. „Aber es gibt immer mal Notfälle, verstehen Sie? Das kann man nicht vorher wissen.“

„Natürlich“, sagte Greta mühsam. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie sich sofort auf den Deal eingelassen. Aber Frederike würde ihr den Hals umdrehen, wenn sie jetzt unverrichteter Untersuchung wieder abzog. „Aber ich hatte mir extra den Nachmittag frei gehalten. Das ist schon sehr ärgerlich für mich.“ Und es wird noch viel ärgerlicher werden, wenn Frederike es erfährt. Sie versuchte ein entsprechendes Gesicht zu machen, damit die Mitarbeiterin sie auch ernst nahm.

Die Frau verzog ihr Gesicht weiter in dem Versuch, nachdenklich zu wirken. „Nun ja“, sagte sie gedehnt. „Wenn es Ihnen so dringend ist ... und wenn es Ihnen nichts ausmachen würde, dass Professor Lücks Assistenzarzt Sie untersucht, dann könnten wir ...“

„Oh ja“, unterbrach Greta sie eifrig. „Das macht mir gar nichts aus, wirklich nicht.“ Hauptsache, sie hielt diesen Termin ein.

„Na gut“, sagte die Kittelfrau. „Mal sehen, was ich tun kann.“ Sie wählte eine Kurzwahlnummer. „Du, hier ist Annette. Wo bist du gerade? Könntest du rasch eben kommen und für den Chef eine Untersuchung übernehmen? ... Nee, normale Kontrolle. Ja, klasse, ich schick sie schon mal rein.“

Sie schien doch froh zu sein, dass sie Greta eine positive Auskunft geben konnte. Die Tatsache, dass die Privatrechnung an Faris Faroukhian ging, hatte sie zwar nicht kommentiert, aber sehr wohl zur Kenntnis genommen. „Der Doktor kommt sofort“, sagte sie. Und dann kam ein Satz, den Greta seit Jahren hasste: „Gehen Sie doch bitte schon mal in Kabine zwei und machen Sie sich untenrum frei.“

„Das macht mir gar nichts aus“ war eine Lüge gewesen. Hier unter falschem Namen mit nacktem Hintern in einer schauerlich beleuchteten Umkleidekabine zu sitzen und auf einen unbekannten Arzt zu warten gehörte nicht zu Gretas Standardtätigkeiten.

Endlich öffnete sich die Tür zum Untersuchungsraum, und Kittelfrau Annette erschien. „So, es kann losgehen“, verkündete sie. Sie wies Greta an, sich auf den Untersuchungsstuhl zu setzen und möglichst locker zu bleiben.

Es war gar nicht mal so warm hier drinnen, und während sich eine Gänsehaut auf Gretas nackten Beinen breitmachte, öffnete sich eine weitere Tür. Tatsächlich kam der Doktor nun ... Greta verspürte einen starken Fluchtreflex. Denn anstelle eines älteren, Seriosität und professionelle Distanz verkörpernden Professors war dies ein sportlich-dynamisch aussehender junger Mann mit einem ansehnlichen Gesicht und leicht lockigen rotbraunen Haaren, und ...

Er warf einen zunächst geschäftsmäßigen Blick auf das neuste Opfer auf dem Stuhl, dann wurde sein Gesichtsausdruck regelrecht ungläubig, und auch Greta war ziemlich fassungslos.

„Chicken?“, fragte er überrascht.

„Max“, murmelte sie erschrocken. Dies war der Super-GAU. Und das Schlimmste war, sie hatte es sich selbst eingebrockt, und nun präsentierte sie sich einem Mann, den sie nie, niemals hier erwartet hätte, und zwar als jemand anders, in einer maximal peinlichen Stellung, und es gab nichts, womit sie ihre Blöße bedecken konnte, und überhaupt ...

Sekundentod wäre die einzige Rettung. Hoffentlich war Max nicht spezialisiert auf Wiederbelebung.

Sie zählte bis zehn und lebte leider immer noch, als er mit zunehmender Ungläubigkeit die Eintragung auf ihrer Karte las. „Frederike Johannsen? Habe ich Sie etwa mit jemandem verwechselt?“

„Bestimmt“, krächzte sie. Mist, wenn sie nicht schon zu ihm Max gesagt hätte, dann könnte sie das vielleicht durchziehen. Oder wenn sich die Kittelfrau mal verziehen würde, könnte sie ihm erklären ...

Nein, entschied sie, so einfach ließ sich das nicht erklären.

Bevor sie schicksalsergeben die Augen schloss, fiel ihr auf, dass er a) von Nahem noch besser aussah als von Weitem (wer hätte das jemals gedacht?) und b) dass er ein kleines bisschen zitterte, als er sich den Gummihandschuh überstreifte. Oh Mann, dachte sie. Gut, dass er sie nicht operieren musste.

Leicht benommen kam Max aus dem Untersuchungsraum. Er konnte immer noch nicht ganz fassen, dass er auf diese Weise Greta Buchholz wieder getroffen hatte. Allerdings unter einem falschen Namen, und weil Annette den Krankenhausregeln gemäß die ganze Zeit anwesend war, konnte er sie noch nicht mal danach befragen. Nein, statt Annette unter irgendeinem Vorwand kurz rauszuschicken, hatte er Greta wie ein Gymnasiast ein Zettelchen geschrieben und ihr dabei freundlich mitgeteilt, sie möge sich wegen des Abstrichbefundes in einigen Tagen noch mal melden.

Sie hatte recht einsilbig seine Fragen beantwortet, den Zettel kommentarlos in ihre gigantische Tasche gesteckt und war gegangen. Und das war die Summe seiner Begegnung mit einer Frau, über die er in den vergangenen Jahren immer mal wieder nachgedacht hatte. Es war nicht gerade so gelaufen, wie er es sich hätte vorstellen mögen.

Er beschloss, sich erst einmal einen Kaffee zu besorgen, damit er sich – hoffentlich – wieder auf seine eigentlichen Aufgaben konzentrieren konnte. Dabei traf er auf Katja und einen der letzten verbliebenen Zivildienstleistenden, der seiner Bürgerpflicht nachkam, indem er die Relikte des Sektempfangs auf einen Transportwagen laden und zu ihrem Auto befördern durfte. Huldvoll überreichte sie ihm die Schlüssel dazu, und Max registrierte den verehrungsvollen Blick, den er ihr zuwarf. Er konnte es sogar nachvollziehen – mit ihrem wallenden Blondhaar und den langen Beinen, die am einen Ende in hochhackigen Pumps und am anderen in einem recht kurzen Rock endeten, war sie sicherlich eine Augenweide. Er kannte ihr ungeschminktes Gesicht und konnte daher anerkennen, wie vorteilhaft sie mit ihren kosmetischen Utensilien umzugehen wusste. Aber er konnte dem schmachtenden Zivi nur wünschen, dass er mehr Weitsicht bei der Auswahl seiner Freundin zeigen und sich nicht nur von Äußerlichkeiten beeindrucken lassen würde.

Eine Weitsicht, die ihm gefehlt hatte und deren Konsequenzen er nun tragen musste. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass er Katja in diesem Moment begegnete und jetzt die Möglichkeit wahrnehmen konnte, sie um ein Gespräch zu bitten. Er konnte nur hoffen, dass das Dienstzimmer, das er sich mit seiner Kollegin Patrizia teilte, unbesetzt war, denn ansonsten stände ihm als Alternative nur einer der kleinen Abstellräume zur Verfügung. Und das mochte vielleicht Boris Becker recht sein, aber Max hatte keine Lust, Katja zwischen großzügigen Vorräten an Flüssigseife und Damenbinden seine mangelnde Zuneigung zu erklären.

Aber er hatte Glück, das Zimmer war leer, und Katja ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder, während er am Fenster stehen blieb. Es war schwer, einen Anfang zu finden. „Ich weiß nicht, wie es dir geht ...“, sagte er schließlich und hätte sich direkt für diese blöde Eröffnung schlagen können. „Aber ich habe in letzter Zeit viel über uns nachgedacht und glaube, wir passen nicht besonders gut zusammen.“

Katja hatte ihn die ganze Zeit kritisch beäugt, aber jetzt sah sie geradezu panisch aus. „Was meinst du damit, Max? Wenn es um diese Sache mit dem Club in Dortmund neulich geht, dann ...“

Max wusste gar nicht mehr genau, auf was sie damit anspielte. „Es geht mir nicht um einzelne Sachen, Katja. Es ist einfach so, dass ich ... dass ich mir nicht mehr so sicher bin, was ich für dich empfinde.“ Ja, das traf es ganz gut, dachte er erleichtert.

Sie umklammerte die Lehnen ihres Stuhls. Fast tat sie ihm leid, aber er sagte sich tapfer, dass man eine Freundin nicht aus Mitleid hatte, sondern weil man sich zu ihr hingezogen fühlte.

„Liebst du mich nicht mehr?“, fragte sie geradeheraus.

Max wand sich innerlich. „Katja, ich habe nie gesagt, dass ich ...“

„Aber ich dachte, du ...“ Sie stand auf. Vermutlich wollte sie nicht zu ihm aufschauen müssen. „Heißt das, dass du jetzt und hier mit mir Schluss machst?“

Er biss sich auf die Lippen und nickte. Es war schwer, ihrem vorwurfsvoll-traurigen Blick standzuhalten, aber das war er ihr schuldig. „Ich will dir nichts vormachen, Katja. In den letzten Wochen hatte ich immer mehr den Eindruck, dass wir beide zu verschieden sind, und deswegen halte ich ... eine Trennung ... für besser.“ Junge, war das schwer. Viel schwerer, als damals mit ihr auf dieser Feier zu flirten, bis sie bereit war, sich mit ihm zu treffen.

Ihr Gesichtsausdruck schwankte: ungläubig, verletzt, ärgerlich ... „Zu verschieden? Hör mal, ich kann mich erinnern, dass dir das anfangs gut gefallen hat. ‚Du bist so anders‘ war, glaube ich, einer deiner Sprüche.“

„Ja, schon“, gestand er. „Aber das ist doch keine Basis für eine Beziehung. Katja, ich möchte mich gar nicht mit dir streiten, aber ...“

Jetzt blitzten ihre Augen kämpferisch. „Als Nächstes sagst du sicher, wir könnten Freunde bleiben, oder?“

Das hatte er tatsächlich vorgehabt. Vermutlich gab es nur eine bestimmte Menge von Wegen, mit seiner Freundin Schluss zu machen, und sich völlig aus dem Weg zu gehen war in seiner Situation nun mal nicht möglich. Obwohl er in diesem Moment am liebsten alles hingeschmissen hätte, um nach Australien auszuwandern. Aber so einfach war das nicht.

Sein Blick wanderte aus dem Fenster. Von hier überblickte man den größten Teil des Parkplatzes und den Weg zum Haupteingang. Jetzt, mitten am Nachmittag, war viel Betrieb: Besucher mit Blumen und Taschen, in denen sie ihren Angehörigen Bücher und Wäsche mitbrachten, kamen hier ebenso vorbei wie Patienten, die zu Untersuchungen bestellt waren. Spontan fiel ihm wieder Greta ein. Ob sie jetzt gerade in eins der vielen Autos stieg?

„Katja, ich verstehe ja, dass ich dir damit wehtue“, sagte er vorsichtig. „Aber das passiert doch oft. Leute versuchen es miteinander – und gehen wieder auseinander, wenn es nicht funktioniert.“

Katja bedachte das eine Weile. Immerhin war er nicht ihr erster Freund, das wusste er genau, aber er hatte keinen Überblick darüber, wie ihre Beziehungen bisher geendet hatten.

„Und wie kommt das so plötzlich?“, fragte sie schließlich.

„Es kommt nicht plötzlich. Ich habe schon länger ...“

„Ach, komm schon, Max. Ich habe überhaupt nichts gemerkt. Es war wie immer zwischen uns, und auf einmal ...“

Das sprach nur dafür, dass er ein guter Schauspieler war. „Katja ...“

„Ich finde nur eine Erklärung“, unterbrach sie ihn schroff. „Es gibt eine andere.“

„Nein!“, rief er impulsiv. „Das hat damit überhaupt nichts zu tun.“

„Quatsch“, sagte sie erbost. „Du hast eine andere Frau kennengelernt.“

Gretas erschrockenes Gesicht trat ungebeten vor sein inneres Auge, und ihm wurde klar, dass das nicht einfach eine Untersuchung gewesen war. Wieso war sie ausgerechnet heute aufgetaucht, egal unter welchem Pseudonym? War das die Antwort des Universums? „Vielleicht“, entfuhr es ihm, und das reichte schon, um Katja triumphieren zu lassen.

„Also doch! Kenne ich sie?“

Das wäre vermutlich die ultimative Kränkung. „Nein, du kennst sie nicht.“

„Und ist es was Ernstes?“

„Das weiß ich nicht“, antwortete er aufrichtig. Er wusste ja noch nicht mal, ob sie seinen Zettel in ihrer Tasche in diesem Jahr noch wiederfinden würde.

„Hast du sie hier in der Klinik getroffen?“

„Ja ... ich meine, nein, es ist etwas komplizierter als das, ich ...“ Er brach hilflos ab. Das fehlte noch, dass er ihr in einer solchen Situation erklärte, was in diesem angeblich so fehlerlosen Krankenhaus alles passieren konnte. Wenn sie das in spontaner Wut ihrem Vater erzählte, wäre die Hölle los.

„Na dann“, sagte sie schulterzuckend. „Da hab ich ja wohl keine Chance. Werde ich sie kennenlernen?“

„Ich weiß nicht ...“ Max kam sich vor wie ein Idiot. Jetzt hatte er Katja gegenüber den Eindruck erweckt, er hätte wegen einer anderen Frau mit ihr Schluss gemacht – immerhin schien sie das besser akzeptieren zu können als jede andere Erklärung –, und dabei basierte das Ganze nur auf einem sehr merkwürdigen Zusammentreffen, für das er keine logische Erklärung hatte.

„Also wirklich, Max“, sagte Katja bitter. „Tu mir einen Gefallen und sei wenigstens ehrlich. Bring sie mit am Samstag zu Mummys Ausstellung. Steh dazu.“ Sie wandte sich zur Tür, und es erschien ihm, als würde sie sich innerlich stählen, um wieder in die Welt hinauszutreten.

Die Tür schlug zu. Er blieb noch einen Moment am Fenster stehen. Nun hatte er sein Vorhaben umgesetzt und sich von Katja verabschiedet. Aber einfacher war sein Leben dadurch nicht geworden.

Das kam also dabei raus, wenn man das Universum herausforderte. Max dachte immer noch über diesen Tag nach, als er am Abend seine Wohnungstür aufschloss. Judith begegnete ihm auf dem Flur und machte ein fragendes Gesicht. „Und wie ist es ...“

„Sprich jetzt kein Wort von Katja“, sagte er drohend.

„Wird gemacht“, entgegnete sie. „Dafür sprich du kein Wort über Essen. Ich bin gerade erst nach Hause gekommen und muss in zehn Minuten wieder weg zu einem Kurs. Und Ben hat noch nicht mal Brot gekauft. Der Kühlschrank ist wüst und leer. Ich werde mir neben der Bushaltestelle Fritten holen.“

Dass Judith sich beinahe kritisch über Ben äußerte, sprach für den Ernst der Lage. Also blieb ihm die Wahl zwischen einem Glas Gewürzgurken mit Senf, einem schnellen Trip zum nächsten Discounter, der bis acht geöffnet hatte, oder einem der dubiosen Gerichte aus dem Tiefkühlschrank, die durch das Erwärmen in der Mikrowelle auch nicht besser wurden. Schlecht gelaunt ließ er sich in seinen Sessel fallen und erwog die Vor- und Nachteile der jeweiligen Möglichkeiten. Wirklich sympathisch war ihm keine.

Stattdessen dachte er doch lieber an Greta und ihr erschrockenes Gesicht, als sie ihn erkannt hatte. Sie war immer schon hübsch gewesen, aber jetzt war aus dem Teenager von damals eine attraktive junge Frau geworden.

Er versuchte sich an früher zu erinnern, als sie zusammen auf der Straße gespielt hatten, zusammen mit den anderen Kindern der Straße. Die ersten heimlichen Zigaretten hinter dem Schuppen von Björns Oma. Gemeinsame Fahrten im Schulbus. Auf O-Feten und Geburtstagen hatten sie sich gelegentlich getroffen, bei Straßenfesten hatten sie spöttisch im Hintergrund gelästert über die spießigen Nachbarn (das Freibier hatten sie natürlich trotzdem getrunken). Greta war immer etwas kratzbürstig gewesen, voller Ideen und mit einem starken Willen ausgestattet, gegen den sein damals recht träges Wesen nie angekommen war.

Zu seinen peinlichsten Erinnerungen gehörte die Nacht, in der sie der keifigen Frau Brüsser das Plakat von Freddy Krueger von außen ans Fenster geklebt hatten. Schon vorher hatten sie sich halb totgelacht bei der Vorstellung, wie sich Frau Brüsser frühmorgens, bevor sie zu ihrem Job in der Bäckerei musste, über die Visage vor ihrem Badezimmerfenster erschrecken würde. Leider hatte sie wohl das Gekicher in ihrem Garten gehört, und während alle anderen leichtfüßig davongerannt waren, hatte sich Max (schwerfällig im wahrsten Sinne des Wortes) an ihrem Gartenzaun die Hose zerrissen, war dementsprechend erwischt worden und hatte sich in aller Form entschuldigen müssen. Ganz zu schweigen von dem Spott der anderen, der ihn noch wochenlang begleitet hatte.

Die Idee war wie üblich auf Gretas Mist gewachsen. Sie war dafür bewundert worden, und Max hatte den Schaden gehabt. Immerhin war sie als Einzige hinterher zu ihm gekommen. „Danke, dass du das alles auf deine Kappe genommen und uns nicht verpetzt hast.“

„Nun ja“, hatte er gemurmelt, „war ja nicht nötig, dass ihr auch noch Ärger kriegt.“

„Trotzdem. Dafür hast du was gut bei uns.“ Vermutlich hatten sie ihm später Schokoriegel spendiert, dachte er finster, was nicht nur unliebsame Erinnerungen an sein früheres Übergewicht, sondern auch zusätzlichen Hunger auslöste. Er musste etwas Vernünftiges essen, sonst würde er im Laufe des Abends allerhand Unvernünftiges zu sich nehmen, und diesen Rückfall in schlechte Gewohnheiten wollte er nicht riskieren.

Er sah auf die Uhr: kurz nach sieben. Sollte er es noch mal mit einer Anfrage ans Universum versuchen? Besser nicht. Dabei kam vermutlich wieder so was völlig Schräges raus. Noch während er über die Alternativen nachdachte, hörte er in seiner Jacke das Handy klingeln.

Zum Glück war Nicole schon da, als Greta nach Hause kam. Sie bog deshalb zunächst zu ihrer Vermieterin ab, bevor sie zu ihrer Wohnung hinaufstieg. Mit irgendjemandem musste sie über diese Katastrophe sprechen. Sie fand sie in ihrem Wohnzimmer vor dem Computer sitzend.

„Was machst du gerade?“

„Das Übliche“, sagte Nicole und drehte sich auf ihrem Bürostuhl zu Greta um. Was bedeutete, dass sie wieder mal ihre morbiden Fotos von kahlen Parkbänken und verregneten Bäumen bearbeitete. „Hast du deinen bekloppten Termin hinter dir?“

„Das mache ich nie wieder“, stöhnte Greta verzweifelt und ließ sich auf Nicoles Sofa fallen. „Das war einfach nur noch peinlich. Megapeinlich. Elefantenherdenpeinlich! Ich auf diesem Folterstuhl und dann Max Bremer im weißen Kittel. Ich wusste noch nicht mal, dass er Frauenarzt geworden ist.“ Sie hielt einen Moment inne. Ihre Hände waren immer noch etwas zittrig.

„Jetzt mal langsam“, sagte Nicole und drehte sich noch mal auf ihrem Schreibtischsessel zu ihrem Rechner, um ihre Programme zu schließen. „Du warst gar nicht bei Professor Lück?“

„Nein, der hatte keine Zeit. Musste vermutlich Leben retten. Und ich Schaf bestehe trotzdem auf der Untersuchung. Da haben sie einen Assistenzarzt geschickt. Und den kenne ich von früher.“

Nicole nickte verständnisvoll. „Das scheint eine längere Geschichte zu sein. Ich koche Tee.“

Sie begab sich dazu in ihre Küche und schaltete den Wasserkocher ein. Greta griff derweil zu den Ausdrucken auf ihrem Couchtisch. Dieses Mal hatte Nicole wieder Stillleben auf Friedhöfen fotografiert, Szenen mit verwelkten Pflanzen und trostlosen Grabsteinen. Nicht gerade das, was sie jetzt aufmuntern konnte. Aber immer noch besser, als immer wieder in Gedanken zu dieser gynäkologischen Untersuchung zurückzukehren.

„Erzähl mir mehr von Max Bremer“, sagte Nicole und stellte eine Kanne Tee auf das Stövchen. „Zucker?“

„Ja, ganz viel“, seufzte Greta. „Am besten schüttest du mir einfach etwas Tee in den Zuckertopf. Also. Max Bremer hat früher in unserer Straße gewohnt. Wir hatten so eine Art Clique, ich war die Jüngste. Bis auf seine Schwester, aber die durfte meistens nicht mitmachen. Deshalb haben sie mich immer Chicken gerufen. Max war der Älteste. Und der Fetteste. Du kannst dir nicht vorstellen, wie dick er war. Wir haben ihn dann irgendwann nicht mehr Bremer, sondern Hamburger genannt, und schließlich ist dann der Spitzname ‚Big Max‘ hängen geblieben.“

„Aber jetzt ist er nicht mehr fett?“, folgerte Nicole und schenkte Tee in zwei große Becher ein.

„Nein, überhaupt nicht. Seine Mutter hat ihn immer gemästet mit Kakao und Kuchen und Kartoffelchips und all solchem Zeug. Vermutlich hat er dann die Mensa-Diät gemacht, und jetzt ... jetzt sieht er wirklich gut aus. Ein bisschen wie Orlando Bloom in Rothaarig.“ Obwohl sie sich Orlando nicht in einem weißen Kittel vorstellen konnte, während Max ... Nein. Nicht schon wieder. Sie würde ihn in ihren Albträumen sehen.

„Wow“, sagte Nicole mit einem Anflug von Neid. „Und du wirst ihn wieder treffen, denke ich?“ Warum passierten eigentlich solche Sachen immer den anderen? Sie zupfte mit dem Schicksal hadernd an ihren kurzen blonden Strähnchen herum. Sie hatte auch immer schon so dichtes, langes, dunkles Haar haben wollen wie Greta zum Beispiel, aber das war ihr ebenso verwehrt geblieben.

„Ich muss!“, heulte Greta auf. „Ich meine, ich konnte wirklich kein privates Wort mit ihm sprechen, immer war diese Sprechzimmer-Hyäne dabei, die Faris die Rechnung schickt, aber er hat mir eine Notiz auf ein Privatrezept geschrieben.“ Sie griff nach ihrer Hypertasche und suchte den Zettel.

„Immerhin hat er dich nicht auffliegen lassen“, sagte Nicole sachlich und rührte in ihrem Tee.

„Nein, hat er nicht“, gab Greta widerwillig zu. „Hier, da ist es. ‚Ich verlange Aufklärung. Ruf mich nach 19 Uhr an.‘ Und dann seine Mobilnummer.“

Nicole konnte Gretas Weltuntergangsstimmung nicht teilen. „Hey, das ist doch super gelaufen. Du hast die Untersuchung gemacht, du weißt jetzt, dass alles in Ordnung ist, ohne dass es dich was kostet, und hast noch einen tollen Kerl getroffen, der dir seine Telefonnummer gibt. Was willst du mehr?“

„Ich will ihn nie mehr wiedersehen!“, jammerte Greta. „Kannst du dir das vorstellen, ich kenne ihn von frühesten Kindertagen, ich habe ihn geärgert, weil er so dick war, und er konnte mich nicht kriegen, weil ich schneller laufen konnte als er. Aber plötzlich darf er mir seinen Gummifinger in mein Privatestes stecken, während ich vor ihm ausgebreitet sitze wie bei einer Peepshow? Und ich kann noch nicht mal was sagen, weil immer diese Krankenschwester dabei ist?“ Bei der Erinnerung wurde ihr schon wieder ganz mulmig.

Nicole versuchte es sich vorzustellen, blieb aber immer bei der Vorstellung von Orlando Bloom hängen und fand das plötzlich alles andere als schlimm. „Aber Greta, er ist Arzt. Er macht das jeden Tag.“

„Er hat gezittert!“

„Na schön, er war auch überrascht, dich zu sehen.“

„Oh, es war so schrecklich.“ Greta gab sich noch einmal völlig der fürchterlichen Erinnerung hin, wohl wissend, dass es schlimm sein würde, genau wie man immer wieder mit der Zunge an ein Loch im Zahn tippte, obwohl man wusste, dass es wehtat. „Wie er mich angesehen hat! Nicole! Der wird mich nie wieder ansehen können, ohne sich seinen Finger vorzustellen und was er damit gemacht hat.“

Die Vorstellung war in der Tat unsympathisch, dachte Nicole. Obwohl Männer vielleicht anders dachten. Vor allem Gynäkologen. Wie gingen die wohl mit ihren eigenen Frauen um? „Hast du ihn schon angerufen?“

„Nee“, sagte Greta abwehrend. „Ich weiß gar nicht, was er will.“

„Ach nein?“, fragte Nicole mit leicht sarkastischem Unterton. „Das überrascht mich jetzt. Ruf ihn an und finde es heraus.“

Greta verzog das Gesicht. „Meinst du nicht, ich könnte morgen ...“

„Jetzt“, befand Nicole unnachgiebig. „Bring es hinter dich. Bevor er bei Frederike anruft.“

Das war ein überzeugender Grund. Die Vorstellung, dass Max an Frederike oder im ungünstigsten Fall sogar an Faris geriet und damit noch mehr Unheil ausgelöst werden konnte, gab den Ausschlag. „Na gut“, sagte Greta schicksalsergeben und fischte ihr Handy aus der Tasche. Sie tippte die Nummer ein und wartete auf das Klingelzeichen. Einmal. Vielleicht ging er nicht dran. Zweimal. Hatte sie Glück? Oder wurde dadurch nur die Spannung erhöht? Dreimal. Und Treffer. „Max Bremer.“

Nun ja. Augen zu und durch. „Hallo, Max.“ Bloß keine Schwäche zeigen!

„Greta!“ Er klang überrascht. „Schön, dass du anrufst.“

„Machst du so was öfter, Frauen deine Nummer zustecken? Ist das deine Masche?“, fragte sie und wanderte mit ihrem Telefon unruhig im Zimmer herum. Nicole begann derweil in ihrer Küche zu rumoren.

„Nein, das hab ich heute zum ersten Mal ausprobiert“, sagte er. „Aber es scheint zu funktionieren.“

„Kommt drauf an, wie man das sieht.“

„Greta, ich hab dich so lange nicht gesehen.“

Und trotzdem wiedererkannt, dachte sie verärgert. „Tja, wie das Leben so spielt.“

„Ich würde dich gern treffen“, sagte er. „Hast du heute Abend schon was vor?“

„Warum?“, fragte sie skeptisch.

„Zunächst mal möchte ich wissen, warum du unter einem Pseudonym zum Arzt gehst. Aber vor allem möchte ich einfach mal mit dir reden. Über alte Zeiten und so. Also, hast du Zeit?“

Nicole hatte recht. Was du tun musst, das tue bald. „Wenn es nicht zu spät wird.“

„Machst du Witze? Ich muss morgen früh auch wieder pünktlich auf der Matte stehen. Aber irgendwo eine Pizza essen ist doch drin, oder?“

„Eine Pizza ...“ Tatsächlich hatte er sie an ihrer schwächsten Stelle erwischt. Oder besser gesagt an einer anderen schwachen Stelle. Sie wollte nicht mehr an diese Untersuchung denken, aber irgendwie war das schwierig.

„Komm schon. Ich lade dich ein. Nur eine Stunde.“ Seine Stimme klang jedenfalls nett.

„Okay“, sagte Greta und fand, dass es viel zu bereitwillig klang. „Wo denn?“

„Kommt darauf an, wo du wohnst. Im Fasanenweg oder wo anders?“

Fasanenweg? Ach ja, Frederikes Adresse. Mist, er hatte tatsächlich ihre Unterlagen studiert. „Nein, ich ... ich wohne in der Lahnstraße.“

„Echt? Die kenne ich! Pass auf, ich hole dich in einer halben Stunde ab, und wir fahren zu dem Italiener am Kaiserplatz. Wie wäre das?“

„Das wäre ... okay, in einer halben Stunde. Ich stehe an der Ecke zur Moselstraße und warte auf dich.“ Dann wüsste er wenigstens ihre Hausnummer nicht, dachte sie. Und schalt sich gleich darauf, wie albern sie war. Als wäre er ein Stalker, der sie nicht finden durfte.

„In Ordnung. Bis gleich, Chicken.“ Er legte auf, und sie bemerkte, dass sie immer noch total verwirrt war. Sie spürte ihre Aufregung, als sie in die Küche hinüberging.

„Ich muss los“, teilte sie Nicole mit, die sich bei dem Gedanken an Abendessen selbst ein Brot gemacht hatte. „Ich treffe mich mit Max in einer halben Stunde.“

Nicoles Gesicht leuchtete auf. „Wow, da bin ich aber gespannt, ob das stimmt mit Orlando Bloom.“

„Er kommt nicht hierher“, sagte Greta verlegen. „Wir treffen uns in der Stadt.“ Das war nicht gelogen, oder? Die Stadt war überall.

Nicole sah sie finster an. „Du gönnst mir auch gar nichts“, sagte sie. „Bringst du ihn wenigstens hinterher mit? Ich stelle mich auch hinter die Gardine, er wird mich nicht bemerken.“

„Auf keinen Fall“, quietschte Greta entsetzt. „Nein, das ist nur ein einmaliges Treffen. Und dann werde ich den Kontakt zu ihm abbrechen.“

Nicole lehnte sich kopfschüttelnd gegen ihre Arbeitsplatte zurück, während Greta ziemlich hastig ihre Wohnung verließ. Wer es plötzlich so eilig hatte und den Mann, um den es ging, mit Orlando Bloom verglich, war doch ein bisschen gefährdet.

„Ben?“, rief Max, jetzt wieder voller Tatendrang. „Ich brauche dein Auto.“

„Wieso?“, fragte Ben überrascht.

„Ich hab ein Date.“

„Direkt nach dem Aus für Katja? Alle Achtung, Max“, meinte Ben. „Wer ist es denn?“

„Kennst du nicht“, sagte Max zerstreut, weil er gleichzeitig überlegte, ob er sich noch umziehen sollte. Würde sein Pullover zu lässig wirken? Andererseits war es vielleicht zu förmlich, sich in ein Hemd mit Krawatte zu werfen ...

„Nee, so nicht“, sagte Ben. „Wenn du meinen Wagen haben willst, möchte ich dafür Informationen.“

„Greta“, erklärte Max. „Wir wohnten früher beide in Boddenberg in der Fichtestraße. Ein paar Jahre jünger als ich. Ich bin ihr heute im Krankenhaus wieder begegnet.“

„Wow, Greta aus der Fichtestraße“, meinte Ben süffisant. „Klingt wie ein Buch von Astrid Lindgren. Die kleinen Strolche treffen sich wieder. Und da hast du direkt eine Verabredung mit ihr? Ist sie hübsch? Glaubst du, sie steht auf dich?“

„Keine Ahnung“, sagte Max. „Sie ist einfach eine Bekannte von früher, mit der ich eine Pizza essen gehe, um über die alten Zeiten zu quatschen. Und damit ich mich von irgendwas ernähren kann.“ Der Pullover war okay, entschied er. Außerdem wurde es Zeit. Wenn Greta ihn an einer Straßenecke treffen wollte, konnte er sie schlecht warten lassen. „Hier sind die Schlüssel für den Landrover. Sieh bitte nach, ob noch genug Sprit drin ist, wenn du noch wegwillst. Zum Einkaufen beispielsweise. Denk an Brot.“

„Als ob man das noch erkennen könnte, so dreckig, wie die Karre ist“, maulte Ben.

„Aber die Instrumente funktionieren noch“, sagte Max, schnappte seinen Mantel und Bens Autoschlüssel und eilte davon. Greta treffen. Wer hätte das gedacht!

Also, dachte Greta und knipste erst mal mehrere Lichter in ihrem Wohnzimmer an, weil ihr Dämmerlicht zuwider war, was jetzt? Sollte sie sich umziehen, weil die Sachen, die sie trug, Tagesklamotten und nicht Ausgehklamotten waren? Oder würde Max dann denken, sie hätte sich für ihn fein gemacht (bewahre!) – obwohl der Italiener am Kaiserplatz schon ein Grund war, sich fein zu machen… Vermutlich würde er sich sowieso nur daran erinnern, was sie nicht angehabt hatte… Oh nein. Jetzt fiel ihr schon wieder alles ein.

Sie einigte sich mit sich selbst auf einen Kompromiss: Jeans und Stiefel konnten bleiben, der Pullover wurde durch ein T-Shirt und den neuen Kurzblazer von H&M ersetzt. Auch die billigen Ohrringe, die im Spiegel der Umkleidekabine so seltsam ausgesehen hatten, mussten den silbernen Gehängen weichen, die sie immer bei Prüfungsgesprächen getragen hatte, weil sie so seriös wirkten. War das jetzt okay?

Es musste okay sein, denn es war höchste Zeit. Greta schnappte sich ihre Megatasche und ihren dunklen Mantel und hastete die Treppe hinunter. Fast wäre sie mit dem Absatz an einer Stufe hängen geblieben, ein Beinahe-Unfall, der ihren Puls wieder in Dow-Jones-Höhe jagte, aber noch mal gut gegangen. Die Haustür knallte hinter ihr zu. Oh Schreck, hatte sie ihren Schlüssel… ja, hatte sie. Also rasch die Straße runter bis zur Ecke.

Dort stand ein kleines japanisches Cabrio von der Art, wie Greta es sich auf jeden Fall kaufen würde, sobald sie ihr erstes richtiges Geld verdiente (Mazda, Honda, Toyota, sie war da nicht wählerisch, Hauptsache, mit offenem Verdeck). Ob das Max war? Auf dem Nummernschild stand nur ein B, das war nicht ganz eindeutig. Aber jetzt blinkte er kurz auf, und sie erkannte ihn in dem winzigen Innenraum. Sie zwängte sich auf den Beifahrersitz. Kein Wunder, dass so was Fahrgastzelle genannt wurde.

„Hallo, Greta“, sagte er grinsend. „War eine halbe Stunde zu knapp für dich?“

„Pff, nicht die Spur“, behauptete sie empört. Dachte er, sie hätte sich seinetwegen Stress gemacht? „Ich musste nur noch … meine Katze füttern.“ Was sie in Wirklichkeit nicht getan hatte, und das würde ihr der dicke Eugen ziemlich übel nehmen, wenn sie wiederkam. Hätte sie nicht gerade in dieser Hinsicht so dreist gelogen, könnte sie jetzt Nicole anrufen und sie darum bitten, aber nein, das hatte sie sich nun verbaut. Zu blöd.

„Du hast eine Katze?“, fragte Max und fuhr los in Richtung Kaiserplatz. „Ich hätte ja auch gern eine, aber leider ist Ben ziemlich allergisch dagegen.“

„Wer ist Ben?“, fragte sie misstrauisch. Sein Freund etwa? Würde das wieder ihre Theorie stützen, dass die schönsten Männer zwangsläufig schwul waren?

„Einer meiner Mitbewohner, der hoffentlich gerade noch für uns einkauft.“

„Wie praktisch“, sagte Greta. „Dann wohnst du in einer Wohngemeinschaft?“

„So kann man es nennen. Wir sind zu dritt – Ben, Judith und ich.“

„Judith? Deine Schwester Judith? Die ich damals aus dem Hammerteich gezogen habe?“ Sie erinnerte sich an ein schüchternes Kind mit roten lockigen Haaren, die auch durch brave Zöpfe kaum zu bändigen waren.

„Genau. Wie alt wart ihr da?“

„Ich war vermutlich sieben und sie fünf. Auf jeden Fall war ich schon in der Schule und sie nicht.“

„Dann ist das zwanzig Jahre her! Wir sollten ein Jubiläum feiern. Meine Mutter würde das bestimmt ausrichten, weil sie heute noch davon spricht, dass du Judith das Leben gerettet hast.“

Kein Zweifel, dann würden sich bei Bremers die Tische biegen. Greta konnte sich noch gut daran erinnern, wie man von Judiths Mutter tagelang nach einer solchen Feier mit Resten beschenkt wurde.

„Und was hast du in der Zwischenzeit gemacht?“, fragte er.

„Nichts, was meine Eltern dir freiwillig erzählen würden“, brummte sie.

Max lachte. „Sehr informativ heute, unser Chicken. Aber ich werde dich noch ausfragen, verlass dich drauf.“

Das war ihre Befürchtung. Sie hatten den Kaiserplatz erreicht, und sie musste zugeben, dass er äußerst professionell in die enge Lücke setzte, die kurz vorher ein Golf verlassen hatte. Nun ja, Leute, die täglich ein Auto zur Verfügung hatten, fuhren eben besser als solche, die sich das nicht leisten konnten.

Als er jetzt neben ihr auf dem Bürgersteig stand, setzte wieder ihre Nervosität ein. Er hatte seinen weißen Kittel gegen Jeans und einen dunkelgrünen Pullover eingetauscht, der schon fast Farb-und-Stilberatungs-perfekt zu seiner Haarfarbe passte, und darüber trug er einen sehr erwachsen aussehenden Tuchmantel.

„Auf geht’s“, sagte er. „Ich habe gerade noch einen Tisch bekommen.“

Gut, dass sie sich für den Blazer entschieden hatte, denn es war nicht nur ein feiner, sondern auch ein voll besetzter Italiener, und einige der weiblichen Gäste hatten Max sofort erspäht und musterten ihn mit unverhohlenem Interesse. Da durfte sie ja nicht zu sehr abfallen. Sonst dachten sie am Ende noch, er wäre mit seiner Putzfrau gekommen.

Offensichtlich war Max hier bekannt, weil ihn der Kellner mit dem Wort ‚dottore‘ empfing und zu einem netten Tisch am Fenster komplimentierte. Er nahm die Mäntel, zündete eine Kerze an, klappte für Greta die Speisekarte auf, fragte nach einem Aperitif …

„Wow“, sagte Greta andächtig. „Nett hier.“

„Ja, mir gefällt’s auch gut“, sagte Max zufrieden.

„Die scheinen dich gut zu kennen“, stellte sie fest. „Machst du hier die Erstversorgung bei Lebensmittelvergiftungen und Messerstechereien?“

Er grinste. Mit Grübchen. Es war zum Verrücktwerden, was für ein interessanter Mann aus dem ehemaligen Dickerchen geworden war. „Ich hab für die Frau des Besitzers bei der Geburt assistiert“, sagte er. „Seitdem …“

Ihre Laune trübte sich ein bisschen, weil sie das zu sehr an den eigentlichen Grund ihres Treffens erinnerte, und als sie die Preise auf der Karte sah, hatte ihre Laune ungefähr den Trübungsgrad einer Kläranlage. „Max“, sagte sie schockiert, „hier kostet schon ein gemischter Salat mehr als eine Quattro Stagioni beim Pizzataxi!“

„Lass das nur meine Sorge sein“, sagte Max. Es sollte beruhigend klingen, kam aber leider eher etwas überheblich raus. „Ich habe doch gesagt, ich lade dich ein, oder?“

„Sicher.“ Trotzdem war sie leicht traumatisiert durch diesen Eindruck von Luxus und Opulenz, für den sie sich so bald nicht würde revanchieren können … Moment, hatte sie sich nicht vorgenommen, ihn nach diesem Abend nie wiederzusehen? Dann war es doch egal, oder? Aber irgendwie auch wieder nicht. „Dir scheint es ja nicht schlecht zu gehen. Schickes Restaurant, schickes Auto …“

„Das Auto gehört Ben“, gestand er. „Meins war einfach zu dreckig für diesen Anlass. Und es ist auch nicht so, als ob ich hier jeden Tag hingehe. Aber wenn ich dich endlich nach Jahren wieder treffe, ist das ein Grund zum Feiern. Dann möchte ich auch etwas Vernünftiges essen.“

Es war tatsächlich lange her, dachte sie. Er war nach dem Abitur zum Studium weggegangen, und kurz danach zogen seine Eltern um, so dass er nie mehr in die Fichtestraße zurückgekommen war.

„Trinkst du Wein?“, fragte er jetzt, nachdem er die Karte studiert hatte. Greta nickte benommen. Ein Glas Wein konnte nicht schaden. Und jetzt stand auch der beflissene Kellner wieder am Tisch und wollte die Wünsche des Dottore und der Signorina aufnehmen, per favore, sollte es nur etwas Außergewöhnliches sein, Speisen der Sonderklasse oder direkt eine Mahlzeit aus dem siebten Himmel?

Nach einigem Hin-und-her-Überlegen hatte sich Greta für Penne al Salmone entschieden. Pizza schien auf dieser Karte eher ein Paria-Dasein zu fristen, kein Mensch im Raum hatte welche auf seinem Teller, sondern wer hier speiste, wählte offensichtlich anspruchsvollere Gerichte. Nachdem ihr der Kellner nicht noch eine Vorspeise aufschwatzen konnte – was ihn sehr zu bekümmern schien – und Max gegrillten Fisch und Salat bestellt hatte, schlich er von dannen.

Max stützte die Ellbogen auf den Tisch, faltete die Hände und beugte sich leicht vor. „Also.“

„Was willst du wissen?“, fragte sie nervös. Intime Details wohl nicht. Die kannte er ja schon.

„Fangen wir da an, wo ich dich aus den Augen verloren habe. Was ist es geworden? Abitur? Studium? Ausbildung?“

„Ein bisschen von allem“, erzählte sie, jetzt wieder ruhiger. „Mein Vater wollte unbedingt, dass ich was Praktisches mache. Mit dem Abi hab ich mich noch durchgesetzt. Dann hat er mich bei seinem Chef im Büro untergebracht, damit ich Bürokauffrau werde. Und das war so furchtbar, dass ich nach acht Monaten abgebrochen habe. Seitdem sind meine Eltern auf mich nicht mehr so gut zu sprechen.“

„Auweia“, sagte er mitfühlend. So schlecht es ihm auch manchmal gegangen war, das Verhältnis zu seinen Eltern war immer mehr oder weniger in Ordnung gewesen, abgesehen von dem problematischen Essverhalten der Familie. „Und dann?“

„Dann bin ich zu einer Freundin nach Mainz gezogen und habe angefangen zu studieren. Ich hab mich mit verschiedenen Jobs durchgeschlagen, weil meine Eltern das Studium nicht zahlen wollten. Das hat es etwas in die Länge gezogen, aber es hat geklappt.“

„Was hast du studiert?“ Sein Blick ruhte freundlich auf ihr, und sie begann sich wirklich zu entspannen.

„Englisch und Erdkunde. Und jetzt warte ich darauf, dass es Februar wird.“

„Ach ja? Willst du die ganze Weihnachtszeit überschlagen?“ Er sah sie amüsiert an.

„Ach, Weihnachten ... das wird doch immer überschätzt. Da fährt man schlimmstenfalls nach Hause und zofft sich mit der Familie. Nein, ich fange dann hier am Gymnasium mit meiner Referendarzeit an. Und bis dahin jobbe ich als Mädchen für alles in Frau Goldbachs Pension.“

„Interessant“, sagte er. „Was macht man so als Mädchen für alles?“

„Hauptsächlich Betten und Frühstück. Und wenn Not am Mann ist, dann muss ich auch nebenan in der Gaststätte von Frau Goldbachs Schwager kellnern. Insofern“, bemerkte sie, während jetzt ein Kellner mit einem Brotkorb erschien, „ist es herrlich, wenn man sich mal bedienen lassen kann.“

Max grinste wohlgefällig. „Kann ich mir vorstellen.“

Diese Grübchen, die sie vielleicht früher mit Speckfalten verwechselt hatte (oder die in den Speckfalten versteckt gewesen waren?), standen ihm wirklich gut. Es war keine Strafe, ihn anzusehen.

„Und du wohnst mit Judith zusammen? Was macht die denn?“

„Tja, sie macht so was Ähnliches wie du. Sie jobbt rum in der Hoffnung, eines Tages einen guten Job zu landen. Sie hat Ökotrophologie studiert ...“

„Ach ja“, unterbrach Greta, ein Stück Brot schwenkend, „dann könnte sie mir erklären, was man da eigentlich tut? Ich kann das Wort noch nicht mal schreiben!“

„Ich denke schon“, sagte er. „Ihr Problem ist einfach, dass sie nicht das Passende zu tun findet. Im Augenblick gibt sie Diätkurse an der Volkshochschule und so was, aber ich hoffe, dass sie eines Tages mal was Anständiges kriegt.“

„Diätkurse? Wie bei den Weight Watchers oder so?“

„Nicht direkt. Es geht eher um Diabetes oder cholesterinarmes Essen. Sachen, die von der Krankenkasse bezuschusst werden. Sie hat sogar schon mal einen Anti-Raucher-Kurs gemacht. Vertretungsweise.“

„Das passt doch zu ihr. Wenn ich mich recht entsinne, war sie die einzige wirklich konsequente Nichtraucherin in unserer Truppe.“

„Vielleicht lag das eher daran, dass sie die Jüngste war“, wandte Max ein. „Und wenn wir so riskante Unternehmen gestartet haben, wie heimlich zu rauchen, dann durfte sie nicht mitkommen.“

„Das kann natürlich auch sein“, räumte Greta ein. Es war total stressfrei, hier mit Max zu sitzen und über alte Zeiten zu plaudern. Warum hatte sie sich vorher so darum gesorgt? Nun kam auch noch das Essen, große Teller, die einen köstlichen Duft verströmten, und Max hob sein Glas und wünschte ihr einen guten Appetit.