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Sie nannten mich "Es" E-Book

Dave Pelzer

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Beschreibung

Das Trauma einer Kindheit: Dave wird von der eigenen Mutter gequält und mißhandelt. Von blauen Flecken übersät und halb verhungert, fällt der Junge auf, weil er Mitschülern das Pausenbrot stiehlt. Bis seine Lehrer es wagen, gegen die Mutter einzuschreiten, vergehen Jahre. Es gelingt ihm, sich aus der Hölle zu befreien. Ein erschütternder Bericht, geschildert aus der Perspektive des kleinen Jungen, der uns alle mit der Frage konfrontiert, wie lange man die Augen vor elterlicher Gewalt verschließen darf.

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »A Child called ›It‹« bei Health Communications, Inc., Deerfield Beach, Florida.
© 2000 der deutschsprachigen Ausgabe Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München. © 1995 der Originalausgabe Dave PelzerCovergestaltung: Tony Stone Bilderwelten/Holmgren Satz: Uhl + Massopust, Aalen Redaktion: Birgit Schmitz KF · Herstellung: Str.
ISBN 978-3-641-10863-2V002
www.goldmann-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Buch

Das Trauma einer Kindheit: Bis zu seinem zwölften Lebensjahr wird Dave Pelzer mehrmals von seiner Mutter, einer Alkoholikerin, bis an den Rand des Todes misshandelt. Wenn niemand hinsieht, straft sie ihn mit Essensentzug oder zwingt ihn, den Kot des jüngeren Bruders zu schlucken, prügelt ihn fast zu Tode oder geht mit dem Messer auf ihn los, weil er den Abwasch nicht rechtzeitig erledigt hat. In der Schule verleumdet sie ihren mit blauen Flecken übersäten Sohn als phantasievollen Geschichtenerzähler, zu Hause setzt sie ihn schockierend sadistischen Torturen aus. Dave führt längst kein menschliches Dasein mehr, als es ihm schließlich mit Hilfe seiner Lehrer gelingt, sich aus dieser familiären Hölle zu befreien. Am 5. März 1973 beginnt für Dave ein neues Leben. Warum gerade er das Opfer elterlicher Gewalt wurde, während die Mutter seine drei Brüder verschonte, bleibt unbegreiflich. Ein erschütternder autobiographischer Bericht, der den Leser den Schrecken der Misshandlung und den couragierten Weg des Jungen in die Selbstbestimmung unmittelbar miterleben lässt.

Autor

Dave J. Pelzer, geboren 1960, hat sich die Bekämpfung von Kindesmisshandlung unter dem Motto »Hilfe zur Selbsthilfe« zur Lebensaufgabe gemacht. Nach Beendigung seines Dienstes bei der U.S. Air Force unterstützt er die Arbeit verschiedener Kinderschutzorganisationen. Nicht zuletzt durch das Offenlegen der eigenen Erfahrungen leistet er einen wichtigen Beitrag zur Sensibilisierung für dieses Thema in der ganzen Welt.

Dieses Buch ist meinem Sohn Stephen gewidmet. Durch ihn durfte ich die Liebe und das Glück doch noch aus einer kindlichen Perspektive kennen lernen.

Ferner widme ich dieses Buch

Stephen E. Ziegler, Athena Konstan, Peter Hansen, Joyce Woodworth, Janice Woods, Betty Howell und der Schulkrankenschwester von der Thomas-Edison-Grundschule als Dank für ihren Mut und dafür, dass sie ihre Karriere an jenem schicksalhaften Tag, dem 5. März 1973, aufs Spiel gesetzt haben. Sie haben mir das Leben gerettet.

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorWidmungHinweis des Autors1. - Die Rettung2. - Gute Zeiten3. - Ein schlechter Junge4. - Mein Kampf um Nahrung5. - Der Unfall6. - Wenn Vater außer Haus ist7. - Das VaterunserEpilogÜberlegungen zum Thema Kindesmisshandlung
Dave PelzerSteven E. ZieglerValerie Bivens
Hilfsorganisationen in DeutschlandDankCopyright

Hinweis des Autors

Dieses Buch basiert auf meinen persönlichen Erlebnissen von meinem 4. bis zu meinem 12. Lebensjahr. Mit dem Ziel, möglichst authentisch über meine Erfahrungen in der Kindheit zu berichten, habe ich den Versuch unternommen, sie aus meiner damaligen kindlichen Perspektive wiederzugeben und meinen Schreibstil in Ton und Wortwahl zumindest annäherungsweise an die Wahrnehmungsfähigkeit eines Kindes anzugleichen.

Im Text wurden Namen teilweise geändert, um so die Anonymität der betreffenden Personen zu wahren.

1.

Die Rettung

5. März 1973, Daly City, Kalifornien. Ich bin spät dran. Ich muss den Abwasch rechtzeitig fertig haben, sonst gibt’s kein Frühstück. Und weil ich gestern Abend kein Abendbrot bekommen habe, muss ich sehen, dass ich etwas zu essen kriege. Mutter rennt herum und brüllt meine Brüder an. Ich höre, wie sie über den Flur in Richtung Küche eilt, und tauche die Hände schnell wieder in das kochend heiße Spülwasser – doch zu spät. Sie hat gesehen, dass ich die Hände nicht im Wasser hatte.

KLATSCH! Mutter verpasst mir eine Ohrfeige und ich lasse mich auf den Boden fallen. Ich weiß, dass es nichts bringt, dazustehen und den Schlag einfach so hinzunehmen. Durch leidvolle Erfahrung habe ich gelernt, dass sie darin eine Trotzhandlung sieht, was bedeutet, dass ich noch mehr Schläge oder, das Schlimmste von allem, kein Essen bekomme. Ich rappele mich wieder auf und weiche ihren Blicken aus, während sie mich anschreit.

Ich tue so, als sei ich eingeschüchtert und nicke zu ihren Drohungen. »Bitte«, flehe ich stumm, »gib mir nur etwas zu essen. Schlag mich, aber lass mich nicht hungern.« Sie schlägt noch einmal zu und ich knalle mit dem Kopf gegendie gekachelte Arbeitsfläche. Ich lasse Tränen vermeintlicher Unterwerfung über mein Gesicht kullern und sie stürmt, offenbar zufrieden mit sich, aus der Küche. Ich zähle ihre Schritte, um mich zu vergewissern, dass sie sich entfernt, dann seufze ich erleichtert auf. Der Trick hat funktioniert. Mutter kann mich schlagen, so viel sie will, aber sie kann meinen Willen, irgendwie zu überleben, nicht brechen.

Ich erledige den Abwasch und dann meine anderen Aufgaben. Zur Belohnung bekomme ich ein Frühstück – das, was einer meiner Brüder von seinen Frühstückscerealien übrig gelassen hat. Heute gibt’s Lucky Charms. Es sind nur noch ein paar Krümel in einer halben Schale Milch übrig, aber ich schlinge alles, so schnell ich kann, hinunter, ehe Mutter es sich anders überlegt. Das ist schon öfter passiert. Mutter liebt es, Essen als Waffe einzusetzen. Sie ist nicht so dumm, Essensreste in den Mülleimer zu werfen. Sie weiß, dass ich sie später wieder raushole. Mutter kennt die meisten meiner Tricks.

Minuten später sitze ich im alten Kombi der Familie. Weil ich mit meinen Verrichtungen so spät fertig geworden bin, muss Mutter mich zur Schule fahren. Normalerweise renne ich zur Schule und schaffe es gerade noch, zum Unterrichtsbeginn da zu sein, sodass mir keine Zeit bleibt, etwas aus den Lunchboxen der anderen Kinder zu stehlen.

Mutter setzt meinen ältesten Bruder ab, aber mit mir fährt sie noch ein Stück weiter, um mir einen Vortrag über ihre Pläne für morgen zu halten. Sie wird mich zu ihrem Bruder bringen. »Onkel Dan wird sich um dich kümmern«, sagt sie und lässt es wie eine Drohung klingen. Ich werfe ihr einen ängstlichen Blick zu, weil ich wirklich Angst habe. Doch ich weiß, dass mich mein Onkel, auch wenn er ein knallharter Bursche ist, sicher nicht so behandeln wird wie Mutter.

Noch bevor der Kombi ganz zum Stehen gekommen ist, mache ich, dass ich hinauskomme. Mutter pfeift mich zurück. Ich habe meine zerknitterte Lunchtüte vergessen, die seit drei Jahren jeden Tag das Gleiche enthält – zwei Erdnussbutterbrote und ein paar Möhrenstreifen. Ehe ich mich wieder verdrücken kann, befiehlt sie: »Sag ihnen … Sag ihnen, dass du gegen die Tür gerannt bist.« Dann fügt sie in einem Ton, in dem sie selten mit mir spricht, hinzu: »Schönen Tag noch.« Ich schaue in ihre geschwollenen, blutunterlaufenen Augen. Sie hat immer noch einen Kater von der Sauferei von gestern Abend. Ihr einst schönes, glänzendes Haar ist jetzt nur noch eine verfilzte Mähne. Wie gewöhnlich trägt sie kein Make-up. Sie ist zu dick, und sie weiß es. Alles in allem ist dies mittlerweile Mutters typisches Aussehen.

Weil ich zu spät gekommen bin, muss ich mich im Sekretariat melden. Die grauhaarige Sekretärin begrüßt mich mit einem Lächeln. Augenblicke später kommt die Schulkrankenschwester und führt mich in ihr Büro, wo wir unsere Routineprozedur durchlaufen. Zuerst untersucht sie mein Gesicht und meine Arme. »Was ist denn das da über deinem Auge?«, fragt sie.

Ich senke verschämt den Kopf. »Ach, ich bin gegen die Schultür gerannt … aus Versehen.«

Sie lächelt und nimmt ein Klemmbrett von einem Schrank. Sie überfliegt ein oder zwei Seiten und beugt sich anschließend zu mir hinunter, um mir eine Eintragung zu zeigen. »Hier.« Sie zeigt auf das Blatt. »Das hast du letzten Montag auch gesagt. Erinnerst du dich?«

Ich erzähle schnell eine andere Geschichte. »Ich hab Baseball gespielt und den Schläger an den Kopf gekriegt. Es war ein Unfall.« Ein Unfall. Das soll ich immer sagen. Doch die Krankenschwester weiß es besser. Sie bearbeitet mich so lange, bis ich mit der Wahrheit herausrücke. Am Ende werde ich immer weich und gestehe alles, auch wenn ich das Gefühl habe, dass ich meine Mutter schützen sollte.

Die Krankenschwester sagt, dass die Wunde wieder heilen wird und bittet mich, meine Kleider auszuziehen. Da ich diese Prozedur bereits zur Genüge kenne, gehorche ich sofort. Mein langärmeliges T-Shirt hat mehr Löcher als ein Schweizer Käse. Seit zwei Jahren trage ich es tagein, tagaus. Mutter zwingt mich dazu. Es ist ihre Art, mich zu demütigen. Mit meiner Hose sieht’s auch nicht besser aus und bei meinen Schuhen schauen die Zehen heraus. Ich kann meinen großen Zeh aus einem Schuh herausstrecken. Während ich nur in Unterwäsche dastehe, notiert sich die Krankenschwester die verschiedenen Schrammen und blauen Flecken, die ich habe, auf einem Blatt. Sie zählt die Wunden in meinem Gesicht, um festzustellen, ob ihr zuvor vielleicht welche entgangen sein könnten. Sie ist sehr gründlich. Als Nächstes öffnet die Krankenschwester meinen Mund, um sich meine Zähne anzuschauen. Sie sind abgebrochen, als Mutter mich in der Küche mit dem Kopf gegen die Arbeitsfläche gestoßen hat. Sie wirft noch ein paar Notizen aufs Papier. Als sie mich weiter untersucht, hält sie an der alten Narbe auf meinem Bauch inne. »Und das«, sagt sie, »ist die Stelle, an der sie dir mit einem Messer in den Bauch gestochen hat?«

»Ja, Ma’ am«, antworte ich. »O nein!«, denke ich. »Jetzt hab ich wieder was falsch gemacht… schon wieder.« Die Krankenschwester muss die Sorge in meinen Augen gesehen haben. Sie legt das Klemmbrett weg und nimmt mich in die Arme. »Gott«, denke ich, »sie ist so warm.« Ich möchte, dass sie mich nie mehr loslässt. Ich möchte für immer von ihr gehalten werden. Ich kneife die Augen zu, und für einige Augenblicke existiert nichts anderes. Sie tätschelt mir den Kopf. Ich zucke zusammen. Die dicke Beule, die ich mir heute Morgen geholt habe, schmerzt. Die Krankenschwester lässt mich schließlich los und verlässt das Zimmer. Ich schlüpfe rasch wieder in meine Kleider. Sie weiß es nicht, aber ich tue alles so schnell wie möglich.

Die Krankenschwester kommt nach ein paar Minuten mit Mr. Hansen, dem Direktor, und zwei Lehrern von mir, Miss Woods und Mr. Ziegler, zurück. Mr. Hansen kennt mich sehr gut. Ich war öfter in seinem Büro als jedes andere Kind in der Schule. Er sieht auf das Blatt, während die Krankenschwester über den Befund Bericht erstattet. Er fasst mich unters Kinn. Ich habe Angst davor, ihm in die Augen zu schauen. Blicken auszuweichen, ist mir durch meine Versuche, mit meiner Mutter klarzukommen, fast schon zur zweiten Natur geworden. Doch es hat auch damit zu tun, dass ich ihm nichts erzählen will. Vor etwa einem Jahr hat er Mutter einmal angerufen, um sie zu meinen blauen Flecken zu befragen. Zu jener Zeit hatte er keine Ahnung, was wirklich los war. Er wusste nur, dass ich ein verstörtes Kind war, das Essen stahl. Als ich am nächsten Tag zur Schule kam, sah er, was sein Anruf zur Folge gehabt hatte. Er rief Mutter nie wieder an.

Mr. Hansen wettert, dass er jetzt die Nase voll habe. Mir läuft es kalt über den Rücken. Alle Alarmsirenen gehen los: »Er ruft bestimmt wieder Mutter an!« Ich breche zusammen und fange an zu weinen. Zitternd wie Espenlaub und wimmernd wie ein Kleinkind flehe ich ihn an, meine Mutter nicht anzurufen. »Bitte!«, winsele ich, »nicht heute! Verstehen Sie denn nicht? Es ist Freitag.«

Mr. Hansen verspricht mir, dass er Mutter nichts sagen wird und schickt mich in meine Klasse. Weil der Unterricht schon angefangen hat, sprinte ich zu dem Klassenzimmer, in dem wir Englisch bei Mrs. Woodworth haben. Wir schreiben heute eine Klassenarbeit über die Schreibweise aller Bundesstaaten und ihrer Hauptstädte. Ich bin nicht vorbereitet. Ich war eigentlich immer ein sehr guter Schüler, aber in den letzten Monaten habe ich allem in meinem Leben den Rücken gekehrt. Ich habe nicht einmal mehr den Versuch gemacht, mich in die Welt der Bücher zurückzuziehen, um meinem Leid zu entkommen.

Als ich das Zimmer betrete, halten sich die anderen Schüler demonstrativ die Nase zu und tuscheln. Die Vertretungslehrerin, eine jüngere Frau, fächert sich frische Luft zu. Sie ist nicht an meinen Körpergeruch gewöhnt. Sie überreicht mir mit spitzen Fingern die Aufgaben für die Klassenarbeit, aber ehe ich mich ganz hinten neben einem offenen Fenster hinsetzen kann, werde ich wieder zum Direktor zitiert. Die ganze fünfte Klasse heult auf – die geballte Ablehnung meiner Klassenkameraden schlägt mir entgegen.

Schnell wie der Blitz spurte ich zum Sekretariat zurück. Meine Kehle ist wund und brennt immer noch von dem »Spiel«, das Mutter gestern mit mir gespielt hat. Die Sekretärin führt mich ins Lehrerzimmer. Als sie die Tür öffnet, traue ich meinen Augen kaum. Vor mir sitzen mein Klassenlehrer, Mr. Ziegler, meine Mathematiklehrerin Miss Woods, die Schulkrankenschwester, Mr. Hansen und ein Polizist. Ich erstarre zur Salzsäule. Ich weiß nicht, ob ich wegrennen oder darauf hoffen soll, dass sich der Boden unter mir auftut. Mr. Hansen winkt mich herein, und die Sekretärin schließt die Tür hinter mir. Ich setze mich an das Tischende und erkläre, dass ich nichts gestohlen habe … Über die deprimierten Gesichter huscht der Hauch eines Lächelns. Ich habe keine Ahnung, dass sie vorhaben, ihre Jobs zu riskieren, um mich zu retten.

Der Polizist erklärt, warum Mr. Hansen ihn angerufen hat. Am liebsten würde ich mich in den hintersten Winkel des Zimmers verkriechen. Der Polizist fordert mich auf, ihm von Mutter zu erzählen. Ich schüttele den Kopf. Zu viele Leute kennen mein Geheimnis schon, und ich weiß, dass sie es herausfinden wird. Eine sanfte Stimme beruhigt mich. Ich glaube, es ist Miss Woods. Sie sagt mir, dass es in Ordnung sei. Ich hole tief Luft, ringe die Hände und erzähle ihnen von Mutter und mir. Dann zwingt mich die Krankenschwester dazu, aufzustehen und dem Polizisten die Narbe auf meinem Oberbauch zu zeigen. Ohne zu zögern erzähle ich ihnen, dass es ein Unfall war. Es war in der Tat ein Unfall – Mutter hatte nie vorgehabt, mit dem Messer zuzustechen. Ich weine, während die Worte aus mir heraussprudeln und ich ihnen erzähle, dass Mutter mich bestraft, weil ich ungezogen bin. Ich wünschte, sie würden mich in Ruhe lassen. Ich fühle mich sterbenselend. Nach all diesen Jahren weiß ich, dass mir niemand helfen kann.

Ein paar Minuten später werde ich ins Sekretariat entlassen. Als ich in der Tür stehe, sehen die Erwachsenen mich an und nicken anerkennend mit dem Kopf. Ich rutsche auf meinem Stuhl herum, während ich die Sekretärin beim Tippen beobachte. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis Mr. Hansen mich wieder ins Lehrerzimmer ruft. Miss Woods und Mr. Ziegler machen einen glücklichen, aber zugleich besorgten Eindruck. Miss Woods kniet nieder und schließt mich in die Arme. Ich glaube, ich werde nie vergessen, wie herrlich ihre Haare dufteten. Sie lässt mich los und wendet sich ab, damit ich sie nicht weinen sehe. Jetzt mache ich mir wirklich Sorgen. Mr. Hansen überreicht mir ein Tablett mit Mittagessen aus der Cafeteria. »Mein Gott! Ist es schon Mittag?«, frage ich mich.

Ich schlinge das Essen so schnell hinunter, dass ich kaum wahrnehme, wie es schmeckt. In Rekordzeit habe ich alles aufgegessen. Der Direktor bringt mir noch eine Packung Kekse und ermahnt mich, nicht so schnell zu essen. Ich habe keine Ahnung, was hier im Busch ist. Eine meiner Vermutungen ist, dass mein Vater, der sich von meiner Mutter getrennt hat, gekommen ist, um mich zu holen. Aber ich weiß, dass das nur eine Wunschvorstellung ist. Der Polizist fragt nach meiner Adresse und Telefonnummer. »Jetzt ist alles aus!«, denke ich. »Die Hölle hat mich wieder! Ich werde es wieder von ihr abkriegen!«

Der Polizist schreibt mit, während Mr. Hansen und die Schulkrankenschwester ihm berichten, was sie wissen. Dann klappt er sein Notizbuch zu und sagt, dass er nun genügend Informationen gesammelt habe. Ich sehe zum Direktor auf. Auf seiner Stirn stehen Schweißperlen. Mir dreht sich der Magen um. Ich habe das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen.

Mr. Hansen öffnet die Tür, und all die Lehrer, die jetzt Mittagspause haben, starren mich an. Ich schäme mich in Grund und Boden. »Sie wissen es«, denke ich. »Sie kennen die Wahrheit über meine Mutter; die nackte Wahrheit.« Es ist so wichtig für mich, dass sie wissen, dass ich kein schlechter Junge bin. Ich wünsche mir so sehr, gemocht, geliebt zu werden. Ich wende mich um und sehe, wie Mr. Ziegler Miss Woods den Arm um die Schultern legt. Sie weint. Ich kann sie schniefen hören. Sie umarmt mich noch einmal und wendet sich dann schnell ab. Mr. Ziegler schüttelt mir die Hand. »Sei ein guter Junge«, sagt er. »Ja, Sir. Ich werde es versuchen«, ist alles, was mir über die Lippen kommt.

Die Schulkrankenschwester steht stumm neben Mr. Hansen. Sie sagen mir alle auf Wiedersehen. Jetzt weiß ich, dass ich ins Gefängnis komme. »Gut«, denke ich. »Zumindest kann sie mich nicht schlagen, wenn ich im Gefängnis bin.«

Der Polizist und ich gehen an der Cafeteria vorbei auf den Schulhof. Die anderen Kinder aus meiner Klasse spielen Völkerball. Einige hören auf zu spielen und schreien: »David wird eingelocht! David wird eingelocht!« Der Polizist tippt mir auf die Schulter und sagt mir, dass alles gut werden wird. Als er mit mir die Straße hinauffährt und wir die Thomas-Edison-Grundschule hinter uns lassen, sehe ich einige Kinder, die mir erschrocken hinterher starren. Vor unserer Abfahrt hat Mr. Ziegler mir gesagt, dass er den anderen Kindern die Wahrheit erzählen würde – die nackte Wahrheit. Wie gerne wäre ich dabei gewesen, als sie erfuhren, dass ich doch nicht so schlecht bin.

Nach ein paar Minuten erreichen wir die Polizeiwache von Daly City. Da ich irgendwie erwarte, dass Mutter da ist, will ich nicht aus dem Auto aussteigen. Der Polizist öffnet die Tür, fasst mich behutsam am Ellbogen und führt mich in ein großes Büro. Niemand sonst ist in dem Zimmer. Der Polizist setzt sich auf einen Stuhl in der Ecke, wo er mehrere Seiten heruntertippt. Ich beobachte ihn aufmerksam, während ich meine Kekse genieße. Ich lasse sie mir so langsam wie möglich auf der Zunge zergehen, da ich nicht weiß, wann ich wieder etwas zu essen bekommen werde.

Es ist nach ein Uhr mittags, als der Polizist mit dem Papierkram fertig ist. Er fragt mich noch einmal nach meiner Telefonnummer.

»Warum?«, jammere ich.

»Ich muss sie anrufen, David«, sagt er sanft.

»Nein!«, wehre ich mich. »Schicken Sie mich in die Schule zurück. Verstehen Sie denn nicht? Sie darf nicht herauskriegen, dass ich Ihnen alles gesagt habe!«

Er gibt mir noch einen Keks, um mich zu beruhigen, und wählt langsam die 7-5-6-2-4-6-0. Ich beobachte die schwarze Drehscheibe, während ich aufstehe und auf ihn zugehe. Ich spanne jeden Muskel in meinem Körper an bei dem Versuch, das Telefon am anderen Ende klingeln zu hören. Mutter nimmt den Hörer ab. Ihre Stimme macht mir Angst. Der Polizist bedeutet mir, einen Schritt zurückzutreten und holt tief Luft, bevor er sagt: »Mrs. Pelzer, hier spricht Officer Smith von der Polizeiwache von Daly City. Ihr Sohn David kommt heute nicht nach Hause. Wir übergeben ihn der Obhut des Jugendamts in San Mateo. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, können Sie dort anrufen.« Er legt auf und lächelt. »Das war doch gar nicht so schlimm, oder?«, sagt er zu mir. Doch sein Gesichtsausdruck spricht Bände. Er beschwichtigt eher sich selbst als mich.

Nach ein paar Meilen sind wir auf dem Highway 280 und nähern uns der Stadtgrenze von Daly City. Ich schaue aus dem Seitenfenster und lese auf einem Schild »DER SCHÖNSTE HIGHWAY DER WELT«. Der Polizist lächelt erleichtert, als wir die Stadt hinter uns gelassen haben. »David Pelzer«, sagt er, »du bist frei.«

»Was?«, frage ich, während ich meine kostbare Kekspackung umklammere. »Ich verstehe nicht. Bringen Sie mich nicht ins Gefängnis?«

Wieder lächelt er und knufft mich behutsam in die Schulter. »Nein, David. Du brauchst dich vor nichts zu fürchten, ehrlich. Deine Mutter wird dir nie wieder wehtun.«

Ich lehne mich in meinen Sitz zurück. Die Sonne blendet mich. Ich wende mich ab und mir läuft eine Träne die Wange hinunter.

»Ich bin frei?«

2.

Gute Zeiten

In den Jahren, die der Zeit, in der ich misshandelt wurde, vorausgingen, war meine Familie wie die »Brady Bunch«, die glückliche TV-Familie der Sechzigerjahre. Meine zwei Brüder und ich waren mit perfekten, äußerst liebevollen und fürsorglichen Eltern gesegnet.

Wir lebten in einem bescheidenen Haus mit vier Zimmern, in einer Gegend von Daly City, die als »gutes« Stadtviertel galt. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich an klaren Tagen aus dem zur Küste hinausgehenden Wohnzimmerfenster geschaut habe, um die orangeroten Pfeiler der Golden Gate Bridge und die atemberaubende Skyline von San Francisco zu bestaunen.

Mein Vater, Stephen Joseph, verdiente den Unterhalt für unsere Familie als Feuerwehrmann im Herzen von San Francisco. Er war etwa ein Meter achtzig groß, hatte breite Schultern und einen Bizeps, bei dem alle Bodybuilder vor Neid erblassten. Seine Augenbrauen waren, wie seine Haare, dicht und schwarz. Er gab mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, wenn er mir zuzwinkerte und mich »Tiger« nannte.