Siegfried - Antonia Baum - E-Book

Siegfried E-Book

Antonia Baum

0,0
19,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Frau zwischen alten Rollenverhältnissen und neuen Rollenansprüchen Eine Frau – Mutter, Partnerin, Versorgerin – fährt eines Morgens nicht zur Arbeit, sondern in die Psychiatrie. Am Abend hat sie sich mit ihrem Partner gestritten, vielleicht ist etwas zerbrochen, jetzt muss sie den Tag beginnen, sie muss die Tochter anziehen, an alles denken, in der Wohnung und ihrem Leben aufräumen. Doch sie hat Angst: das Geld, die Deadline, die Beziehung, nichts ist unter Kontrolle, und vor allem ist da die Angst um ihren Stiefvater, der früher die Welt für sie geordnet und ihr einen Platz darin zugewiesen hat. In der Psychiatrie, denkt sie, wird jemand sein, der ihr sagt, wie ihr Problem heißt. Dort darf sie sich ausruhen. Eine Frau, erschöpft von der Arbeit der Emanzipation und der Liebe: Siegfried ist ein Roman über alte Ordnungen und neue Ansprüche, über Gewalt und das Schweigen darüber, über eine Generation, deren Eltern nach dem Krieg geboren wurden und deshalb glaubten, er sei vorbei.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Siegfried

Die Autorin

ANTONIA BAUM, geboren 1984, ist Schriftstellerin und Autorin für DIE ZEIT. Ihre Bücher – zuletzt der Roman Tony Soprano stirbt nicht, das Memoir Stillleben und eine persönliche Bestandsaufnahme des Werkes von Eminem – haben große Medienresonanz erhalten. Siegfried ist ihr erster Roman im claassen-Verlag.

Das Buch

»Die Dunkelheit war so unerträglich gewesen, dass ich das Licht wieder angemacht und auf den Tag gewartet hatte. Jetzt war er da, und ich wusste nicht, wie ich ihn überstehen sollte. Mir war heiß, ich hatte das Gefühl, schlecht Luft zu bekommen, und vielleicht kam mir da das erste Mal der Gedanke, in die Psychiatrie zu fahren.«Siegfried ist ein Roman über alte Ordnungen und neue Ansprüche, über Gewalt und das Schweigen darüber, über eine Generation, deren Eltern nach dem Krieg geboren wurden und deshalb glaubten, er sei vorbei.

Antonia Baum

Siegfried

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

claassen ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH© 2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAutorenfoto: © Urban ZintelE-Book-Konvertierung powered by pepyrus Alle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-2954-3

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Eins

Eins

Siegfried ist mein Stiefvater, aber er war immer da, ich bin mit ihm aufgewachsen. An dem Tag, an dem ich in die Klinik fuhr, wachte ich morgens aus einem Traum auf, in dem er tot war. Es war die Art von Traum, die nach dem Aufwachen noch ein bisschen bleibt. Das T-Shirt war an der Brust durchgeschwitzt, mein Atem ging zu schnell, und ich hatte das Gefühl, mein Herz würde zittern, nicht schlagen. Durch das offene Fenster hörte ich eine Sirene, sie war zu nah und kam mir unecht vor, aber ich war mir sicher, Siegfried ist wirklich tot. Ich hatte sofort dieses Bild vor Augen: wie seine großen Lederschuhe in die Luft geragt haben mussten, während man ihn auf einer Liege durch die Notaufnahme irgendeines vermutlich ostdeutschen Krankenhauses gejagt hatte, in Potsdam, Dessau oder in Magdeburg, wie beim letzten Mal, und dann tastete ich in unserem Bett nach meinem Telefon, um nachzusehen, ob die Nachricht darüber schon angekommen war. Ich suchte unter der Decke, unter den Kopfkissen, dann schmiss ich einfach das ganze Bettzeug auf den Boden. Mir fiel wieder ein, dass ich die Nacht allein verbracht hatte, und ich sah mich um.

Es war, als hätte jemand die Gewissheit, dass Siegfried tot ist, vor mir in unserem Schlafzimmer abgestellt, mitten in die bleiche Stille des Morgens hinein, die mir Angst machte, nicht nur an diesem Tag. Ich lief ans Fenster, ich wollte wissen, wo die Sirene herkam, doch da war nichts, nur ein Lieferwagen vor dem Supermarkt schräg gegenüber. Ich wusste, dass ich nicht verrückt war, ich wusste in dem Moment genau, dass die Sirene eigentlich nicht da war; und dass es sein konnte, dass Siegfried wirklich tot war, wusste ich auch. Er hatte einen Herzinfarkt hinter sich und niemals aufgehört, anderthalb Schachteln Marlboro pro Tag zu rauchen. Er trank, schlief zu wenig, arbeitete zu viel, und wenn er essen ging (meistens), bestellte er Fleisch. Wir hatten uns am Vortag gesehen, er war kurz in Berlin gewesen, wir hatten uns zum Kaffee im Hotel Savoy getroffen, weil ich Geld brauchte, und nach dem Aufstehen hatte er das Gleichgewicht verloren und seinen einen Meter fünfundneunzig langen Körper auf mich gestützt. Ich wäre fast mit ihm umgefallen, spinnst du?, hätte ich ihn fast gefragt. Sein Gesicht war grau oder eigentlich eher bläulich gewesen. Die Falten hatten noch ein bisschen tiefer gewirkt als sonst, Falten wie Schnitte, die zu den Rasierklingen gehörten, die früher immer bei uns im Bad gelegen hatten, und zu dem scharfen Alkoholgeruch des Aftershaves daneben, wie Noten einer bestimmten Melodie oder eine vertraute Abfolge von Haltestellen auf dem Weg nach Hause. Siegfrieds Falten gehörten auch zu den eckigen Schultern der Jacketts, die er auf seinen Baustellen trug, und zu den Häusern und Büros, die er baute oder bauen ließ, vor allem in Ostdeutschland. Von den Geschäftsreisen hatte er mir früher oft diese kleinen, schön verpackten Hotelseifen mitgebracht und manchmal auch Nähzeug. Damals dachte ich, ihm gehörten die Hotels, aus denen die Seifen kamen, ich dachte eigentlich, ihm gehöre so gut wie jedes Haus.

Es machte mich wahnsinnig, dass mein Telefon weg war, noch einmal hob ich alle Decken und Kissen hoch und warf sie beiseite, und dann lief ich durchs Zimmer, guckte beim Bücherregal, unter der kleinen Bank, die vor dem Bett stand, unter Alex’ Kleidern, die darauf lagen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich legte mich quer über das Bett auf den Bauch, um ruhiger zu atmen, manchmal half das. Ich sah zum Fenster. Das Licht würde sich jetzt immer entschlossener an den Vorhängen vorbeidrängen, die Farben im Zimmer kräftiger werden lassen, und dann würde es losgehen, alles würde von vorne beginnen und in gleicher Geschwindigkeit. Ich musste mich beruhigen, um da mitmachen zu können. Ich musste Alex dazu bringen, mir zuzuhören, mir zu glauben, sein Vertrauen wiedergewinnen. Ich musste die Sache mit der Verlegerin und mit Benjamin klären. Ich musste wissen, was mit Siegfried war, und die Sirene musste endlich aufhören.

Ich lag da und atmete, als wäre ich gerannt. Wenn Hilde, Siegfrieds Mutter, mal wieder der Auffassung gewesen war, dass die Menschen um sie herum einfach nicht kapierten, wie gut es ihnen ging, hatte sie mir immer von der Flucht erzählt, während deren sie wochenlang in irgendwelchen Brandenburger Wäldern auf dem Boden geschlafen und Hundefleisch gegessen hatte, von einem Hund, den sie sogar gekannt hatte. Ich musste lachen, weil sie darauf so stolz gewesen war. Dann sah ich plötzlich das Telefon auf der Fensterbank liegen und sprang auf. Der Daumen, mit dem ich das Display entsperrte, zitterte, aber da stand nichts, keine Nachrichten und nichts von Siegfrieds Tod. Ich schrieb ihm, dass er sich melden solle. Es war sechs Uhr fünfzehn, meistens stand er früh auf, vielleicht rief er gleich zurück. Vielleicht kam der Schrecken nur aus dem Traum, der sich gleich ins Dunkel zurückziehen würde.

Ich setzte mich ans Fußende des Bettes. Draußen schien die Sonne, es würde ein heißer Tag werden. Das Licht fiel wie ein umgefallener Stab an den Vorhängen vorbei auf den Boden. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass an heißen Tagen Unglücke passierten, dass man da besonders vorsichtig sein musste, weil die Leute die Nerven verloren. In fünfundvierzig Minuten würde ich den Tisch decken, Frühstück machen, die Tasche packen, die Waschmaschine füllen, meine Liste für den Tag schreiben und dann Johnny wecken, ihr beim Anziehen helfen, ihre Zöpfe flechten, später unbedingt Persil kaufen. Johnny hieß eigentlich Johanna, aber wir sagten Johnny. Alex hatte auf der Couch geschlafen. Das machte er in letzter Zeit häufiger, wenn er getrunken und zu viel gekifft hatte, aber in dieser Nacht war ich der Grund gewesen. Mein Atem, der sich gerade etwas beruhigt hatte, ging wieder schneller, alles war wieder da.

Er hatte nicht mehr gesprochen, nachdem ich ihm gesagt hatte, dass ich ihn betrogen hatte, mit Benjamin. Wir hatten uns in der Küche gegenübergestanden, er barfuß. Gebräunte junge Füße mit hervortretenden Adern, schöne Füße. Während ich immer schneller redete, hielt Alex sich an der Arbeitsplatte fest und beugte den Kopf nach vorne, sodass die hellbraunen Haare sein Gesicht verdeckten. Er sah zweimal kurz hintereinander auf die Uhr an seinem Handgelenk, eine Rolex, die irgendein betrunkener Gast mal in der Bar vergessen hatte, in der er arbeitete. Normalerweise regte diese Uhr mich auf, aber in diesem Moment nicht. Er stieß sich mit den Unterarmen von der Arbeitsplatte ab und nahm eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank, dann verließ er die Küche. Ich lief ihm hinterher, durch die Wohnung, sogar ins Bad folgte ich ihm. Ich setzte mich auf den Wannenrand und hielt mich da fest, während er duschte, ich bewachte ihn. Ein erniedrigender Vorgang für uns beide, aber das war mir egal gewesen. Die ganze Zeit über hatte ich sein Gesicht beobachtet und gedacht, ich habe ihn kaputtgemacht. Er hatte mich nicht angesehen, seine Augen waren wie zugesperrt gewesen.

Ich verstand nicht genau, warum, aber ich wollte noch zwei Kinder haben, von Alex. Viele meiner Freundinnen hatten in den letzten Jahren geheiratet und Kinder gekriegt, und jetzt waren sie eigentlich alle sauer auf ihre Männer oder hassten sie sogar. Als sie diese Männer mit Anfang dreißig getroffen hatten, waren sie nicht nur die große Liebe gewesen, sondern auch noch pünktlich in den Leben meiner Freundinnen eingetroffen, was eigentlich nicht sein konnte. Eher hatten sie alle zur gleichen Zeit das Gleiche gewollt. Oder gedacht, es zu wollen. Bei Alex und mir war es anders gewesen, wir waren uns wirklich nahe, doch jetzt hatte ich Angst. Dass es so oder auch nur annähernd so sein würde, wie es jetzt war, so schrecklich und klassisch verkorkst, hatte ich immer mit allem, was mir zur Verfügung stand, zu verhindern versucht.

Nach dem Duschen hatte Alex wie erschossen auf dem Sofa gelegen. Er hatte sich nicht noch mehr Wein geholt oder den Fernseher angemacht, sondern nur dort gelegen, auf dem Bauch, und ich hatte noch kurz neben ihm gestanden und seinem regelmäßigen Atem zugehört, der mir maschinenhaft vorgekommen war, bis ich mich irgendwann dumm und ungebeten gefühlt hatte und ins Schlafzimmer gegangen war. Die Dunkelheit dort war so unerträglich gewesen, dass ich das Licht wieder angemacht und auf den Tag gewartet hatte. Jetzt war er da, und ich wusste nicht, wie ich ihn überstehen sollte. Mir war heiß, ich hatte das Gefühl, schlecht Luft zu bekommen, und vielleicht kam mir da das erste Mal der Gedanke, in die Psychiatrie zu fahren. Eine meiner verheirateten Freundinnen hatte mir mal von dieser psychiatrischen Ambulanz erzählt, da sollte ein sehr guter Oberarzt sein. Kompetent und pragmatisch, modern, angeblich trug er eine unauffällige runde Brille und einen Bart. Man brauchte keinen Termin, man konnte sich einfach ins Wartezimmer setzen. Niemand, der mich kannte, würde mich sehen, dachte ich. Ich könnte mich da ein bisschen ausruhen.

Die Sirene wurde lauter. Normalerweise waren um diese Zeit nur die Vögel zu hören, zwischendurch die Müllabfuhr. Vielleicht musste ich einfach anfangen, aufstehen, Johnny wecken, und alles würde von selbst besser werden. Ich könnte ins Bad gehen, mein Gesicht unter kaltes Wasser halten, manchmal half das. Mir fiel das Waschmittel ein und dass ich meine Literatursendung vorbereiten musste, die morgen im Radio lief, wie jeden Dienstag. Ich sah aufs Telefon, Siegfried hatte sich nicht gemeldet, ich überprüfte unseren Kontostand, aber das Geld von ihm war noch nicht da. Um fünfzehn Uhr dreißig war das Treffen mit Benjamin und Frau Rieger, der Verlegerin, ich musste vorher noch so etwas wie ein Exposé zustande bringen, was völlig unmöglich war. Der Vorschuss war längst aufgebraucht, ich hätte den Roman schon vor über einem Jahr abgeben müssen, aber ich hatte Benjamin immer wieder vertröstet. Bei unserem letzten Treffen hatte ich ihn um mehr Geld gebeten, damit ich schreiben konnte. Alles, was ich brauche, hatte ich gesagt, ist Zeit, und dass ich genau wüsste, was ich schreiben wollte. Das stimmte nicht (dass ich schreiben wollte, schon). Aber mir hatte auch einfach Geld gefehlt, um unseren Dispo auszugleichen, um Schulden zu bezahlen, Löcher zu stopfen. Benjamin hatte mir fünftausend Euro zugesagt, aber er müsse das vorher mit Frau Rieger besprechen, die sich ohnehin freuen würde, mich mal wieder zu treffen. So oder so, hatte Benjamin gesagt, brauche er wirklich etwas zum Vorzeigen. Wenigstens zwanzig Seiten. Ich hatte keine einzige.

Ich saß auf dem Bett, den Kopf in die Hände gestützt, und sah zwischen den Fingern hindurch zum Fenster, das nun mitten in der Sonne lag. Wir würden uns in dem Café am Tiergarten treffen, draußen auf den unbequemen Holzstühlen unter den dunkelgrünen Sonnenschirmen, gegenüber von dem Spielplatz. Benjamin würde trotz der Hitze ein langärmliges Hemd tragen, das aussah wie neu, die oberen Knöpfe geöffnet. Er würde schwitzen, aber unangestrengt wirken; er würde überhaupt nicht gut aussehen, aber irgendwie trotzdem attraktiv. Ich würde sein Parfüm riechen und den Duft wiedererkennen. Und Frau Rieger, die kluge, strenge Frau Rieger, mit den schwarz gefärbten Haaren und der unterspritzten Zornesfalte würde ihre herzlich-professionellen Sprüche machen und dabei zu laut lachen, so als würde sie die Leute in ihrer Nähe mit ihrem Lachen besiegen wollen. Es erinnerte mich an das von Siegfried, satt und unaufhaltsam, aber es passte nicht zu den ballettartigen Bewegungen ihrer Hände. Erfolgreiche Frauen in Frau Riegers Alter versuchten oft, so siegfriedhaft zu lachen, und es ging eigentlich immer schief (es wirkte falsch, irgendwie deformiert, auch wenn ich so nicht denken wollte).

Das Treffen war weniger eine Verabredung als eine Bedingung. Benjamin hatte versucht, diesen Eindruck abzuschwächen, er hatte am Telefon gesagt, ich müsse mir keine Sorgen machen, niemand zweifle an meinen Fähigkeiten als Autorin. Es gehe nur darum, noch einmal über Inhalte und einen konkreten Zeitplan zu sprechen. Dabei wollte Frau Rieger einfach wissen, was los war. Sie wollte wissen, warum das alles so lange dauerte und ich einfach nichts schrieb, verständlicherweise. Siegfried hätte das auch verstanden, er hätte gesagt: Klar, ein Vorschuss muss sich amortisieren. Ich dachte daran, dass Formulierungen wie amortisieren und dass Summen darstellbar beziehungsweise nicht darstellbar waren auf die gleiche Weise zu Siegfried gehörten wie seine Schuhe, das Aftershave und so weiter. Das alles war mir peinlich, aber ich würde etwas Schönes anziehen, den alten Max-Mara-Hosenanzug mit den Punkten von meiner Mutter vielleicht. Ich würde ein stilles Wasser bestellen, wenn wir unter dem grünen Sonnenschirm auf den unbequemen Gartenstühlen saßen, einen Espresso, nichts zu essen, und es wäre gut, wenn es mir irgendwie gelänge, nebenbei zu erwähnen, dass meine Sendung beliebt und die Hörerschaft zuletzt wieder etwas gewachsen war. Denn das würde Frau Rieger gefallen. Sie würde sagen, dass sie, obwohl sie kaum Zeit hatte, versuchte, nie eine Sendung zu verpassen, und wie toll es sei, dass ich den Fokus auf die Würdigung von Schriftstellerinnen legte. Dann würde sie innehalten, mich auf diese komplizenhafte Weise anlächeln und verständnisvoll fragen, wie es denn um den Roman stehe. Benjamin würde danebensitzen, mit dem rechten Bein wippen, wahrscheinlich würde er, ohne es zu registrieren, sein Telefon aus der Hosentasche genommen und auf den Tisch gelegt haben, er würde es manchmal in die Hand nehmen, damit herumspielen, obwohl er sich das längst abgewöhnen wollte. Insgesamt würde er freundlich gucken und sich nichts anmerken lassen, auch dann nicht, wenn sich unsere Blicke trafen. Und dann würde es sich nicht mehr vermeiden lassen, dann wäre der Punkt erreicht, an dem ich sagen müsste, dass ich keine einzige Seite hatte. Ich muss leider noch mal von vorne anfangen, könnte ich sagen, und wenn sie dann wissen will, woran es liegt, worin die Schwierigkeit besteht: Wissen Sie, ich mag die Probleme meiner Protagonistin nicht. Zu viel Schmerz, zu schwach. Das ist das Problem.

Ich bin das Problem, Geld ist das Problem, dachte ich. Ich ließ mich rücklings aufs Bett fallen und wiederholte flüsternd, so wie ich früher morgens vor der Schule noch schnell ein Gedicht auswendig gelernt hatte, was passieren musste, damit es weitergehen konnte: das Exposé, das Treffen, die Sendung, das Waschmittel, der Kontostand. Ich musste Siegfried erreichen, ich musste mit Alex sprechen. Um halb sechs musste ich Johnny aus der Musikschule abholen, dann das Abendessen. Ich könnte auf dem Rückweg Pizza aus unserem Lieblingsladen mitbringen, was ich eigentlich nicht mehr machen wollte, um aufs Geld zu achten, aber das war jetzt auch egal. Kurz hoffte ich wirklich, dass Alex mir nach dem Essen zuhören würde, ich hatte für einen Moment dieses Bild vor Augen, wie wir auf dem Sofa Gin Tonics tranken, die dabei halfen. Es wäre so einfach.

Ich liebte Alex, doch ich verlor meine Hoffnung sofort wieder und schloss die Augen. Am Ende heißer Tage sahen die Leute immer aus wie geplatzte Tomaten, wegen der Farbe, aber auch weil sie wie beschädigt wirkten, so verletzt. Was wir hier alle immer wieder voneinander verlangten, war einfach falsch, dachte ich. Ich sah auf das Display des Telefons in meiner Hand. Es zeigte an, dass Siegfried nicht angerufen hatte, dass es zwanzig nach sieben war, dass Johnny schon längst hätte aufstehen müssen, ich stand auf, und während ich zur Tür ging, um sie aufzureißen, dachte ich, dass sich unser Schlafzimmer im Laufe des Tages unerträglich aufheizen würde, und dabei hörte ich, wie die Sirene hinter mir lauter wurde, sie klang fast wie ein Tier.

Ich hörte sie auch noch, als ich in der Küche stand, in T-Shirt und Unterhose, schnell atmend, mit vom Körper weggestreckten Armen und Händen, so als würde ich befürchten, von hinten überfallen zu werden. Alex und Johnny waren aufgestanden, ohne dass ich es mitbekommen hatte. Alex stand über die Arbeitsplatte gebeugt, barfuß, in Jeans und weißem Hemd. Das weiße Hemd war frisch gewaschen, ich hatte es gewaschen. Als wir uns acht Jahre zuvor kennengelernt hatten, hatten seine Kleider ganz anders gerochen (fremd, für mich irgendwie blau und nach Platte, Spee). Alex schmierte ein Brot für Johnny, er hob den Kopf nicht, er sagte nichts. Neben der Spüle stand eine leere Flasche Wein, guter Wein, eine Flasche, über die wir ein Jahr lang lachend gesagt hatten, dass wir sie nur noch ein bisschen aufheben würden, für einen besonderen Tag. Ich hatte den Wein vom Sender bekommen, als mein Format mal einen wichtigen Preis erhalten hatte, nun hatte Alex ihn getrunken. Ich wollte ihn anschreien, aber ich tat es nicht (tat es auch sonst so gut wie nie). Johnny saß am Esstisch auf ihrem Platz, sie redete vor sich hin und spielte mit dem Essen. Als sie mich sah, begann sie sofort zu erzählen. Sie sprang auf mich zu, und dabei fiel ihr Stuhl um. Ich zuckte zusammen, denn normalerweise hätte Alex jetzt gebrüllt oder zumindest die Stimme erhoben, und dann wäre es losgegangen, dann hätte ich besänftigend abwechselnd auf ihn und auf Johnny eingeredet, um zu verhindern, dass es noch lauter wurde, dass etwas kaputtging. Mein Blick wäre Alex und Johnny gefolgt, er wäre fortwährend zwischen den beiden hin- und hergesprungen. Ich wusste, wenn Dinge kaputtgingen, wurde es ernst für Alex, wenn sie sich aus ihrem Rahmen, aus der für sie vorgesehenen Form lösten, er hatte mal gesagt, dass er das brauche, einen festen Rahmen, weil er aus dem Nichts komme, und dabei hatte er gelacht, weil er den Satz so pathetisch fand. Siegfried war bei Krümeln auf der Tischdecke und umgestürzten Gläsern ausgerastet, das war sein Ding gewesen. Ich erinnerte mich an Situationen, in denen er deswegen den Tisch umgeworfen hatte mit allem, was darauf stand, und daran dachte ich, wenn Alex ausrastete, aber nicht währenddessen, da dachte ich gar nichts, erst hinterher. Ich dachte an meine Mutter, die einfach sitzen geblieben war, ohne sich zu bewegen. Sie hatte nur leise gesummt, als wäre sie verrückt oder als machte sie sich über ihn lustig, vielleicht war das sogar das Gleiche gewesen.

An dem Morgen, an dem ich beschloss, in die Psychiatrie zu fahren, rastete Alex nicht aus. Vielleicht war er zu traurig, jedenfalls war er ganz still. Nicht ruhig, still. Er stand an der Arbeitsplatte, ohne sich um den Stuhl zu kümmern, und schäumte Milch auf. Johnny war auf meinen Arm geklettert. Sie drückte ihren braunen Lockenkopf gegen mein T-Shirt, wischte ihren Marmeladenmund daran ab und redete ununterbrochen. Ich hörte nicht, was sie sagte, wie so oft. Ich nickte nur, denn ich hatte mit der Sirene zu tun, und ich musste Alex ansehen. (Sah er mich an, wie lange würde er mich nicht ansehen?) Außerdem hatte Johnny keinen Zopf, die Haare hingen ihr ins Gesicht. Sie hatte ein Oberteil an, dessen Blau nicht zum Blau ihrer Hose passte, die außerdem zu kurz war, es sah lieblos aus. Ich wollte es ihr sofort ausziehen, da war auch ein Marmeladenfleck auf der Brust, ich musste unbedingt an das Persil denken. (Was war mit Milch, Brot, war noch genug Olivenöl da?) Johnny hörte nicht auf zu reden, sie fasste mir ins Gesicht, zog an meinem Ohr und rief Mama, aber ich sah zu Alex und der offenen Milchpackung auf dem Tisch. Ich suchte den Tisch, die Arbeitsplatte, die übrigen Flächen mit den Augen nach der Verschlusskappe ab (Alex verschlampte oft einfach die Verschlusskappe). Ich sah Milchtropfen und eingeweichte Cornflakes auf dem Boden neben dem umgefallenen Stuhl, neben der Spüle stand dreckiges Geschirr, Alex’ Gitarre lag auf der Bank, die vor dem Küchentisch stand. An einem normalen Morgen wäre ich losgelaufen und hätte die Ordnung wiederhergestellt, dabei hätte ich Alex höflich und aggressiv darum gebeten, die Milchpackung zuzuschrauben, ich hätte versucht, Streit zu vermeiden, aber wir hätten uns wahrscheinlich trotzdem gestritten.

An diesem Morgen war es anders. Ich hielt die plappernde Johnny regungslos auf dem Arm und stand vielleicht zwei Meter von Alex entfernt, der den Kopf in den Nacken legte und seinen Espresso austrank. Ich bewegte mich nicht, aber ich sagte laut und deutlich: Ich höre seit heute früh um sechs Sirenen, hörst du das auch?

Das Geräusch war zwar leiser geworden, aber es klang echter. Alex antwortete nicht, womit ich gerechnet hatte, doch es traf mich trotzdem. Er kam auf Johnny und mich zu, ohne mich anzusehen. Er sagte zu Johnny, dass es schon spät sei, er nahm sie mir aus den Händen, als habe das so seine Richtigkeit, und verließ mit ihr die Küche. Ich muss einen längeren Moment gebraucht haben, denn als ich in den Flur kam, hatten beide ihre Schuhe schon an, und die Wohnungstür war auf. Alex trug seine Sonnenbrille, ich roch sein Parfüm und wusste, dass ich überhaupt nichts tun konnte. Er nahm Johnny bei der Hand, wie immer sah er im Moment des Gehens besonders gut aus. Bis später, Johnny, rief ich und wollte ihr nachgehen, sie noch mal anfassen, aber bevor ich mich bewegen konnte, fiel die Tür ins Schloss.

Mir kamen die Tränen, ich fing sofort wieder an, mein Telefon zu suchen, und dabei dachte ich an die Möglichkeit, in die Psychiatrie zu fahren. Ich fand es auf der Fensterbank in der Küche und fühlte Erleichterung und fast so etwas wie Dankbarkeit, als es glatt und klar in meiner Hand lag. Ich ging ins Bad, setzte mich auf den Toilettendeckel, drückte auf den Knopf in der Mitte, der Bildschirm erstrahlte. Siegfried hatte sich noch immer nicht gemeldet, aber mein Atem verlangsamte sich etwas, mein Rücken wurde runder, als ich meine Social-Media-Apps öffnete und Bilder ansah, eins nach dem anderen, der geordnete Strom der Fotos, der nie endete und der aus den anderen bestand, aber aus mir irgendwie auch. Wahrscheinlich wäre ich lange so sitzen geblieben, aber dann sah ich plötzlich Benjamin, der Selina im Arm hielt, auf einer Lesung einige Tage zuvor. Sie war schön, jünger als ich, und bald würde ihr erster Roman erscheinen. Sie legte den Kopf schief, hielt den rot geschminkten Mund leicht geöffnet, sie trug eine Bomberjacke. Ich schloss die Augen, ich wollte Selina nicht sehen, und mir gefiel nicht, wie ich sie ansah. Ich kannte das Gefühl, wenn Frauen einen umbringen wollten. Es war eine so alte, simple Geschichte, aber so war es. Ich wollte das Telefon auf die Kommode rechts neben der Toilette legen, doch dabei rutschte es mir aus der Hand und knallte auf die Fliesen. Als ich es aufhob, war das Display zersplittert, das obere Drittel leuchtete in Spektralfarben, nur der untere Teil wurde noch angezeigt, und ich weiß noch, dass sich in diesem Moment all die Dinge, die ich in Ordnung bringen musste, übereinanderwarfen. Es war wie eine Explosion, wenn etwas unter hohem Druck zerreißt und einen Augenblick lang alles in der Luft steht.

Aber die Sirene hörte auf.

Auf der Rückbank des Taxis trug ich keine Schuhe, aber dafür einen Trenchcoat. Ich hatte nicht wie sonst die Nylonhandtasche meiner Mutter dabei, ich hielt meinen Rechner mit beiden Händen auf dem Schoß fest. Ich hätte nicht sagen können, was seit der Situation im Badezimmer passiert war. Es beunruhigte mich aber nicht sehr, ich fand meine Idee, in die Psychiatrie zu fahren, sehr gut. Jemand würde mir sagen, was mit mir los war, dieser Arzt würde mir helfen, die Dinge zu sortieren, ich hatte mir sogar seinen Namen notiert. Ich würde dort sitzen und für Reihenfolgen nicht zuständig sein. Es würde eine Diagnose geben. Ich bildete mir die Dinge nicht ein, ich war keine Simulantin, ich war nicht überempfindlich. Ich war auch nicht verrückt, es gab Gründe.

Ich legte den Kopf an den Rücksitz und sah aus dem Fenster, auf den Verkehr, die Leute und alles drum herum. Ich war froh, damit nichts zu tun zu haben, und mir fiel nichts dazu ein. Ich sah die Straßenzüge und die pastellfarbenen Gründerzeithäuser nicht, weder die nackten, denen man den Stuck abgeschlagen hatte, noch die anderen, die ihn hatten behalten dürfen. Ich sah die wenigen übrig gebliebenen Lücken und Brandmauern nicht, nicht die hässlichen, nach der Wende aufgestapelten Zweckgebäude in den Baulücken, nicht die neuen, etwas brutal wirkenden Blöcke, die aussahen, als würden sie mit sich selbst nichts zu tun haben wollen. Ich sah nichts davon, und auch das fiel mir nicht auf. Ich empfand nur ein wenig Einsamkeit, vielleicht weil ich nicht beschreiben konnte, was ich sah, aber ich weiß noch, die Blätter der Bäume bewegten sich im Wind hinter der blauen Tönung der Scheibe, und das Auto war sehr leise. Es wirkte wie ein Trick oder ein Scherz, als plötzlich die Sirene wieder losging.

Als ich etwas später vor dem Eingangsportal stand, war sie wieder verstummt. Die Ambulanz befand sich im dritten Stock eines roten Backsteingebäudes, das zu Beginn des vorigen Jahrhunderts gebaut worden war. Im Aufzug fehlte der Spiegel, was mich nervte. Ich stand vor einer leeren Metallwand, und es war, als bliebe man mir eine Antwort schuldig. Bei uns zu Hause hatte neben dem Spiegel im Eingang früher eine dunkelbraune Bürste gelegen, mit der Siegfried über seine Jacketts gestrichen hatte, bevor er gegangen war. Wenn wir gemeinsam das Haus verließen, meine Mutter, er und ich, hatte er auch uns manchmal abgebürstet, halb im Scherz, aber eben doch geübt und mit einem Interesse für das Ergebnis. Ich hatte mit den Augen gerollt, aber irgendwie hatte ich es auch gemocht.

Im dritten Stock roch es nach Stein, Putzmittel und Essen. Wahrscheinlich war in der Nähe eine Kantine. Die Decken waren hoch und weiß, daran hingen runde alte Lampen, auch die Fenster und die Heizkörper waren alt, und der Linoleumboden glänzte grau. Ich hatte meine Mutter manchmal von den Linoleumböden erzählen hören, über die man hatte gehen müssen, wenn man sich in Ost-Berlin aufhielt, und dass das Putzmittel dort ganz speziell gerochen habe. Es war, als ob fast jeder Mensch, mit dem Siegfried und meine Mutter befreundet waren, das irgendwann mal sagte, so als müsse es der Richtigkeit halber erwähnt werden. Damit schien irgendeine kurze Befriedigung verbunden zu sein, aber was da befriedigt wurde, war nicht klar. Später war ich dann selbst viel über Linoleumböden gegangen, in Amtsgebäuden, Universitätsgebäuden, Krankenhäusern im Osten Berlins, aber ich hatte keinen besonderen Geruch ausmachen können. Es war eher ein Moment gewesen, in dem ich an Siegfried und an meine Mutter dachte, an zu Hause.

Das Wartezimmer in der psychiatrischen Ambulanz war groß, und als ich sah, dass da schon acht oder neun Leute auf festgeschraubten, u-förmig angeordneten roten Metallstühlen saßen, verließ mich kurz der Mut. Die Enden des U liefen auf die Anmeldung zu, die gerade nicht besetzt war. Der vorderste Platz auf einem der Enden war frei, dorthin setzte ich mich und versteckte meine nackten Füße unter dem roten Metallstuhl. Von hier aus konnte ich alles überblicken, die Anmeldung, das Wartezimmer, den Flur und auch die gegenüberliegenden Sprechzimmer. Frauen in blauen Kitteln liefen auf und ab, Menschen kamen und setzten sich, suchten etwas in ihren Handtaschen oder Hosen. Trotzdem war es ein ruhiger Ort.

Ich spürte, wie müde ich war. Ich beschloss, erst mal nur sitzen zu bleiben und zu überlegen. Vielleicht konnte ich ein bisschen an dem Exposé arbeiten, vielleicht ginge es hier überraschend gut. Aber vorher wollte ich kurz die Augen schließen.

Zwei

Meine traurige, schöne Mutter musste aufpassen, dass Siegfried sie nicht betrog, wenn er auf Geschäftsreisen ging, und deswegen fuhr sie meistens mit. Weil Siegfried häufig verreisen musste und Geschäftsreisen nichts für Kinder waren, wohnte ich dann bei Hilde, der Mutter von Siegfried, und wenn ich heute daran zurückdenke, vor allem an die Sache mit den Spiegeln, dann kann ich immer noch nicht sagen, wer von uns beiden damals eigentlich verrückt war, sie oder ich.